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Es war noch früh am Morgen, als ich durch ein lautes Schluchzen im Nebenzimmer aufgeweckt wurde. Moritz. Ich rappelte mich langsam auf und warf einen raschen Blick aus dem Fenster. Sonnenstrahlen brachen sich vorsichtig durch die trübe Wolkendecke, die sich schon seit Tagen über die Stadt und unsere Gemüter legte. Aber heute würde ein sonniger Tag werden. So hätte Milena es gewollt, dachte ich und ein kurzes Lächeln huschte über mein Gesicht. Doch es war so schnell verschwunden, dass ich es selbst kaum realisierte, wie jedes Mal, wenn ich an den Sonntag vor einer Woche zurückdachte. An den gleichzeitig erfüllensten und grausamsten Tag in meinem Leben.
Ich schlich mich vorsichtig nebenan zu Moritz' Zimmer. Die Tür stand halb offen; zusammengesunken lag er in seinem Bett und starrte mit leerem Blick die gegenüberliegende Wand an. Ich beobachtete ihn eine Weile, bis ich sah wie seine Augen sich mit Tränen füllten und er erneut anfing zu schluchzen. Ich setzte mich vorsichtig zu ihm, bedacht nichts falsch zu machen und strich ihm das blonde Haar sanft aus den Augen. Seit dem Unfall wirkte er viel älter und ernster als ein zehnjähriger Junge es hätte sein sollen. Bemühte sich immer stark zu sein, wie es ihm einst sein Vater gelehrt hatte, doch man sah das Leid und die Erschöpfung in seinen Augen. Augen so schwarz wie die Nacht. So schwarz wie Milenas es waren.
Er sieht seiner Schwester so erschreckend ähnlich, dass ich sie jedes Mal vor mir sehe, wenn er bei mir ist. „Raphael? Glaubst du ihr geht es da oben gut? Glaubst du sie hat Mama und Papa schon getroffen und ist jetzt glücklich? Denkst du sie vermissen mich?“, flüsterte er mir mit zitternder Stimme zu und riss mich aus meinen Gedanken. Ich seufzte erschöpft von den schlaflosen Nächten, kam näher und antwortete ihm schließlich so beruhigend, wie ich es zu Stande brachte: „Ja, sie ist glücklich. Da bin ich mir ganz sicher. Und ich bin mir auch ganz sicher, dass du ihr genauso fehlst, wie sie dir.“ Er hob seinen kleinen Kopf an, schaute mir direkt in die Augen und stellte mir eine überraschend ernste Frage: „Hattest du meine Schwester lieb?“ Ich senkte den Kopf, doch ich spürte seinen prüfenden Blick auf mir lasten. Ich antwortete ohne jeden Zweifel: „Ja, ich habe sie geliebt und ich werde sie immer lieben,glaub mir, Kleiner.“ Die Andeutung eines Lächelns machte sich auf seinen Lippen bemerkbar und das erste Mal seit einer Woche schlief er ein paar Stunden.

Ich erinnere mich gerne an das Gespräch von heute Morgen, vor allem an sein friedliches Gesicht, als er daraufhin eingeschlafen war. Nun, am Nachmittag, sitzt er hier neben mir auf der vordersten Bank einer Kirche. Vor uns der Sarg seiner Schwester, der Sarg meiner Verlobten.
Moritz sitzt gefasst in seinem zu großen schwarzen Anzug und bemüht sich überall hinzuschauen, nur nicht nach vorne. Unter seinen Augen zeichnen sich dunkle Ränder ab und ich schätze, ich sehe nicht anders aus. Niemand von uns konnte sich seit dem Unfall ausruhen, geschweige denn schlafen. Also verbrachten wir die letzten sieben Nächte auf der Couch und redeten über Milena.

Vor etwa einem Jahr starben Moritz Eltern. Und nun, wo auch seine Schwester Milena fort ist, die seitdem die Mutterrolle für ihn übernommen hatte, ist er allein, ich kümmere mich sehr oft um ihn, damit er im Kinderheim nicht allein zu kämpfen hat.
Der Pfarrer vorne redet, doch ich höre nicht zu. Stattdessen schiele ich über meine rechte Schulter und mustere die Leute, die es wagen zu Milenas Zeremonie aufzutauchen. Die meisten von ihnen kamen nur aus Höflichkeit, ich weiß sie kannten Milena kaum. Es fühlt sich falsch an. Es sollten nur Diejenigen kommen, die Milena nahe standen, keine Fremden. Auch wenn es Milena wahrscheinlich nichts ausgemacht hätte.
Nun hält der Pfarrer ein Papier in seinen Händen und zitiert Milenas kurzes Leben mit ein paar Fakten und sagt anschließend, dass sie sicher ein guter Mensch gewesen war. Schluss. Aus. Soll das etwa alles gewesen sein? Um Milena zu beschreiben, bräuchte es Wörter die das Wunderschönste und Barmherzigste Wesen beschreiben, dass die Menschheit kennt. Doch auch diese Worte wären nicht genug.
Entschlossen richte ich mich auf marschiere mit einer Mischung aus Unbehagen und Bestimmtheit zum Pult des Pfarrers. Dieser bemerkt mich mit einem verwunderten Blick, welcher sich auch in den Gesichtern der restlichen Leute widerspiegelt. Außer in Moritz'. Er durchbohrt mich förmlich mit seinem Blick und ich erahne schon seine Frage, ob ich nun völlig durchgedreht bin. „Kann ich auch noch ein paar Worte sagen?“, bitte ich den Pfarrer bestimmter als ich eigentlich bin und dieser zieht sich mit einem verwirrtem „Natürlich.“ zurück.
Nun stehe ich hier am Pult des Pfarrers, neben mir der Sarg meiner Verlobten, vor mir eine Schar an verwirrten Gesichtern.
„Wisst ihr...“, fange ich an und merke gleich, dass es eine absolut bescheuerte Idee war, hier hoch zu kommen. Doch irgendetwas gibt mir den Impuls weiter zu machen, also rede ich weiter: „Vor etwa drei Wochen war ich noch Straßenmusiker. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem ich neben diesem besonderen Brunnen ein Lied auf meiner alten Gitarre spielte und laut vor mich hin sang. Immer wieder kamen Leute vorbei und warfen ein paar Münzen in meine Kappe. Ihr wisst schon, Leute wie ihr, die in mir nur den bemitleidenswerten Obdachlosen sehen. Doch ein Mädchen viel mir sofort auf. Sie stellte sich vor mich hin und hörte mir zu. Ihr langes welliges blondes Haar fiel ihr engelsgleich über die Schulter. Doch vielmehr faszinierten mich ihre tiefschwarzen Augen, die einen ungewöhnlichen Kontrast dazu bildeten. Sie war so unglaublich und dennoch schaffte ich es weiterzuspielen. Diesmal nur für sie.“ Ich atme kurz aus und werfe einen raschen Blick in die Menge, die mir gebannt lauscht. Also erzähle ich weiter: „ Ich spielte die letzten Akkorde meines Liedes und schaute sie an. „Hat es dir gefallen?“, fragte ich nervös. Sie senkte ihren Blick und lächelte: „Sehr.“, sagte sie, hielt ihren Starbucks-Kaffee fest mit ihren roten Handschuhen umklammert, wandte mir den Rücken zu und ging. Unwillkürlich rief ich : „Wie heißt du?“, enttäuscht, dass sie sonst nichts sagte. Sie blieb stehen und schaute über ihre Schulter. Wieder zeichnete sich ein Lächeln auf ihren Lippen ab: „Milena.“, sagte sie, drehte sich wieder um und ging endgültig fort.
Am nächsten Morgen machte ich mich um die gleiche Uhrzeit auf zum nächstliegenden Starbucks. In der Hoffnung sie dort wiederzusehen.
Wisst ihr, ich habe die ganze Nacht kein Auge zu getan, konnte nur an sie denken und Gott! wie glücklich ich war, als ich sie hinterm Tresen sah, wie sie einer Kundin gerade Kaffee einschenkte. Mein Herz raste als ich mit unsicheren Schritten auf sie zu ging. Wie würde sie reagieren? Fragte ich mich. Konnte sie sich überhaupt noch an mich erinnern? Ich stand schon neben ihr als sie gerade in der Schublade wühlte. Ihre schöne blonde Mähne war zu einem hohen Pferdeschwanz zurück gebunden. Auf ihrem Namensschild stand „Winter“. „Milena Winter also..“, sagte ich leise und bemerkte erst zu spät, dass ich es laut ausgesprochen hatte. „Ja?“, fragte sie und hob verwundert ihren Kopf und schaute mir in die Augen. „Raphael du Vollidiot“, dachte ich und räusperte mich. „Ehhm, also kennst du mich noch?“, fragte ich stupider als ich vorhatte und wünschte mir gleich darauf im Erdboden zu versinken. Oder zu Staub zu zerfallen. Oder einfach aus dem Lokal zu rennen und einen Anfall vorzutäuschen. Hauptsache ich entging dieser peinlichen Konversation. Doch bevor ich irgendeinen von meinen brillanten Plänen in die Tat umsetzen konnte, antwortete sie mir grinsend : „Wenn du mit mir heute Abend essen gehst, werde ich's mir nochmal überlegen.“
Ich nickte ungläubig. Und da fing alles an.
Ich hatte die schönsten zwei Monate meines Lebens mit der schönsten jungen Frau auf Erden erlebt. Sie hatte mich so verändert, ich war bereit meinen Abschluss nachzuholen, eine gescheite Arbeit zu suchen, eine Wohnung. Es war als hätte mir Gott einen Engel gesandt, der mich wieder das Leben in seiner ganzen Schönheit spüren lässt. Sie war eine so barmherzige, liebevolle und zielstrebige Person. Ich lernte ihren kleinen Bruder kennen, den sie seit dem Tod ihrer Eltern selbst aufzog. Ich lernte soviel von ihr. Ich wusste, dass ich nie wieder ohne sie sein wollte. Also machte ich ihr am Abend ihres neunzehnten Geburtstages einen Heiratsantrag. Und als sie „Ja!“ sagte und ich sie in den Armen hielt, während ihr die Freudentränen über die rosigen Wangen liefen, wusste ich, dass es keinen schöneren Moment für mich geben wird als diesen. Vollkommen glücklich liefen wir Hand in Hand und machten uns auf den Weg ihren kleinen Bruder Moritz, der mir so sehr ans Herz gewachsen war, abzuholen, der solange zu Haus bei einem Schulkameraden war. Schon vor der Kreuzung sahen wir, dass ein Haus eine Straße weiter Feuer fing. Es war das Haus des Schulkameraden, flüsterte Milena erstarrt. Das Haus in dem ihr Bruder war. Ich erinnerte mich noch, wie Milena mir erzählte, dass ihre Eltern bei einem Hausbrand umgekommen sind, während sie beiden schwimmen waren. Und da sah ich Milena schon los rennen. „Milena!“, schrie ich vergeblich und rannte ihr hinterher. Fast am brennenden Gebäude angekommen, sah ich wie der Schulkamerad mit seiner Mutter zusammengesunken wenige Meter vor dem Gebäuden saßen. Ohne Moritz. Auch Milena bemerkte es und lief wild entschlossen in das brennende Haus hinein, um ihren Bruder aus den Flammen zu helfen. „Moritz!“, hörte ich sie verzweifelt schreien. „Scheiße, nein!“, dachte ich und versuchte Milena aus den Flammen zu zerren, doch sie stieß mich weg und weigerte sich. Überall um uns herum war Feuer, ich hörte Milena heftig husten und auch ich bekam kaum Luft. Und von da an weiß ich nur noch, wie mich ein Feuerwehrmann von hinten packte und mich aus dem brennenden Haus zerrte. „Milena!“, schrie ich und versuchte mich vergebens aus dem Griff zu lösen. „Das darf nicht passieren, das darf nicht passieren,..“, nuschelte ich., doch es war zu spät. Ich dachte es wäre vorbei.
Doch draußen, als der der Krankenwagen gerade kam, sah ich Milena, ihren Bruder fest an sich gepresst aus der Tür fallen. Sofort rannten Rettungshelfer zu ihnen. Ich riss mir das Beatmungsgerät vom Mund und rannte zu Milena. Mein Körper taub vor Schmerz, doch als ich sie erreichte, atmete sie nicht mehr, aber ihr Bruder hat durch sie überlebt. Ich nahm ihren Kopf sanft in meine Hände. Ihre Haut war fast überall verbrannt. „Ich liebe dich. Ich liebe dich doch...“, flüsterte ich ihr zu, in der Hoffnung sie würde dadurch wieder erwachen, wie es in den ganzen Filmen immer geschieht, doch sie rührte sich nicht mehr, aber ich machte solange weiter bis mich jemand von ihr wegzog. Sie war für ihren Bruder gestorben. Er war ihr Ein und Alles, so wie sie immer meines sein wird.“ ,beende ich den Satz und schaue in die Menge.
Sie sitzen alle wie erstarrt da, Einige weinenauch , doch mir ist nur wichtig, dass sie erfahren haben was wirklich passiert ist. Da merkte ich wie Moritz schluchzend auf mich zu rannte. Ich nahm ihn in die fest in die Arme, ich habe mir geschworen auf Milenas Ein und Alles aufzupassen. Sie ist unser aller Heldin und mein persönlicher Engel, sowie Moritz Schutzengel. Ich weiß, dass kein Tag vergehen wird, an dem ich nicht an sie denken muss und das ist auch gut so. Wie kann ich ihr auch übelnehmen, was sie für ihren kleinen Bruder getan hat, ich hätte dasselbe für sie getan. Sie war 19 und zu jung um zu sterben und trotzdem kann ich nicht beschreiben, wie stolz ich auf sie bin, dankbar für die zwei Monate, die ich mit ihr erleben durfte. Mit unserer Heldin, meinem Engel. Milena.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich meinen tollen Eltern. Ich glaube nicht, dass irgendjemand euch toppen kann! :)

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