Wie würde ein normales Mädchen reagieren, wenn sie von den Menschen, die sie am meisten liebt verraten wird? Wie ich? Wer weiß.
Als würde man selbst nichts bedeuten, als hätte man keinen Wert.
Irgendwo, irgendwie verhandelt man um mich, aber ich weiß es nicht und habe auch keinen Einfluss darauf. Für den Preis, den man dafür kriegt, bin ich vom nutzen. Danach nicht mehr.
Sie lügen, vertuschen es.
Plötzlich werden mir alle Fremd – vielleicht sogar die beste Freundin. Ja, sie enttäuscht mich durch das längst gebrochene Herz.
Man versucht vergeblich die Menschen auf seine Seite zu ziehen, die sich bereits gegen einen gewendet haben. Will sie wachrütteln.
Ich wurde entführt, bedroht, angegriffen. Jetzt weiß ich auch warum – der Deal.
Und als wäre das nicht genug, wird man die Beute eines Jungen, der für einen nicht auszustehen ist. Er ist fremd, doch zugleich auch sehr vertraut. Verwirrt mich. Verführt mich. Er ist gefährlich, könnte mir schaden, tut mir nicht gut – und dennoch anziehend.
Man wehrt sich, denn man weißt: Es ist nicht richtig. Er ist kein Freund, eher der Verursacher – er wird mich tiefer ins Unglück stürzen, indem ich schon längst gefangen bin.
Aber dann merkt man erst, wie nahe Liebe und Hass beieinanderliegen, und dass man sich seinen Gefühlen nicht widersetzen kann. Und das dieser Weg der richtige sein wird – denn ich habe gewonnen.
Müde wälzte ich mich in meinem Bett herum, in der Hoffnung doch noch fünf Minuten schlafen zu können – doch es war vergeblich, die Sonne musste ja unbedingt genau auf mein Gesicht scheinen. Stöhnend schwang ich die Decke von meinem Leib, rappelte mich mit aller Mühe hoch. Der würzige Geruch von Rührei stieg mir sofort in die Nase, sodass ich augenblicklich würgen musste. Widerlich.
„Névra! Kommst du? Ich muss los, und Lucas soll nicht hungrig in die Schule.“, flötete meine Mutter aus dem Wohnzimmer zu mir her. War ja klar, dass das wieder an mir kleben blieb, so wie jeden Morgen. Eigentlich sollte ich mich mal langsam dran gewöhnen – oder auch nicht.
„Ja, ja.“, gab ich verschlafen zurück und kämpfte mich durch zum Bad, wo ich meine Zähne schnell putzte und anderweitige feminine Geschäfte erledigte. Taumelnd kam ich wieder in meinem Zimmer an, fühlte mich einfach ekelhaft. Ja genau, ekelhaft! Denn heute war nach drei Monaten Ferien wieder unser erster Schultag und den könnte ich herzlich ablehnen. Aber es musste ja sein. Aus meinem kleinen Einbauschrank zog ich mir eine Jeanshotpants mit einem weißen T-Shirt an, über das ich mir dann noch ein grün-weiß kariertes Hemd anzog, das ich offen ließ. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, das alles saß. Meine Feuerroten Haare fielen mir in großen Locken bis über die Brüste. Hellwache, grüne Augen sahen mich aus dem Spiegel heraus an. Hässlich war mein Spiegelbild nicht, das stand fest. Vielleicht durchschnittlich. Das zittern meiner Hände verrier meine Nervosität, obwohl es ein ganz normaler Schultag war. Dennoch überkam mich ein seltsames Gefühl, und meine diese täuschten mich nie! Aber sicherlich war ich ja auch einfach nur Paranoid. Wer weiß.
„Wir sehen uns heute Abend. Pass auf dich auf.“, dröhnte Claudias Stimme durch die Räume, ehe die Tür polternd ins Schloss fiel.
Nicht einmal Zeit, zum verabschieden hatte man, aber das sollte wohl mein kleinstes Problem für heute werden.
Schnell hüpfte ich in großen Schritten die Treppe zu meinem Bruder herunter, der bereits wie ein Soldat am Esstisch saß.
„Morgen, Schatz.“, begrüßte ich ihn und gab ihm liebevoll einen Kuss auf die Stirn. Wenn ich mal keine gute Schwester war!
„Morgen, Név.“, sagte Lucas leise zu mir und begegnete mir mit seinen haselnussbraunen Kinderaugen. Ich lächelte ihn breit an, dieser kleine Junge gab meiner Laune immer wieder den nötigen Schwung.
Natürlich, er hatte es auch nicht gerade einfach. Die einzig richtige Bezugsperson zu ihm war ich, da unsere Eltern jeden Tag bis zum späten Abend arbeiteten. Vor allem von meiner Mutter würde ich ein bisschen mehr erwarten, aber ich wusste auch, dass wir es nicht ganz so leicht hatten, und dass sie deshalb so viel beschäftigt war.
Seufzend tapste ich in die Küche, nahm einen Teller heraus und legte meinem kleinen Bruder etwas Rührei und Brot auf den Tisch.
„Isst du denn nicht mit?“, fragte er zaghaft, als wolle er das wirklich.
„Nein Schatz, ich muss jetzt los. Amélie wartet schon auf mich.“, besänftigte ich ihn, zog mir meine grünen Sneaker an und schnappte mir den Hausschlüssel vom Bund.
„Okay.“, flüsterte er, und senkte mir gegenüber seinen Blick. Er war wirklich süß. Ja, ich würde alles für den kleinen machen! Für seine zehn Jahre war er schon reifer als andere Kinder, die nur nerven konnten.
„Ich bin ja später wieder da – verpass' deinen Bus nicht!“ rief ich noch auf dem halben Wege.
Abermals ein leises „Okay“, als die Haustür sich schloss und ich mich auf den Weg zu Amélie, meiner besten Freundin machte. Für September war es wirklich noch warm. Eine angenehme Brise wehte mir entgegen, so das ich den Geruch von Lavendel tief einatmete. Die Straßen waren belebter als zuvor, Kinder und Jugendliche in jeder Altersklasse suchten ihren Weg zurück in die Schule. Schrecklich. Der Gedanke daran zog fest an mir herum, sagte mir, ich solle umkehren und mich wieder ins kuschelige Bett legen. Aber nein! Schule, Schule, Schule!
Ich setzte meine Schritte einfach fort, beachtete mein Umfeld gar nicht mehr und merkte so auch nicht, wie ich über eine rote Ampel lief.
Plötzlich hupte ein Auto, ich riss meinen Kopf entsetzt hoch. Es steuerte direkt auf mich zu, mein Körper war wie gelähmt. Keiner meiner Muskeln rührte sich, ich war Stocksteif. Mein Herz hämmerte kräftig gegen meine Brust, wollte sich nicht beruhigen.
Gott Névra, bewege dich, rief ich mir selbst zu. Ich dumme, stattdessen schloss ich die Augen und wartete auf einen zerreißenden Schmerz. Quietschende Reifen rieben über den Asphalt, dann war es still.
Menschengewirr, überall um mich herum, das Hupen anderer Autos.
„Sag mal bist du behindert oder so? Kannst du nicht gucken, wo du hinläufst?, schrie mich eine junge Stimme an. Langsam öffnete ich die Augen, schaute den schwarzen BMW an, der nur nur wenige Zentimeter von mir entfernt war. Ein Junger Mann, ungefähr so alt wie ich, stieg aus und beschimpfte mich mit einer ganzen Welle von Kraftausdrücken. Also ehrlich, kann doch mal jedem passieren, das er versehentlich über Rot läuft, oder? Dennoch hielt ich meine Zunge bei mir und entlaste mich mit einem kurzen „sorry“. Beim vorbeigehen sah ich mir noch einmal den Typen mit den hellbraunen Haaren an. Doch das, was mich für einen Moment lang verunsicherte, war der Fahrer. Denn der saß still auf seinem Sitz, doch ich spürte wie sein Blick mich durchbohrte, auch, wenn ich nicht viel erkannte. Mit zügigem Tempo wandte ich mich dann doch ab, lief geradewegs Richtung Amélie.
„Névra! Endlich!“, schrie sie wild und sprang mich förmlich an. Ich erwiderte ihre innige Umarmung, drückte sie fest. Ich hatte sie auch so schrecklich vermisst. Einen ganzen Monat war sie zurück nach Frankreich verreist, um dort ihre restliche Familie zu besuchen.
In dieser Zeit haben wir so gut wie jeden Tag telefoniert, um ja nichts voneinander zu verpassen.
„Ich hab dich auch so vermisst.“, sagte ich voller Freude. Sie schob sich ein kleines Stück zurück, strahlte mich über das komplette Gesicht hin an. So sah sie wirklich süß aus, mit ihren blonden Haaren und den großen blauen Augen. Seit wir im Kindergarten waren, kannten wir uns und waren beste Freundinnen. Keiner, wirklich keiner könnte uns jemals auseinanderbringen.
„Du musst mir alles erzählen!“, forderte sie mich freudig auf, als wir den Park, der in die Schule führte, durchquerten.
„Ach, du weißt doch. Immer das gleiche, langweilige. Erzähl lieber wie es in Paris war.“, sagte ich lächelnd, denn ich wusste genau, dass sie immer etwas erlebte.
Und damit hatte ich auch gar nicht so Unrecht, als sie mir von dem schönen Wetter, der großen Familie und ihrem neuen Schwarm berichtete. Das war aber auch zu erwarten, also echt. Amélie gehörte leider zu den naiven Mädchen, die sich sofort mit Haut und Haar in die fiesesten Typen verliebten, nur um dann verletzt zu werden. Ich war da etwas vorsichtiger. Man kann es nennen wie man es will, ob kitschig oder nicht, aber bei mir zählte eher der Charakter. Solche arroganten Schnösel konnte ich wirklich überhaupt nicht abhaben. Nur leider fühlte ich mich dazu verpflichtet, so armen Mädchen wie ihr zu helfen – keiner kann es wagen, sie zu traurig zu machen!
Zurück in die Realität – da wären wir also. Vor uns erschien das große Schultor alias Eingang in die Hölle. Hunderte von Schüler versammelten sich schon auf dem Pausenhof, Freunde die sich kreischend in die Arme fielen, Paare die an jeder erdenklichen Ecke rummachten und die selben Cliquen an ihren Stammplätzen vor der Toilette oder hinten auf der Wiese.
„Ich will doch wieder Ferien, Név! Mit dir.“, nörgelte meine Freundin neben mit her.
„Zu spät, meine Liebe.“
Obwohl das ein fantastischer Gedanke war.
Im großen Hauptflur quetschten sich alle aneinander, schubsten und drängelten. Meine Güte, waren die denn so scharf auf Unterricht und nervende Lehrer? Also ich nicht.
Ehrlich, da konnte ich drauf verzichten.
„Oh mein Gott Névra! Guck schnell, guck schnell!“, quietschte Amélie plötzlich total besessen. Was war denn jetzt wieder?
„Was denn?“, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Prompt drehte sie meinen Kopf in die besagte Richtung. Zu erst musste ich suchen, aber wenn es nach ihr ging, wusste ich genau worauf sie hinaus wollte.
Oh je, gar nicht gut. Ich erkannte den Jungen, der mich heute mit seinem Kumpel fast tot gefahren hatte, aber dann noch so unverschämt beleidigte. Hoffentlich bemerkte er mich nicht. Daneben sah ich noch einen etwas kleineren, schwarzhaarigen. Doch die waren alle unwichtig, denn es war nur einer, der mich in seine Anwesenheit zog - Eine große Figur, gut gebaut mit markanten Gesichtszügen, die ihn edel aussehen ließen. Dunkelbraunes Haar, an den Seiten etwas kürzer geschnitten, dazu sinnlich geschwungene Lippen. Doch es war nicht das, was mich fesselte, nein. Sondern diese sturmgrauen Augen, in denen man tief versinken konnte, ohne jemals auf ein Ende zu stoßen, soweit wie der Himmel selbst. Sie sahen einladend und gefährlich zu gleich aus, als ob man Abstand von ihnen nehmen sollte. Als ich merkte, wie ich ihn anstarrte, wandte ich sofort das Gesicht von ihm ab und sah zu Amélie hin, die mich erwartungsvoll anschaute.
„Und? Heiß, oder? Die müssen neu hier sein.“, schwärmte sie voller Eifer. Ja, er sah wirklich gut aus. Aber er interessierte mich nicht. Mit solchen Leuten will ich nichts zu tun haben, der hatte ja schon so eine arrogante Ausstrahlung. Da kann er noch so hübsch sein, Névra Hernandez fällt nicht auf so was rein, niemals.
„Na ja, geht so. Du willst doch hoffentlich nichts unüberlegtes tun, oder?“, warnte ich sie vorsichtig.
Sie kicherte nur wie auf Drogen, und sagte dann: „Noch nicht. Mal gucken, wir werden sehen.“, gestand sie.
In Gedanken schlug ich mir schon den Kopf gegen die Wand. Bitte nicht.
Im bekannten Klassenzimmer steuerten Amélie und ich schon auf unsere alten Plätze zu, mit den vollgeschriebenen Tischen. Der kühle Raum füllte sich immer mehr und mehr mit Leben, alte Freunde die ich herzlich begrüßte, viele Gespräche und eine nahezu angenehme Atmosphäre.
Wie gewöhnlich wird das schönste an der Schule immer wieder kaputt gemacht, und durch wen? - Lehrer, ganz genau.
Mrs. Fenua stöckelte in den Klassenraum hinein. Für eine fünfzigjährige Frau zog sie sich an wie zwanzig. Wahrscheinlich fühlte sie sich mit ihren vollgespritzten Lippen auch dementsprechend.
„Psst, ich habe gehört wir kriegen einen neuen Mitschüler!“, flüsterte meine Nachbarin so leise wie möglich, „Vielleicht ist es ja dieser hübsche von vorhin!“
Ich verdrehte genervt die Augen. Soweit kommt's noch.
„Mach dir keine unnötigen Hoffnungen, Amélie“, sagte ich ebenfalls leise, „sieh nur, da kommt jemand anderes rein.“ Ich deutete mit dem Kopf auf einen jungen Burschen mit schwarzen Haaren, der für sein eigentlich hübsches Gesicht etwas zu klein war. Aber ich mit meinen ein Meter sechzig sollte wohl besser die Klappe halten... Moment mal, war das nicht der von vorhin?
Tatsächlich.
„Seid ruhig! Begrüßt lieber euren neuen Kamerad.“, wies Mrs. Fenua uns zurecht und nickte dem Neuen zu. Die Mädchen beendeten ihre schwärmerischen Gespräche, lauschten ihm.
„Hey“, fing er an, „ich bin Antonio, 17 Jahre alt, komme aus Portugal.“
Für einen kurzen Moment dachte ich, sein Blick hinge an mir. Aber das war sicher nur Einbildung.
„Schön, Antonio. Such dir doch einen freien Platz.“ forderte unsere Lehrerin ihn auf. Er setzte ein gespieltes Lächeln auf und ließ sich in der hintersten Ecke neben Fréd nieder. Dass das auch niemand merkte, wie falsch alles war. Na ja.
„Der war gar nicht mal so übel.“, lallte Amélie in der Pause fröhlich herum.
„Nicht mein Geschmack.“
„Ach komm schon, Név. Du bist immer so verschlossen!“, feixte sie mich an.
„Bin ich gar nicht. Ich halte nur nicht viel von dieser Art Jungen, dass weißt du doch.“ Sie sollte mich damit wirklich mal in Ruhe lassen. Ich wartete nun mal auf den Richtigen – das ist doch nicht falsch, oder?!
Schmollend ließ sie das Thema fallen und sagte nur noch: „Wenn du nicht willst, dann ich.“
„Aber wunder dich nicht, wenn wieder so etwas wie bei Joshua passiert!“, erinnerte ich sie an die schlechten Zeiten mit ihrem Ex-Freund.
Einen Moment lang schien sie zu überlegen und spielte mit den Knöpfen ihrer Jacke.
„Wird schon gutgehen!“
Es ist ja nicht so, dass ich sie nicht gewarnt hätte.
In der Cafeteria herrschte mal wieder viel Getümmel, da jeder ein Stück Pizza abkriegen wollte. Amélie stellte sich hinten an der Kasse an, während ich mich gerade auf den Weg machte, mich zu ihr zu gesellen. Auf einmal kam einer der jungen Jahrgangsstufen an mir vorbeigerauscht und stieß mich dabei weg. Ich schubste jemanden hinter mir an, irgendetwas viel klirrend zu Boden. Abrupt drehte ich mich um, sah in das Gesicht eines wütenden, Jungen mit kurzen, blonden Haaren, den ich hier ebenfalls noch nie gesehen hatte. Das ich heute auch eine Leidenschaft für Fehlerhafte Begegnungen hatte...
Als wäre das schon nicht genug, war sein Hemd voll mit Eistee versaut. Ups.
„Oh, ehm...“, stammelte ich, „Das tut mir wirklich Leid. Es war ein versehen, kann ich dir irgendwie helfen?"
Er zog eine Augenbraue hoch, schaute auf mich herab. Wie unhöflich.
„Ob du mir helfen kannst? Mädchen, du hast mir meine ganze Uniform versaut.“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wow, war der wütend.
„Ich weiß, und es tut mir auch wirklich Leid! Ich könnte dir das vielleicht bezahlen?", fragte ich unsicher. Das war dumm, ich hatte gerade echt kein Geld dafür. Es war ja nicht einmal meine Schuld, was hätte ich denn machen sollen?
„Bezahlen?“, plötzlich lächelte er total schmierig, „Und ob du bezahlen kannst. Anders.“
Worauf sollte das denn bitte bezogen sein? Das war äußerst pervers und a-sozial. Nein, so was lasse ich mir definitiv nicht gefallen. Das kann er mit anderen machen, aber nicht mit mir. Solche Typen haben zu viel Egoismus in sich, da macht es nichts aus es ab und zu zu zerkratzen.
„Widerlich. Mit dir würde ich nicht mal für den Einsatz meines Lebens ins Bett steigen!“, fauchte ich bissig. Wie du mir, so ich dir würde ich mal sagen.
Ich hätte noch viel mehr sagen können, doch langsam machte mir seine aggressive Haltung etwas Angst, so dass ich instinktiv zurückwich. Er hob die Hand, wollte noch was sagen doch da kamen schon die älteren meiner Stufe, beobachteten alles vorsichtig. Der blonde bemerkte es, ließ die Hand wieder sinken.
„Pass nur auf, Mädchen. Du wirst noch sehen.“, drohte er mir ein letztes Mal, jedoch nicht ohne ein hinterhältiges Grinsen.
Ich wusste nicht, ob ich das jetzt ernst nehmen sollte, doch das war auf jeden Fall nicht zu ignorieren.
Energisch schob er sich an mir vorbei, ließ den Schmutzigen Boden mit dem Tablett so, wie er war. Schnell suchte ich Amélies Anwesenheit, um zu verschwinden.
„Név! Hier bin ich.“, rief die vertraute Stimme meiner Freundin. Sofort schritt ich auf sie zu, zog sie am Arm und marschierte Richtung Ausgangstür. Sie hatte bestimmt nichts davon mitbekommen, aber ich musste raus hier.
Die restlichen Unterrichtsstunden wippte ich unruhig auf meinem Stuhl hin und her. Das alles war wirklich Fatal – der erste Schultag, und Chaos war schon vorprogrammiert.
Auch die Stunden wollten kein Ende mehr nehmen, schienen sich in die Länge zu ziehen.
Unser Geschichtslehrer erzählte uns gerade etwas über die französische Revolution, was mich normalerweise sehr interessiert hätte, aber in Moment nervte alles. Ich schweifte mit meinen Gedanken total ab, in mein eigentliches Leben. Im Haushalt gab es noch so viel zu tun, Lehrer überschütteten uns mit irgendwelchen Hausaufgaben und Lucas brauchte nach der Schule noch etwas zu essen. Oh ja, wie ich mich freute...
„Hey, alles gut bei dir?“, weckte mich Amélie aus meinen Tagträumen. Zu erst brauchte ich wirklich ein paar Sekunden, um ihre gesprochenen Worte zu verstehen, doch dann setzte ich ein kleines Lächeln auf gab ihr zu verstehen, das alles in Ordnung sei. Sie war die einzige die so gut wie alles über mich wusste. Ich ließ nicht viele so nahe an mich heran, doch bei ihr war es nun mal anders – ist bei so langer und inniger Freundschaft ja auch klar.
Die Erlösung kam, endlich beendete das Schellen der Schulglocken den Unterricht für heute. Glücklich packten wir alle so schnell wie möglich unsere Sachen ein und verließen diesen kalten Raum. Also ich hätte jetzt nichts gegen drei Monate Ferien! Diese Stimmungsschwankungen unserer Vorgesetzter waren ja jetzt schon nicht mehr auszuhalten.
Draußen auf dem Hof steuerten wir alle auf das Tor zur unserer Freiheit zu, die meisten, die sich lange nicht gesehen hatten verabredeten sich schon für heute.
„Név, ich muss noch in die Stadt. Kannst du mitkommen?“, fragte mich Amélie mit hoffnungsvollen, strahlenden Augen. Ich wäre wirklich gerne mitgegangen, aber meine Pflichten waren nun mal wichtiger. Schwach lächelnd schüttelte ich den Kopf.
„Sorry, aber ich muss mich noch um Lucas kümmern. Du weißt ja, meine Eltern sind nicht so oft da.“, erklärte ich ihr meine Situation.
Traurig ließ sie die schultern fallen. „Schade... Aber wenn du Hilfe brauchst, sag mir bescheid!“ Das war wirklich süß von ihr. Auf seine beste Freundin konnte man sich eben immer verlassen.
„Mach ich, danke.“, sagte ich noch, ehe wir uns umarmten und zwei verschiedene Richtungen antraten.
Ich lief alleine durch den stillen Park, in der keine Menschenseele zu finden war. Das war mal angenehm. Der lauwarme Wind wirbelte mir meine Roten Locken um die Schultern, trug die bunten Blüten der Blumen mit sich. Unter meinen Schuhen rasselten die kleinen Steine, beruhigten mich.
Dieser Moment schien für das Ende der Schule perfekt, oder? Dachte ich zu erst auch.
Doch wie aus dem Nichts kam mir von der anderen Seite des Parks kein anderer entgegen, als Blondi aus der Cafeteria. Sofort hielt ich inne, leichtes Unbehagen breitete sich in mir aus, denn als er mich sah, fing er an schäbig zu grinsen. Ich wusste nicht ob ich einfach weitergehen sollte.
Er setzte in meine Richtung an, auf seinem weißen Hemd prallte noch immer der Fleck hervor.
„Na, wen haben wir denn da?“, begrüßte er mich heimtückisch. Langsam wich ich zurück. Schnell wäre allerdings besser gewesen, denn er hatte keine Hemmungen dafür, mich einfach grob am Arm zu packen und in seine Richtung zu ziehen.
„Spinnst du? Lass mich los!“, fuhr ich ihn an und versuchte, mir den Arm aus seinem widerlichen Griff zu ziehen.
„Habe ich dir denn nicht gesagt, dass das noch Folgen haben wird? So wie du mich in der Cafeteria bloßgestellt hast.“
Das war echt übel. Hatte der Typ den kein Mitleid, oder so? Irgendwie musste ich mich hier raus schaffen, und zwar möglichst zügig.
„Ich habe dir mein Geld schon angeboten. Nochmal: Es tut mir Leid. Und jetzt lass mich bitte los.“, herrschte ich mein Gegenüber ruhig an. Das war schon ganz gut, fand ich! Nur brachte es mir nichts, denn plötzlich zog er mich noch enger zu sich, hielt beide meiner Arme gut fest und raunte mir mir dann ins Gesicht: „Deinen schönen Körper hast du mir aber noch nicht angeboten.“
Für den Bruchteil einer Sekunde blieb mein Herz stehen. Sein ekelhafter Atem nach Zigarettenrauch machte mir Übelkeit, benebelte mich. Ich schaute in seine braunen Augen, sah nichts als hinterlistige Gedanken. Erschrocken riss ich den Mund auf, wollte was sagen, aber es kam nichts.
Reiß dich zusammen, Névra! Schrei einfach!
Doch wie, als hätte er meine Absichten bemerkt legte er seine große, widerliche Pranke auf meinen Mund, drängte mich immer weiter an die Seite, wo man uns nicht mehr sehen konnte. Nein, das kann doch nicht wahr sein! Was glaubt der Typ denn, wer er ist? Ich wehrte mich mit allen Mitteln, leistete Widerstand mit ganzer Kraft. Was war das nur für einer, wie konnte man denn so grausam sein? Ich verstand es nicht. Würde es auch nie.
„Behandelt man denn so eine Frau, Carlos?“, lachte jemand hinter uns, doch ich nahm es nicht so richtig wahr.
Mit einem Mal übertönte ein lauter Schrei meine Gedanken, der schmerzende Griff ließ von mir ab. Fassungslos drehte ich mich um, rieb dir dabei die Arme. Wo kam der denn jetzt her, fragte ich mich, als ich den blonden keuchend auf dem dreckigen Boden wiederfand. Über ihn stand er, mit gelangweiltem Blick, aber strenger Haltung. Mühelos hob er meinen Feind am Kragen wieder hoch, zischte ihm mit rauer Stimme etwas ins Ohr, was ich nicht mitbekam. Carlos, wie er wohl hieß, sah ein letztes mal wütend zu mir, wehrte sich aber kein Stück. War der andere Typ so etwas wie sein Boss? Keine Ahnung.
Jedenfalls suchte er schnell das weite, seinen miesen Blick spürte ich sogar noch, als er weg war.
Nun sah ich aber nur ihn an, direkt durch seine sturmgrauen Augen. Ein süffisantes Lächeln bildete sich auf seinen sinnlichen Lippen, als er näher kam und unmittelbar vor mir stand. Der war echt groß. Oder ich war zu klein.
„Ich... Ehm... Danke.“, stammelte ich verunsichert. War doch richtig so, oder?
„Kleine Mädchen wie du haben hier nichts verloren.“, raunte er, als wäre das selbstverständlich. Nicht zu fassen! Arroganter geht’s wohl nicht?
„Hör mal, ich hab mich bedankt. Aber keiner hat dich drum gebeten, mir zu helfen!“, keifte ich.
„So wie du aussahst, hattest du das aber dringend nötig.“ Dabei legte er dieses egoistische Lächeln nicht einen Moment ab, trat noch näher heran und flüsterte: Ich wette, er hätte dich schon längst flachgelegt.“ Sein süßer Duft streifte mich und ließ mich schwer aufatmen. Der Unbekannte zog sich wieder zurück, grinste breit.
Mir blieb die Sprache verschlagen. Egal ob er mit geholfen hat, oder nicht – Er war verdammt unverschämt. Da nahm er sich einfach die Dreistigkeit, so mit mir umzugehen, als wäre ich eine Art Gegenstand. Falsch gedacht.
Trotzdem kam er mir etwas unheimlich vor, wie er mich anschaute, mit diesen durchbohrenden Gewitteraugen.
Entschlossen trat ich einen großen Schritt zurück um mehr Distanz zu gewinnen.
„Soweit wär's nicht gekommen!“, protestierte ich laut. Schlechte Lüge. Mister ich-bin-toll lachte leise mit seiner dunklen Stimme. Über mich!
„Aber sicher.“
Er drehte sich überheblich um und stolzierte einfach davon, die Hände locker in den Taschen seiner beigen Hose.
Da stand ich also alleine und hasste diesen Typen, dessen Namen ich nicht mal kannte, der mich aber vor einem schlimmen Vorfall bewahrt hatte.
Habe ich schon erwähnt, das mich mein schlechtes Gefühl niemals täuscht?
Ob ich Amélie etwas davon erzählen sollte?
Ob ich zur Polizei gehen sollte? Ich war mir echt nicht mehr so sicher, was das angeht.
Außerdem hatten meine Eltern auch schon so genug Stress, dass konnte ich ihnen nicht antun, nein. Dennoch hatte ich Befürchtungen was Carlos angeht. Über diesen anderen arroganten Schnösel, der mich eigentlich gerettet hat, mochte ich gar nicht nachdenken. Schlecht gelaunt bog ich in meine Straße ein, eine eher schäbigere Gegend. Hier liefen Nachts sogar Einbrecher herum, weshalb die alten, verängstigten Rentner all ihre Türen und Fenster gut verschlossen. Schon von weitem erblickte ich unser kleines Haus, dessen Außenwände voll mit Efeu bewachsen waren.
Ich trat durch die kleine Eingangstür herein, empfing den engen Flur der ins kleine Wohnzimmer führte.
„Lucas?“, rief ich in die Stille den Namen meines Bruders hinein.
„Bin hier im Wohnzimmer!“, schrie er mit seiner piepsigen Stimme, bei der ich augenblicklich anfing zu lachen.
Ich begrüßte ihn mit einer festen Umarmung und küsste dabei seine weichen, roten Haare, die wir samt der Farbe von unserer Mutter geerbt hatten.
So bereitete ich ihm noch das Mittagessen zu, brachte das Haus in Ordnung und schmiss mich gleich danach in mein Bett. Ich kuschelte mich tief in die Decken hinein, beobachtete aus meinem Fenster die Menschen. Die einen im Stress, die anderen gemütlich am herumspazieren.
Für einen kurzen Moment klappten meine Lider herunter. Die Anstrengung des gesamten Tages legte sich über mich, ließ meinen Körper seltsam schwer werden. Müdigkeit lähmte meine Muskeln, brachte mich zum schweigen. Keine Geräusche der lauten Straße oder schreienden Menschen erreichte mich, als ich in einen erholsamen Schlaf glitt.
Licht drang in meine Augen, ich musste sofort blinzeln. Stimmt ja, ich war eingeschlafen.
Von unten dröhnte der alte Fernseher bis hier her. Waren sie etwa schon da? Ein Blick nach draußen zeigte mir die weite Dunkelheit. Sofort sprang ich auf und rannte die alte Holztreppe herunter, die mit jedem Aufsetzten meiner nackten Füße knarrte.
Da saß er auf der Couch, mein Vater Alessandro. Er sah ziemlich fertig aus, mit tiefen Augenringen und einem ungepflegten Bart. Langsam ging ich auf ihn zu.
„Papa?“, sagte ich leise, um ihn nicht zu erschrecken. Benommen drehte er sich zu mir, sah mich eine Weile lang an, bevor er sprach: „Hallo, Névra.“ Dabei klang seine Stimme ungewohnt brüchig und tonlos.
Was war denn mit dem los? Ich setzte mich neben ihn, betrachtete sein müdes Gesicht genauer. Große Tränensäcke bildeten sich unter seinen Augen, die Haut sackte ein.
„Hey, ist irgendwas?“, fragte ich vorsichtig und legte meine Hand auf seinen Rücken. So aufgelöst war er noch nie. Ob was passiert ist?
„Hm? Oh, ja sicher. Alles gut.“, gab er mir monoton zu verstehen.
„Sicher? Brauchst du was?
Wieder schaute er mich lange an, in seinem Blick erkannte ich nichts, was mich auf etwas hinwies. Er war leer.
„Nein... Danke.“, beantwortete er meine Frage dann letztendlich. In seiner Hand hielt er verkrampft einen Zettel zerknüllt. Wie ausgewechselt starrte er auf das Stück Papier hinab, drückte seine Hand fester drum. Was das wohl war? Ich entschied mich, ihn für eine Weile in Ruhe zu lassen, doch es schwirrte mir noch immer im Kopf herum, ließ ein neues, schlechtes Gefühl in mir aufkeimen.
Ich redete mir ein, das es nichts ernstes sei. Er war noch nie der fürsorgliche Teil unserer Eltern. Probleme bei der Arbeit gab es doch immer, oder?
Gelassen torkelte ich in die Küche, schmierte mir zwei Scheiben Brot mit Nutella und befand mich auch schon wieder oben, wo ich nach Lucas sah, der zufrieden in seinem Bett schlief. Ein kleines Lächeln huschte mir über die Lippen, als ich seine Tür leise schloss und mich an meine Geschichtshausaufgaben ran setzte. Hurra...
Ein nervtötendes Ringen hetzte mir durch den Kopf, machte mich wirklich wütend. Ich streckte meine Hand nach dem Geräusch aus, aber ich erwischte nichts. Normalerweise war das doch meine Art, es stumm zu stellen? Widerwillig hob ich den Kopf an, sah durch mein Zimmer.
Da war ich doch wirklich auf meinem Schreibtisch eingeschlafen, mit einem leeren Blatt vor mir – das wird meinen Lehrer sicher erfreuen.
Dafür tat mir mein Rücken jetzt aber höllisch weh, was kein Wunder war. Ich entschied mich für eine Muskel entspannende Dusche und tapste hinüber zum Bad.
Das heiße Wasser prasselte auf meine nackte Haut, ließ mich wohlig aufstöhnen. All meine verspannten Muskeln und Sehnen ließen locker. Ich schamponierte mir meine Locken noch mit einem frischen Vanillearoma ein, ehe ich zurück ins Zimmer lief und schnell in eine Röhrenjeans und ein Top schlüpfte. Meine Haare band ich zu einem Hohen Pferdeschwanz zu, um meinen Hals hing ich mir einen grünen Smaragd an eine Silberkette, der meine ebenso grünen Augen betonte. Ich hatte ihn einst von meiner Oma bekommen. Seit sie gestorben ist, hütete ich es wie einen Schatz.
Im Wohnzimmer angekommen, sah ich Claudia seit zwei Tagen wieder das erste Mal.
„Guten Morgen.“, nahm sie mich uninteressiert in Empfang, als sie an dem Herd stand und wieder etwas für Lucas zubereitete. Sehr nett von ihr.
„Morgen“, gab ich genauso trotzig zurück, während ich mich in meine Schuhe kämpfte.
„Dein Essen liegt auf dem Tisch.“, wies sie mich noch zu recht.
„Danke, Mama.“
Ich schnappte mir mein Brot und stopfte es in meine schwarze Umhängetasche.
„Wirst du dich um Lucas kümmern?“, fragte ich, weil sie um diese Zeit praktisch schon auf der Arbeit am Flughafen war.
„Ja“, sie drehte sich zu mir und lächelte mich schwach an, „ich habe heute frei bekommen.“, erklärte sie dann. Das brachte sie also zum Lächeln, aha...
Knapp nickte ich ihr zu. Warum waren alle in letzter Zeit so komisch? Oder eher seit gestern? Nun, man weiß es nicht.
Ich verabschiedete mich mich von Claudia und Lucas, mein Vater war schon längst wieder weg. Der Gedanke an ihn rief mir die Szenen aus dem letzten Abend zurück in den Kopf – was war da nur los mit ihm? Er hatte schon öfter mehrere Schichten gehabt, die wesentlich anstrengender waren, und war trotzdem ganz normal zu uns. Ich habe auch deutlich gesehen, das seine Hände gezittert haben. Ob dieser Zettel wohl was damit zu tun hatte?
Ich beschloss, mich ein anderes Mal darum zu kümmern. So schlimm kann es ja wohl nicht sein.
Wenn ich da mal nicht Unrecht hatte.
„Was hast du jetzt?“, fragte ich Amélie, als wir beide auf unseren Kursplan schauten.
„Mathe, du?“ Sie sah mich flehend an, doch ich lächelte nur und schüttelte den Kopf: „Erdkunde.“
„Manno.“, beklagte sie sich enttäuscht.
„Treffen wir uns vor der Cafeteria?“
„Klar!“
„Gut, dann bis später.“ Wir trennten unsere Wege, als ich auf das Nebengebäude zulief.
Ich hatte nur ein Gebet an Gott zu verkünden: Bitte verschone mich mit irgendwelchen blonden Typen oder etwas anderes, arrogantes dergleichen.
Doch man sollte sich niemals zu früh freuen. Die Tür, auf die ich zusteuerte wurde mit meiner Meinung nach zu viel Kraft auf geschwungen und aus einer überheblichen Haltung stolzierte Carlos heraus. Mist.
Unsicher ging ich dennoch weiter, er würde doch nichts mehr machen, oder? Ganz sicher nicht in der Schule. Langsam setzte ich einfach fort, Schritt für Schritt. Der blonde hatte ein genervtes Gesicht aufgesetzt, seine braunen, rot unterlaufenen Augen zeigten, wie sauer er war. Das einzige was er tat, war mir einen tödlichen Blick zuzuwerfen, der mich kurz zittern ließ und anschließend energisch an mir vorbei zu brausen, so dass er meine Schulter extra streifte und ich kurz den halt verlor. Arsch.
Schon fast vor dem Eingang, ermutigte ich mich selbst und schritt selbstbewusst drauf zu.
An der Tür zum Raum tummelten sich schon viele Schüler, darunter auch neue Gesichter. Erleichtert atmete ich aus, als ich weder das eine, noch das andere sah.
„Név!“, piepste mir jemand zu.
Ich drehte mich zu Ren um, die mir zuwinkte. Sie war eine asiatische Schönheit, mit langen, schwarzen Haaren und einer schlanken, großen Figur. Wir verstanden uns schon seit der sechsten Klasse hervorragend.
Ich begrüßte sie ebenfalls freundlich und gesellte mich zu ihr.
Zusammen marschierten wir in den Raum hinein, als unser Erdkundelehrer kam.
Ren suchte sich sofort einen Platz in der hintersten Reihe und bedeutete mir, mich neben sie zu setzen.
„Weißt du denn schon, wen wir alles neues haben?“
Aufmerksam ließ ich meinen Blick durch die Klasse schweifen, doch keiner von den dazugekommenen Schülern kam mir bekannt vor.
„Nein, ich glaube nicht.“, gab ihr ihr zu verstehen.
Gerade begrüßte uns der Lehrer, als es plötzlich an der Tür klopfte. Wer war das denn jetzt?
Neugierig streckten sich alle Köpfe Richtung Tür, warteten auf den Neuankömmling.
„Sorry“, offenbarte sich eine tiefe Stimme, die durch den Raum schnitt, „hab' verschlafen.“
Und dann trat er herein, die wohl egoistischste und von sich selbst überzeugteste Person auf dem Planeten Erde.
Er trug eine helle Jeans, die ihm locker an den Hüften hing, kombiniert mit einem dunkelblauen, langärmligen T-Shirt das seinen gut gebauten Körper definierte.
Warum musste er unbedingt so gut aussehen? Das verdiente er doch nicht. Und ich ihn in meinem Kurs erst Recht nicht! Verärgert ließ ich meinen Kopf auf den Tisch fallen.
Die Mädchen fingen wie besessen an, zu kichern, andere richteten sofort ihre Frisur.
Wie lächerlich. Selbst Ren grinste freudig vor sich hin, zupfte an ihren Klamotten.
„Ruhe!“, brüllte Mr. Sanchez. „Woher nehmen sie sich denn die Dreistigkeit, zu spät in meinem Unterricht zu erscheinen, Khan?“
Khan hieß er also. Und Ärger bekam er auch noch – wundervoll.
„Tut mir aufrichtig Leid, Mr. Sanchez. Es wird nicht wieder vorkommen.“, schleimte er sich dreckig ein. Er konnte ziemlich gut Lügen, das Arschloch von gestern war kaum wiederzuerkennen – doch der Schein trügt ja bekanntlich.
Lässig schritt zu durch die Klasse, setzte sich irgendwo an einen freien Tisch, Gott sei Dank weit weg von mir. Dabei würdigte er mich nicht eines Blickes.
Schön. Dieses Spiel kann ich auch.
Mr. Sanchez teilte uns dann noch mit anderen Partnern ein, und ich war wirklich froh, das Khan mir erspart blieb, der mit irgendeiner falschen Blondine seinen Spaß haben durfte.
„Névra? Sie arbeiten ab nun mit Mikele zusammen.“, verkündete unser Lehrer
Hm, wer das wohl war? Suchend schaute ich mich im Raum um, als ich einen Jungen mit straßenköterblonden Haaren und großer Brille entdeckte, der die Hand zu mir hob. Na immerhin. Ich packte meine Sachen und verließ Ren, ließ mich auf den Platz neben Mikele nieder.
„Hey.“, sagte er lächelnd und streckte mir seine Hand entgegen. Auch ich strahlte ihn breit an und erwiderte seinen Händedruck. Er war mir auf Anhieb sympathisch.
„Du bist neu hier, oder?“, fragte ich zaghaft.
„Na ja, schon... Eigentlich komme ich aus Porto, aber seit einem Jahr lebe ich nun hier in Lissabon.“, sagte er leise, während Mr. Sanchez noch immer die Partner bestimmte. Es war schon süß, wie schüchtern er war.
Wir unterhielten uns noch die ganze, restliche Stunde. Ab und zu hatte ich ein mulmiges Gefühl und eine Welle von Gänsehaut überschüttete mich, als ich einmal Khans kaltem Blick begegnete.
„Kannst ihn wohl nicht leiden, oder?“, grinste Mikele mich erwartungsvoll an. Er muss es wohl bemerkt haben.
„Oh... Ja. Ich kann ich überhaupt nicht ausstehen.“, gestand ich locker. Konnte dieser arrogante Schnösel ruhig mitbekommen. Abermals lächelte mein neuer Sitznachbar mich am, formte mit den Lippen die Worte „ich auch nicht“.
Wenn das mal nicht ein Pluspunkt war.
Der Erdkundelehrer war so gütig, uns fünf Minuten vorher rauszulassen, da er angeblich noch etwas zu erledigen hatte. Ich nahm sofort den Gang, der in die Cafeteria führte.
An dem großen Fenster stellte ich mich direkt in die Sonne, die mit ihren sanften Strahlen mein Gesicht streichelte. Ich schloss die Augen, genoss für eine kurze Zeit die kitzelnde Wärme auf meiner Haut, als mir das Licht plötzlich versperrt wurde. Eine Wolke?
Genervt öffnete ich die Augen, stolperte im nächsten Moment vor Schreck einen Schritt zurück.
Nicht schon wieder.
„Was soll das?“, keifte ich wütend, doch er schien es locker zu nehmen.
„Du verstehst dich aber ziemlich gut mit Mikele.“, deutete er an, und grinste selbstgefällig.
Ich hob eine Augenbraue, erwiderte den strengen Blick seiner kalten Sturmaugen.
„Bitte, was geht dich das an? Siehst du denn nicht, das du mir gewaltig auf die nerven gehst?“ So, das sollte sein Ego erst mal schlucken!
Allerdings hatte es nicht den gewünschten Effekt, im Gegenteil. Khan setzte einen Schritt auf mich zu, raubte mir somit den letzten Stück Abstand, als ich hinter mir die Wand ertastete. Ich schaute den Gang entlang, keiner war zu sehen. Das war schlecht.
Er senkte seinen Blick, ich spürte seinen heißen Atem im Gesicht. Meine Hände bebten, nein, mein ganzer Körper bebte vor Angst und Misstrauen.
„Naives Mädchen.“, raunte er leise zu mir her.
Okay, also das war ja wohl lächerlich.
Entschlossen schaute ich zu ihm hoch: „Weißt du was, Khan? Du bist mir echt egal. Und ich kann dich auch kein Stück leiden. Außerdem ist Mikele so nett, wie du es niemals sein wirst – leider. Du kennst mich nicht einmal und gehst mir trotzdem so richtig auf die Nerven. Sag mir einfach, was du willst und wir regeln das.“ Mein Ton schwang einen Takt höher, mein Selbstbewusstsein baute sich wieder auf. Es wurde gesagt, was gesagt werden musste. Er zog sich mit einem spöttisches Lächeln wieder zurück – machte dem das Spaß, oder was? - dann sagte er nur noch: „Bis bald, Névra“, und verschwand den Flur hinunter, als es exakt schellte und die Schüler bereits aus den Klassen kamen. Das hörte sich nicht gut an. Der nahm mich ja kein Stück ernst!
Mich beschlich ein ganz, ganz schlimmes Gefühl bei dem Typen.
Wenn das mal nicht vielversprechend wird.
Als ich Amélie sah, strahlte sie über das ganze Gesicht. Was wohl los war?
„Névra“, zog sie meinen Namen in die Länge, „rate mal wer in meinem Kurs ist!“
Na das konnte ja noch was werden.
„Keine Ahnung.“, log ich munter, konnte mir aber genau Vorstellen, wen sie meinte.
„Antonio!“, flüsterte sie, damit es keiner mitbekam.
„Wow“, sagte ich entgeistert, „das ist ja wirklich... toll.“ Oder auch nicht.
„Aber er ist echt nett!“, verteidigte sie ihn.
Oh man. „Mag ja sein, aber zieh keine voreiligen Schlüsse.“ Sonst würde das noch wie die letzten fünf Male enden.
„Ich weiß, ich weiß. Du hältst nicht viel davon... Na ja, wie sieht's aus mit heute? Hast du Zeit?“
Sofort fiel mir wieder ein, dass Claudia zu Hause war und sich um Lucas kümmern würde.
Perfekt! Da blieb mir endlich auch mal was von meiner Privatsphäre.
„Den ganzen Tag, meine Liebe!“, gab ich beglückt zu.
Wir vereinbarten, uns für den Abend am Strand zu treffen, es würde noch lange genug hell bleiben, als ich sich unsere Wege am Bahnhof zerteilten.
Müde ging ich die belebten Straßen entlang, mein Kopf pochte vor Schmerzen.
Dieser Khan.
Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein. Erst tat er einen auf nett, und im nächsten Moment kam seine Arschloch-Seite zum Vorschein. Und wieso verdammt noch mal, fiel jeder auf seine Masche rein? Bei mir würde das niemals ziehen.
Ich würde ihn einfach abservieren, wie heute. Immer und immer wieder, bis dieser Typ endlich merkt, wie unnötig er ist.
Oh ja.
Meine Laune war nicht im obersten Bereich, doch ich wusste dass sich das später ändern würde – wenn ich endlich wieder Zeit für mich hatte.
Für meine Gedanken, meine eigenen Vorstellungen vom Tag, mein eigenes Vorhaben.
Heute, versprach ich mir, würde mir es keiner so leicht vermiesen können!
Mit erhobenen Kopf öffnete ich unsere alte Eingangstür, trat ins kleine Haus in der Gasse hinein.
„Sag mal“, begann ich mein schweres Herz etwas auszuschütten, „weißt du was mit Papa los ist? Letztens hat er fast gar nicht mit mir geredet und war so komisch.“
Wir saßen gerade am Esstisch, mit bedrückender Stille, die ich brechen wollte.
Meine Mutter hielt inne, als sie sich gerade einen weiteren Löffel Suppe in den Mund schieben wollte. Verständnislos sah sie mich an, mit unschuldigen, braunen Augen.
„Er ist sicher zu überarbeitet gewesen. Du kennst ihn doch.“, suchte sie nach einer passenden Antwort.
„Ja, aber diesmal hat er kaum reagiert!“, protestierte ich.
Daraufhin zuckte sie nur mit den Schultern, als ob sie nichts wissen würde und schaufelte sich weiter Suppe in den Mund. „Alessandro hat sicher nur eine kleine Phase. Viel Stress, du weißt ja, wie das so ist.“ Für sie war das vielleicht normal, aber mich hatte das letztens schon etwas schockiert. Konnte ja auch sein, das ich mir einfach zu viel Sorgen machte.
Ich bedankte mich noch für das Essen und zog mich dann in meine eigenen vier Wände zurück.
Eine angenehme Brise wehte mir mit all ihren verschiedenen Düften entgegen und ließ mich wohl aufatmen. Der Geruch von Wasser und Salz wurde mit jedem Schritt stärker und ich spürte, wie das frische Aroma mir das atmen erleichterte. Das Geräusch der kleinen Wellen, die auf das Ufer trafen beruhigten mich, nahmen mir eine große Last von den Schultern. Ich fühlte mich frei und leicht, konzentrierte mich nur noch auf das endlose Blau vor mir, das in der Abendsonne mit ihren Strahlen spielte und glitzernde Muster formte. Jedes Mal wenn ich hier war, schien alles wie vergessen.
Der Sand war so fein wie Mehl, weich und zart umschmeichelte er meine nackten Füße, polsterte mich in jedem Schritt. Meine roten Locken harmonierten mit dem orangen Farbton der wärmenden Sonne.
„Du lächelst schon seit dem Hinweg ununterbrochen.“, bemerkte meine Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen. Kichernd antwortete ich: „Keine Ahnung. Bin wohl glücklich.“
Auch sie lachte jetzt und stieß mich an der Seite freundschaftlich mit den Ellenbogen an.
„Da bin ich froh.“, gab sie zu.
Ich auch. Nichts konnte mir dies hier versauen oder sonst was. Es war mein eigener, perfekter Moment den ich in vollen Zügen genoss.
Wir waren schon etwas durch den Stand getappt und setzten uns daher an einen Steg, der ins Meer führte und an dem wir unsere Füße ins glasklare Wasser baumeln ließen.
Ich wollte meiner Freundin einen Teil meiner Erlebnisse erzählen, ihr berichten, wie ich mich fühlte.
„Hab ich dir das schon erzählt?“, fing ich prüfend an, „Dieser Schönling ist in meinem Erdkundekurs.“ Ich schaute Amélie fest in die Augen, deren Blick sich nun weitete.
„Du meinst den, den wir letztens gesehen haben? Mit den braunen Haaren?“ Ihre Stimme wurde immer lauter. Als wäre das ein Weltwunder, oh man.
Nickend bestätigte ich ihre Aussage, was dazu führte, das ihr Mund ebenfalls weit offen blieb.
„Wieso hast du mir das nicht vorher gesagt? Ich bin echt neidisch! Der Typ ist so was von heiß.“, endete sie schließlich. Seufzend blickte ich gen Himmel, es war schon etwas frischer geworden.
„Glaub mir, der ist echt Arrogant. Weder Anstand, noch Respekt kennt der Kerl.“, beschwerte ich mich. Ist ja auch wahr.
Wir diskutierten noch lange über Vorurteile, und dass ich Khan noch gar nicht richtig kennen würde, und zu voreilige Schlüsse ziehen würde. Ich nahm es ihr nicht übel, immerhin habe ich die Sache mit Carlos und ihm weggelassen. Sie sollte sich keine unnötigen Sorgen machen.
Die Nacht brach über uns herein, hüllte uns in ihre Schwärze. Ich zog mir meine dünne Strickjacke enger um mich, damit ich nicht zu sehr fröstelte. Die Nächte in Lissabon waren für den Sommer schon immer etwas kühler. Wieder überkam mich eine stechende Gänsehaut und ich drehte mich instinktiv nach Hinten um, wo natürlich nichts war. Schon seit einiger Zeit hatte ich ein merkwürdiges Gefühl und dachte, jemand würde uns beobachten. Aber ich war in letzter Zeit wohl einfach zu paranoid geworden.
„Ich nehme den Weg durch den Park.“, sagte ich am Ende des Strandes.
Amélie wollte mich dazu bringen, durch die Hauptstraße nach Hause zu gehen, doch das wäre mir definitiv zu lang. Es war der gleiche Park, der in die Schule führte, die ebenfalls in der Nähe des Strandes lag, und den ich in und auswendig kannte.
Sie warf mir noch ein paar abschätzende Blicke zu, umarmte ich dann ausgiebig und sagte mir gefühlte hundert mal, ich solle bloß auf mich aufpassen.
Amélie trat auf die hell beleuchtete Straße und entfernte sich immer mehr von mir, bis ich mich ebenfalls entschied, Abschied vom Strand zu nehmen.
Ich sah nochmals auf den Park, und irgendwie wurde mir sofort mulmig zumute. Dennoch redete ich mir das nur ein, weil Carlos mich hier bedrängt hatte. Diesen Weg ging ich schon seit meiner Kindheit auf und ab, mir macht keiner was vor.
So setzte ich also einen Fuß vor den anderen, freute mich riesig auf mein kuscheliges, kleines Bett. Wie falsch...
Der Wind wehte eifrig durch die Bäume, ließ Blätter und Äste pausenlos zappeln und rascheln.
Die dichten Baumkronen versperrten mir die halbe Aussicht auf den sternenklaren Himmel, der sich über mich hinweg streckte. Einzig und allein Meine Schuhe klirrten durch Erde und Stein, was mich immer weiter beruhigte, denn seit ich den Park betreten habe, schwitzten meine Hände.
Doch plötzlich stockte mir für kurze Zeit das Herz, als ich ein fremdes Geräusch hörte, und schnell herumwirbelte. Keiner zu sehen. Misstrauisch wandte ich mich wieder nach vorne, bald hätte ich es geschafft. Ich erhöhte mein Tempo, darauf bedacht alles in meiner Umgebung genau auszumachen, doch durch die Finsternis war dies vergeblich.
Ich fühlte mich wie in einem schlechten Horrorfilm, fehlte nur noch, dass ich, wie diese dummen Frauen „Hallo“ rein rief.
Abermals raschelte etwas, doch ich blieb nicht stehen, nein. Nur mein Herz.
Verdammt, es war stockdunkel! Ich rannte beinahe, das Geräusch schien mich wie zu verfolgen. Es war dort, wo ich war, es wurde immer lauter, als wäre es direkt neben mir. Nochmals drehte ich mich um, und da sah ich es, wenn auch nur kurz – ein flüchtiger Schatten.
Mittlerweile wurde mein Atem unregelmäßig, Schweiß rann mir über die Stirn. Mir war heiß und kalt zugleich. Was war das nur?
Schnell zuckte ich mein Handy hervor, wieso war ich nicht vorher drauf gekommen?
Wie versteinert tippten meine kühlen Finger über die Tasten, wählten die Nummer der Polizei.
Vielleicht würde das, wer immer hier auch war, abschrecken.
Mit einem Mal legte sich etwas um Meinen Mund und zog mir das Telefon aus der Hand.
Geschockt riss ich meine Augen auf, krallte meine Finger in den Arm, der mir die Atemwege zuhielt. Ich zerrte und zappelte wild herum, versuchte zu schreien, doch es war nur ein leises Stöhnen, was meiner trockenen Kehle entwich. Er war einfach stärker. Der Täter, wer immer das auch war, nahm beide meiner Arme fest in seinen Griff, legte mir etwas Raues auf Mund und Nase.
Oh Gott, bitte nicht! Das Adrenalin, was in meinen Adern brannte gab mir nochmals Kraft, mich gegen das Chloroformtuch zu stemmen, doch all das nützte nichts. Keuchend atmete ich tief ein, was ein gewaltiger Fehler war – denn ich nahm die Chemikalien des Tuches tief in mir auf. Schlagartig wurde mir schwindelig und übel. Meine Muskeln waren wie gelähmt, der Herzschlag reduzierte sich. Auch meine Augenlider wurden unerwartet schwer, fielen schon zu.
Fühlte es sich also so an, wenn man ohnmächtig wurde? Machtlos und als Opfer ausgesetzt, ohne etwas dagegen tun zu können. Jemand lachte neben mir, doch ich nahm dies nur am Rande wahr. Es war ein schreckliches Gefühl, man wurde in eine bedrückende Tiefe gezogen, ohne es zu wollen. Wenn so ein schlechter Horrorfilm ablief, so war er in der Realität wirklich heftig.
Was würde nur mit mir geschehen?
Ruckartig ließen die schweren Griffe von mir ab, etwas wie ein Husten dröhnte in meinen Kopf, gefolgt von einem leisen Schrei.
Jemand berührte mich am Arm, hob mich ohne Mühe hoch. Ich war zu müde, um zu registrieren, wer es war, doch der süße Duft nach Karamell kam mir bekannt vor.
„Ich sagte doch, naives Mädchen.“, hörte ich jemanden seufzen, zumindest glaubte ich das, denn ich wusste nicht, was mir mein Verstand alles vorspielte.
Ich wollte mich endlich wehren! Doch man zog mich immer weiter hinunter ins endlose Nichts, wo mich nur die Dunkelheit erwartete, bis ich komplett abstreifte und die Ohnmacht über mich gewonnen hatte.
Etwas weiches, warmes schmiegte sich um meinen Körper. Ich fühlte mich gemütlich, doch mein Kopf dröhnte noch voller Schmerzen.
Bin ich schon zu Hause? Was war mit meiner Verabredung mit Amélie?
Langsam hob ich meine Lider, setzte mich Stück für Stück auf. Ungläubigkeit und Schock packte mich, fesselte meine Kehle und all meine Glieder. Ich saß in einem riesigen Bett, das sich ebenso in einem riesigen Zimmer befand. Es war nur in schwarz-weiß, jedoch sehr modern eingerichtet.
Aber das beruhigte mich nicht, im Gegenteil – wo war ich? Wie kam ich hier her, und was war passiert?
Und wie, als hätte man einen Schalter in meinem Gehirn umgelegt, übermannten mich die Erinnerungen.
Irgendjemand hatte mich gestern Nacht im Park überfallen! Der Gedanke daran löste nicht nur Angst, sondern auch gewaltige Wut in mir aus.
Schnell schob ich die schwarze Decke von mir und tapse mit nackten Füßen am Boden entlang.
Direkt neben dem Bett befanden sich meine Sneaker, in die ich augenblicklich rein schlüpfte, indem ich auf dem Boden kniete. Als ich mich wieder aufsetzte, stockte mir der Atem. Mein Blick fiel auf die große, weiße Tür, in der in lockerer Position jemand mit gebräunter Haut am Türrahmen lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Wolltest du einfach gehen, ohne mir zu danken? Wie unhöflich.“, flötete eine melodiöse und gleichzeitig dunkle Stimme vor sich hin. Ich bekam heftige Atemnot, konnte es einfach nicht fassen.
Was sollte das hier?
Was hatte er mit all dem hier zu tun?
Ich verstand nichts, absolut gar nichts.
Zu viele Fragen häuften sich in meinem Kopf, aber auf keine konnte ich mir eine Antwort reimen.
„W-was machst du hier?“, stotterte ich noch immer vor Schock. Seine sturmgrauen Augen fixierten mich Gefährlich, ehe er langsam auf mich zukam.
Unbehagen machte sich in mir breit, ich ließ ihn keinen Moment aus den Augen.
Er stand nur einen halben Meter vor mir, blickte auf mich herab.
„Du weißt es nicht mehr?“, fragte er vorsichtig.
„Ich weiß nur, das ich überfallen wurde, und mir jemand ein Chloroformtuch vor die Nase gehalten hat.“, zischte ich schnippisch und wandte mich misstrauisch weiter nach hinten.
Konnte er das sein? Das traute ich ihm zumindest zu.
Doch plötzlich fing er an, schäbig zu Grinsen und trat näher auf mich zu.
Oh, oh. Hatten wir das nicht schon?
Abermals setze ich einen Schritt nach hinten, wo ich dann dummerweise über die Bettkante stolperte und auf die weiche Matratze fiel. Wieder nahm er den Platz zwischen uns ein und lehnte sich leicht über mich, die muskulösen arme aus sicherer Entfernung Rechts und Links von mir abgestützt. Ich fühlte mich wie ein kleines Tier, gefangen in einem Käfig.
Wie niederträchtig.
„Du glaubst, ich war es?“, säuselte er amüsiert und bedachte mich mit einem süffisanten Lächeln.
Mein Herz schlug mir bis zu den Ohren und ich hoffte, er würde es nicht hören.
„Das habe ich nicht behauptet.“, gab ich besserwisserisch zurück. So einer wie der kriegte mich nicht klein.
„Aber du hast es gedacht.“, raunte er bedrohlich und vollendete meine These. Volltreffer.
„Sag mir lieber, was passiert ist.“, forderte ich ihn auf. Er sah mich eindringlich an und ich hatte das Gefühl, von seinen Augen gefesselt worden zu sein. Ich konnte nicht deuten, was in ihnen zu finden war, doch sie strahlten gefährliche Präsenz aus. Eine ganze Welle Gänsehaut überschüttete mich, so dass ich anfing leicht zu zittern. Entweder er bemerkte es nicht, oder er ließ sich nichts anmerken, was ihm dann erstaunlich gut gelang.
Doch im nächsten Moment gab er wieder dieses unverschämte Lächeln von sich, mit dem er mich verspottete.
„Wie schon vermutet. Da dumme Mädchen wie du sich nicht alleine helfen können, musste ich das wieder übernehmen.“, verhöhnte er mich.
Dumme Mädchen? Ich? Na sicher. Das war mir jetzt aber zu viel. Da hat dieses dahergelaufene Model mich mal wieder vom Bösen bewahrt, aber dann nannte er mich dumm?
Eigentlich würde ich mir so eine Dreistigkeit niemals bieten lassen, doch ohne ihn wäre ich vielleicht nicht mehr wohl auf.
Schlimmer Gedanke, ich weiß.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, sah ihn wütend an.
„Da konnte ich nichts für! Wer rechnet denn bitte damit, entführt zu werden?“, fauchte ich bissig.
„Vermeide einfach Waldwege.“, sagte er monoton.
Ha, das hätte der wohl gerne.
Allerdings beschäftigte mich da noch etwas, was mir kein gutes Gefühl gab.
„Stalkst du mich eigentlich, oder warum warst du wieder rechtzeitig da?“, fragte ich argwöhnisch.
Kurz sah er mich fragend an, ehe er spöttisch die Augenbrauen hob und leise lachte.
„Pff, dafür bist du nicht Schön genug. Ich erinnere dich trotzdem gerne daran, das ich genauso wie du durch den Park laufen muss um zur Schule zu kommen, und dass ich euch gestern Abend nur zufällig begegnet bin.“, schloss er.
Zischend schubste ich ihn von mir, so dass ich mich wieder aufrichten konnte. Nicht schön genug ? Als würde ich gerne schön für ihn sein. Sollte der sich doch eine blonde Puppe suchen. Das mit dem Zufall schien mir dann aber doch eine gute Erklärung.
„Wie dem auch sei“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „Sag mir, ob du sein Gesicht erkannt hast.“ Khan schien genau zu wissen, das ich ziemlich wütend war und es gefiel ihm auch noch, denn er grinste ununterbrochen.
Abermals beugte er sich zu mir nach unten, nahe an mein Ohr heran: „Nein, Névra. Aber wer weiß, vielleicht war es ja jemand, den du kennst?“ Seine Stimme wurde leise und samtig, als ob er damit beabsichtigte, mich in Misstrauen und Angst zu versetzen, was ihm leider gelang. Ich wollte mir das nicht ansehen lassen, wies seine Aussage daher ab.
„Oh, wirklich? Danke für den Tipp, ehrlich. Ich glaube ich nehme ab jetzt meine Freunde unter Verdacht.“, gab ich sarkastisch von mir. Hoffentlich verstand so ein beschränkter Typ wie er das.
„Wäre das falsch, seine Freunde zu verurteilen?“ Er schien die Frage ernst gemeint zu haben. Das konnte ich echt nicht glauben.
„Ja, ist es!“, hob ich meine Stimme gegen ihn.
Diese Reichen waren alle gleich: Arrogant, egoistisch und zu selbstsicher.
Ich würde den Park Nachts ab jetzt meiden, und alles war gut.
Seine Mundwinkel zuckten wieder nach oben, er machte sich lustig über mich. Mir rechte das.
„Ich verschwinde.“, sagte ich, obwohl ich ihn bis aufs letzte beleidigen wollte. Aber nein, so niveaulos war ich dann doch nicht.
„Kein Dankeschön?“, fragte er gespielt traurig. Das ging mir wirklich auf die Nerven, aber dieser Braunhaarige hatte mir geholfen, und das nicht zum ersten Mal.
Ich hasste ihn, konnte ihn nicht ausstehen, doch ich musste zugeben, dass ich ihm mindestens einen Dank schuldete.
Seine Anwesenheit ist schlimm, aber immer noch besser als die eines Entführers, Vergewaltigers oder sogar Mörders. Dass ich ohne ihn irgendwo anders aufgewacht wäre, jagte mir eine tiefe Angst durch die Haut.
Ich nahm tief Luft, schaute in den Sturm seiner Augen, die vor Arroganz aufblitzen und sich daran erfreuten, wie ich um Worte rang.
„Danke, dass du mir wieder geholfen hast.“, sagte ich trotzig. Meine Stimme wurde mit jedem Wort leiser, weshalb ich den Blick senkte.
Warum geriet mein Leben gerade in allen Möglichen Punkten aus den Fugen?
Energisch schob ich mich an ihm vorbei, schritt geradewegs auf die Tür zu. Den Weg aus dieser Villa fand ich sicher auch ohne seine Hilfe.
„... Aber wer weiß, vielleicht war es ja jemand, den du kennst? “, hallten seine Worte in meinem Kopf wieder.
Dummer junge, was dachte der sich eigentlich? Ich hatte keine Feinde. Die habe ich extra jedes Mal gemieden, und nun kamen ein paar Schwachköpfe, darunter auch er, auf meine Schule und vermiesten mir alles!
Konnte es denn noch ätzender werden? Ich hoffte nicht. Weder Hunger noch Lust, in die Schule zu gehen hatte ich. Nun gut, in die Schule wollte ich ohnehin nie.
Amélies Anrufen war ich extra ausgewichen, so leid es mir tat.
Meine Mutter bemerkte nicht einmal, das ich gefehlt habe, da sie am Abend schon früher schlafen gegangen war und ich noch, bevor sie aufwachte, zu Hause ankam.
Müde presste ich mein Gesicht ins Kopfkissen. Zwei Tage und ich hatte schon genug.
Ich überlegte mir schon, heute einfach zu schwänzen. Der Gedanke war sehr verlockend und ich hätte ihn liebend gern ausgeführt, doch bereits am dritten Tag zu fehlen wäre schlecht. Und überhaupt gönnte ich es Khan nicht, sonst hielt er mich tatsächlich noch für ein hilfloses Mädchen – Mistkerl.
Ich duschte mich ausgiebig, gönnte mir diesen warmen Schauer. Bilder der letzten Nacht rasten mir durch den Kopf, zeigten vereinzelte Situationen. Zu gerne hätte ich gewusst, wer mir im Park schaden wollte – doch dass ich ihn kannte, war ausgeschlossen. Es musste also irgendein Pädophiler gewesen sein und ich war nur eines seiner beliebigen Opfer.
In meinem kleinen Schrank suchte ich mir eine helle Röhrenjeans und ein cremefarbenes T-Shirt, über das ich mir eine dunkelblaue, dünne Strickjacke anzog. Wind und Wetter spielten nicht immer mit den Wünschen mit, da sollte man auf alles gefasst sein.
Meine Locken ließ ich mir einfach über die Schultern fallen.
Die Uhr verriet mir, dass ich noch genügend Zeit hatte, Lucas und mir das Essen vorzubereiten. Seufzend ging ich in die Küche, schmierte für jeden von uns zwei Brote, die ich anschließend verpackte.
Danach lehnte ich mit den Ellenbogen auf die Küchenplatten, blickte benommen durch das Fenster, auf die kleine Gasse. Die Hausmutter gegenüber uns hing gerade ihre Wäsche auf, so früh am Morgen. Sie wirkte vollkommen am Ende, mit ihren drei Söhnen, ohne Geld. Und dennoch kämpfte sie weiter, weshalb ich sie beneidete.
„Névra?“, lallte plötzlich jemand müde hinter mir. Abrupt drehte ich mich um und entdecke Lucas auf der Treppe, der noch seine Augen rieb. „Wieso bist du denn schon wach?“, wollte er irritiert wissen und kam die restlichen Stufen zu mir runter.
Ich lächelte ihn zaghaft an und sagte, wie gut ich mich heute Morgen gefühlt hatte und unbedingt aufstehen wollte. Ha ha, das war die Lüge des Jahres, für ein kleines Kind jedoch schlichtweg eine gute Antwort.
Später traf dann noch meine Mutter zu uns, die mich ebenso interessiert ausfragte wie mein kleiner Bruder.
Ich hatte Unrecht, die Lüge kaufte sogar ein Erwachsener ab.
„Wieso hast du ein Handy, wenn du es nicht benutzt?“, war Amélies erster Satz, als ich sie auf dem Weg in die Schule abholte. Ich hatte keine Lust, mich damit auseinanderzusetzen. Ich meine, ich hätte heute beinahe geschwänzt!
„Sorry, ich hatte es lautlos.“, log ich mit einem kleinen, aufgesetzten Lächeln und hoffte, sie würde es nicht merken.
Sie musterte mich abschätzig, lies dann jedoch auf sich beruhen und lief stumm neben mir her.
Wir stellten noch fest, das wir an diesem Morgen den gleichen Kurs belegten und marschierten in Richtung Klassenraum. Die Schüler betraten einzeln den Kurs, lautes Getuschel ging zwischen den Tischen umher, machten mir einfach nur gewaltige Kopfschmerzen, so dass ich die Sitrn auf die Tischplatte gesenkt hielt.
„Hallo, Amélie.“, meldete sich plötzlich eine sanfte Stimme neben mir zu Wort.
Habe ich die nicht schon irgendwo mal gehört?
„Oh... ähm... Hi, Antonio.“, stammelte meine Freundin unsicher.
Ruckartig riss ich meinen Kopf in die Höhe, starrte den schwarzhaarigen vor unserem Tisch eine Weile einfach nur an.
Ich musste echt dämlich ausgesehen haben, aber das überraschte mich jetzt.
Antonio wandte sich an mich und begrüßte mich mit einem knappen „Hi“.
„Hey.“, gab ich misstrauisch zurück und lehnte mich in meinen Stuhl. Was hatte das alles zu bedeuten, und was wollte der Typ von uns?
„Das ist Névra, von der ich dir erzählt habe. Meine beste Freundin“, kicherte Amélie wie ein kleines Kind und lächelte mich breit an.
Von mir erzählt?
„Freut mich, Névra.“, sagte Antonio monoton und streckte dabei seine Hand aus. Ich konnte wirklich nicht sagen was, aber etwas störte mich gewaltig an ihm. Er hatte ein derart gespieltes Auftreten, was mir zumute machte, aber ich könnte mich auch täuschen.
Ich fixierte seine noch immer ausgestreckte Hand, ehe ich meine langsam entgegenstreckte und mit leichten Druck seine schüttelte. Ich sah ihm dabei prüfend in die Augen, konnte aber nichts verräterisches finden.
Eines war dennoch klar: Er gehörte zu Khan, und Khan war eben nicht ganz ohne...
„Ist er nicht toll?“, wollte meine beste Freundin voller Freude von mir wissen. Sollte ich das sagen, was ich dachte? Lieber nicht. Ich hatte keine Beweise oder sonst was dafür, das Antonio ein schlechter Kerl war. Und ohnehin würde das Amélie nur zu bedenken geben und traurig machen.
„Ja, ist echt nett.“, betonte ich sachlich und torkelte gelassen im Flur. Ich würde auf sie aufpassen, das stand fest.
Wir vereinbarten, uns wie immer an der Cafeteria zutreffen, sobald Pause war.
Entnervt suchte ich mir den Weg durch die Masse zum anderen Gebäude, in dem ich gleich Erdkunde haben würde. Einerseits freute ich mich wegen Mikele, andererseits auch nicht, wegen einem ganz bestimmten, arroganten Fiesling.
„Sieh an, Rotkäppchen ist da!“, spottete jemand vor der Tür. Alle Blicke waren auf mich gerichtet, und ich entdeckte den Jungen mit den hellen Haaren, auch bekannt als der Beleidiger, wenn er kurz davor war, jemanden zu überfahren. Keiner konnte ihn so wirklich ernst nehmen, daher wandten sich die meisten auch ab.
Schob mittlerweile denn jeder Hassattacken gegen mich, die irgendetwas mit Khan zu tun hatten?
Und wie, als hätte man vom Teufel höchst persönlich gesprochen, trat er hinter mir hervor und schrittt einfach vorbei, ohne mir auch nur den Hauch eines Blickes zu würdigen. Als wäre ich Luft. Puff.
„Halt die Klappe, Rony.“, sprach er in einem tiefen Ton, als wäre es ein Befehl.
Anscheinend war dem so, denn Rony verstummte und senkte geärgert seinen Kopf.
Lässt man sich heutzutage denn alles gefallen? Na ja.
Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter, erschrocken drehte ich mich um und begegnete dem schüchternen Lächeln meines Erdkundepartners.
„Oh, ich wollte dich nicht erschrecken.“, stockte er. Wie süß.
„Ist schon okay.“, beharrte ich und entdeckte den Verband um sein Handgelenk, „Was ist passiert?“, setze ich bemitleidend nach und deutete auf seine Hand. Er folgte meiner Geste und tippte auf den harten Gips.
„Bin beim Sport gestolpert und falsch aufgekommen.“ Beschämt ließ er den Kopf fallen. Fehlte nur noch, dass er rot wurde.
„Gute Besserung.“, meinte ich freundlich.
Er nahm es mit einem schwachen Nicken zur Kenntnis.
Mich überkam ein mulmiges Kribbeln, als ich mich an die Wand lehnte und aus dem Winkel diese grauen Augen genau auf mir heften sehen konnte. Trotzig wandte ich mich zu ihm, er schaute kalt und herablassend. Es löste eine unangenehme Gänsehaut in mir aus, als wäre ich eine Art Futter. Unwillkürlich musste ich frösteln und schlang die Arme um mein Leib.
Desinteressiert, und völlig gelangweilt drehte er sich wieder weg, als hätte er es nicht bemerkt, nur um mit diesem Rony über belangloses Zeug zu quatschen.
Als könnte er von der einen, auf die andere Sekunde eine komplett aufrechte Fassade hochziehen.
Aber nicht mit mir – ich würde ihm nicht mehr so in die Arme fallen.
Wer hätte gedacht, das ich da noch so unerfahren war?
Mikele und ich redeten während des Unterrichts noch leise miteinander. Ich lernte ihn immer besser kennen, und es gefiel mir, einen neuen, guten Freund an der Seite gefunden zu haben. Einer, der nicht so abgehoben war. Dabei ignorierte ich jenen, tötenden Blick, der von Khan kam. Zumindest versuchte ich das.
Gleichzeitig erledigten wir auch die Aufgaben, die Mr. Sanchez uns für die Stunde gegeben hatte. Mürrisch starrte ich auf mein Blatt, das bis zur Hälfte vollgeschrieben war.
„Oh man, ich bekomme die Zusammenfassung einfach nicht gut hin.“, schnauzte ich genervt, riss das Stück Papier aus meinem Hefter und deutete auf den Mülleimer. Mikele nahm es lächelnd hin und schrieb ruhig weiter, während ich meinen schlechten Text entsorgte.
Da half wohl nur abschreiben.
Die Stunde neigte sich dem Ende zu, und alle packten ein. Mein neuer Freund hatte es besonders eilig, wie ich sah.
„Ich muss noch so viel erledigen.“, erklärte er knapp, während er seine große Hornbrille zurechtrückte und sich freudig von mir verabschiedete.
Auch ich ließ mir nicht viel Zeit, da ich schneller als das Model nebenan sein wollte, um mir womöglichen Ärger zu ersparen.
Wie gut, das mir das gelang.
Seufzend ließ ich mich endlich in meinem Zimmer nieder, nachdem ich all meine Pflichten erledigt hatte. Ich hoffte nur, man würde mir etwas mehr Zeit lassen, doch als ich an die vielen Hausaufgaben dachte, mit denen man uns überhäufte, wurde mir echt schlecht!
Ich beschloss, auch diese schnell hinter mich zu bringen und setzte mich an meinen kleinen Schreibtisch, der seine besten Jahre schon hatte.
Schwermütig zog ich meinen Block hervor und suchte die nächste leere Seite.
Doch mir sprang etwas anderes ins Auge.
Etwas, das nicht von mir stammte.
Meine Augen überflogen die sauber geschriebenen, schwarzen Buchstaben, immer und immer wieder.
Ich kriege dich noch, Névra.
Mir wurde unendlich heiß und ich hatte das Gefühl, das meine Lungen eingequetscht werden würden.
Erst jetzt realisierte ich die Bedeutung, sprang ruckartig von meinem Stuhl auf und ließ den Zettel fallen, als hätte ich mich an ihm verbrannt.
Doch auch von hier konnte ich die einzelnen Wörter noch immer lesen.
Ich merkte, wie der Schweiß sich an meiner Stirn zusammensammelte, wie meine Hände anfingen zu zittern.
Kein Absender, kein Hinweis. Nichts. Nur diese Drohung die mir plötzlich panische Angst einjagte.
Wer war das? Wieso ich, was habe ich getan?, waren nur ein paar von unzähligen Fragen die ich mir augenblicklich stellte.
Ein Streich? Wohl kaum. Nach all dem, was mir widerfahren war, glaubte ich daran, dass man es ernst meinte.
Aber womit?
Ich verspürte unendliche Angst, doch was noch schlimmer war – es gab keinen Anhaltspunkt.
Ich war das Opfer von irgendjemandem, das ich nicht sein wollte.
Mit erhobenem Kopf marschierte ich geradewegs auf ihn zu, den Drohzettel sauer in der Faust eingequetscht. Die Nacht habe ich so gut wie keine Sekunde geschlafen und es war mir ehrlich gesagt auch relativ egal, wie ich gerade aussah. Ich entdeckte Khan zusammen mit Antonio und Rony hinter dem Schulgebäude, wo sie genüsslich an ihren Kippen zogen, um sie gleich darauf achtlos auf dem Boden zu entsorgen. Hoffentlich werden sie noch erwischt. Oder ersticken daran.
Je näher ich ihnen kam, desto mehr Wut sammelte sich in mir.
Rony entdeckte mich als erstes und ließ einen lauten Pfiff in meine Richtung raus. Wie typisch.
„Na, wer besucht uns denn da?“, flötete Khan entzückt. Ja, ja, der kann mich mal.
So aufgedreht wie ich war, stieß ich den Zettel gegen seine Brust. „Da, ließ!“, schrie ich schon fast. Irritiert sah er mich an, nahm das zerknüllte Stück Papier entgegen. Es bildete sich eine tiefe Falte zwischen seinen Brauen, als er die knappen Worte las.
„Und, hast du dazu was zu sagen?“, fuhr ich ihn an.
„Nein.“, sagte er gleichgültig und gab ihn mir zurück, „Keine Ahnung wer das war.“
„Komisch, denn irgendwie passieren mir solche Sachen, seit ihr Idioten hier seid!“
Auch er schien etwas wilder zu werden, denn seine Stimme war nun mehr ein Grollen.
„Ich sagte, ich habe keine Ahnung, Névra!“ Er schaute hinter sich, und auch ich folgte seinem Blick. Von der anderen Seite des Gebäudes kamen Carlos und ein paar andere Typen auf sie zu. Was sie wohl wollten? Sicher nichts Gutes.
Khan lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zu mir, packte mich etwas zu fest am Arm und schaute mir tief in die Augen. „Geh jetzt.“, knurrte er. Es setzte einen kurzen Schock in mir aus, doch ich fing mich wieder.
„Wenn du mich loslässt, gerne!“
Er trat zurück. Ein letzter, finsterer Blickaustausch und ich machte mich mit zu vielen Fragen, auf die ich eine Antwort wollte, davon.
Er weiß also nichts. Ich ging komplett leer aus, ohne den Hauch einer Information. Doch mein Peiniger musste irgendwo hier sein, ganz nah. Wer hätte sonst in meinen Block schreiben können? Ich dachte kurz an Antonio. Er kam mir schon letztens so seltsam vor, und ich belegte einen Kurs mit ihm. Konnte das sein?
Ich beschloss, ab nun etwas vorsichtiger zu sein. Vielleicht würde ich so zu einem Ergebnis kommen.
Seufzend ging ich in das moderne Gebäude hinein, torkelte entnervt durch die Gänge, bis ein schrillendes Lachen mich aus den Gedanken weckte. Diese Art von Kichern kannte ich – Amélie. Vorsichtig lugte ich um die Ecke und erblickte sie vor den Chemieräumen, wo sie ausgelassen mit Antonio quatschte. Das störte mich nicht. Eher, wie nahe sie beieinander standen, als würden sie gleich rummachen. Ich biss mir auf die Unterlippe, um mich noch rechtzeitig zurückhalten zu können. Nicht nur ich, sondern auch andere Mitschüler die Abseits standen gönnten den beiden immer mal wieder säuernde Blicke, doch das schien meine Freundin auf Wolke sieben wohl auch nicht mehr mitzubekommen. Da ich mir dieses Theater nicht mehr lange geben wollte, stampfte ich einfach davon.
Irgendwann würde die Bombe schon platzen, es war nur eine Frage der Zeit.
Irgendwann schaffte ich es dann doch, mich abzulenken – mit Mr. Sanchez' fünfseitigem Aufsatz. Seltsamerweise machte mir das heute Spaß, da ich wohl sonst keine andere Möglichkeit sah, mich aus diesem Chaos zurückzuziehen. Wie verzweifelt.
Es war schön später Abend und der Gedanke daran, nach einer ausgiebigen Dusche ins Bett zu steigen war einfach verlockend.
Ich wollte gerade aufstehen, als ich vor meinem Fenster ein wirres Geschrei von Männerstimmen wahrnahm.
Darauf folgte ein lauter Knall.
Noch einer.
Ich sprang instinktiv zurück und duckte mich. Das waren eindeutig zwei Schüsse. Die nackte Panik ergriff mich und ich sprintete sofort zum Fenster. Dann ging alles zu schnell. Oder zu langsam – ich kam einfach nicht mit. Es klingelte an unserer Tür, wer das war, wusste ich nicht. Nach der Statur zu deuten, war es ein Mann, der noch im selben Moment in einen schwarzen Jeep sprintete, die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht gezogen.
Ein lauter, gequälter Schrei. Von unten. Mama. Mama schrie...
Ich wusste nicht, warum, doch meine Kehle schnürte sich Stück für Stück zu, bis die staubtrocken war – und dann lief ich. Fiel beinahe die Treppen hinunter, fing mich aber und lief dennoch weiter. Ich sah nichts. Fast. Nur, wie meine Mutter auf dem Boden kniete, und überall zitterte. Ihr Mund war weit offen, die haselnussbraunen Augen ebenfalls.
Ich wollte es nicht sehen. Aber ich musste. Das Atmen fiel mir so schwer, das ich dachte, ich könnte selbst gleich in Ohnmacht fallen. Ein weiterer Schritt. Noch einer. Und dann sah ich ihn, fast wie ausgestorben auf dem Boden.
Aus seiner Schulter und seinem Oberschenkel lief Blut heraus, bedeckte das ganze Holz unter ihm. Er rang um mehr Atem als ich.
Und dann begriff ich endlich das Szenario vor mir. Ich rannte zu ihm, packte und schüttelte ihn überall. „Papa! Papa!“, immer wieder, „Papa! Hörst du mich? Alles wird gut!“, schrie ich wie besessen. Aus meinen Augen kullerten zu viele Tränen auf einmal, so dass sie meine Sicht verschleierten. Luft, ich brauchte mehr Luft. Hitzewallungen und Schweißausbrüche, überall an mir. Mein Kopf drehte sich wie ein Karussell.
Auch meiner Mutter gab ich einen Ruck, um sie aus ihrem Schock zu wecken.
„Hol das Telefon! Ein Arzt, die Feuerwehr, Polizei, mach einfach!“ Sie schrie erneut auf, diesmal den Namen meines Vaters: „Alejandro – Alex!“ Sie kam auf ihn zu gekrochen, doch ich gab ihr den nächsten Ruck. Und endlich verstand sie, was ich von ihr wollte.
Ich wandte mich wieder ihm zu, nahm seinen Kopf behutsam auf den Schoss und schloss meine kalten, zitternden Hände um seine Wangen.
„Alles wird gut... Alles wird gut...“, wiederholte ich immer wieder. Es war mehr ein Trost an mich, als an ihn.
Bei meinen Berührungen zuckte er zusammen, und erst dann sah ich die vielen blauen Flecke, die er hatte.
Oh mein Gott.
Er übte wenig Druck auf meine Hand aus.
„Névra...“ Husten. Weiter kam er nicht.
Ich ging nicht in die Schule. Das konnte ich momentan nicht. Ich war so lange im Krankenhaus und lag neben ihm, bis die Arzthelfer mich gewaltsam raus schleiften.
Sie sagten, er wird wieder. Alles sei im grünen Bereich. Keine Sorge. Doch die hatte ich – Sorgen ohne Ende, sodass mit kein Schlaf mehr blieb. Die Polizei konnte nichts genaues sagen – Anzeige gegen Unbekannt. Wie hilfreich.
Er war so komisch die letzte Zeit. Ständig unterwegs, irgendwelche Geschäfte machen. War das die Quittung?
Irgendwas lief hier gewaltig schief. Ich schlug die Augen wieder auf, starrte weiter an die Decke.
Wenn ich doch nur einen Hinweis hätte. Nur einen kleinen. Irgendwo...
Plötzlich fiel mir wieder etwas ein – Alejandros Arbeitszimmer. Dort ließ er nie jemanden rein und es war stets abgeschlossen. Neuer Mut fasste mich und brachte mich zum stehen. Erwartungsvoll lief ich in Richtung Büro, drückte eisern die Klinke herunter. Keine Regung. Doch ich gab nicht auf. Ich schaute unter dem Teppich im Flur – Nichts. Danach machte ich mich so Groß es ging und tastete den Türrahmen ab. Meine Finger glitten Über Staub und Dreck, bis sie plötzlich auf etwas kühles Trafen.
Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen, als ich den Schlüssel in der Hand hielt. Endlich. Mein Herz flatterte wie wild umher, als ich das Klicken des Schlüssels im Schloss hörte, und der Riegel sich zur Seite schob. Die Tür sprang auf und ich trat unsicher hinein. Bis jetzt habe ich es immer nur ganz kurz von Außen gesehen. Die Holzbretter unter meinen Füßen knarrten. Ich schaute mich oberflächlich um, sah jedoch nur einen Schreibtisch und ein Regal, die beide mit Papieren und Briefen voll gestapelt waren. Ich nahm eines der geöffneten Briefe in die Hand.
„Mahnung“ stand in großen Buchstaben auf dem Umschlag. Ich las mir das Schreiben kurz durch, verstand jedoch nicht. Papa bezahlte die Miete immer pünktlich – oder nicht?
Ich legte ihn zur Seite, griff mir den nächsten. Und wieder: Mahnung. Abermals ging es um die Miete. Meine Knie wurden immer weicher, meine Bewegungen hektischer. Ich packte mir einen ganzen Stapel vom Tisch, schaute mir die Briefe kurz und schnell an – alles verschiedene Mahnungen oder Rechnungen. Ich verstand die Briefe, aber nicht die Gründe. Seit wann hatten wir so viel zu bezahlen? So viel Schulden? Ich schluckte den dicken Klos in meinem Hals hinunter, suchte stattdessen mit zittrigen Händen weiter.
Unwichtige Dokumente, Abrechnungen, Bankauszüge. Meine Suche schien vergeblich, doch ich gab nicht auf. Nochmals nahm ich einen Stapel Papiere in die Hand und blätterte sie kurz durch. Ein kleiner schwarzer Umschlag machte sich bemerkbar. Interessiert nahm ich ihn heraus, las die sauber gedruckten Worte in dem Brief.
Suchen sie das Geld zusammen, oder wir nehmen sie uns.
Ich atmete tief ein und hoffte, dass das nur ein Scherz war. Doch dieses Stück Papier bestätigte mir die Realität nochmals. Ich wusste nicht wer das war, ich wusste nicht welches Geld sie wollten und ich wusste nicht, wen diese Leute mit „sie“ meinten. Ich wusste einfach gar nichts. Mein Herz setzte zu unendlich schmerzvollen Schlägen an, die sich wie ein Hammer auf der Brust anfühlten.
Was war hier nur los... Nicht nur ich hatte also einen Drohbrief bekommen. Ich versteckte den schwarzen Umschlag unter meiner Matratze und machte mich am nächsten Tag sofort auf ins Krankenhaus.
Ich hetzte die monotonen Gänge hinab und atmete den Geruch von Desinfektionsmittel in meine brennenden Lungen ein.
Vor dem Zimmer meines Vaters hielt ich an, blickte einen Augenblick lang einfach auf die blaue Tür. Wollte ich denn wirklich da rein?
Komm schon Névra, ermutigte ich mich und öffnete die sie. Ich entdeckte ihn sofort. Er lag auf einem weißen Bett, Infusionsständer links und rechts von ihm, überhäuften ihn mit Nadeln und Kabeln. Seine Augen waren offen, starrten wie ich zuvor einfach an die Decke.
„Papa“, flüsterte ich kaum hörbar. Ich nahm seine Hand zaghaft in meine.
Sein Kopf drehte sich langsam zu mir. Ich sah direkt in seine sonst so funkelnden Augen, die nun glanzlos und verkrümmt blinzelten.
„Schön das du da bist.“, sagte er heiser und versuchte, mich mit seinen Beulen und Verletzungen im Gesicht anzulächeln.
„Dir scheint es besser zu gehen.“
„Ja.“
„Papa … was war das an dem Abend?“, fragte ich direkt und schluckte meine erneut aufkeimende Angst hinunter.
„Nichts war das. Sie wollten wohl einfach jemanden umlegen.“, weichte er mir aus.
Abrupt stand ich vom Stuhl auf.
„Das glaube ich dir nicht!“ Hart und direkt.
„Das waren Gangs, Névra! Was sonst?“ Versuchte er, mich auf eine falsche Fährte zu locken? Wir waren in Lissabon und es gab auch Gangs. Aber das erklärte noch lange nichts.
„Ich habe euch gehört.“, sagte ich schließlich, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
Es vergingen einige Sekunden.
„Wo?“
„Vor der Haustür.“
„Das stimmt nicht. Ich kenne diese Leute nicht.“, log er. Das sah man ihm direkt an, denn er fing an, die richtigen Worte zu suchen.
Sollte ich von dem schwarzen Umschlag erzählen? Lieber nicht. Ich war mir einfach noch nicht sicher genug, was es damit auf sich hatte.
„Hör zu, mein Schatz. Ich habe sie auf der Straße getroffen und wir haben uns etwas auseinandergesetzt. Die Typen haben sich dann wohl entschlossen, sich gewaltsam an mir zu rächen.“ Er nahm einen langen Atemzug. Schöne Story. Ich allerdings glaubte sie nicht.
„Gut.“, gab ich mich gespielt zufrieden.
Wir redeten noch etwas, bis ich mich auch von ihm wieder verabschiedete.
Ich ging wieder in die Schule. Jedoch redete ich nicht sonderlich viel. Auch nicht mit Amélie. Sie erzählte mir den ganzen Tag nur von sich und dem Schwarzhaarigen, wie schlecht es mir ging, bemerkte sie dabei nicht.
Mit hängendem Kopf taumelte ich in den nächsten Kurs. Mit meinen Gedanken war ich so weit weg, dass ich nicht einmal bemerkte, wie ich versehentlich gegen eine harte Brust lief. Sofort rieb ich mir die Stirn. „Ups, sorry.“, entschuldigte ich mich kurz. Ein knappes Grollen stieg mir in die Ohren. Abrupt riss ich den Kopf hoch und begegnete Carlos' wilden, braunen Augen.
„Na, Süße?“, grinste er schadenfroh und zerrte mich sogleich an der Schulter näher zu ihm.
„Fass mich nicht an du Arsch!“, fauchte ich und stemmte mich gegen seine Kraft.
„Immer so temperamentvoll. Das gefällt mir.“ Sein widerlicher Atem streifte mich. Er war zu stark. Gerade wollte ich ihn so fest es geht treten, als ich unterbrochen wurde.
„Hast du die Lady nicht gehört, Carlos? Du sollst sie loslassen.“ Kräftig. Rau. Diese Stimme. Schon wieder er.
Der blonde gab mich mit grimmigem Gesicht wieder frei.
„Oh, Big Boss ist da.“, ärgerte er ihn. Khan stellte sich mit ernstem Gesicht vor ihn. Man sah ihm die Überlegenheit an, und glaubte, das er wirklich ein Boss war. Selbst mir machte er Unbehagen.
„Schon gut... Schon gut. Ich gehe ja.“, sagte Carlos noch schnell bevor das ganze noch eskalierte. Er ging ohne ein weiteres Wort, drehte sich auf dem halben Weg jedoch nochmal um und sagte: Ich kriege dich schon noch, Névra.“ Dabei schenkte er mir sein verschmitztes Lächeln und machte sich davon.
Atemnot. Mal wieder. Alles in mir sträubte sich. Khan trat näher heran, beugte sich leicht zu mir: „Er ist keine Gefahr.“ Dabei klang er so ernst und hart, das ich befürchtete, vor Panik umzufallen. Wer war denn nun die Gefahr? Mit einem Mal fühlte ich mich von allen Seiten erdrückt und rannte einfach davon. Irgendwohin.
Dabei wiederholte ich Carlos Worte wieder.
Ich kriege dich noch, Névra. Und dann noch dieses Lächeln dazu.
Das erste Mal in meinem Leben verspürte ich große Angst. Jedes fremde Gesicht notierte ich mir als gefährlich auf. Es war nicht mehr auszuhalten. Erst das mit den Drohbriefen und dann noch die Tatsache, dass mein Vater angeschossen wurde. Wer es war, wusste ich nicht. Angeblich wusste das keiner, doch ich vertraute niemandem. Lucas erzählten wir einfach, dass Alejandro von einem Auto angefahren wurde. Ein kleines Kind wie er würde alles andere nicht verkraften können.
Selbst ich schaffte das nur schwer.
Alex war jedoch wieder bei uns. Er durfte sich in keinster Weise anstrengen oder arbeiten.
Seit dem Vorfall schien unser Haus wie verlassen. Keiner sagte etwas, alle schwiegen. Niemand redete über das Problem, es schien, als wäre nichts passiert. Es war unheimlich, ich fühlte mich selbst nicht mehr wohl. Unsere Mutter war wie gewohnt bei der Arbeit, unser Vater saß oben und gab keinen Laut von sich. Nichts.
Ich überlegte mir oft, ihn erneut zu konfrontieren um die Wahrheit zu erfahren – doch ich hatte ja selber Angst davor.
Allerdings hatte ich noch ein anderes Problem – Carlos.
Er sagte genau das, was in dem Zettel stand. Es war einfach zum fürchten. Ich weiß aber nicht, ob ich fest davon überzeugt bin, das er der Täter war. Die Beweise fehlten mir. Einfach alles. Ich fühlte mich gefangen in einem Loch ohne Licht und Ausweg.
Mies gelaunt ging ich in die Schule und ignorierte dabei jeden, den ich eigentlich mochte. Ich wollte mit keinem reden oder rumhängen. Nur Amélie blieb wie gewohnt an meiner Seite.
„Du siehst irgendwie nicht gut aus, Név.“, musterte sie mich kritisch. Schön, dass ihr das auch mal auffiel. Bis jetzt ging es nur um sie.
„Ja, ich weiß. Es gibt grad nur so viel Stress.“, winkte ich leicht ab.
„Oh, na dann… Du kommst heute aber, oder?“
Überrascht blickte ich sie an. Heute? Wohin kommen?
„Was meinst du?“, fragte ich im Grübeln.
Du weißt schon! Die Party. Sag mir nicht, du hast sie vergessen!“, klärte sie mich auf.
Oh nein.
„Rens Geburtstag? Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.“, gestand ich und setzte ein unschuldiges Lächeln auf.
Es ging mir schlecht, muss ich das denn noch auf meine Stirn schreiben? Ich hatte keine Lust mich amüsieren zu gehen.
„Ich glaube nicht, das ich kommen kann.“, setzte ich noch nach.
„Auf keinen Fall! Du kommst definitiv. Wir müssen mal wieder etwas aus dem Haus kommen.“
„Amélie, das ist echt nett, aber ich fühle mich nicht in Partystimmung.“ Damit wollte ich den Schlussstrich ziehen, doch sie gab nicht auf. Würde sie nie.
„Oh doch meine Liebe, du kommst! Es wird super, versprochen!“
Ich seufzte und schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte sie ja Recht und ich musste mich wirklich mal ablenken gehen. Ein schlechtes Gewissen beschlich mich, doch ich schob es beiseite.
Eine Nacht. Die gönnte ich mir. Rens Partys waren schon immer gut.
Ich wusste nur nicht, wie diese hier enden würde.
Ich war schon ziemlich spät dran, daher beeilte ich mich, um es noch rechtzeitig zu schaffen. Im schnellen Tempo faltete ich meinen Stundenplan auseinander. Chemie.
Zügig überquerte ich den großen Pausenhof, als ich ein Stimmengewirr von Männern hörte, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Es sollte mich nicht interessieren, doch irgendwoher kannte ich sie.
Ich lugte vorsichtig um die Ecke des Nebengebäudes. Es hatte nur ein Blick gereicht, um mir den Atem abzuschnüren. Augenblicklich zog ich mich zurück. Das konnte einfach nicht sein! Es passte nicht!
Ich schaute erneut, und bestätigte mir, dass ich mich nicht versehen habe.
Dort standen Carlos, Antonio und Mikele.
Mikele! Was hatte der mit solchen Typen zu tun? Mit seinen Straßenköterblonden Haaren und der großen Brille passte er einfach nicht ins Bild.
Aber wahrscheinlich machte ich mir zu große Sorgen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mit denen befreundet ist, auch wenn ihre Redensart und die Bewegungen vertraut aussahen.
Ich wandte mich komplett ab und schritt schnell in meine Klasse. Ausfragen konnte ich ihn auch später.
Das es mir nicht aus dem Kopf ging, war klar. Ich wollte Mikele am liebsten sofort sehen. Nur wie immer blieb mir das Glück erspart.
Als die Pause angekündigt wurde, stürmten alle so schnell es ging hinaus. Auch ich hatte es eilig, und ich wusste genau, wohin ich gehen musste. Oft schlug ich mir diese Idee wieder ab, doch es könnte klappen.
Energisch bahnte ich mir einen Weg durch das Getümmel und quetschte mich durch alle erdenklichen Lücken schnell nach draußen.
Im leichten Joggingtempo erreichte ich das Hauptgebäude und wartete einfach ab.
Da.
Dort war er.
„Hey!“, rief ich, und traute mich, ihm am Ärmel zu mir zu zupfen, als er nicht auf meine Rufe reagierte.
Er wandte sich zu mir und zog ungläubig die Augenbrauen hoch. Ich achtete nicht darauf, sondern zog einfach weiter bis wir ungestört waren.
„Was denn, willst du mit mir rummachen?“, fragte er lüstern und lächelte wieder so selbstsicher wie nie.
Entnervt verdrehte ich die Augen. Für ihn war die Welt wohl jeden Tag heile und perfekt.
„So leid es mir tut, nein.“, sagte ich schroff, „Ich wollte dich eigentlich was Fragen.“, gestand ich dann etwas verunsichert. Konnte ich das denn? Ihn sowas vertrautes fragen?
Khan blickte mit seinen sturmgrauen Augen geradewegs in meine und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Haltung wurde abwartend und man erkannte nichts mehr vom arroganten Idioten.
Irgendwie machte mich das nervös und ich fing an, mit meinen Fingern zu spielen. Dennoch wollte ich nicht aufhören.
„Nun…“, stammelte ich, „ich wollte fra-„
„Es geht um Carlos, stimmt’s?“, unterbrach er mich kühl.
Wow. Das habe ich jetzt nicht erwartet.
„Unter anderem, ja.“
Er nahm einen tiefen Seufzer, suchte anscheinend nach der passenden Antwort und fuhr sich lässig durch sein dunkelbraunes Haar.
„Du kennst ihn gut, oder?“, fragte ich weiter.
„Etwas. Du solltest ihn einfach nicht ernst nehmen.“ Plötzlich veränderte seine Haltung sich wieder. Er schien sich mit diesen Augen in meine Seele zu bohren und mich dort festzuhalten.
Fest, rau und Sicher klang seine Stimme, man konnte nicht anders als zuzuhören.
Auf der anderen Seite sah ich trotzdem Unsicherheit in seinem Makellosen Gesicht. Es war nur kurz zu erkennen, doch ich spürte es.
„Das Beste ist, wenn du dich einfach von ihm fernhaltest“
Er trat einen großen Schritt näher auf mich zu, wobei ich schon seine Körperwärme wahrnahm. Die Augen jedoch eisig und freudlos. Dann bückte er sich wie schon so einmal zu mir herunter.
„Du musst schon irgendwo anders suchen, wenn du wissen möchtest, wer dir das geschrieben hat. Es kommt mir so vor, als würdest du die ganze Zeit auf derselben Stelle laufen.“
Damit beendete er seinen letzten Satz und wandte sich von mir ab, um zu gehen.
Ich war sprachlos, wollte nochmal nach ihm rufen und weiterfragen, doch etwas in mir sträubte sich dagegen.
Khan hielt mir etwas vor Augen, dass ich nicht wusste. Es war bestimmt offensichtlich und zum Greifen nahe, doch ich wollte einfach nicht drauf kommen!
Wo anders suchen…
Und auch, wenn ich ihn nun nochmal rufe. Ich würde keine Antwort bekommen.
Dessen war ich mich seltsamerweise bewusst.
„Und, was ziehst du an?“, nervte mich Amélie am Telefon, während ich meinen gesamten Kleiderschrank durchsuchte.
„Keine Ahnung.“, gab ich knapp zurück und suchte mir mögliche Kombinationen heraus, „Hey, ähm. Ich ruf dich zurück, sobald ich fertig bin, in Ordnung?“, fragte ich zaghaft, um endlich zur Ruhe zu kommen. Natürlich stimmte meine beste Freundin sofort ein.
Ich warf das Handy achtlos auf das Bett und widmete mich meinem Styling. Ich ging nicht oft feiern, daher hatte ich auch nicht wirklich viel zur Auswahl.
Aus dem Schrank zog ich ein kurzes, schwarzes Kleid heraus, das mal meiner Mutter gehört hatte. Es war tailliert geschnitten und an einer Seite schulterfrei. Ich überlegte, ob es nicht etwas zu kurz war, doch als ich es schließlich anhatte, legte sich der Stoff wie eine zweite Haut um meinen Körper und ging bis oberhalb der Knie. Der Saum umschmeichelte meine Taille perfekt und rundete sich an den Hüften ab. Da ich kein großer High Heel-Fan war, schlüpfte ich in schlichte, schwarze Pumps.
Die Schminke legte ich mir dezent mit ein bisschen Rouge und Wimperntusche auf. Amélie übertrieb es immer wieder mit dem Kajal und dem Eyeliner, wofür sie eine gefühlte Ewigkeit brauchte.
Meine roten Locken ließ ich an einer Seite so wie sie waren der freien Schulter hinabgleiten.
Silberne Ohrringe, ein passender Ring und eine schwarz-silberne Abendtasche gaben meinem Outfit den Rest.
Mein Spiegelbild stellte mich zufrieden, ich sah sogar wirklich gut aus.
Auf meinem billigen Tastenhandy schrieb ich Amélie noch eine kurze Nachricht, dass ich nun fertig war. Sie sagte, sie komme in Begleitung. Na nu? Ich machte mir da nicht so viele Sorgen drum. Bestimmt nur eine weitere Freundin.
Lucas war auch in guten Händen, da er bei einem Schulkameraden schlafen würde. Meine Mutter hakte es mit einem Nicken ab.
Irgendwie fühlte ich mich gut, befreit.
Aber ich hätte nicht gedacht, dass mir selbst diese Nacht nicht verschont blieb.
Laute Musik die schwer in den Ohren dröhnte, Mädchen und Jungen die eng aneinander tanzten und sich im Takt der Musik bewegten. Eine Theke, voll mit jeder Sorte von alkoholischen Getränken.
Das war das Bild, das sich mit bot. Es war gewöhnungsbedürftig, da ich lange nicht mehr mit dabei war.
Ich schlängelte mich durch die wildtanzende Masse und suchte nach einem Blondkopf. Der Geruch von Alkohol, Zigaretten und Schweiß trat mir in die Nase und ließ mich kurz husten.
Waren die Partys früher schon auch so?
„Név!“, rief eine hohe, piepsige Stimme und ich wusste sofort, wer es war.
„Da bist du ja“, lächelte ich und trat auf sie zu. Plötzlich kam von hinten jemand auf sie zu und stellte sich neben sie, weshalb ich sofort stehenblieb und mein Lächeln verstarb.
Was suchte der denn hier? Ich kniff meine Augen zusammen und näherte mich wieder, um meine Freundin zu umarmen.
„Toll siehst du aus, ähm… Das ist deine Begleitung?“, bohrte ich vorsichtig, doch sie nahm meine vorsichtige Maßnahme nicht wahr und lallte glücklich los.
„Ja, ich habe Antonio mitgebracht! Du siehst übrigens auch super aus. Lass uns was trinken gehen.“
Sie nahm ihn bei der Hand und steuerte ohne auf mich zu achten direkt auf die Theke zu. Verdattert blieb ich stehen.
Ein-und ausatmen. Ganz langsam, ganz tief.
Ich schloss für einen Moment die Augen, ignorierte die Leute, die mich anrempelten. Irgendwann würde sie es schon merken. Zumindest hoffte ich das.
Ich drückte mich erneut durch die Masse, um die Theke zu erreichen. Die Blicke der Jungen entgingen mir dabei keineswegs, doch ich verspürte keine Lust, mich mit ihnen abzugeben.
Unerwartet packte mich jemand an der Schulter, weshalb ich mich sofort umdrehte.
„Oh, habe ich dich wieder erschreckt?“, stammelte ein schüchterner Mikele.
Er ließ mich jedes Mal lächeln.
„Nein, hast du nicht.“, entgegnete ich warm.
Ich schleppte ihn mit zur Theke, wo wir beide uns ein Glas Wein bestellten. Zu Amélie konnte ich mich auch später gesellen.
Wir beide stießen an und nippten an unserem Getränk, als mich von hinten plötzlich jemand grob an den Hüften packte.
„Hi, süße. So sieht man sich wieder.“ Carlos.
Ein Schauer von Gänsehaut lief mir über den Rücken, ich drehte mich augenblicklich um, um ihn eine zu verpassen, doch er war schneller und zog sich schon zurück.
„Immer so stürmisch.“ Mit seinen rotumrandeten Augen, und diesem schelmischen Blick musterte er mich von oben bis unten und es kam mir so vor, als würde er mich damit ausziehen.
„Lass mich in Ruhe! Verschwinde!“ Ich hatte das Gefühl, einer Krise nahe zu kommen. Er hob abwehren beide Arme in die Luft und trat einen Schritt zurück. Das verschmitzte Lächeln legte er dabei aber nicht ab.
Meine Lungen, die sich so anfühlten, als hätten sie einen Knoten, gewährten mir wieder das freie Atmen als der blonde in der Menschenmenge verschwand.
Ich blickte weitere Minuten hinterher, als die Zaghafte Stimme von Mikele mich wieder einholte: „Alles klar?“
„Oh, ja. Alles gut.“, log ich. Da fiel mir plötzlich wieder etwas ein.
„Bist du nicht mit ihm befreundet?“, fragte ich langsam und versuchte meine Nervosität abzuschütteln.
Zum ersten Mal sah ich, wie sich sein Gesicht verhärtete. Als ob er nicht mehr der liebe, weichherzige Mikele wäre.
„Nein.“, sagte er und zwang sich zu einem kleinen Lächeln, „Er fragt mich ab und zu wegen den Fächern und der Schule etwas.“, meinte er dann bestimmt. „Aber lass uns jetzt lieber unsere Drinks genießen.“ Er hob sein Glas und ich tat es ihm gleich. Dieses Mal nahm ich einen großzügigeren Schluck.
Abrupt verzog ich das Gesicht.
Hat der Wein vorhin auch so bitter geschmeckt?
„Was ist los?“, wollte mein Freund wissen.
„Oh, nichts.“, wehrte ich ab. Von der einen Ecke sah ich, wie Antonio und Amélie wieder in unserer Nähe waren. So wie sie lachte, war sie wohl schon etwas angetrunken.
Ich schaute mich weiter um, und auch Carlos erblickte ich wieder. Es schien, als würde er zu Mikele rüber schauen. Oder irrte ich mich etwa? Mein Kopf drehte sich nämlich schon ziemlich, obwohl ich gar nicht mal so viel getrunken hatte.
Die Vibration meines Handys weckte mich wieder aus den Gedanken. Ich schaute auf den Display, auf dem stand, dass ich eine SMS bekommen hatte.
Von unbekannt.
Schnell schaute ich mich um, sah aber keinen, der mich anblickte. Ich öffnete die Nachricht mit zittrigen Händen, und es leuchtete mir nur ein Wort entgegen:
Lauf
Ich registrierte dieses eine Wort kaum. Dennoch schrie etwas in mir, das ich genau das tun soll – laufen.
Mittlerweile drehte sich mein Kopf wie ein Karusell, das nicht stoppen wollte. Ich wollte mich von aller Kraft in Bewegung setzten, als mit einem Mal alle Lichter erloschen. Auch die Musik stoppte prompt. Keine Geräusche, kein Licht, nur alkoholisierte Menschen, die plötzlich unruhig wurden und wie wild pfiffen. Stromausfall? Wohl kaum!
Ich überwindete meine aufkommende Übelkeit und rannte los, irgendwohin, durch schwitzende Leute die immer aufgebrachter über den Stromausfall wurden. Es fühlte sich eher wie ein taumeln an und ich dachte, das der Boden unter mir jeden Moment nachgibt. Was war nur los?
Mein Herzschlag wurde immer lauter und schneller in meinen Ohren, die Schreie und Gespräche der anderen verwandelten sich in ein Rauschen, das mich zu lähmen schien.
Nicht der Boden, aber meine Beine gaben nach und knickten wie auf Befehl ineinander ein. Ein starker Arm legte sich um meine Mitte, zog mich schmerzvoll und gewaltsam zurück nach hinten.
„Nein, nein! Lass mich los!“, schrie ich hysterisch, doch meine Stimme glich eher einem unreinen Nuscheln.
„Halt still!“, zischte jemand in mein Ohr, „Sonst wird’s dir gleich wehtun!“
Ha, das hätte der wohl gerne!
Ich zappelte wie wild und schlug um mich, rammte meinen Ellenbogen nach hinten, und schien etwas getroffen zu haben.
Ich hörte ein Keuchen, dann ließ der energische Griff locker und ich schlüpfte mit dem Rest der Energie, der mir noch geblieben war, raus. Kaum hatte ich dies geschafft, drohten meine Beine wieder aufzugeben. Ich hielt mich irgendwo fest, sah nichts anderes als Dunkelheit und Stimmen, die sich immer lauter ineinander vermischten. Auch wenn die Schwärze mich bedeckte, merkte ich, wie trüb meine Augen wurden und alles nur noch mehr ineinander verschwamm.
Wurde die Luft immer enger, oder fiel nur mit das Atmen unglaublich schwer?
„Sucht sie! So weit kann sie ja noch nicht sein!“, rief jemand aus.
Oh Gott, sie meinten mich! Wie viele waren es? Und wer?
Immer mehr Leute hielten ihr Handy hoch und nutzten das Displaylicht, während ich versuchte, einfach weiter zu rennen.
In der nächsten Sekunde druckte mir jemand seine riesige Pranke auf den Mund und zog mich wie vorhin auch, an der Mitte weiter nach hinten durch. Ich wimmerte laut und röchelte nach mehr Luft. Meine Arme glichen zertretenen Ästen – nicht mal ein Hauch von Kraft war in ihnen zu spüren.
Auch meine Wahrnehmungen schrumpften Stück für Stück, immer mehr, unaufhaltsam.
„Sei leise, Rotkäppchen.“, raunte mir jemand bedrohlich von hinten ins Ohr.
Der warme Atem kitzelte mich, ich sog den Geruch von süßem Karamell ein. Diese Stimme… Woher kannte ich sie?
Immer weiter zog dieser Jemand mich mit ohne das ich es verhindern konnte.
Eine Tür wurde knatschend aufgetreten, die starken Arme drängten mich dort hinein.
Das laute Rauschen, das auf meinen Kopf eingehämmert hatte, wurde immer leiser, meine Lider jedoch immer schwerer.
Plötzlich wurde mir der Boden unter den Füßen entrissen und dafür lag ich auf haltenden Händen und einer stützenden, muskulösen Brust.
Zumindest dachte ich das. Mein Verstand war nicht mehr er selbst, sondern zog mich immer tiefer ins schwarze Nichts. Die Gedanken schweiften komplett ab, es war, als würde ich an einem großen Felsen gebunden sein und im Meer versinken – kein entkommen an die Oberfläche.
Ich sank, immer weiter, immer tiefer.
Pochende Kopfschmerzen meldeten sich ohne Ankündigung. Mürrisch vergrub ich meinen Körper tiefer in die weiche Matratze, krallte mich fester an dieses harte, warme Etwas.
Meine Muskeln fühlten sich an wie Blei, ich konnte sie kaum bewegen, ohne dass sie schmerzten.
Warum, wusste ich nicht. Warme Sonnenstrahlen streichelten mein Gesicht, ich atmete schwer auf.
Langsam öffnete ich meine Augen, schaute genau in seine wilden, ausdrucksvollen.
In seine.
„Guten Morgen Prinzessin, wann hast du vor mich loszulassen?“, säuselte eine wundervolle, raue Stimme neben mir.
Oh. Mein. Gott.
Mein Mund öffnete sich immer mehr, ich war sprachlos. Es schien, als hätte ich keine Stimmbänder und könnte nicht einmal etwas krächzen.
Er hingegen lächelte süffisant in die Situation hinein.
„Du Idiot! Was dachtest du dir nur dabei!“, schrie ich unerwartet und sprang mit einem Satz auf, was ich lieber gelassen hätte, denn mein Schädel fühlte sich so an, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
Er setzte sich langsam auf, bedachte mich eindringlich und voller Lust.
„Eine Zicke am Morgen? Oh je.“, neckte er mich, anstatt mich mal aufzuklären.
„Was? Halt die Klappe!“, ich fasste mir geschockt ans Gesicht, „Was ist passiert, ich meine wie und wann und… nun, was ist passiert?!“ Ich sah ihm ungläubig an. Das alles musste ein Scherz sein, ein ganz schlechter Scherz. Der Braunhaarige zog seine Augenbrauen hoch und musterte mich wie, als wäre ich komplett bescheuert. Ich nahm es ihm nicht übel, bis auf die Tatsache, dass er in ein lautes Gelächter ausbrach.
„Ich rede mit dir! Hey!“, ich nahm ein Kissen und schmiss es ihm ins Gesicht, das er lachend abfang.
„Tut mir leid Prinzessin“, er setzte sich langsam auf, „aber du bist wirklich… Temperamentvoll. Das gefällt mir.“, raunte er gespielt und zwinkerte mir zu.
Erneut klappte mir die Kinnlade herunter.
Nicht. Sein. Ernst! Gleich würde ich schreien, aber so richtig.
Doch plötzlich wurde seine Miene wieder ernst und er fing an, mich kritisch zu beäugen.
„Zu aller erst…“ Ich wartete gespannt auf seine Erklärung und verschränkte die Arme vor der Brust,
„Finde ich deinen Busen wirklich sehr schön, aber ich würde ihn derzeit ein bisschen verstecken.“, sagte er und verkniff sich das Lachen, in dem er auf seine Unterlippe Biss.
Geschockt sah ich an mir herunter und bemerkte, dass ich nur noch ein übergroßes Hemd anhatte, das gerade mal das nötigste bedeckte. Es war oben nicht ganz zugeknöpft, weshalb man mehr von meiner Brust sehen konnte, als gedacht.
„Oh, Shit!“, fluchte ich augenblicklich und drehte mich peinlich berührt um. Mistkerl! Das hatte der Typ bestimmt extra gemacht!
Ich konnte mir gut vorstellen, dass ich rot wie eine Tomate anlief. Schnell zog ich das Hemd etwas höher, knöpfte den Rest zu und hoffte, dass mein Po verschont blieb.
Die Sache hier eskalierte gleich komplett. Ich habe doch wohl nicht mit ihm geschlafen, oder? Was war denn mit gestern? Wo zum Teufel war ich?
Ich wandte mich wieder zu ihm, und wünschte, ich hätte es nicht getan. Erst jetzt bemerkte ich diesen wunderschönen, muskulösen Körper, der mehrere definierte Muskeln aufwies. Wie gebannt starrte ich darauf und hätte mir am liebsten selber eine gescheuert. Ich dummes Ding.
„Genug geglotzt?“, hörte ich ihn sagen und wusste genau, dass ich ihm damit ein fettes Grinsen entlockt hatte.
Er kam näher auf mich zu und schaute mir eindringlich in die Augen. Er suchte nach einem Anzeichen von Angst, und ich hoffte, er würde es nicht finden.
Mühsam schluckte ich den dicken Klos in meinem Hals herunter und ich dachte, dass ich jeden Moment in einem Heulkrampf ertrank.
Doch das war nicht meine Art, es war nur dieses schlechte, bedrückende Gefühl das mich von innen zerquetschte.
„Zwischen uns ist nichts passiert.“, fing er dann endlich an, „Du warst gestern auf Rens Geburtstag und anscheinend ziemlich… dicht.“
Unglauben machte sich in mir breit. Ich war noch nie eine große Trinkerin gewesen. Und schon gar nicht war ich jemals besoffen. Aber wenn ich an gestern dachte, dann erschien nur ein schwarzer Filmstreifen der mir einzelne Bilder an den Kopf warf, mit denen ich nichts anfangen konnte.
Ich erwiderte nichts, wartete einfach ab.
Er fuhr sich wie schon einmal lässig durch seine vom Schlafen verwuschelten Haare, was nebenbei bemerkt echt sexy aussah.
„Und weil ich nicht wusste wo du wohnst, habe ich dich einfach mit zu mir genommen. Du warst draußen auf der Veranda und konntest kaum laufen. Ich fand dich nur, weil ich mir eine kurze Kippenpause gönnen wollte. Deine kleine Freundin war auch nicht mehr sie selbst, und außerdem war Antonio bei ihr.“ Khan schaute mir tief in die Augen. Ich fand nichts verräterisches, seine Stimme klang sauber und bestimmt.
Es hörte sich logisch und erklärbar an, auch wenn ich nichts bestätigen konnte.
„Ich soll dir echt glauben, dass du die Tatsache, dass ich betrunken war, nicht ausgenutzt hast?“ hakte ich nochmal nach obwohl ich wusste, dass die Antwort mich zerbrechen könnte.
„Ich könnte jede andere haben, Prinzessin. Ich hab’s nicht nötig, ein kleines Mädchen betrunken flachzulegen.“, setzte er noch einen drauf. Mein Faden, der mich grundsätzlich davon abhielt Menschen zu töten, riss immer weiter ein.
„Danke, dass du so ehrlich bist!“, keifte ich wütend, „Aber schraub deine Arroganz runter, bevor ich das tue!“
Er hob die Hände hoch und trat zurück.
„Uuh. Sicher Prinzessin.“ Machte er sich eigentlich aus allem nur Spaß? Arsch.
„Und du willst mir also wirklich erzählen, dass es in dieser gottverdammmten Villa nur dieses Bett gibt?!“ Dabei breitete ich meine Arme aus und drehte mich einmal halb um mich herum.
„Du hättest dich sehen sollen, querido. Ich will wirklich nichts sagen“, seine sinnlichen Lippen umspielte wieder jenes süffisante Grinsen, „aber so wie du dich an mich, nennen wir es gekrallt hast, hatte ich keine Wahl.“, schloss er.
Stumm schaute ich zurück. Das war wirklich peinlich, einfach alles. Ich vergrub mein Gesicht in den Handflächen, aber dadurch verschwand er auch nicht. Warum konnte man nicht wortwörtlich im Erdboden versinken?
„Ich habe übrigens Hunger. Und Kopfschmerzen, also wenn du bitte so freundlich wärst…“, warf ich dann meine weiteren Probleme in den Raum und lenkte somit ab. Es war nicht einmal gelogen.
Zaghaft lächelte der Typ, der für mich immer noch ein Idiot war und zog sich über seinen schönen, gebräunten Körper ein Shirt an, ehe er mir ebenfalls einen dünnen Pulli zuwarf.
Ich beäugte ihn kritisch, allerdings war alles andere besser als dieses dünne Stück Stoff um mich.
„Wenn du fertig bist, einfach die Treppen runter ins Wohnzimmer. Das Bad ist hier im Flur, die letzte Tür.“, gab er mir noch zu wissen und verschwand dann.
Schnell schlüpfte ich in den luftdurchlässigen Pullover, der an mir eher wie ein Kleid wirkte – das wichtigste war nicht mehr zu sehen.
Kurz roch ich dran und musste irgendwie grinsen.
Typisch, dieser Karamellgeruch.
In kurzen Zügen wusch ich mir mein Gesicht und die restliche Schminke davon. In den Spiegel blicken musste ich nicht, dass ich total schrecklich aussah, war klar.
Der Geruch von Kaffee stieg mir in die Nase und weckte meine Sinne bereits auf.
Wenn ich schon einfach hierhin mitgenommen wurde, dann wollte ich auch zufrieden und gesättigt nach Hause.
Meiner Mutter war wahrscheinlich nicht einmal aufgefallen, dass ich gar nicht da war.
Nun, mir sollte es egal sein.
„Kaffee?“, meldete sich eine melodiöse Stimme als ich in die Küche eintrat und einfach mal den ganzen Luxus an den Wänden und Kommoden ausblendete.
„Bitte“, gab ich ihm knapp zu verstehen.
Er reichte mir eine hellbraune, gutriechende Brühe an der ich vorsichtig nippte.
„Mit wem war ich gestern auf der Party?“, fragte ich ins Schweigen hinein ohne den Blick vom Becher zu heben.
Er beschmierte zwei Toasts mit Käse und Marmelade. „Ich weiß nicht. Mikele war noch da, sicherlich warst du bei ihm und Amélie.“ Er spuckte den Namen regelrecht aus und ich sah von der Seite, wie sich seine Kiefermuskeln anspannten.
„Hast du etwas gegen ihn?“ Die Frage war nicht nötig, es war offensichtlich. Schon letztens, als er mich vor der Cafeteria so bedrängt hatte.
„Sagen wir, er ist ein kleiner Schwindler.“ Khan drehte sich zu mir und hielt mir den Teller vor die Nase. „Ich habe nicht gefragt was du magst. Geht das in Ordnung?“
„Ja, klar. Ist super… Danke.“, nahm ich das Essen dankbar an und setzte mich an den Tisch.
Mikele ein Schwindler? Nun, ich kannte nur seine liebe und nette Seite.
Hungrig biss ich in das Brot und verschlang es in wenigen Minuten. Vom Augenwinkel beobachtete ich den Jungen, der eine Tablette aus ihrer Packung entnahm und mit einem Glas Wasser vor mir stellte.
„Für die Kopfschmerzen.“, sagte er knapp.
Mürrisch beobachtete ich das weiße, rundliche Ding.
„Was denn?“, lachte er leise, „Glaubst du, ich will dich vergiften?“
„Man kann ja nie vorsichtig genug sein. Idiot.“, keifte ich und nahm sie entgegen.
Ich schob sie mir in den Mund, spülte schnell mit einem Schluck Wasser hinterher.
„Danke“, murmelte ich noch unverständlich. Er nahm es mit einem Nicken zu Kenntnis.
Eindringlich blickte ich in seine Augen, wollte noch diese eine Sache klären.
„Das bleibt unter uns, verstanden?“
Er zog seine Brauen fragend hoch. Dann verstand er wohl was ich meinte, und unerklärlicherweise fingen seine Augen an zu lodern.
„Und wenn nicht? Sollte das eine Drohung sein?“, stellte er mich auf die Probe.
„Ja!“, konterte ich selbstsicher. Ich würde dafür sorgen, dass es kein anderer erfuhr!
Plötzlich kam er näher, bückte sich auf Augenhöhe zu mir herunter.
„Und wie willst du das anstellen, querido? Ich meine nämlich, das du grad viel mehr bedroht wirst.“, raunte er leise, aber bestimmt.
Ich schluckte. So viel weiß er nicht, oder?
„Tzeh. Ich werde nicht bedroht.“ Meine Stimme wurde ein Tick leiser als geplant.
Ich war eine grottige Lügnerin.
„Und was war mit dem Zettel?“, bohrte er weiter. Sein Ton glich einem Knurren und bereitete mir irgendwie Unbehagen. „Du müsstest nur logisch denken. Ich wette, dann wüsstest du sofort, wer dir das geschrieben hat.Und das er dir wahrscheinlich ziemlich nahe ist, dich schon längst da gehabt hätte, wo er wollte.“, säuselte er nun etwas zärtlicher.
Mit geweitetem Blick starrte ich ihn an. Mein Herz hämmerte viel zu schnell, viel zu kräftig. Gott, warum wurde es nun so unerträglich heiß hier drin?
„Aber das ist ja nur eine Theorie, stimmt’s? Ich meine, wie konnte das Blatt sonst in deinen Block gelangen?“, endete er dann lüstern und gab mir wieder etwas mehr Freiraum.
Seine Worte widerholten sich immer wieder in meinem Kopf.
„Meine Probleme gehen dich nichts an!“, fauchte ich nun bissig zurück. So eine Frechheit ließ ich mir nicht bieten!
„Da hast du Recht, Prinzessin. Ich dachte mir, damit rege ich dein kleines Köpfchen mal zum Denken an, weil du so ein Brett vorm Kopf hast.“
„Vielen Dank auch!“, fuhr ich ihn an.
Er nahm es mit seinem üblichen Grinsen hin.
Ich räumte meine Sachen aus Höflichkeit noch weg, obwohl dieser Trottel das nicht verdiente. In seinem prachtvollen Zimmer zog ich mir mit allem Übel meine Sachen von gestern wieder an.
Es war nicht angebracht mit einem Abendkleid am Samstagsmittag in die Öffentlichkeit zu treten, doch eine andere Wahl hatte ich auch nicht. Meine Pumps nahm ich in die Hand, die Abendtasche war wohl für immer weg. Einzig und allein mein Handy blieb mir verschont.
Unten angekommen ließ ich mir den Weg zu meiner Freiheit zeigen.
„Wegen der Sache von vorhin: Es erfährt keiner, oder?“, fragte ich erneut und biss mir nervös auf die Unterlippe.
„Du wärst nicht die erste in meinem Bett, princesa. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Leute sich dafür interessieren würden.“
„Du bist ein echtes Arsch.“, murmelte ich kopfschüttelnd und öffnete die elegante und schön verzierte Haustür.
„Da stehen viele Frauen drauf.“, wehrte er ab.
Ich gab ihm einen bösen Seitenblick. „Glaub das ja nicht.“
Damit verließ ich dieses dumme Schweinchen, dass leider aussah wie ein Model und machte mich selbst auf den Weg nach Hause.
Niemand durfte das jemals erfahren. Niemand.
Es war das einzige, was mich beschäftigte. Aber da wusste ich auch noch nicht, was mich zu Hause erwartete.
Ich erwartete, dass mein Vater sich wie jeden Nachmittag ausruhte und schlief, während meine Mutter arbeitete und Lucas noch bei seinem Freund war.
Daher öffnete so leise wie möglich die Tür und ließ sie zaghaft wieder ins Schloss hinein gleiten.
Das Haus war still, jedoch nicht so, wie ich es kannte. Irgendetwas nuschelte und rauschte von oben herab.
Na nu?
Neugierig, jedoch mit leisen Schritten stieg ich die Treppe hinauf. Die kleinen Geräusche wurden immer etwas lauter und langsam konnte ich ein Gespräch raushören.
Es kam direkt aus dem Zimmer meiner Eltern.
Vorsichtig hielt ich mein Ohr dicht an die Tür. Es waren zwei tiefe Männerstimmen, die sich leise und bedacht unterhielten.
„ … Zurückzahlen … Noch eine Woche … “ Ich bekam nur Gesprächsfetzen mit, mit denen ich wenig anfangen konnte. Allerdings wusste ich genau, dass diese Stimme nicht zu der meines Vaters gehörte.
Interessiert hörte ich weiter ab. Alejandro vertraute ich schon längst nicht mehr.
„Wie soll ich das anstellen?“
„Mir egal … ich warne dich … sonst nehmen wir sie… “ Sie? Wer war schon wieder sie? Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Es war genau wie auf dem Zettel und langsam schöpfte ich einen grauenvollen Verdacht.
Unzählige Fragen bombardierten meinen Kopf. Die Antworten blieben jedoch alle offen.
Es schien, als könnte mein Vater nicht widersprechen, seine Stimme nicht erheben. Wer war dieser Mann?
„ … und denk daran – eine Woche.“ Die fremde Stimme wurde plötzlich lauter. Ich registrierte, dass sie sich der Tür genähert hatte. Eine Welle der Angst überschüttete mich, und ich rannte wie in Panik in quälenden, leisen Schritten in das Badezimmer neben an und schloss leise die Tür.
Ich musste mich zwingen, nicht zu laut zu Atmen, doch meine Lungen brannten fürchterlich, als mich dieser Adrenalinschub durchströhmte.
Ich nahm das leise Klicken der Tür war, die nun aufgeschoben wurde.
„Meine Leute stehen bereit. Sie können sie jederzeit mitnehmen, also beeile dich.“, schloss die dominierte, raue Stimme.
Papa schien nichts zu erwidern. Hastig lugte ich durch das Schloss, doch ich sah den Mann nur von hinten – graues Haar, eine große Figur. Schwarze Kleidung wie in ein Business-Geschäftsmann, in seiner Hand ein Großer Aktenkoffer. Er sah gefährlich aus und selbst als die Haustür mit einem Knall ins Schloss fiel, traute ich mich nicht hinaus zu gehen. Erst nach eine gefühlten Ewigkeit regulierte sich mein Atem wieder normal und ich trat mich wackeligen Beinen auf den Flur.
Würde es einen Tag ohne all das hier geben?
Ohne lästige Schüler, Drohbriefe und einen Vater der was weiß ich für Sachen trieb?
Ich hoffte vergeblich.
Doch nun keimte etwas anderes in mir auf – Wut
Ich überlegte mir, hier und jetzt einfach auf ihn zu zugehen, und alles raus zu quetschen.
Meine Wut trieb mich schon fast dazu, doch ich hielt mich zurück. Mein Zeitpunkt würde schon kommen.
Aber ich konnte mir selbst vorstellen, was hier vor sich ging.
Schlecht gelaunt ging ich in die Schule. Die Sache hatte mir noch keine Ruhe gelassen und schon musste ich mich hier wieder mit irgendwelchen Typen herumschlagen.
Der blonde Engel, der wie jeden Tag neben mir herlief redete ununterbrochen über die Party.
„Dieser Stromausfall war schon komisch“, kicherte sie, „Ich kann mich gar nicht mehr erinnern wo du warst.“, sagte sie dann.
„Ich war wohl selbst etwas weggetreten.“, sagte ich das, was Khan mir aufgedrückt hatte.
„Wirklich? Wow, ich habe dich noch nie betrunken erlebt! Seltsam.“, kicherte sie weiter.
„Ja … Seltsam.“, schloss ich.
In Gedanken versunken taumelte ich neben ihr her. Als ich den Blick hob, war er nur ein Paar Schritte von mir entfernt. Mein Herz machte einen kleinen Überraschungshüpfer. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er einfach an mir vorbei, die sturmgrauen Augen desinteressiert nach vorne gerichtet. Die Mädchen um mich herum brachen in großes Genuschel und Schwärmerei aus. Abrupt blieb ich stehen, drehte mich ohne nach zu denken um.
Es war, als wären wir wie zwei Fremde.
Eigentlich war es ja auch so, ich kannte ihn kaum. Es wunderte mich nur.
„Ist was?“, musterte mich Amélie von der Seite und schaute mich mit schief gelegtem Kopf an.
„Nein, nein. Es ist nichts.“, winkte ich ab und sie nahm es mit einem Schulterzucken hin.
Unsere Wege trennten sich nach ein Paar qualvollen Schulstunden erneut und ich freute mich schon auf Erdkunde. Nicht nur, weil Mikele immer so gelassen drauf war, sondern weil es auch einer meiner besten Fächer war. Das Khan im selben Raum war, musste ich einfach ignorieren.
Vor der Tür begrüßte ich einige Freunde mit einem knappen „Hi“.
Ich suchte mit ausgestrecktem Kopf nach einer großen Brille, doch ich fand nichts.
„Hey, Ren. Hast du Mikele irgendwo gesehen?“, fragte ich die asiatische Schönheit da ich wusste, dass sie mit ihm öfters Unterricht hatte.
„Nein, er ist schon den ganzen Tag nicht da gewesen.“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
Man meinte es auch nie gut mit mir. Seufzend nahm ich es hin, als auch schon Mr. Sanchez um die Ecke kam. Die Schülermasse torkelte gelangweilt hinein und auch mir wurde die Vorfreude zunichte gemacht und ich saß alleine an einem Tisch. Ich spürte die bohrenden Blicke der Clique. Vor allem seiner ließ mich innerlich frösteln.
„Was gibt’s da zu glotzen?“, zischte ich sie allesamt an. Sie gingen mir gewaltig gegen den Strich.
Ich erntete verschiedene Blicke. Rony verzog eine miese Grimasse und wandte sich ab, der schwarzhaarige Antonio nahm es einfach hin. Khan allerdings starrte mit einem belustigten Blick weiter und in seinen Augen glitzerte es gefährlich.
„Guck nicht so.“, murmelte ich leise und versuchte einfach, ihn auszublenden. Ich nahm noch ein leises Lachen wahr, aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
„Ich möchte, dass sie heute eine Partnerarbeit beginnen.“, meldete sich der Lehrer zu Wort, „Das Thema wird die Wandlung der Gesellschaft sein. Sie alle sollen Menschen beobachten und anschließend eine Liste machen, in der sie schätzen sollen, wie es diesem Menschen finanziell geht und in welchem Zustand er sich befindet. Kommt er vielleicht aus der dritten Welt? Was sagt seine Kleidung aus? All diese Merkmale sollt ihr sammeln. Die Ergebnisse werden wir in der nächsten Stunde dann ausdiskutieren.“, schloss er.
Ein leises Murmeln ging durch die Klasse, die meisten gaben sich damit zufrieden. Auch ich fand, dass es ein gutes Projekt war. Es gab nur ein kleines Problem.
Zögernd hob ich die Hand. „Ich habe keinen Partner, Mr. Sanchez.“
Der Lehrer sah mich abschätzend durch seine Brille hinweg an. „Noch jemand ohne Partner?“, rief er mit kräftiger Stimme durch die Klasse und ging die Tischreihen durch.
„Ja, Mr. Sanchez.“, sagte eine entzückte Stimme aus.
Langsam fuhr ich mit dem Kopf herum und schaute schräg hinter mich.
Bitte nicht!
„Schön. Dann setzen sie sich doch bitte neben Mrs. Hernandez.“ Und damit wäre die Sache dann wohl geklärt.
Eine große Gestalt ließ sich neben mir auf den Stuhl fallen, Zuckersüßer Duft erreichte mich.
„Was habe ich in diesem Leben nur falsch gemacht?“, flüsterte ich mir selbst zu und ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen.
„Ein bisschen mehr Begeisterung, bitte. Immerhin sind wir jetzt Partner.“, hauchte er dicht neben meinem Ohr.
„Lass mich!“, fauchte ich nur lauthals zurück, „Ich werde mit dir überhaupt gar nichts machen.“
Herausfordernd zog er eine Augenbraue hoch.
„Oh, wirklich? Das wäre aber nicht gut für unsere Note, oder princesa?“, sagte er lüstern.
„Halt die Klappe!“, befahl ich verzweifelt. Ich wusste selbst, dass es kein zurück mehr gab.
In diesem Moment hätte ich nicht nur gerne Khan, sondern auch Mikele verdroschen.
Die Rettung kam, und es schellte endlich zur Ende der Stunde. Khan tat mir den Gefallen und blieb still, doch ich merkte dieses selbstgefällige Grinsen, das mich innerlich zum kochen brachte.
So schnell es ging packte ich meine Sachen zusammen und wollte gerade abhauen als man mich am Handgelenk festhielt und zurückzog.
Genervt schaute ich über die Schulter. „Lass mich los du Idiot!“, keifte ich aufgebracht.
„Du hast was vergessen. Wir müssen das Projekt noch heute machen.“ Er schaute mich direkt an und schon wieder überkam mich eine Gänsehaut, die ich nicht abschütteln konnte.
Schön Locker bleiben, Névra.
Ich seufzte laut auf. „Na schön … um sechs Uhr vor dem Starbucks Café, in Ordnung?“
Er bestätigte es mit einem knappen Nicken. „Ich freu mich schon.“, flüsterte er noch so, dass nur ich es hören konnte und ließ mich frei.
Wieso wurde es wieder so heiß hier drinnen?!
Ich stellte mir den Tag so grauenvoll und nervig wie noch nie vor, um mich auf alles vorbereiten zu können.
Zu hause aß ich eine Kleinigkeit und erledigte schnell meine Hausaufgaben.
Alex ignorierte ich und es schien ihm nicht einmal zu stören. Oder er bemerkte es nicht, wie auch immer. Ich sagte ihm nur kurz und knapp, dass ich nicht auf Lucas aufpassen könne und ging, bevor er mir widersprach. In meine Umhängetasche packte ich mir Block und Stift rein, bevor ich das Haus verließ.
Die Abendsonne legte sich weich auf meine Haut und ich streckte mein Gesicht ihrer Strahlen entgegen, genoss einfach das kitzelnde, warme Gefühl.
Meine Roten Haare harmonierten zu einem dunklen Orange, die ich mir über die Schultern schüttelte.
Selbstsicher schlenderte ich durch die belebten Straßen. Die Menschen saßen fröhlich in den Restaurants und Bars und freuten sich darüber, dass der Sommer ihnen diese langen Tage spendierte.
Zielstrebig steuerte ich auf das nächste Café in der Ecke zu – dem Starbucks. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es kurz nach sechs Uhr war.
Als ich das schön gestaltete Café sah, entdecke ich jede Art von Mensch. Nur ihn nicht.
Ich lehnte mich gegen die Mauer neben den Eingang und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Der Typ würde mich entweder warten lassen, oder gar nicht kommen.
„Willst du etwa schon schlafen, querida? Dann kannst du ja direkt mit zu mir kommen“, säuselte jemand neben mir. Erschrocken riss ich die Augen auf und stieß mich eilig von der Mauer ab.
„Oh Gott … Spinnst du?“, fuhr ich ihn giftig an. Er lachte rau und schüttelte leicht den Kopf. Dass er gekommen war, wunderte mich wirklich.
Ich murmelte einige Flüche vor mich hin, ehe ich ihn ansah: „Können wir anfangen?“
„Aber immer doch. Ich denke, wir sollten uns ein ruhigeres Plätzchen suchen.“, sagte er dann schmunzelnd.
Meine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ach, sollten wir dass ja?“ fragte ich zynisch.
„Ganz genau.“, schloss er und ignorierte meinen drohenden Ton indem er mir zuzwinkerte.
Er schleppte mich auf eine große, öffentliche Wiese die mir die Sprache verschlug. Einzelne, große Bäume spendierten den vielen Menschen hier schattige Plätze. In der Mitte der Wiese schoss in regelmäßigem Abstand eine riesige Wasserfontäne in die Luft, an der die Kinder tobten, schrien und lachten.
Die Eltern standen drum herum und passten auf die Kleinen auf.
Das zwitschern der Vögel war kaum zu überhören und der salzige Meeresduft wurde von dem Wind bis hierher getragen.
„Wow.“, entfuhr es mir ungewollt aus den Lippen.
„Es ist schön, ich weiß. Komm.“, forderte er mich auf und ich folgte ihm zu einem Schatten der Bäume.
„Woher kennst du diesen Platz?“, fragte ich interessiert nach und musterte ihn.
Er lächelte zufrieden und senkte seinen Blick. „Ich war früher immer hier. Als ich klein war.“
„Verstehe“, nuschelte ich. Wir lehnten uns beide gegen den breiten Baumstamm.
Ich packte meinen Block heraus und schaute in seine zugegeben schönen Augen. „Können wir dann anfangen?“, fragte ich.
„Klar“, erläuterte er ohne Protest.
Ich wollte das alles einfach ganz schnell hinter mich bringen.
„Siehst du diese Frau dort? Ich denke, sie ist unglücklich. Und besonders wohlhabend sieht sie auch nicht aus.“, sagte er dann.
Er schaute geradewegs dorthin und ich folgte seinem Blick.
„Woher willst du das wissen?“ Ich wusste nicht, wieso er das glaubte.
Seine Augen blieben dort. „Sie ist alleine und schaut immer wieder wieder zu den Kindern hin. Außerdem sieht sie auch öfters zu dem Paar dort drüben hinüber, das unter 'nem Baum rummacht.“, schloss er. Bei dem letzten Teil entging mir sein fieses Lächeln nicht.
Auch ich musterte die Frau, die geschätzte fünfundzwanzig war und es war tatsächlich so, wie Khan es gesagt hatte. Sie legte den Kopf auf die Knie und verharrte eine Weile so.
„Vielleicht wurde sie ja von ihrem Freund verlassen?“ Die Frage war einer meiner laut ausgesprochenen Gedanken.
„Das denke ich auch.“, kommentierte der Typ neben mir.
Genauso schrieb ich es mir dann auf den Block.
„Könnte ja auch sein, dass sie die Scheisse gebaut hat und ihr Freund sie dafür verlassen hat.“, fügte er noch hinzu.
„Ja … solche hinterhältigen Menschen gibt es leider.“
Nun zog ich seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. „Wie sieht in deinen Augen denn ein hinterhältiger Mensch aus?“
Fragend legte ich den Kopf schief. Er schien es ernst gemeint zu haben und ließ mich nicht aus seinem bannenden Blick los.
„Wenn sich jemand nach außen hin anders ausgibt, als er eigentlich ist zum Beispiel. Oder wenn dir jemand etwas vorspielt, und er dich hinterher verrät.“, meine Augen suchten wieder die einsame Frau, „Oder aber wenn man in der Liebe untreu bleibt.“
Die Sonne schränkte ihre Strahlen Stück für Stück ein.
„Warum fragst du?“ Ich sah ihn kurz an.
„Nur so“, entgegnete er, „Und wie würdest du dich in so einer Situation fühlen?“; bohrte Khan dann weiter.
„Na ja. Ich wäre verletzt und mein Vertrauen zu der Person wäre dann auch hin.“
„Da hast du wohl Recht.“
„Ich weiß, du Idiot.“
Er lachte rau und auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Kopfschüttelnd schrieb ich weiter auf dem Block herum, während wir über ein gutgekleidetes Paar redeten das anscheinend einiges an Geld besaß.
Es ist schon viel Zeit verstrichen, seitdem wir diese Wiese betreten haben. Der Himmel färbte sich langsam in ein dunkles blau. Die Familien mit ihren Kindern waren schon längst gegangen. Nur noch wenige Pärchen saßen an ihren Plätzchen, kuschelten herum und beobachteten den langsam einziehenden Sternenhimmel.
Ich starrte auf meinen Block, der mehrere, vollgeschriebene Seiten hatte und steckte ihn zufrieden weg.
„Endlich. Ich glaube, das reicht.“, sagte ich erleichtert und lehnte mich zurück.
„Das denke ich auch.“
Wir schwiegen uns ein paar Minuten an. Jedoch war es keine erdrückende Stille, nein. Wir beide genossen den frischen Abend, der uns mit seiner kühlen Luft begehrte. Es war ein schöner Moment und es störte mich nicht einmal, dass Khan da war. Ansonsten hätte das meine Stimmung sicher gekippt. Bei dem Gedanken schmunzelte ich leicht.
Ich warf dem Model neben mir einen kurzen Seitenblick zu und es entging mir nicht, wie er mich anstarrte.
„Warum warst du letztens zwei Tage nicht in der Schule?, fragte der Badboy neben mir neugierig.
Wie auf Befehl zog ich mich leicht krampfhaft zusammen. „Mir ging's nicht so gut.“ Das war nicht einmal gelogen.
Seine Augen verengten sich. „Dir geht es die ganze Zeit über schon nicht gut.“
„W-was? Wie meinst du das?“, meine Stimme knickte etwas ein, und ich spürte das Zittern darin.
„Ich seh's dir an.“, sagte er nur und schon wieder rissen mich diese grauen Augen mit. Einen Augenblick lang hatte ich wirklich Angst, dass sie mir in die Seele blicken konnten und ich wie ein offenes Buch für ihn dalag.
„Das ist alles meine Sache.“, erklärte ich sachlich und biss mir trotzdessen nervös auf die Unterlippe.
„Du weißt nicht, wie es nach Hause geht, oder?“, fragte er plötzlich und ich hörte den Hohn aus seiner Stimme, ohne hinzuschauen.
In mir machte sich eine ganz, ganz böse Vorahnung breit.
„Worauf willst du hinaus?“, fragte ich misstrauisch und sah ein verräterisches Zucken um seine Mundwinkel.
„Na ja, wir bleiben einfach so lange hier, bis du es mir sagst. Von mir aus die ganze Nacht.“, säuselte er belustigt und wickelte sich mit einem schelmischen Grinsen einer meiner Locken um seinen Finger.
Empört sah ich zu ihm und klatschte seine Hand da weg. „Das ist Erpressung!“, keifte ich ärgerlich.
Dies mal lächelte er mit seiner ganzen Zahnpracht. „Du kannst dir vorstellen, wie egal mir das ist.“
„Pff. Und wie ich das kann.“, zischte ich und verschränkte die arme vor der Brust.
„Dann leg mal los, princesa.“
„Zu erst einmal – warum interessiert dich das?“
„Pure Neugier.“
Ich fluchte vor mich hin. Plötzlich hasste ich diesen Typen wieder … wirklich!
„Seit dem ich diesen dummen Drohbrief bekommen hab, geht’s mir nicht ganz so gut. Meinen Eltern ist alles scheissegal, mein Vater wurde auch schon bedroht und alles in einem weiß ich nicht wirklich was los ist. Jeder schweigt, verstehst du?“, sprudelte alles aus mir heraus und ich warf die Arme theatralisch in die Luft. Hilflos blickte ich zu ihm. Er nickte nur.
„Und dann gibt es da noch Carlos der mir nur das Leben schwer machen will. Meine beste Freundin ist Naiv und lässt sich auf einen von euch komischen Typen ein“, dabei zeigte ich mit dem Finger auf ihn, „und vergisst alles drum herum total! Und dann gibt es noch dich, einer meiner größten Probleme.“, schloss ich schmollend. Diesmal lachte er auf und erhob sich elegant, ehe er genau vor mir wieder in die Hocke ging.
„Hm, ich verstehe. Eine Menge Probleme, und ich bin eines davon.“, hauchte er dicht vor einem Gesicht.
Plötzlich wurde mir wieder der unendlich heiß. Jedes Mal, wenn ich in genau dieser Situation steckte, fehlte mir meine freche Stimme und ich konnte nur dumm gucken. Gott, wie ich das hasste!
„Vielleicht hast du Recht, princesa. Vielleicht bin ich wirklich ein Problem.“, schnurrte er lüstern und in seinen Augen blitzte etwas gefährliches auf, was ich nicht deuten konnte.
„Hör auf.“, krächzte ich mühsam heraus, doch er ging nicht drauf ein und nahm zaghaft mein Kinn in seine Mangel. All meine Muskeln spannten sich an, wollten sich einfach nicht lockern.
Sein heißer Atem streifte mich am Hals, streichelte mich dort. Ich wollte ihn weg schubsen, doch meine Kraft schien wie ausgesaugt.
„Aber das ist genau dass, was du sagtest. Ich bin dein Problem.“
In der nächsten Sekunde ließ er wieder von mir ab und gewährte mir das freie Atmen. Mit einer schnellen Bewegung zog er mich auf die Beine und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
„Ich bringe dich nach Hause. Wer weiß, was dich in so einer Nacht noch alles fressen will. Außer mir natürlich.“, sagte er und zwinkerte mir süffisant zu.
Verdutzt sah ihn an, entlockte ihm somit sein bekanntes, freches Grinsen, als er sich umdrehte und vorging.
„Perversling“, brummte ich nur und lief ihm hinterher.
Warum musste der mich immer so verwirren?
Warum las er mich, als wäre ich eine offene Zeitung, während ich nichts über ihn wusste und auch nichts über ihn aussagen konnte?
Warum verstand ich ihn nicht?
Ja, warum?
Er hatte mich zu meiner Überraschung tatsächlich bis kurz vor die Haustüre gebracht. Es wunderte mich ein wenig, doch immerhin konnte ich das erste positive an ihm aufzählen.
Seufzend pfefferte ich meine Tasche achtlos neben meinem Tisch auf den Boden und ließ mich auf meinen Platz nieder. Ich wartete auf den Blondkopf, der sich meine beste Freundin nannte, während immer mehr Schüler in den bereits offenen Raum hineintraten.
Ich blickte kurz auf die andere Seite um den schwarzhaarigen zu mustern, der anscheinend genauso auf die Eingangstür starrte wie ich.
Mit zusammengekniffenen Augen widmete ich mich wieder nach vorne. Wartete er auch auf sie?
In dem Moment kam sie rein, ging mit den Augen suchend durch den Raum. Als sie Antonio entdeckte, gab sie ihm ein schüchternes Lächeln, das er erwiderte bevor sie sich an mich wand.
„Hi, Név!“, piepste sie, setzte sich aber nicht wie üblich neben mich.
Skeptisch sah ich Amélie an.
„Hi.“, entfuhr es mir ebenfalls lächelnd.
Amélie sah überall hin, nur nicht zu mir. „Du, ähm, bist mir nicht böse, wenn ich mich heute vielleicht neben Antonio setze?“, kam es dann stotternd und mit einem unschuldigen Blick aus ihr heraus.
Verdutzt sah ich sie an.
Ich wusste, dass da was nicht stimmte.
Unauffällig ballte ich meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten.
„Oh … klar, mach ruhig“, mit einer Hand machte ich eine abwinkende Bewegung, die leicht verkrampft aussah, „ist kein Problem.“, sagte ich noch mit einem hörbaren Zähneknirschen.
Am liebsten hätte ich ihr gesagt wie naiv sie doch ist, und dass dieser Typ sie aufs Maul fliegen lassen wird.
Bis jetzt habe ich dies immer getan. Auf mich wurde nie gehört.
Und wenn sie sich nun dafür entscheidet, es nochmal darauf ankommen zu lassen, dann lasse ich sie wirklich fallen. Sonst lernt sie es nicht.
Mit einem dicken Grinsen im Gesicht tapste sie zu Antonio rüber, während ich mürrisch hinterher schaute.
Diese Stunde würde ich dann wohl alleine verbringen. Ein letztes mal glitten meine Augen zu den beiden hinüber, bis er mich kurz ansah und ein arrogantes Lächeln auf seinen Lippen triumphierte.
Wenn es soweit ist, wird er mich noch kennenlernen.
Gereizt stampfte ich den Flur entlang, faltete dabei meinen Stundenplan auseinander, den ich noch nicht auswendig konnte.
Kurz hob ich meinen Kopf, und da fiel er mir schon direkt ins Auge. Ein wohlbekanntes Gefühl machte sich in mir breit, als ich mich näherte.
„Hey.“, begrüßte ich ihn vor seinem Spind. Er hatte einen genervten Gesichtsausdruck und rückte seine große Brille zurecht. So kannte ich ihn gar nicht.
„Hey.“, versuchte er ebenso freundlich zu klingen, was ihm nur halb so gut gelang.
Was wohl los war?
„Du siehst nicht gerade begeistert aus.“, wies ich ihn spaßig zurecht.
Mikele nahm einen tiefen Seufzer.
„Tut mir Leid. Es gibt gerade nur … so viel Stress.“, zischte er und sah mich dabei eindringlich an.
„Kann ich nur zurückgeben. Was ist los?“, hakte ich dann etwas besorgter nach.
Abrupt drehte er seine rechte Gesichtshälfte zu mir und mir sprang ein fieser, blauer Fleck ins Auge.
„Uh, der sieht böse aus.“, lachte ich leise und fuhr zaghaft mit einem Finger darüber.
Er presste die Lippen nur fest aufeinander und nickte.
„Hat mir so eine dumme Göre auf der Party verpasst.“, fluchte er leise und fing an, seine Brillengläser zu putzen.
Ich schaute mir den schlaksig wirkenden Jungen an und verkniff mir ein hinterhältiges Lachen. Stattdessen schlug ich ihm milde auf die Schulter.
„Mach dir nichts draus.“, munterte ich ihn auf.
Er wollte gerade etwas erwidern, als ein schrilles, nerviges Lachen alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Was für eine unerträglich hohe Stimme das doch war.
Wir beide wandten den Kopf in die Richtung, in der es laut getuschelt wurde.
Vor mir bildete sich ein murmelnder Schülerschwarm, in der alle immer wieder versuchten, unauffällig in eine Richtung zu blicken.
Was war da denn los?
Ich bahnte mich durch die Masse und wünschte, ich hätte es nicht getan.
Ich schluckte einen Würger nach dem anderen herunter, so ekelhaft war es!
An einer Wand, eng aneinander gepresst steckten sich Samantha und Khan gegenseitig verführerisch die Zunge in den Mund. Ihren viel zu dicken Busen drückte sie gegen seine, ihre schwarzgefärbten, kaputten Haare fielen ihr in den tiefen Ausschnitt. Er begehrte ihre dünnen Lippen ununterbrochen und ich fragte mich, ob diese beiden Menschen dort denn überhaupt keine Hemmungen hatten.
Kopfschütteln ging ich vorbei, blickte dann aber nochmal zurück. Ich konnte mir das einfach nicht verkneifen.
„Das sieht echt ekelhaft aus, Sam. Ich meine, ihr könnt das machen, wenn er dich gerade knallt, aber so … ?“, ich schüttelte tadelnd den Kopf.
Beide rissen ihre Augen auf, drehten ihre Köpfe sprachlos zu mir.
Zuckersüß lächelte ich zurück.
„Halt die Klappe, du Vogelscheuche!“, knurrte sie und zog den gutaussehenden Typen gleichzeitig am Kragen näher zu sich heran „Aber ich kann verstehen, wieso du eifersüchtig bist.“, versuchte sie noch aufreizend nachzusetzen.
Gespielt setzte ich einen nachdenklichen Ausdruck auf mein Gesicht und legte den Kopf schief.
„Eifersüchtig?“, murmelte ich hörbar, „Auf was denn? Ich sehe nichts. Meinst du vielleicht deine überdimensionalen Brüste? Ja, die sind recht auffällig – oder etwa doch diesen komischen Macho da, der dich nimmt und anschließend wieder wegwirft?“, drückte ich es nett aus und genoss ihren bösen Blick.
Ich gönnte ihm meine Aufmerksamkeit nicht, doch ich sah, dass er sich auf die Lippe biss, um ein Lachen zu unterdrücken.
„Ich meine ja nur, dass du deine schlampereien woanders aufführen sollst als hier.“ Ich zeigte mit meinem Zeigefinger auf den Schulboden, um es meiner damaligen, guten Freundin klar zu machen.
„Es ist nur lieb gemeint.“, zwinkerte ich provozierend.
Samantha sagte nichts, schaute mich nur mit offenem Mund an. Sofort schenkte ich ihr ein breites Lächeln das siegte. Sie glaubte doch im allen Ernstes, dass sie die schönste der Schule war. Wie dumm sie aber ist, erwähnte sie nie.
„Bis dann, Schönheit.“, redete sich das Model noch schnell ironisch heraus, drückte einen kurzen Kuss auf ihre Lippen und ich sah, wie es gewaltig um seine Mundwinkel zuckte.
„Bis gleich, Schatz!“, rief sie hoffnungsvoll hinterher. Ich schlug mir die Flache Hand gegen die Stirn.
„Bis dann, Schönheit!“, sagte auch ich laut und machte dann auf dem Absatz kehrt, bevor sie noch etwas sagen konnte und schüttelte meine Locken über meinen Rücken, wo sie lang und tief fielen.
Ich wusste, wie gut sie aussahen. Nicht wie eine Vogelscheuche oder sonst was.
Und ich wusste, was für respektvolle und ehrfürchtige Blicke mir hinterherjagten.
Ich stieg in die nächste Etage und suchte den Mathematikraum, als ich plötzlich schnelle Schritte hinter mit hörte und er dann neben mir wieder sein normales Tempo annahm.
„Was willst du?“, fragte ich genervt und suchte die richtige Nummer für den Raum. Ich musste nicht einmal nachsehen, wer da war.
„Samantha wird dich für immer hassen.“, kam er schmunzelnd zum Punkt.
„Das tat sie auch vorher, kein Problem.“
„Ach echt? Warum?“
„Frühere Auseinandersetzungen und so ein Mist. Aber freut mich, dass du die Liebe deines Lebens gefunden hast.“, neckte ich ihn sarkastisch mit einem gleichgültigen Unterton in der Stimme.
„Ich darf ja wohl auch meinen Spaß haben. Oder meinst du, du wärst besser geeignet?“, fragte er belustigt und leckte sich über die sinnlichen Lippen.
Empört schaute ich zu ihm hoch, begegnete seinen gefährlich funkelnden Augen.
„Vergiss diesen Traum mal ganz schnell wieder.“, grummelte ich böse und ein melodiöses Lachen erklang, bei dem selbst hetero Männer die Knie weich wurden.
Kurz musterte ich seine Haltung neben mir. Er erinnerte mich an einen Tiger mit seiner muskulösen Brust, den langen Beinen sowie der geschmeidigen Körperbewegung und der dominanten Haltung.
Schnell richtete ich mich wieder nach vorne, bevor er mich noch wie letztes Mal in seinem Zimmer ertappte.
Er war der perfekte Shir Khan aus dem Kinderfilm „Das Dschungelbuch“ - der böse Tiger eben.
Leise kicherte ich vor mich hin. Was für eine blühende Fantasie.
Er zog fragend die Augenbrauen hoch, als ich vor der richtigen Tür stehenblieb.
„Was lachst du so?“, fragte er kritisch. Die Ahnungslose Mimik gefiel mir irgendwie.
„Geh lieber in deinen Unterricht.“, winkte ich grinsend ab und trat ohne auf sein Widerwort zu achten in meine Klasse. Sollte der Tiger da draußen doch versauern.
Erdkunde, mit einem schlechtgelaunten Mikele und einer nervigen Clique. So kämpfte ich mich auch heute durch die Schule, in der Hoffnung, alles zu überstehen. Allerdings wurde mir dies immer zu einem harten Kampf gemacht, den ich erst einmal gewinnen musste.
Ich packte widerwillig meinen Block auf den Tisch und musste abrupt an den Tag mit ihm denken. Ab und zu hätte ich ihn wirklich gerne geschlagen, weil er mich gewollt so provozierte, aber andererseits bewunderte ich die Ernsthaftigkeit, mit dem er dieses Thema anging.
Menschen beurteilen, die Gesellschaft entschlüsseln.
Dinge, die ein alltäglicher Mensch gar nicht mehr wahrnahm.
„Sorry, dass ich nicht da war.“, entschuldige sich mein eigentlicher Partner knapp.
Ich nickte nur und wartete darauf, dass Senhor Sanchez mit dem Unterricht begann.
„ … Ich bin schon sehr auf ihre Ergebnisse gespannt und hoffe, dass etwas vernünftiges dabei raus kommt.“
Ich verhielt mich lieber still. Beide Partner von uns waren wieder da und es gab keinen Grund dafür, dass wir beide unsere Ergebnisse vorstellen, wenn wir im Normalfall nicht zusammenarbeiteten.
Ich las mir unsere gesammelten Fakten noch einmal durch. Es war sehr gut und bedacht geschrieben, unsere Analysen waren nicht zu oberflächlich.
Das, was bis jetzt vorgetragen wurde hakte Senhor Sanchez mit einem einfachen Nicken ab, als im hinteren Bereich plötzlich jemand laut gähnte und sich anschließend genüsslich reckte.
„Stop.“, unterbrach der Lehrer mit einer strikten Handbewegung, „Senhor Guevara, ist Ihnen mein Unterricht denn so langweilig?“, fragte er rhetorisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
Automatisch wandten sich alle zu Khan, der lässig auf seinem Stuhl saß und einen Stift zwischen seinen Fingern hin und er wippte.
„Ich will ehrlich sein, Senhor Sanchez. Eigentlich schon, ja.“, betonte er frech und ich schüttelte den Kopf.
Doch die Autoritätsperson vorne am Pult nahm es hin und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Schön. Dann gestalten wir es etwas anders.“, schloss er plötzlich, woraufhin verwirrte Blicke in der Klasse hingen, „Wer war ihr Partner, Senhor Guevara?“, fragte er dann.
Ich spannte mich unerwartet an, als Khan mit einen kurzen Seitenblick zuwarf, der mich dennoch durchbohrte.
„Senhorita Hernandez.“, gab er schlicht zurück.
Was sollte das alles bloß? Nervös tippte ich mit den Nägeln auf dem Tisch herum, schaute Mikele an, der nur mit den Schultern zuckte.
„Gut. Dann beschreiben Sie doch bitte Senhoria Hernandez, um es etwas spannender zu gestalten. Immerhin haben Sie nun keine Zeit zu überlegen.“
Unwillkürlich versteifte ich mich, mied jeden Augenkontakt.
„Sicher.“, ertönte es dann unberührt schräg hinter mir.
Das war doch nicht sein Ernst, oder? Würde er das wirklich tun?
Mein Magen machte ein paar Umdrehungen und ich wollte mit einer staubtrockenen Kehle einschreiten.
Zu spät.
„Névra kann man nicht mit ein paar Worten beschreiben, wie viele andere Menschen.“, fing er dann ruhig an und ich ließ meinen Kopf auf die Tischplatte sinken. Konnte es noch schlimmer werden? Oh ja.
„Jedes Mal wenn man meint, man wüsste nun mit wem man es zu tun hat, kommt etwas neues hinzu, was sie noch ausführlicher beschreibt als man zunächst dachte. Ich kann nicht sagen, wie wohlhabend sie ist, sondern nur schätzen – schlichte, jedoch gut ausgewählte Klamotten, bodenständig und offen.“
Bitte, bitte – halt deine Klappe, war das einzige, was ich sagen wollte.
„ … Vielleicht denkt man manchmal, dass sie traurig ist, doch ich persönlich habe das Gefühl, das ihr Charakter es oft nicht zulässt, ihre Gefühle wie ein offenes Buch lesen zu können. Wahrscheinlich liegt das an ihrem Stolz, den sie immer wieder präsentiert. Mehr weiß ich nicht über dieses Mädchen, Senhor Sanchez. Ich kann nicht sagen, in welcher Gesellschaftsschicht sie sich befindet.“, endete er dann monoton und jedes Interesse am Unterricht schien wie ausgelöscht.
Ausdruckslos starrte ich ihn an. Das Zittern blieb, doch so wie alle anderen wollte ich mehr wissen – mehr über mich.
„Nun, das war schön ausgedrückt, Guevara. Würden sie ihr Können öfter unter Beweis stellen, dann stünden sie jetzt besser.“ Senhor Sanchez gab ihm ein zufriedenes Lächeln und schrieb eine Anmerkung in seinen Block. Auch der Rest schien von ihm mitgerissen worden zu sein.
„Sie können froh sein, solch charmante Komplimente bekommen zu haben.“, wandte sich mein Lehrer nun an mich und ging seine Liste für die Noten weiter durch.
„Ich hoffe, es war das letzte Mal.“, murmelte ich nur abwesend und schaute wie gebannt nach hinten, wo er meinen Augenkontakt monoton erwiderte. Kalt, emotionslos. Gleichgültig.
Ein eiskalter Schauer rieselte meinen Rücken hinab.
Bei ihm fühlte ich mich nicht wie ein geschlossenes Buch, so wie er es gesagt hatte. Eher war es umgekehrt – er das Buch mit schloss, geheim und schier unerreichbar. Ich die Zeitung.
Durchschaute er mich? Ich konnte mich selbst nicht mehr einschätzen.
Müde und mit einem Kopf, in dem nur Chaos herrschte, ließ ich mich schwer auf mein Bett fallen und genoss die kurze Einsamkeit. Eine Zeit, die nur für mich bestimmt war, in der ich alles vergessen konnte.
Zum Beispiel mein Leben. Es engte mich ein, raubte mir den Atem, den ich so dringend benötige. Selbst hier, zu Hause, in meinen eigenen vier Wänden fühlte ich mich nicht sicher. Es war, als wäre die Gefahr höchstpersönlich im Haus und wartete.
Ich wollte jeden beschützen, der dieses Leben, in diesem Haus mit mir teilt.
Doch nicht mal auf mich selbst konnte ich Acht geben.
Jeder Tag der verstrich, seitdem diese geheimnisvolle Woche begonnen hatte, zerquetschte mich.
Das bedrückende Gefühl das ich empfand, lastete wie ein böser Fluch auf mir.
Ich spürte es.
Ein unerwartetes Klopfen an der Tür schleuderte mich zurück in de Realität, und schreckte mich aus meinem Tagtraum.
„J-Ja?“, stammelte ich unsicher und schaute zur Tür.
Sie öffnete sich einen Spalt breit und ein kleiner Teil meines Vaters lugte ins Zimmer.
Auf wackeligen Beinen kam er zu mir, setzte sich gegen meinen Willen aufs Bett.
„Wie geht es dir? Wie läuft die Schule so?“, fragte er dann plötzlich aber unsicher und versuchte ein echtes Lächeln aufzusetzen.
Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen, suchte ein Zeichen, das ihn verriet.
„Ähm … Super geht’s mir. Schule ist ebenfalls gut. Warum fragst du?
„Darf ein Vater denn nicht mal mehr mit seiner Tochter reden?“ Er klopfte mir leicht auf den Arm, so als wollte er damit beweisen, wie interessiert er doch an seiner Familie war.
„Doch, doch … sicher Papa.“, erwiderte ich kühl.
Was will er? Das ist nicht typisch. Definitiv nicht.
Ein lautes Klingeln durchbrach die Stille, die sich zwischen uns gelegt hatte und er griff sofort zu seinem Handy.
Wie von selbst bewegte sich mein Körper nach vorne, um die Neugier zu stillen.
Kurz blickte ich auf das Display: „Cuartero“, stand in großen Buchstaben drauf.
„Wer ist das?“, fragte ich erwartungsvoll, als er das Handy schnell zu sich riss.
Er schluckte und konnte seine Augen nicht mehr von dem vibrierenden Gerät lösen, das in seinen Händen lag.
„Papa?“, machte ich ihn erneut auf mich Aufmerksam.
Alex hob den Kopf, verzog den Mund zu einem Lächeln, das augenblicklich scheiterte.
„Das, ähm, ist ein Arbeitskollege. K-keine Ahnung was er will … ich gehe mal kurz raus.“
Mit schnellen Schritten verschwand er und zog die Tür hinter sich zu.
Verwirrt starrte ich ihm noch etliche Sekunden nach – was sollte dass nun wieder werden?
Ich sah, wie sich die Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten, und wie seine Stimme ins Wanken geriet.
Ein Arbeitskollege. Hm,
Schon lange habe ich Amélie von zu Hause nicht mehr abgeholt, doch an diesem Tag wollte ich es ändern. Sie war etwas überrascht, so als hätte ich dies noch nie getan. Dabei war es vorher immer so gewesen, jeden Morgen.
Manchmal hatte ich das Gefühl, das unsere Freundschaft ersetzt wurde, doch dann winkte ich diesen lächerlichen Gedanken ab. Niemals. Oder?
Skeptisch musterte ich den Kartoffelbrei, der vor mir lag und stach mit der Gabel lustlos hinein.
„Hast du keinen Hunger?“, fragte das blonde Mädchen und schaute von ihrer bescheidenen Portion Salat auf.
Salat? Meine Augenbrauen schossen in die Höhe.
„Nein, nicht wirklich, aber seit wann isst du Salat?“ Neugierig musterte ich sie.
Sie spielte mit den Fingern herum und mied meinen Augenkontakt.
„Oh, also … Diät.“, sagte sie knapp und senkte den Kopf, um auf einem weiteren Blatt herumzukauen.
„Diät … Diät?“, meine Stimme wurde ungewollt laut, „Du bist so dünn wie ein Stock! Was für eine Diät denn bitteschön?“, sagte ich scharf und wollte ihr in dem Moment zu gerne den Kartoffelbrei mit einer Extraportion BigMac in den Mund stopfen. Vorher wollte sie sogar zunehmen.
„Antonio hat gesagt, er steht auf dünne Mädchen!“, argumentierte sie schwach.
„Du bist dünn!“
„Aber anscheinend nicht dünn genug!“
Fassungslos starrte ich sie an. Sie war nicht mehr die Amélie, die ich so gut kannte. Es war wie eine Hundertachtzig Grad Drehung, in der ich sie nicht mehr durchschauen konnte.
„Nur weil er das sagt, möchtest du abnehmen?“
„Natürlich. Wenn er mich so schöner findet, dann tue ich es für ihn.“, rechtfertigte sie sich.
Mit der flachen Hand schlug ich auf den Tisch. Die Wut in mir wurde immer größer, meine Hand bildete sich verkrampft zur Faust.
„Siehst du nicht, dass der Typ ein Idiot ist? Willst du magersüchtig werden? Sieh dich doch mal an! Alle außer ihm würden dich schon viel zu dünn finden! Du bist schön, wie viel Bestätigung brauchst du denn noch?“, zischte ich, wollte sie endlich aus ihrer rosaroten Welt raus holen.
„Rede nicht so über ihn! Du kennst ihn doch gar nicht“, sagte sie aufgebracht, „Er ist ein guter Kerl und ich weiß, was das Richtige für mich ist!“, fügte sie dann noch mit einem säuernden Blick hinzu.
In der Cafeteria war es stiller geworden und die meisten Blicke lagen auf uns.
Ich schluckte den dicken Kloß in meinem Hals hinunter, zügelte meinen keimenden Kern aus Wut und Frust.
„Na fein.“, beendete ich das Thema und verließ sie.
Ersetzt durch irgendeinen Typen, ich lag nicht falsch.
„Névra! Wartest du mal bitte kurz?“, rief die Stimme meiner Lehrerin hinter mir her.
Ich blieb stehen, schloss genervt die Augen und atmete kurz durch.
„Ja bitte, Senhora Fenua?“, fragte ich entzückt nach und setzte ein Lächeln auf.
„Du weißt ja, dass die Theateraufführung im Winter stattfindet. Ich wollte dich fragen, ob du auch dieses Jahr mithilfst. Es werden noch die nötigen Darsteller und Designer gesucht.“
„Natürlich. Welches Thema wird es denn diesmal?“, hakte ich interessiert nach.
„Die Lehrer haben sich für ein Romeo und Julia im 21. Jahrhundert entschieden. Gut, nicht?“
„Sicher mal was neues“, lächelte ich und stimmte ihr dabei zu.
„Schön. Ich hoffe mal du findest unsere Schauspieler. Einen haben wir ja schon … Nur habe ich den Namen vergessen.“, sie fasste sich nachdenklich ans Kinn, „Na ja, unwichtig. Du könntest da auch mitmachen. Wie wäre das?“
Mitmachen? Schauspielern? Alles andere, nur das nicht. Ich konnte mir weder lange Texte merken, noch war ich gut mit der Körperlichen Sprache oder sonst was.
„Danke für das Angebot, aber ich mache doch lieber den anderen Teil der Arbeit.“, redete ich mich raus.
Meine Lehrerin spitzte ihre blutroten Lippen und schob sich die Brille tiefer auf die Nase.
„Wie du möchtest.“, sagte sie noch, ehe wir uns verabschiedeten.
Ein interessantes Thema. Jedes Jahr fand an unserer Schule solch ein Projekt statt, dass gut Besucht wurde.
Sofort dachte ich an Amélie, was mir ein flaues Gefühl in den Magen trieb. Sie wäre wahrscheinlich die perfekte „Julia“.
Ich nahm einen langen Atemzug und ließ den Kopf gekränkt hängen, während ich durch den Schulflur torkelte.
Ich würde nicht sagen, dass ich Unrecht hatte.
Aber Streit wollte ich auch nicht.
Ich zog mir meine Strickjacke enger um mich, setzte mich auf die Wiese vor dem Schultor und seufzte laut, als ich mich an die Mauer lehnte.
Laut Stundenplan hatte ich eine Freistunde, die ich sonst mit meiner besten Freundin verbrachte.
Weit und breit war niemand zu sehen, weshalb ich die Augen schloss und für einen kurzen Moment in mich hineingehen konnte.
Wie gesagt, ein kurzer Moment.
„Da hat aber jemand schlechte Laune“, säuselte die dunkle Stimme des Tigers neben mir.
„Verschwinde.“, zischte ich leise und sah weiterhin geradeaus.
Immer dieser Störfaktor zu unpassenden Zeiten.
Stattdessen spürte ich Wärme neben mir, als er sich dreist dazusetzte.
„Du machst es mir nicht gerade leichter.“, nörgelte ich und wandte mich mit zusammengekniffenen Augen an ihn.
„Ich weiß, ich weiß. Ich bin ja auch ein Problem.“, lachte er leise und zog an seiner Zigarette.
„Bist du auch.“, bestätigte ich strikt. „Hast du denn keinen Unterricht, dass du mich jetzt nerven musst?“
„Doch, aber ich habe keine Lust auf die Diskussionen mit dem Lehrer.“
Erwartungsvoll sah ich ihn an. „Aber unsere sind besser, oder wie?“, fragte ich ironisch.
Wieder huschte ein zufriedenes Lächeln über seine schönen Lippen.
„Weitaus gemütlicher.“, sagte er und zwinkerte mir zu.
„Hmpf. Dummer Tiger.“, murmelte ich so leise, dass er es nicht hören konnte, in meine Arme hinein, die ich auf meinen Knien abgestützt hatte.
Ein letztes Mal zog er an der Kippe, ehe er sie auf dem Boden ausdrückte.
„Verrätst du mir deine schlechte Laune?“
„Nein“, gab ich schnell zischend zurück, „geht dich nichts an.“
„Ist das nicht grade das gute daran? Wenn du es jemandem erzählst, der dich gut kennt, könnte er ja vielleicht Urteile gegen dich bilden. Jemand der dich nicht so gut kennt, schafft das nicht so leicht.“, schloss er wohl wissend und reckte das Gesicht der Sonne entgegen.
Stumm betrachtete ich ihn, hob den Kopf ein Stück.
„Manchmal kommt es mir aber so vor, als ob du mich sehr gut kennen würdest.“, sagte ich in Gedanken versunken und musste mir eingestehen, dass er Recht hatte.
Wieder umschmeichelte ein kleines Grinsen sein edles Gesicht, dass er immer noch mit geschlossenen Augen in die wärmenden Strahlen hielt.
„Ich sage nur das, was ich sehe. Also, was ist jetzt?“ Nun wandte er sich wieder an mich, wobei mich der Anblick in seine grauen Augen fesselte.
„Ich habe mich mit Amélie gestritten.“, sagte ich durch zusammengepresste Lippen und senkte den Kopf wieder.
„Dieses dünne blonde Püppchen? Was soll schon sein? Streiten gehört dazu. Früher oder Später lernt man aus ihnen.“, flogen die Worte so leicht über seine Lippen, dass ich für einen kurzen Moment glaubte, es sei wirklich nicht so schlimm.
„Aber nicht so. Ich meine, sie ersetzt mich durch irgend so einen Typen von euch! Und sieht nicht einmal, wie sehr mir das du schaffen macht. Dabei will ich sie nur schützen.“, flüsterte ich den letzten Teil und blinzelte die aufkommenden Tränen weg.
Ich spürte die verwirrten Blicke, die er mir zuwarf.
„Ist sie das denn Wert?“, fragte er leise aber bestimmt.
Darüber musste ich nicht lange nachdenken. „Ja.“
Diesmal nahm er den tiefen Seufzer und fuhr sich durch die Haare.
„Wenn sie erst mal sieht, was sie da verloren hat, dann wird sie ihren Fehler auch einsehen und sich entschuldigen. Da bin ich mir ziemlich sicher.“
„Dazu muss aber was passieren. Zum Beispiel, dass Antonio ihr fremdgeht, oder so.“, sagte ich mit einem bitteren Unterton.
„Warum glaubst du, dass er das machen würde?“, schmunzelte Khan und wartete gespannt auf die Antwort.
„Weil ihr alles die selben Idioten aus dem selben Freundeskreis seid.“, fluchte ich.
„Da könntest du möglicherweise Recht haben.“, lachte er und auch ich ließ mich mit einem minimalen Lächeln davon anstecken.
„Nein, aber ehrlich – du bist sicher eine gute Freundin, ich sehe, dass du dich sehr um sie sorgst. Glaub mir, sie wird es noch schnallen.“, fügte er ernst hinzu.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer breitete sich in mir aus und es fühlte sich so an, als wäre mir eine schwere Last von der Seele genommen worden.
„Manchmal dachte ich, es wäre meine Schuld. Immerhin habe ich angefangen.“
„Was war denn der Grund des Streites?“
„Sie wollte abnehmen. Wegen ihm!“, zischte ich und merkte, wie wütend ich wieder wurde.
Der Braunhaarige schüttelte ermahnend den Kopf und verzog das Gesicht.
„Dabei wäre sie mir jetzt schon viel zu dünn.“, sagte er angewidert.
Ich nickte nur und beobachtete die vorbeiziehenden Wolken, die von einem strahlendem Blau eingerahmt wurden.
Wieder erinnerte mich dieser beruhigende Moment an den Tag, an denen wir beide ähnlich unter dem Baum saßen. Trotz seiner sonst so unausstehlichen Gegenwart war es mir diesmal egal. Er beruhigte und machte mich wütend zugleich – irgendwie. Das schaffte er jedes Mal.
Das laute Läutern der Schulklingel weckte mich aus den Erinnerungen und ich sah aus dem Augenwinkel, wie er sich schon hoch stemmte.
„Na dann, querido. Wir sehen uns schon noch“, verabschiedete er sich und zwinkerte mir zu.
„Ich hoffe nicht!“, fauchte ich und es nahm wieder seinen ursprünglichen Lauf zwischen uns.
„Werden wir sehen“, grinste er zufrieden mit seinem Werk, dass er mich erneut provozieren konnte.
„Hau ab!“, forderte ich den Tiger auf, der dann lachend den Weg ins Gebäude einschlug und ich kurze Zeit später das gleiche Tat.
Jetzt wo er weg war, fragte ich mich, wieso ich ihm das eigentlich alles erzählt hatte.
Der Drang in meinem kuscheligen Bett zu versinken war überwältigend, doch stattdessen musste ich bis zum Nachmittag in der Schule bleiben, um das angehende Theaterprojekt zu planen.
Mürrisch arbeitete ich die Blätter durch, die Senhora Fenua mir einfach in die Hand gedrückt hatte.
Mariana und Pedro, die ebenfalls mithalfen, gehörten zu meiner Stufe und ließen mich damit nicht ganz im Stich.
„Haben wir schon Hauptdarsteller?“, fragte ich Mariana kritisch und ging die Bögen mit den Namen nochmals durch.
„Ich bin mir nicht sicher, aber es gibt schon ein Paar, die den Hintergrund und die Musik übernehmen möchten.“, antwortete sie leise
Genervt massierte ich mir den Nasenrücken.
„Und was ist mit den Freiwilligen, die die Rollen haben wollten?“
„Die haben sich bereits im Schulkeller an der Bühne versammelt. Pedro ist da, wir müssen nur noch entscheiden, wer die Hauptrollen bekommt.“
Ich nickte und schloss den einsamen Klassenraum mit meiner Partnerin ab, ehe wir uns auf den weg zur Bühne machten, wo mich das Chaos bereits anlächelte.
Etliche Schüler und Schülerinnen aus unserem Jahrgang haben sich eingetragen. Ich blickte in die große Runde der Freiwilligen und fragte mich, ob es einer von ihnen hinbekommen würde.
„Okay“, sagte ich langgezogen und kratze mich ratlos am Hinterkopf.
Ich forderte die Masse auf, sich in drei Gruppen zu teilen, die nach „Romeo“, „Julia“ und „Nebenrollen“ sortiert wurden.
Als allererstes begutachtete ich die Nebenrollenkandidaten und schaute anschließend auf den Zettel.
„Gut. Fangen wir mit den jeweiligen Eltern an – reiche Eltern aus zwei Familien, die sich hassen. Na, wer will?“
Ich wartete einen kurzen Moment, als einige Gestalten nach Vorne traten.
Sofort fielen mir zwei große Jungs auf, die ein reifes Gesicht hatten und absolut perfekt in die Rollen hineinpassten. Diese pickte ich mir raus und gab ihnen ihre Dialogzettel, die eine Schülerin davor schon als Drehbuch umgeschrieben hatte.
„Da fehlen noch die Frauen.“, machte ich die weibliche Schülerschaft drauf aufmerksam und genauso schnell fanden sich zwei pfiffige Blondinen.
Langsam tastete ich mich auch an die Hauptrollen ran. Diese mussten genau aufeinander abgestimmt sein, weshalb es etwas kniffliger wurde, verschieden gleiche Paare raus zu suchen.
„Senhora Fenua meinte, wir hätten schon jemanden für eine Hauptrolle.“, fragte ich indirekt in die Masse hinein, doch keiner antwortete.
Entnervt verdrehte ich die Augen. Gott, das waren zu viele unfähige Menschen auf einmal.
„Da hatte sie auch Recht.“ Die ganze Aufmerksamkeit der Schüler flog dahin und alle Blicke waren auf ihn gerichtet.
Nein. Nein, nein, nein!
Ich hatte mich verhört.
Bitte.
Schnell wirbelte ich herum, doch da kam er schon mit seinem selbstsicheren Lächeln auf uns zu.
Nein. Nicht mit mir!
Abrupt stemmte ich meine Hand gegen seine Brust und zeigte ihm sofort meine Ernsthaftigkeit.
„Du bist zu spät. Die Rollen werden an jemand anderes vergeben, und jetzt verschwinde!“, knurrte ich hörbar und meine Stimme nahm einen festen Unterton an, den er gekonnt ignorierte.
„Ich wurde für diese Rolle eingeteilt, ich behalte sie auch.“ Er nahm meine Hand von seiner Brust und lief einfach an mir vorbei.
Mit offenem Mund starrte ich hinterher, während die Mädchen lustvoll jubelten.
„D-Das kannst du nicht machen!“
„Du siehst – ich kann.“
Meine Laune wurde zertrampelt und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, einen ganzen Winter lang mit ihm zu proben.
Mieses Arschloch. Und Rony hatte er auch noch im Schlepptau.
„Julia?“, fragte ich zischend und in der selben Sekunde sprangen und schrien die Mädchen.
„Ich, ich, ich! Er ist mein Freund, ich will die Rolle!“, schrie Samantha so laut, als wäre sie selber der Weltuntergang meiner Ohren und Augen.
„Von mir aus, ist mir egal! Sam, du bist Julia.“, entschied ich dann knurrend und gab jedem noch seine Dialoge.
Alles zum Thema „perfekte Paare“.
„Mariana, Pedro? Übernehmt bitte, ich gehe mich mal hinsetzen.“, sagte ich kühl und forderte die beiden rasch auf, mir die Arbeit abzunehmen.
Ich setzte mich auf einen der Zuschauerplätze und ärgerte mich über seine Dreistigkeit.
Mariana wollte zunächst eine beliebige Szene nachgespielt haben, um sich von Sams und Khans Können zu überzeugen.
Beide betraten die Bühne, die Dialogzettel fest in den Händen.
„Können wir die Kussszene nachspielen?“, fragte Sam quitschend und klatschte nach dem Nicken von Mariana freudig in die Hände – zum Kotzen.
Fake-Julia nahm eine übertriebene Gestik an, die Hände an den Seiten ausgestreckt, den nötigen Zettel ebenfalls weit von den Augen entfernt.
„ … Romeo, oh Romeo!“, fing sie dann theatralisch an und mir klappte zu allem Übel die Kinnlade runter.
„Stop!“, rief ich strikt und nahm meine Führerposition automatisch wieder an.
„Wir wollen ein Romeo und Julia des 21. Jahrhunderts, nicht in einer längst vergessenen Zeit!“, knurrte ich sie böse an, „Falls du nicht ganz so verdummt bist wie ich annehme, möchte ich dich auf deinen Dialogzettel hinweisen.“, setzte ich dann nach und genoss den Schreck in ihrem Gesicht, der sich schnell in überhebliche Arroganz verwandelte.
„Macht weiter. Und zwar richtig.“, sagte ich, bevor sie etwas erwidern konnte.
Ich verfolgte jeden von Khans Schritten, Gesichtszügen und Gestiken, die er kontrolliert und professionell zur Schau stellte. Er änderte seine Stimme passend zu der Situation, und wusste sofort wie er sich zu verhalten hatte.
Zugegebenermaßen war er einfach gut.
„ … Ich kann nicht ohne dich, Julia. Ich bitte dich“, flüsterte er gekränkt und Sam war hin und weggerissen, wusste gar nicht mehr, was zu tun war.
„I-Ich kann auch nicht mehr ohne dich.“, sagte sie hektisch und war gerade dabei, sich ihm an den Hals zu hängen.
„Samantha! Dein Text!“, wies Pedro sie diesmal an, der wohl genauso genervt war wie ich.
Sie setzte einen unschuldigen Blick auf. „Sorry“, kicherte sie.
Wütend packte ich mir an die Schläfen und massierte diese mit sanftem Druck.
„Wir wollten nur mal gucken, wie ihr euch so macht. Das war's für heute, ihr könnt gehen.“
Langsam lösten sich die Beteiligten Gruppen auf, bis ich dachte alleine zu sein und begann, aufzuräumen.
„Du wärst für die Julia-Rolle viel besser geeignet.“, säuselte er von hinten, als ich mich seufzend umdrehte.
„Du raubst mir echt den letzten Nerv! Die Proben sind beendet, also geh!“, fuhr ich ihn an.
„Aber sie waren schlecht. Samantha passt nicht da rein, findest du nicht auch?“, fragte er ironisch und trat näher auf mich zu.
„Nein, tut sie nicht. Und es geht mir mittlerweile sonst so vorbei.“
„Warum übernimmst du nicht für sie?“, fragte er mit einer hauchzarten Stimme.
„Weil ich weder Lust auf Proben, noch Lust auf dich habe. Ich muss mich schon so oft genug mit dir herumschlagen, das tu ich mir nicht auch noch an.“
Er stand direkt vor mir, sodass ich hochschauen musste, um seinen festen Blick erwidern zu können.
„Oder geht es dir vielleicht doch nur um die Kussszene?“, spottete er.
„Du spinnst, daran würde ich nicht einmal im Traum denken!“, wehrte ich ab, erwischte mich aber dabei, wie ich kurz auf seine sinnlichen Lippen linste.
Plötzlich beugte er sich so schnell vor, dass ich es gar nicht wahrnehmen konnte, blieb nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht mit seinem stehen. Sein ruhiger Atem streifte mich, zuckersüßer Karamellduft schlängelte sich durch meine Nase.
Ich war unfähig mich zu bewegen, alles an mir wurde taub. Nur mein hektisches Atmen verriet die leichte Panik, die mich innerlich aufwühlte.
„Dabei ist Sam so langweilig geworden. Viel zu dünne Lippen.“, raunte er mit einem begehrendem Unterton.
Genau so schnell wie es passiert war, richtete er sich auch wieder hoch und kostete meine Unsicherheit aus.
Mein Verstand meldete sich wieder zurück, machte mich wütend. Rasend.
„Das machst du immer, hör auf!“, knirschte ich sauer und wandte mich ab, bevor mein Herz vor Schreck noch komplett raus sprang. „Mit mir kannst du nicht so spielen!“, beschwerte ich mich und versuchte gerade die Bühnenvorhänge zu zuziehen, die sich keinen Millimeter bewegten. Überraschend spürte ich eine harte Brust in meinem Rücken und sah starke Arme, die problemlos über meinen Kopf hinweg die Seile griffen.
„Geh mal zur Seite, Zwerg.“, neckte er mich und innerhalb von Sekunden wurde die Bühne von einem Roten Seidenschleier bedeckt.
„Nenn' mich nicht so, Shir Khan!“, murmelte ich schmollend und kreuzte die Arme vor der Brust.
Seine Augenbraue schoss in die Höhe, ein verwirrter Ausdruck machte sich auf seinen Zügen breit.
„Shir Khan?“, wiederholte er benebelt, als sich nach Sekunden dann ein bekanntes, breites Grinsen einschlich.
„Der passt wie eine zweite Hälfte zu dir, du Held.“, murrte ich.
Diesmal brach er in einem melodiösen Lachen aus und fuhr sich amüsiert durchs Haar.
„Ich bin also der böse Tiger“, säuselte belustigt und strich sich mit der Zunge über die Lippen, „Und wer bist dann du? Das Dorfmädchen Meshua?“ Er kam wieder viel zu nah und ging langsam um mich herum. Nicht nochmal!
„Sie ist mutig.“, verteidigte ich meinen Titel stammelnd und ließ ihn nicht aus den Augen.
„Ja, aber Shir Khan will sie töten und fressen, oder?“, schnurrte er wie eine böse Wildkatze, die bald ihre Klauen ausfahren würde, „Und theoretisch hätte sie keine Chance.“
Ich schluckte, als ich wieder dieses zügellose Gefühl spürte, das von ihm ausging.
Es war einfach undurchschaubar.
„Vielleicht will ich das ja auch mal irgendwann.“, hauchte er dann noch in mein Ohr hinein, sodass mich ein Schock voller Kälte einhüllte.
Mit mühe schaffte ich es, dieses Schwindelgefühl abzuschütteln, und ihn mit wenig verbliebener Kraft etwas wegzudrücken.
Alleine in den Kellern der Schule, wo schon alle aus hatten. Hatte ich Angst?
Ja, definitiv hatte ich welche.
Grinsend trat er zurück.
„Zitter nicht so Meshua, ich tu doch nichts.“, zwinkerte er mir noch zu, hob seinen Dialogzettel auf, den er wohl vergessen hatte und machte sich siegessicher, mit einem Lächeln voller Spott und Hohn davon.
„Man sieht sich, princesa.“
Verdammt. Der Typ ist doch eindeutig schizophren!
Das schrille und nervtötende Geräusch meines Weckers schmiss mich aus der schönen Traumwelt, in die ich mich gerade mal eine Stunde lang vertiefen konnte. Energisch klopfte ich einmal auf ihn und sofort kehrte die Ruhe wieder in den Raum hinein.
Doch damit auch die schreckliche Unruhe in mir, dass bald die Schule anfangen würde und ich mich nun aus dem Bett quälen musste.
Einen tiefen Atemzug später schmiss ich mir die Decke vom Leib und flüchtete in das Bad, in dem ich mich eingehend im Spiegel betrachtete.
Tiefe Augenringe, blasse Haut und ungebändigte Haare. Es schockierte mich nicht wirklich.
Die Nacht habe ich so gut wie kein Auge zu bekommen. Meine Gedanken schweiften immer wieder zurück zu Amélie und nach stundenlangem überlegen habe ich mir schon vorgeworfen, dass es meine Schuld war und dass ich, was Antonio betraf, vielleicht alles etwas zu eng gesehen hatte.
Doch dem war nicht so.
Sie verstand nicht, dass ich ihr nur helfen wollte.
Ich wusch mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser und spürte, dass die Müdigkeit immer mehr von mir abnahm.
Meine eigentlich feuerroten Locken nahm ich wie ein Haufen Stroh in die Hand und sah die Hoffnung einer Bürste darin sterben.
Missmutig tapste ich zurück ins Zimmer und nahm mir Röhrenjeans und Top zur Hand, während ich mich unmotiviert umzog.
Nach einer Weile begrüßte ich meinen kleinen Bruder mit einem herzhaften Küsschen auf die Stirn, wobei er jedes Mal ein breites Lächeln auf den Lippen hatte.
„Wow, du siehst gut aus!“, kicherte er und löffelte weiter in seiner Cornflakes herum.
Auch ich musste in diesem leider nur kurzen Moment freudig Strahlen und fuhr ihm frech durch sein Haar.
„Danke“
Wie gewohnt machte ich uns das Schulessen fertig und erinnerte ihn wie jeden Morgen daran, den Bus nicht zu verpassen.
Diese kleine Szene meines Lebens gab mir irgendwie ein Gefühl von Halt und Unterstützung.
Wir beide, Lucas und ich, verstanden uns auch ohne Worte.
„Du siehst heute echt super aus!“, sagte Ren begeistert und nahm die ganze Zeit mein geglättetes Haar zwischen ihre Finger.
„Ich habe keinen anderen Ausweg für sie gefunden.“, erklärte ich und schüttelte mir die Pracht den Rücken hinab.
„Solltest du öfter machen.“, riet sie mir, als wir gemeinsam den Mathematikkurs aufsuchten.
Fast alle betrachteten mich mit den verschiedensten Blicken.
Dabei sah ich heute nahezu scheußlich aus.
Einzig und allein das Gesichtspuder und meine geschminkten Augen mit Tusche und Eyeliner versteckten die tiefen Ringe unter ihnen. Sonst würden sie noch denken, ich sei eine Leiche.
Wir bogen gerade um die Ecke, als ich gewöhnlich den Kopf hob und ein blonder Engel mir plötzlich in die Augen sprang. Daneben ein kleiner, schwarzhaariger Kerl, der ihre Hand hielt.
Amélie.
Als sie mich entdeckte, reckte sie ihr Kinn herausfordernd hoch, während ich sie nur perplex anstarrte. Wir waren uns schon näher gekommen, und gerade, als ich etwas sagen wollte, was zur Versöhnung beitragen sollte, streckte sie ihre Hand vor mein Gesicht und hielt mich damit stumm.
„Spar dir das“, fauchte sie bissig, lächelte noch einmal abschätzend nach und zog Antonio im Schlepptau an uns vorbei.
Meine Augen weiteten sich und nur ganz langsam konnte ich mich umdrehen und ihr nachsehen.
Wann war sie so geworden? Ich erkannte meine beste Freundin nicht mehr wieder.
„Név? Was ist los zwischen euch?“, fragte Ren mich besorgt und fasste mir sanft an die Schulter.
„I-Ich hab keine Ahnung.“, stotterte ich noch immer abwesend und schaute über die Schultern, obwohl sie schon längst weg waren. „Lass uns einfach gehen“, murmelte ich verletzt.
Sie warf mir noch ein paar letzte mitfühlende Blicke zu, bevor wir uns endlich den Kurs suchten.
Die Stunde verging nur quälend langsam und ich war nicht in der Lage, mich auch nur eine Sekunde auf den Unterricht konzentrieren zu können.
Gedankenverloren schaute ich aus dem Fenster, und beobachtete, wie die Wolken sich immer weiter vor sie Sonne schoben, bis diese vollkommen verschwunden war und der Himmel sich abdunkelte.
Sollte ich nochmal versuchen, das Gespräch zwischen uns beiden auf zu nehmen?
Normalerweise legt sich so eine Auseinandersetzung zwischen uns relativ schnell.
Doch diesmal verspürte ich Angst davor, dass sie mich wieder weg stoßen würde.
Vor ein paar Wochen hätte ich niemals geglaubt, dass so was zwischen uns überhaupt möglich wäre.
„Sie dürfen jetzt gehen.“, verkündete der Mathematiklehrer und ich war die erste, die raus stürmte.
„Hey, warte!“, rief Ren mir hinterher und holte auf, bis sie in einem zügigen Tempo neben mir herlief.
„Wir haben jetzt Erdkunde“, wies sie mich an und ich nickte verständlich.
Aus ihrer Seite kamen immer wieder Blicke, die viele Fragen an mich hatten.
Doch das Problem war, das ich diese selber nicht beantworten konnte.
Nach einer meiner Meinung nach zu kurzen Pause, fand ich mich vor einer Schülermasse wieder, die laut nuschelte und diskutierte.
Sie spaltete sich vor der Tür, als ein relativ kleiner Mann im Anzug vortrat und uns den Eintritt gewährte.
Von meinem Platz aus riskierte ich – aus purer Neugier – einen kurzen Blick nach hinten und traf sogleich mitten in funkelnde, graue Augen.
Ich zwang mich, wieder nach vorne zu schauen und mich diesem schönen Anblick zu entziehen.
Oh Gott, was dachte ich da?
Widerlich.
„ … und weil ich finde, dass wir stets gut zusammen arbeiten und unsere Aufgaben ausführlich erledigen, ist uns so ein kleiner Ausflug mit dem Kurs gegönnt.“, beendete mein Vorgesetzter seinen Satz und erst nach einer gefühlten Ewigkeit verstand ich, was er damit meinte.
Die Klasse brach in großes Staunen und Jubeln aus, während ich mir eher hilflos vorkam.
Panisch rüttelte ich an meinem Nachbarn, der mal wieder eine Brillengläser putzte und mich wie ein blindes Maulwurf anschaute.
„Was meint er damit?“, fragte ich in einem leisen Ton, so laut es ging.
„Dass wir einen Ausflug machen?“, fragte er rhetorisch, worauf ich nicht mehr antworten musste.
„Aber warum? Die Schule hat praktisch gerade erst angefangen.“ Verständnislos schaute ich den alten Mann an.
Mikele zuckte ahnungslos mit den Schultern.
Senhor Sanchez beruhigte die Klasse mit strikten Anweisungen und rückte seine Krawatte zurecht.
Angespannt wartete ich auf das, was als nächstes kam.
„Es ist nicht teuer oder sonst was. Ihr wisst, ich mache das auch, weil ich bald von dieser Schule gehen werde.“ Es blieb still und er schaute sich durchgehend um. Alle Aufmerksamkeit lag auf ihm.
„Zwar hat die Schule erst vor ein paar Wochen begonnen, doch ich finde, dass tut nicht zur Sache.“
„Und wann wird das sein?“, kam es fragend es aus der hinteren Reihe.
„Ich habe es schon etwas früher geplant“, er lächelte leicht, „diesen Freitag. Es geht zu einem See in der nähe von Beja. Nur der Reisebus muss bezahlt werden.“
Aufgeheizt kreischten und kicherten sie alle, schmieden Pläne für den Tag und ein Teil redete darüber, was sie alles mitnehmen.
Einen Tag an einen See? Immer mehr verlockte mich der Gedanke im Nachhinein.
Ich durfte endlich mal abschalten, auch wenn noch ein paar nervende Leute da waren.
Der Lehrer ging herum und teilte die Zettel auf, wo die wichtigsten Informationen drauf aufgelistet wurden.
„Freust du dich?“, fragte mich mein Nachbar lächelnd und ich musste unwillkürlich nicken.
„Ja, sehr sogar.“
Nur schade, dass ich diesen Spaß ohne meine beste Freundin erleben würde.
Schnell checkte ich nochmal ab, ob ich alles Dabei hatte und blätterte die restlichen Dialogzettel um.
„Névra?“, rief plötzlich eine bekannte Stimme nach mir.
Mikele.
Verwirrt schaute ich zu ihm, als er im Joggningtempo zu mir lief.
„Jaaaa?“, fragte ich erwartungsvoll, doch alles was er tat, war den Kopf etwas beschämt wegzudrehen.
„Ich … also … eigentlich ...“
Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich den völlig verstörten Jungen.
„Mikele – spucks aus!“, drang ich ihn und verstand gleichzeitig nicht, was das sollte.
Er nahm einen tiefen Atemzug und räusperte sich.
„Also eigentlich wollte ich dich fragen, ob … du heute Zeit hast?“, quetschte er mühsam heraus und schluckte schwer.
„Klar. Wofür?“, versuchte ich möglichst locker zu klingen um es auch ihm leichter zu machen.
Was er auch immer von mir wollte.
„Schön … schön. Also, das Wetter ist ja noch warm u-und ich denke ein Eis würde uns gut tun, oder?“, verzweifelte er langsam aber sicher an seinen eigenen Worten.
Plötzlich entwich mir ein ungewolltes Kichern, woraufhin sich seine Augen allerdings nur weiteten und ich das Gefühl hatte, dass er mich nicht mehr anschaute, sondern eher hinter mich lugte.
Wie aus dem Nichts legte sich ein großer Arm um meinen Nacken und zog mich an eine harte Brust.
„H-Hey!“, rief ich empört aus, doch wurde nicht beachtet.
„Sie kann leider nicht mit dir kommen, weil sie schon mit mir weg ist“, raunte eine dunkle Stimme neben meinem Ohr.
Er.
Schon wieder.
Überwältigt von ihm, blieb mir die Luft weg und ich konnte nur mühsam die Wörter hervor pressen.
„Was?! An diese Abmachung kann ich mich seltsamerweise gar nicht mehr erinnern.“, keifte ich und schaute in das amüsierte Gesicht des Tigers.
„Nicht? Oh, ich aber schon. Wir werden heute nämlich Eis essen gehen, princesa.“
„Ach ja? Das glaube ich nicht!“ Wütend versuchte ich, seinen stählernen Arm von meinem Hals zu kriegen.
Vergebens.
„I-Ist schon okay Névra … Wir sehen uns.“, sagte Mikele heiser und schlüpfte mit geduckten Kopf an uns vorbei.
Erst jetzt gab er mich frei und stellte sich schmunzelnd vor mich.
„Du Idiot! Was glaubst du, wer du bist!“, knurrte ich bissig und sichtlich wütend. Auffordernd bohrte ich ihm drohend einen Finger in die Brust. „Wie kannst du es wagen, das einfach so zu bestimmen? Zum Teufel geh ich mit dir wohin, bin ich denn lebensmüde?!“
Im ersten Moment schaute er mich reglos und gespannt an, doch nach ein paar Sekunden der Ruhe bildete sich schon das erste, teuflische und böse Lächeln auf seinen Lippen.
„Mir reichts“, fauchte ich und machte auf dem Absatz kehrt.
Unmittelbar danach schloss sich eine große, kräftige Hand um meinen Oberarm und zog mich mit Leichtigkeit, wie als wäre ich eine Feder, zurück.
„Wenn wir nicht hingehen, dann hättest du ihn praktisch ja angelogen. Willst du das?“, säuselte er mir zu und schaute siegessicher zu mir herunter.
„Woher soll er denn schon wissen ob wir gehen, oder nicht?“
„Ich werd's ihm sagen.“, schloss er und zu gern hätte ich ihm in dem Moment eine gescheuert.
„Das ist wieder Erpressung!“, fuhr ich ihn knurrend an. Mistkerl.
Unbekümmert zuckte er mit den Schultern.„Hach ja“, zog er es lang und verdrehte die Augen, „es ist mir immer noch vollkommen egal. Zumindest solange ich das kriege, was ich will.“, endete er zärtlich und hielt mich wieder in seinen sturmgrauen Augen gefangen.
"Ach, wirklich? Dann werde ich jetzt halt zu ihm gehen und ihm sagen, dass ich keine Lust auf dich hab und lieber mit ihm gehe!", kämpfte ich gegen ihn an, doch er schüttelte nur den Kopf. "Er ist schon längst auf dem Weg nach Hause, wenn du jetzt gehst verpasst du die Theaterproben."
Und wieder einmal hatte er Recht.
Gutaussehend, böse und schlau. Verdammt schlechte Mischung.
„Fiesling.“, murrte ich und verfluchte mich dafür, nie Geld auf dem Handy zu haben um Mikele zu kontaktieren.
Khan nahm eine Strähne meiner geglätteten Haare in seine Hand und ließ sie wieder leblos fallen.
„Mit Locken und ungeschminkt gefällst du mir übrigens viel besser“, hauchte er belustigt und wendete sich von mir ab.
„Interessiert mich nicht, wie du mich gerne hättest! Und jetzt beweg' dich endlich Romeo, wegen dir verspäte ich mich zu den Theaterproben!“, forderte ich ihn auf und er leistete meinem Befehl lachend folge, nahm mich wie immer nicht ernst.
Kopfschüttelnd ging ich hinter ihm her.
Ich musste verdammt nochmal Eis essen gehen.
Mit Khan als Partner.
Lebensmüde.
Keine Ahnung, warum ich ging.
Ich schuldete ihm nichts.
Ich hätte einfach absagen können, doch trotzdem fand ich mich an dem Treffpunkt wieder.
Nervös tippte ich mit einem Fuß unruhig auf dem Böden herum und wartete vor der Eingangstür.
Ich wusste, dass es ein Fehler war, herzukommen. Aber irgendwas in mir wollte hier hin.
Gespannt schaute ich auf meine Uhr, fünf Minuten hatte er noch.
Abwesend starrte ich auf meine abgetragenen Sneaker, wartete bis die Zeit verstrich.
„Da hat sich wohl jemand überwunden“, spottete eine hochgewachsene Figur vor mir und grinste mich erwartungsvoll an.
Ich ging erst gar nicht auf ihn ein, sondern versuchte möglichst normal zu klingen.
„Klappe, Shir Khan! Ich will jetzt mein Eis, immerhin bin ich nicht umsonst hier.“, schmollte ich wie ein kleines Kind und ging ohne auf ihn zu achten in das berühmteste Café Lissabons.
Natürlich folgte er mir und ich setzte mich seufzend in eine gemütliche Ecke.
Schmunzelnd setzte er sich mir gegenüber und blickte mir tief in die Augen, was mich zugegebenermaßen etwas beunruhigte.
„H-Hör auf die ganze Zeit zu grinsen!“, stammelte ich und drehte mein Gesicht weg.
„Ich find's nur so schön, dass du nicht geschminkt bist.“, neckte er mich und lehnte sich tief in seinen Stuhl.
„Das ist aber nicht wegen dir, also bilde dir bloß nichts ein.“, fuhr ich ihn wie immer an, was er lächelnd abschlug.
„Übrigens finde ich es immer noch mies, dass du Mikele so abserviert hast.“, fügte ich leise hinzu.
„Ich verstehe nicht, wie du so viel Wert auf diesen Typen legen kannst“, funkelte er mich an.
Tzeh!
„Hey! Er ist ein guter Kerl, im Gegensatz zu dir ist er immer nett und zuvorkommend, wir sind Freunde und ich mag ihn. Und daran kannst du nicht ändern!“
„Freunde“, zischte er abstoßend und schaute mit zusammengepressten Lippen weg.
„Ich bin nicht gekommen, um zu diskutieren.“, erinnerte ich ihn daran und im selben Moment kam eine Kellnerin mit blondem Dutt an, die uns stutzig anlächelte.
„Was darf's denn sein?“, fragte sie gespielt höflich und wandte sich dabei mehr an Khan, als an mich.
Er schaute mich auffordernd an, weshalb ich mich kurz räusperte und die Aufmerksamkeit der Angestelltin auf mich zog. „Einen Erdbeerbecher, bitte.“
Nickend schrieb sie es auf ihren Zettel und wartete auf Khans Antwort.
„Hmm“, überlegte er, während er die Speisekarte genauer betrachtete, „ich glaube ich nehme einfach einen Cappuccino.“, schloss er dann.
Natürlich nicht, ohne der Kellnerin vorher noch zuzuzwinkern, woraufhin diese mit einem strahlenden Lächeln davon ging.
„Ladykiller“, murmelte ich und entlockte ihm sein bekanntes, freches Grinsen.
„Anders kommt man nun mal nicht an Weiber ran.“
„Ich hab eher das Gefühl, dass du uns als Objekt siehst.“
„Ist weder richtig noch falsch“, raunte er und beugte sich näher zu mir an den Tisch.
Verwirrt schaute ich ihn an und legte den Kopf schief.
„Leichte Beute ist für mich nur ein Zweck um Spaß zu haben, doch die stärkeren“, dabei schien er mich mit seinem Blick zu durchbohren, „sind ein Vergnügen zum Jagen.“, sagte er langsam und mit gefährlichem Unterton in der Stimme.
„Wie bei Samantha?“, fragte ich mit dickem Klos im Hals und sogleich tat mir die Tusse leid.
„Wie bei Samantha.“, bestätigte er meine These frech, „Oder die Kellnerin.“, witzelte er und schielte kurz zu ihr rüber.
Ein kleines lachen entwich mir und ich steckte ihn automatisch damit an.
In dem Moment kam die Kellnerin mit dem Eis, und glotzte den leider gutaussehenden Typen vor mir an.
Ein großer Becher mit mehreren rosa Kugeln, frischen Erdbeeren und einer süßen, roten Soße wurde mir vor die Nase gestellt und ich freute mich bereits wie ein Kleinkind drauf, den ganzen Inhalt auszulöffeln.
Genüsslich schob ich mir die erste Erdbeere in den Mund, die süßlich auf meiner Zunge zerging.
Mein Gegenüber schlürfte nur an seinen Kaffee, doch er ließ seine Augen nicht eine Sekunde von mir.
Er stützte seinen Kopf auf seiner Hand ab, beobachtete mich einfach weiter.
Nur störte es mich nicht, da ich so herzhaft mit meinem Eis beschäftigt war.
„Falls du so gaffst, weil du auch was haben möchtest, vergiss es“, sagte ich bestimmend und löffelte weiter den Becher aus.
Er lachte höhnisch auf und ein herausfordernder Ausdruck trat auf sein Gesicht.
Ohne, dass ich es hätte verhindern können, schnappte er sich meine letzte Erdbeere und schob sie sich demonstrativ bis zur Hälfte zwischen die Lippen.
„Hey!“, schimpfte ich ärgerlich und wollte nach meiner Lieblingsfrucht greifen, doch er war schneller und lehnte sich einfach etwas weiter zurück.
„Dummer Tiger“, trotze ich mit aufgeplusterten Wangen, als er sie vollkommen gegessen hatte.
„Das hast du davon, princesa.“, zog er mich weiter auf.
„Pff, warum bin ich nochmal hier?“, zischte ich ironisch vor mich hin.
„Weil du mich mehr als Erdbeereis magst“, flötete er belustigt.
„Stimmt gar nicht.“, murrte ich beleidigt und nahm wie er, provokativ einen Schluck von seinem Cappuccino.
Auch wenn er widerlich schmeckte, schluckte ich das bittere Zeug runter.
„Kann ich sonst noch etwas für sie tun?“, meldete sich die blonde wieder entzückt zu Wort und fragte wie davor, nur Khan.
„Nein, vielen Dank“, antwortete dieser höflich.
„Sicher? Vielleicht noch ein Kaffee auf's Haus?“, versuchte sie es erneut mit vielsagenden Blicken.
„Er hat 'Nein' gesagt Schönheit, hast du das nicht verstanden? Ksh, ab mit dir.“, verscheuchte ich sie mit abwertenden Handgestiken.
Säuernd wendete sie sich an mich und zischte nur abfällig, ehe sie erheblich davon stolzierte.
„Eifersüchtig?“
„Träum weiter.“
„Dann aber gemein.“
„Von mir aus.“
Diesmal mussten wir beide breit grinsen und und ich kostete diesen Schönen Moment aus.
Dann war ich halt gemein.
„Hast du dich mit Amélie wieder vertragen?“, fragte der Braunhaarige plötzlich interessiert und wusste, dass er damit einen wunden Punkt in mir getroffen hatte.
„Nein“, sagte ich knapp und richtete meinen Blick starr auf den Tisch, „sie wollte nicht mit mir reden.“
„Verstehe.“
Ich seufzte schwer. „Ist auch egal … wird schon wieder.“
Er lehnte sich lässig zurück und fuhr sich durch sein dunkles Haar.
„Ja. Da bin ich mir ganz sicher.“, flüsterte er, mit den Gedanken jedoch ganz woanders.
„Ist eigentlich noch mal etwas passiert?“ fragte er auf einmal und ich konnte nicht ganz folgen. Woher das plötzliche Interesse?
„Wie … passiert? Was meinst du?“
„Naja, irgendwelche Vorfälle. Drohbriefe. Der ganze Kram, du weißt schon.“
Abrupt schoss mir die Erinnerung in den Kopf, als dieser seltsame Mann bei uns zu Hause war.
Eine Woche, sagte er damals und ich wusste noch immer nicht, was es damit auf sich hatte.
Doch ich hatte Angst davor, schreckliche Angst.
„N-Nein … Ich meine, nicht wirklich.“, umschrieb ich es und eine kleine, Nachdenkliche Falte bildete sich zwischen meinen Brauen.
Khan hakte es mit einem Nicken ab und schien selbst in Gedanken versunken zu sein.
„Warum fragst du?“
„Nur so. Möchtest du noch etwas?“, lenkte er dann wieder ab.
„Eh, nein, danke.“
„Na dann“, er zückte sein Portemonnaie heraus und legte einen Zehneuroschein auf den Tisch, „wollen wir?“
„Gerne“, folgte ich seinem Angebot, nahm mir meine Strickjacke zur Hand und verließ mit ihm zusammen das Café.
Irgendwie kam ich mir schon seltsam vor.
Immerhin konnte ich ihn nicht leiden, und trotzdem begegnete ich ihm auf irgendeine Art und Weise immer wieder.
Und jetzt war ich mit ihm sogar Eis essen.
Ich hielt mir den pochenden Kopf. Das war so komisch.
„Das war ein Date“, lenkte er wieder auf sich, als wir die belebte Straße hinuntergingen.
Verdutzt starrte ich zu ihm hoch.
Date? Ich? Er?
„Nein, war es nicht!“, protestierte ich sichtlich geschockt.
„Oh doch, princesa, das kannst du nicht vertuschen.“, lachte er und präsentierte wieder seine schönen Zähne der Stadt.
„Vergiss es, nein. Im Leben nicht. Niemals.“, hielt ich theatralisch kopfschüttelnd dagegen.
„Niemals“, wiederholte ich dann wieder, diesmal mehr zu mir selbst.
„Wie man es nimmt.“, sagte er, nahm eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jeans und zündete sich eine im Mund an.
Entspannt zog er an ihr und blies den Rauch in die warme Luft des Sommerabends.
Immer mehr Lichter sprangen vor unseren Augen an und tauchten die Stadt in ihre bunten Farben.
Bars, Cafés, Restaurants, Boutiquen, Souvenirläden und Sehenswürdigkeiten leuchteten um die Wette.
Die Menschen sahen zufrieden und glücklich aus, lachten und unterhielten sich laut auf der belebten Straße.
Und auch ich wünschte mir, dass diese Zufriedenheit ein Leben lang anhalten würde.
Aber im Hinterkopf wusste ich, auf mich würde noch viel zukommen.
Er sagte nichts, sondern begleitete mich einfach weiter auf meinem Weg nach Hause.
Und auch ich wusste, ich konnte es ihm nicht abschlagen.
Unsere Gespräche gingen immer weiter, bis hin zum Ausflug, der bald vor der Tür stehen würde.
„Sicher freue ich mich drauf, aber wehe du nervst mich.“, drohte ich bissig und antwortete somit auf seine Frage.
Er lachte vergnügt auf und sein hinterhältiger Blick verriet mir bereits genug.
„Das überlege ich mich noch.“, scherzte er. Ich allerdings nahm das sehr ernst.
Den würde ich nicht so schnell loswerden.
Vor der Gasse blieb ich stehen und schaute zu ihm hoch.
Eine Welle der Nervosität überkam mich und ich spielte mit meinen Fingern herum.
„Ist das einer dieser Momente, in der man sich bedanken muss?“, fragte ich sarkastisch.
„Eigentlich schon“, bestätigte er neugierig.
„Aber du kriegst keins, weil du mich praktisch gezwungen hast.“, rechtfertigte ich mich.
„Du weißt, dass das nicht stimmt“, raunte er, „du hättest nicht kommen müssen. Es war deine eigene Entscheidung.“
Verflucht seist du.
Mist.
Ich merkte, wie heißt mir wurde und das die Unruhe immer mehr Besitz von mir nahm.
„D-Das stimmt nicht …“, stammelte ich.
Gott, wo blieb mein Selbstbewusstsein? Meine große Klappe?
Es fühlte sich eher so an, als hätte ich eine staubtrockene Kehle, die nur mit viel Mühe die Worte herauspressen konnte.
Plötzlich beugte er sich zu mir herunter, seine Augen blitzten vor Größe und Überlegenheit, nahmen meine in die seine gefangen.
„Du lügst.“, säuselte er mit einem Zucken um seine Mundwinkel.
„Tu ich nicht. Ich hasse dich immerhin.“, flüsterte ich in die Stille des Abends hinein.
Frech grinsend lehnte er sich wieder vor und es fühlte sich so an, als hätte man mich aus einem viel zu warmen Käfig gelassen.
„Auf die Antwort habe ich gehofft,“, er zerstrubbelte mir kurz die Haare, „bis dann, princesa.“
Sauer richtete ich mir die verwuschelte Mähne wieder. Unverschämt!
„Hau ab, Shir Khan!“
Lächelnd drehte er sich um und ging davon, immer weiter, bis der Abendmantel ihn umhüllte und verschwinden ließ.
Kurz schaute ich noch zurück , bis auch ich dann meinen Weg nach Hause fortsetzte, auf dem ich ein kurzes, süßes Lächeln auf den Lippen hatte.
Ein letztes Mal nahm ich mir die Liste mit den aufgezählten Sachen zur Hand, die wir auf unseren kleinen Ausflug mitnehmen sollten.
Ein Handtuch für die Wiese und zum Abtrocknen fehlte mir noch, weshalb ich sogleich noch eins in meine ohnehin schon überfüllte Tasche quetschte.
Aus meinem Schrank fischte ich mir meinen knallroten Bikini heraus, der sich gut auf meine gebräunte Haut legte und zog mir darüber ein weißes, lockeres Top an.
Zwar konnte man den Bikini BH sehen, doch das war in dem Fall egal.
Schnell schlüpfte ich noch in meine Hotpants, band mir die roten Locken zu einem hohen Pferdeschwanz und stürmte aus dem Zimmer, um noch rechtzeitig an der Schule anzukommen.
Sobald ich nach draußen trat, umhüllte mich die warme Sonne mit ihren angenehmen Strahlen, die die Luft erhitzten. Der Sommer wollte wohl nicht nachlassen.
Die Vorfreude auf den See und das kühle Wasser waren groß, viel zu riesig.
Ich durfte die Sorgen für einen kurzen Moment vergessen.
Lucas war zu Hause bei meinem Vater, der sowieso noch nicht arbeiten konnte.
Endlich mal aufatmen, die Verantwortung irgendwo liegen lassen.
Mit eiligen Schritten schaffte ich es noch bis zum Schultor, wo bereits ein riesiger Reisebus die Einfahrt versperrte.
„Senhora Hernandez – anwesend.“, hörte ich die tiefe Stimme meines Lehrers, der gerade ein Häkchen neben meinen Namen setzte.
Ich begrüßte ihn mit einem aufrichtigen Lächeln und stieg in den bereits vollen Bus.
„Név!“, rief Ren zu mir her und klopfte mit der Hand auf den freien Platz neben ihr.
Sofort machte ich mich auf den Weg zu ihr und musste irgendwie kurz innehalten, als ich ihn ein paar Reihen weiter hinten entdeckte.
Er schaute gedankenverloren aus dem Fenster und schien mich nicht bemerkt zu haben, weshalb ich schnell meine meine Tasche über den Sitzen verstaute und mich zügig zu der Asiatin gesellte.
„Ich freue mich darüber, dass sie alle hier sind“, verkündete Senhor Sanchez, „Senhora Fenua wird uns begleiten. Die Fahrt dauert maximal zwei Stunden. Falls etwas ist, wir sind unten jederzeit ansprechbar. Angenehme Fahrt!“, sagte er noch, ehe er wieder in den unteren Teil des Busses verschwand und uns von dort aus die Regeln im Bus per Mikrofon erklärte.
Entspannt holte ich mir meinen Musikplayer aus der Tasche, stöpselte die Kopfhörer in meine Ohren und versank in eine andere Welt, als der Bus sich langsam aber sicher in Bewegung setzte.
Irgendwann hatte dieser kleine Musikplayer dann doch den Geist aufgegeben, und ich war gezwungen, mich unter die Gespräche zu mischen.
Keiner hielt sich wirklich an seinen Partner, jeder redete kreuz und quer über den ganzen Bus hinweg.
„Wann sind wir da?“, fragte ich in das Chaos hinein. Mariana, die mir bei den Theaterproben half, nahm mich als einzige wahr. „Laut Senhor Snachez, gleich.“ Ich schaute über Ren hinweg aus dem Fenster und lächelte überglücklich, als ich die kleinen Ortschaften an mir vorbeirauschen sah.
Große Felder, auf denen Bauern ihre Arbeit verrichteten und Kinder, die sich mit dem Bewässerungsschlauch nassspritzten und abkühlten.
Sofort schaltete die die Klimaanlagen über unseren Sitzen höher.
Es war noch früh, dafür aber sehr warm. Erst gegen Abend kühlte sich die Luft so ab, dass man immer eine Strickjacke dabei haben sollte.
Plötzlich rappelte es unter uns und der große Wagen wackelte hin und her, brachte alle aus ihrem Konzept, als er in ein großes Stück Wald auf ungeraden Wegen hinein fuhr.
Die hohen Baumkronen versperrten den größten Teil des Lichts. Das kleine Bisschen, was zwischen Blättern und Ästen hindurch schien, tauchte den Wald in ein saftig leuchtendes Grün.
Ein letztes Mal bogen wir ab und der Weg endete.
Stattdessen kam eine riesige Wiese zum Vorschein, umrandet von unzähligen von Bäumen und Sträuchern.
In der Mitte triumphierte ein Gold-grün schimmernder See, indem ein kleiner Steg aus Holz hineinführte.
Außenrum gab es genügend Platz, sich irgendwo unter einem Baum niederzulassen, der Schutz vor der Sonne gewährte.
„Wow“, hauchten wir beinahe alle synchron und und blickten begeistert auf.
Mein perplexes Gesicht wechselte prompt zu einem strahlenden Lächeln.
Es war einfach wunderschön, man wollte diesen Ort nie mehr verlassen, wenn man erst einmal dort war.
Natürlich hatten wir in Lissabon auch Strände und Hafen, doch das Wasser war nie wirklich so glasklar wie das, was sich gerade vor meinen Augen befand.
Ohne abwarten zu wollen, stiegen wir im großen Jubeln aus dem Bus und versammelten uns als aller erstes in einem Kreis, wo Senhor Sanchez uns ein weiteres Mal Regeln für das Schwimmen und den Aufenthalt aufdrückte.
Eins stand fest – das hier sollte mein perfekter Tag werden, an dem mich keiner stören sollte.
Die Klasse teilte sich auf und jeder suchte sich sein eigenes Plätzchen, an dem er es sich gemütlich machte.
Ren und Mariana fragten mich schon, ob ich zu ihnen stoßen wolle, doch ich verneinte.
Stattdessen suchte ich mir ein eigenes, schattiges Örtchen und ließ mich völlig fröhlich unter einen Baum auf mein Handtuch nieder, wo die Strahlen der Sonne mich nur an den Beinen wärmte.
Die meisten rissen sich ihre Klamotten bereits vom Leib und sprinteten sehnsüchtig in den See hinein, die anderen sprangen hintereinander vom Steg ins Wasser.
Der Tiger und seine kleine Katzenbande zogen vom ersten Moment an Faxen und döpten sich gegenseitig unter Wasser.
Hoffentlich gehen sie alle unter, dachte ich mir und beobachtete das Szenario nicht länger weiter.
Es freute mich, dass alle eine gute Stimmung an den Tag gelegt hatten und mich damit ansteckten. So entledigte auch mich mich meiner Klamotten und zog aus der Tasche ein kleines Taschenbuch heraus.
Die Außenwelt um mich herum vergaß ich – einzig und allein die Ruhe kehrte in mir ein.
Vertieft las ich die Seiten, meine Umgebung blendete ich gänzlich aus.
Und merkte somit auchm nicht, das jemand vor mir stand, bis ein großer Schatten auf das Buch geworfen wurde.
„Was machst du da?“
Völlig erschrocken fuhr ich herum und wich reflexartig zur Seite, als ich Khan dicht neben mir in das Buch lugen sah.
Das Wasser seiner nassen, zerzausten Haare tröpfelte auf die Papierseiten hinab.
Langsam kam auch mein Herz wieder in seinen normalen Rhythmus und ich war fähig zu sprechen.„Wonach sieht's denn aus?“, antwortete ich bissig und zog das Buch energisch weg
„Keine Ahnung. Lesen?“, stellte er sich dumm und bäumte sich in seiner vollen Größe vor mir auf.
„Richtig du Genie. Und jetzt verschwinde, ich war gerade an einer spannenden Stelle.“, murmelte ich ohne auf ihn zu achten und versuchte, mich wieder in die richtigen Zeilen hinein zu lesen.
Doch aus dem Augenwinkel sah ich ganz genau, das er provokant neben mir stehenblieb und runter schaute.
Er wollte mich verdammt nochmal auf die Palme bringen, bis er seinen Willen erreicht hatte.
Ich merkte bereits, wie mir die Wut in den Fingerspitzen kribbelte und ich mich massiv von seiner Anwesenheit ablenken ließ.
Entnervt klappte ich das Buch zu und schloss langsam meine Augen.
„Na schön. Was willst du?“, fragte ich beherrscht durch zusammengebissene Zähne.
„Komm mit ins Wasser du Bücherwurm“
Ah, das war es also.
„Damit du mich unter Wasser erwürgen und meine Leiche unter einen Stein klemmen kannst, sodass sie nie mehr auftaucht? Ich verzichte.“
Ein melodiöses Lachen erklang aus seinem Munde und er grinste vielversprechend zu mir runter.
„Keine Sorge, ich suche mir einen anderen Tag aus an dem ich dich loswerde.“, sagte er sarkastisch. Kurz stockte ich mit meiner Stimme, fing mich jedoch sofort wieder.
„Nein und nochmal nein. Ich gehe, wenn's mir passt und wie du gerade siehst“, ich hob das Buch zur Verdeutlichung an, "bin ich beschäftigt.", entgegnete ich scharf und hoffte, ich würde ihn damit loswerden.
Falsch gedacht.
Viel zu schnell, als hätte ich etwas dagegen tun können, packte er meinen Arm und zog mich mit einem Ruck in die Höhe, schmiss mich wie einen Kartoffelsack über seine Schultern und marschierte geradewegs in Richtung See.
„W-Was machst du da?! Lass. Mich. Sofort. Runter!“, zischte ich ihn wütend an und trommelte auf seinem Muskulösen Rücken herum, was mir mehr weh tat als ihm.
Keine Reaktion, er schleppte mich einfach weiter.
„Khan! Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Und wie, querido“, säuselte er und stand bereits schon auf dem Steg.
Plötzlich nahm sein Tempo an, und bevor ich schreien, oder mich aus seinem Griff wenden konnte, sprang er ohne Warnung ab.
Instinktiv schloss ich meine Augen, ein kurzer Schrei entfloh mir aus der Kehle, als ich in nasses, kaltes Wasser eingehüllt wurde. Mein Körper ging in der Schwerelosigkeit des Sees verloren, wie eine Feder in der Luft sank ich immer tiefer, immer weiter. Die Hitze, die ich vorher noch an Land verspürt hatte, war verflogen.
Ich öffnete die Augen, bemerkte erst zu diesem Zeitpunkt, dass er noch da war, dass er noch immer einen Arm um meine Mitte geschlungen hatte.
Sein schönes Gesicht verschwamm vor mir, doch ich sah das zufriedene Lächeln auf seinen Lippen. In seinen grauen Augen leuchtete ein Farbspiel von Licht und Wasser. Mit noch einem Ruck zog er mich enger an sich heran. Die Kälte um mich herum vermischte sich mit seiner Körperwärme, die mir bis unter die nackte Haut ging. Nichts anderes mehr außer ihn und das Kribbeln in meinem Bauch konnte ich spüren. Er stieß sich kräftig vom Grund des Sees ab, den wir mittlerweile erreicht hatten. Die Oberfläche nährte sich uns immer weiter und nach wenigen Sekunden durchbrachen wir sie.
Und erst dann merkte ich, das mir die Luft beinahe ausgegangen wäre.
„Das … das machst du nie … nie wieder!“, knurrte ich ihm neben mir noch immer etwas außer Atem zu.
Er lachte nur und sah in seiner Tat keinerlei Schuld, während er sich am Ufer abstützte.
„Hab ich's doch gewusst, du wolltest mich tatsächlich umbringen.“, grummelte ich und zog mich ebenfalls hoch.
„Diese Abkühlung hat dein heißes Temperament gebraucht“, raunte er und zwinkerte mir vielsagend zu.
Das war mir genug Spannung für den heutigen Tag. Ich merkte, wie mein Herz in viel zu schnellen Schlägen gegen meine Brust pochte und wie das Adrenalin noch durch meinen gesamten Körper rauschte.
„Dir kann man wohl echt nicht trauen.“, fügte ich noch zitternd zu und wickelte mich schnell in mein Strandtuch hinein.
Er tat es mir gleich und setzte sich neben mich auf das warme Gras.
„Stimmt“, lächelte er, „andererseits hättest du sonst nie so eine schöne Erfrischung bekommen.“ Ich verdrehte theatralisch meine Augen.
Würde mich Gott einen Tag lang vor ihm verschonen?
Ich glaube nicht.
Der Tiger saß dicht neben mir und ich hatte das Gefühl, das die Hitze seines Körpers bis zu mir herüber reichte.
Schnell wandte ich meinen Blick ab, der kurz darauf auf die seiner Freunde fiel.
„Deine Leute glotzen ziemlich benommen rüber.“, bemerkte ich.
„Die sind sicher nur ein geschnappt, weil sie nicht mit dir flirten können.“
„Ach, und du schon?“, fragte ich und zog eine Augenbraue in die Höhe.
„Natürlich.“, sagte er Arrogant und nach seinem Schmunzeln zumute war er sich bei seiner Aussage ziemlich sicher.
Lässig stand Shir Khan auf und richtete sich seine verwuschelten Haare. „Deine Freundinnen staunen auch nicht schlecht“ Ein letztes Mal schenkte er mir sein selbstgefälliges Grinsen und ging zurück zu seiner Clique. Abrupt folgte ich seinen Worten und schaute zu Ren und den anderen, die mich wie Autos anstarrten.
Oh, natürlich. Sie hatten alles mitbekommen. Die schwarzhaarige Asiatin kam mit riesigen Augen auf mich zu. „Seit ihr befreundet? Zusammen? Hattet ihr was mit einander? Ist er dein Ex? Ich beneide dich richtig!“, bombardierte sie mich aufgeregt.
„Ren!“, zischte ich, um sie zu beruhigen, „Ich kann den Typen nicht ausstehen und er zieht mich auch nur auf. Da läuft nichts zwischen uns und glaub mir, wenn du ihn erst einmal kennenlernst, dann wirst du mich ganz sicher nicht mehr beneiden.“
Sie legte den Kopf schief und betrachtete mich eingehend.
„Was sich neckt, das liebt sich!“, kicherte sie plötzlich los und ich hätte mir fast die flache Hand gegen die Stirn geschlagen.
Abfällig schnaubte ich. „Nein, definitiv nicht“, stritt ich so eine schwachsinnige These ab.
„Aber du wirst ja ganz rot!“
„Ich lag ja auch lange genug unter der Sonne und mir ist heiß!“ Langsam wurde ich sauer und sogleich schnappte ich mir mein Buch und hielt es ihr vor die Nase. „Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest? Ich möchte weiter lesen.“
Sie ließ mich in Ruhe, doch ihr Lächeln verstarb keine Sekunde. Die Gedanken in meinem Kopf kreisten ununterbrochen und ich bekam sie nicht sortiert, weshalb ich das Buch nur lesen, aber nicht verstehen konnte.
Sie war doch Asiatin, warum konnte sie den dummen Tiger also nicht einfach verspeisen?!
Der Tag näherte sich seinem Ende und der Wind wurde immer kühler. Wir packten bereits unsere Sachen und zogen uns um. Später saß ich dann doch bei dem Mädchenhaufen, der mich gierig über Khan ausfragte. Dabei bekam ich entweder vernichtende, eifersüchtige oder ehrfürchtige Blicke. Doch sie alle waren mir relativ.
Ich war wieder die letzte, die in den Bus stieg.
Doch mein Platz war besetzt.
Fragend schaute ich Ren an, die mit jemand anderem aus unserer Stufe zusammensaß. Die Schwarzhaarige zuckte entschuldigend mit den Schultern, was ich so hinnahm. Ich suchte mir den nächsten freien Platz, und ich fand sogar einen.
Ja, genau neben ihm.
Er grinste mich schon von weitem an und hielt die Arme gespannt vor der Brust verschränkt.
„Du glaubst doch wohl nicht, dass ich die Fahrt mit dir verbringe.“, zischte ich ihm möglichst leise zu und wandte mich an die Mädchen.
„Möchte jemand die Plätze mit mir tauschen? Der hier ist noch frei und ich setze mich da freiwillig nicht hin.“, rief ich aus.
Blitzschnell flogen alle Blicke auf mich und dann auf den besagten, freien Platz.
Doch meine Pläne wurden durchkreuzt! Nochmals zog er mich ohne Vorwarnung am Arm zu sich herunter, so dass ich auf den Sitz plumpste.
„Ich will aber keinen anderen neben mir haben. Und da das der letzte Platz ist, musst du wohl hier bleiben.“, säuselte er. Mein verdattertes Gesicht entlockte ihm ein freches Schmunzeln und er lehnte sich siegessicher in seine Lehne hinein.
Dennoch machte sich ein kleines, flimmerndes Prickeln in meinem Bauch bemerkbar und meine Proteste stoppten.
Gott Gnade ihm, es kommt der Tag, an dem er es doppelt, dreifach und schmerzvoll von mir zurückbekommt.
Zwei stunden, redete ich mir ein, da werde ich schon nicht bei sterben.
Irgendwie würde ich das schon schaffen.
Der Bus fuhr los, die Abendsonne beleuchtete uns den Weg und ließ uns die Landschaft in orange-roten Farben sehen. Der anstrengende, doch zugleich auch schöne Tag machte sich bemerkbar und ließ mich müde werden. Ich schloss die Augen und stützte den Kopf auf meiner Hand ab.
Nach einiger Zeit schlief ich ganz ein, wobei mein Kopf auf etwas gemütlichem lag, was mir Wärme und Halt gab.
„Aufstehen, princesa“, weckte mich eine zärtliche Stimme aus der Traumwelt.
Langsam öffnete ich die Lider. Das erste, was ich erkannte, war die große Statur neben mir. Ich hob den Kopf an und schaute in das süße Lächeln, dass er mir gab.
Oh nein!
Abrupt lehnte ich mich von Khan weg und starrte ihn perplex an.
„War meine Schulter denn nicht gemütlich genug?“, grinste er schelmisch und neckte mich erneut.
„Nicht schon wieder!“, fluchte ich, merkte wie mir die Röte in den Wangen pulsierte und bettete die Stirn in meiner Hand ein.
Neben mir wurde belustigt gelacht. „Steig aus Rotkäppchen, ich muss auch noch nach Hause kommen.“
Ohne Widerworte kam ich seiner Aufforderung gleich und stieg mit den restlichen Leuten aus. Das war mir unendlich peinlich.
Aber eigentlich sollte ich mich längst daran gewöhnt haben, in solche Situationen bei ihm rein zu rutschen.
Der Typ machte mich noch für die Klapse reif. Zum verrückt werden, war das.
Vor dem Bus verabschiedete ich mich noch kurz von der Truppe, versuchte dabei, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Zu meinem Glück war er gerade selber beschäftigt und somit trat ich dann auch schnell den Heimweg an.
Seufzend lehnte sich der Grauhaarige Mann tiefer in seinen teuren Ledersessel zurück und schaute bedrückt aus dem Fenster hinaus.
„Was meinst du? Hat er das Geld zusammen?“, brach er die Stille und drehte sich sogleich wieder an den Schreibtisch, um den jungen Mann vor ihm zu mustern, der nun irritiert von seinem Handy aufblickte.
„Nein, niemals. Das hat er unmöglich schaffen können.“, antwortete dieser gleichgültig.
Der ältere runzelte nachdenklich die Stirn. Bald würde es so weit sein.
„Vermutlich hast du Recht.“, stimmte er nach einer Weile ein. „Was ist mit ihr? Vertraut sie dir mittlerweile?“, fragte er interessiert nach. Der Braunhaarige kann sich einem kleinen Schmunzeln nicht entziehen. „Ich glaube schon. Sicher bin ich mir nicht.“, gab er ehrlich zu. Sie ist eben unberechenbar, wenn es darum ging, doch er spürte, wie angetan sie manchmal von ihm war. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Allerdings musste er zugeben, dass auch er seine spaßigen und amüsierenden Momente mit ihr hatte. Dass er manchmal vergessen hatte, worum es eigentlich ging. Was sein Job war.
Dass er gefährlich war.
Er wollte sie beschützen, doch das hieße, er müsse selbst Abstand von ihr nehmen.
Und das konnte er nicht.
Nein, er durfte es nicht.
Er war zu sehr auf diesen alten Typen vor ihm und auf seine Kohle angewiesen.
„Ich will es ihr so leicht wie möglich machen, vergiss das nicht.“, riss ihm die alte, raue Stimme aus seinen Gedanken.
„Du kannst es ihr nicht leichter machen. Sie ist gerade viel zu verwirrt und verletzlich. Ich frage mich, wie sie die Wahrheit überhaupt verkraften soll. Ich meine du hast bereits so viel Gewalt benutzt. Wie soll sie dir da noch trauen können?“
Wie soll sie mir jemals wieder trauen können.
Der alte Mann neigt säuernd den Kopf.
„Ist mir egal. Ich will sie hier haben.“, knurrte er bedrohlich und ballte seine Hände zu Fäusten, die auf dem Schreibtisch lagen, „Und du weißt ganz genau, dass es deine Aufgabe ist, sie zu mir zu bringen.“ Seine trüben, grünen Augen waren voller Hass und Wut.
Ärgerlich starrte der Junge sein Gegenüber an. Er würde es ihm niemals ausreden können.
Dieser verdammte, alte Psychopath.
Einmal fragte ich meinen Vater warum er nicht die Polizei rief, als er ins Krankenhaus befördert wurde, damit sie alles klären konnten. Das war schon lange her. Daraufhin verzog er seinen Mund zu einem bitteren Lächeln und schüttelte den Kopf.
Und ab da verstand ich es – Egal, welches Spiel hier gespielt wurde und egal, wie viel mir mein Vater verschwieg. Die dreckige Polizei von Lissabon würde nicht einen einzigen Finger krümmen.
Es musste ein verdammtes Machtspiel sein.
Doch ich konnte mir einfach kein Puzzle daraus bilden. Es ergab alles keinen Sinn.
Die Drohbriefe, die Mahnungen, der Angriff auf Alessandro und auf mich im Park und das Gespräch mit dem Mann, den ich aus dem Toilettenspalt nur von hinten sehen konnte.
Wir waren nicht immer wohlhabend, doch über Wasser halten konnten wir uns dennoch.
Meine Eltern gingen Arbeiten, auch, wenn sie nur sehr wenig verdienten.
Also, wo war der ganze Haken bei der Sache?
In dieser Ungewissheit zu leben machte mir Angst und richtig geschlafen hatte ich schon lange nicht mehr.
Die Sachen schlugen Purzelbäume mit denen sie mich überrollten, mein Leben wurde um hundertachtzig Grad gedreht und aus der Bahn geworfen. Jeder Tag hielt eine neue Überraschung für mich bereit und ich wusste gar nicht mehr, auf was ich mich konzentrieren sollte. Ich meine, Amélie, die ich immer noch meine beste Freundin nannte, schaute mich nicht einmal mehr an. Was ist nur mit ihr passiert? Seit wann war sie so oberflächlich und verhielt sich wie eine aufgeblasene Zicke? Was hat dieser seltsame Antonio mit ihr gemacht?
Zu viele Fragen häuften sich in meinem Kopf und egal wie sehr ich versuchte, Antworten zu finden - es war vergeblich.
Das war natürlich noch nicht alles, nein.
Da gab es noch Shir Khan, ein arroganter Tiger der mich mit seinem Charakter und seinem Charme immer wieder zu dummen Dingen lockte.
Jedes Mal, egal wie, schien er mich irgendwie zu verzaubern. Oder zu verfluchen, ich weiß nicht.
Auch wenn ich ihm klarmachte, das ich seine überhebliche Art nicht ausstehen konnte. Er lächelte und amüsierte sich prächtig dabei, wie ich ihm am liebsten den Kopf abreißen würde. Der Typ wusste genau, wie er mich provozieren und zur Weißglut treiben konnte. Und wenn er mich erst einmal da hatte, wo er wollte, war ich wieder ungewollt in seiner Nähe und stecke in irgendeiner Situation fest.
Es war einfach so, dass er mich völlig verrückt machte. Mir wir kalt und heiß zugleich, meine Konzentration schwand einfach nur so dahin. Mein Bauch kribbelte auf eine angenehme Weise, was ich verdammt gruselig fand.
Und das alles, wenn er auch nur neben mir stand.
Normalerweise müsste ich schon längst verzweifelt sein. Das war ich auch, aber was blieb mir schon übrig? Meine Probleme würde das immerhin nicht lösen.
Wie ein Geist schlenderte ich durch den Schulflur und lauschte den Gesprächen.
Ein Mädchen regte sich wild über ihren Freund auf, während ihre Freundinnen ihr mitleidig zuhörten und immer wieder verständnisvoll nickten.
Ich wünschte, ich hätte solche lächerlichen Sorgen.
Plötzlich legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter und die Person kam neben mir zum stehen.
Verwundert blinzelte ich Mikele an, der mir ein schüchternes Lächeln gab.
„Oh, hi“, murmelte ich.
„Schlecht gelaunt?“
„Nein, ich bin super gut drauf!“, zischte ich ironisch. So fies war ich zu ihm sonst nie.
„Verstehe“ Der schlaksige Junge begleitete mich von eine Weile durch die Flure. Die ganze Zeit über schwiegen wir, was mich nicht störte, als er letztendlich die Stille zwischen uns brach: „Was läuft da eigentlich zwischen dir und Khan?“ Die Frage kam so urplötzlich, dass ich stehen blieb und ihn verwirrt musterte.
„W-Was?“ Langsam verstand ich, was er von mir wollte und eine unverständliche Wut breitete sich in mir aus. „Da lauft nichts zwischen uns, was ist das für eine bescheuerte Frage?!“, fuhr ich ihn an und setzte meinen weg mit schnellen, energischen Schritten an ihm vorbei, fort.
„Das sah am See aber anders aus, findest du nicht?“, bohrte er tiefer.
Wieder blieb ich stehen, dies Mal langsamer.
Bedrohlicher.
Seit wann war er so dreist?
„Ich sagte“, dabei drehte ich mich zu ihm zurück, „da läuft nichts zwischen uns. Er ist ein Idiot und wird es nach meinem Anschein auch immer bleiben. Was am See passiert ist, war nicht meine Schuld. Hast du verstanden?“ Jedes Wort wurde mit einem düsteren Ton von mir unterstrichen.
So kannte ich mich selbst gar nicht. Schließlich schüttelte ich den Kopf.
Wieso reagierte ich nur so … allergisch auf dieses Thema?
Mikele, der mich perplex musterte zuckte nach einer Zeit mit den Schultern und nahm es hin. Ich war dankbar dafür, dass er nichts mehr dazu sagte und ich mich schnell abregen konnte.
Nach der letzten Stunde sammelte ich meine Dialogzettel und bereitete mich auf die Theaterproben vor. Auf dem Weg dorthin hörte ich lautes gekicher und gelächter von Mädchen, deren Stimmen über den ganzen Gang widerhallten.
Na nu? Neugierig spähte ich um die Ecke - und wünschte, ich hätte es nicht getan.
Amélie. Aber nicht alleine.
Sie befand sich in einem wilden Kuss mit Antonio, der ihren ganzen Körper betatschte und sie enger an sich presste. Leichte übelkeit überkam mich, das war sowas von ekelhaft. Abgesehen davon, dass das meine beste Freundin war, trieben sie es wort wörtlich in der Schule, in einem Gang, den jeder benutzte.
Die Mädchen drum herum lachten, als seien es ihre neuen Freundinnen und bespaßten sich an der Situation.
Die Blonde schien das jedoch nicht zu stören, sie hatte nur Augen für diesen schwarzhaarigen Zwerg.
Ich schüttelte mahnend den Kopf und emfand nichts als Mitleid für dieses Verhalten.
Das war so ärmlich.
Mit pochendem Kopf stieg ich die Treppen zum Schulkeller hinunter und trat in den Raum mit der Bühne hinein, wo die Schauspieler schon auf mich warteten.
Ich blickte in die Runde und forderte sie auf, die erste Szene nach zuspielen, die schon sitzen müsste.
Die zwei Jungs schlenderten auf die Bühne und gaben sich alle Mühe die Gestiken echt wirken zu lassen, das sah man ihnen auch an. Zufrieden seufzte ich. „Das habt ihr gut gemacht Jungs. Aber ihr wirkt noch etwas verspannt mit euren Bewegungen.“, lobte ich sie mit einer kleinen Kritik.
Sie lächelten und klatschten sich brüderlich in die Hände dafür, dass sie es gut gemeistert hatten.
Ich blickte Khan an, der alles amüsiert beobachtet hatte. Nun fixierte auch er mich mit seinen grauen Augen und ich konnte nicht anders, als einfach weiter in sie hinein zu starren. Es war fast so, als ob sie mich absichtlich gefangen nahmen und verschlungen.
Reiß dich zusammen, du stehst da wie eine Idiotin!, rief ich mir in Gedanken zu.
Ich dumme. Jetzt hatte er wieder gesiegt und lächelte triumphierend.
„Also … die Nächsten.“, sagte ich kleinlaut und meine Stimme klang fast so, als würde sie in sich zusammensacken.
Der Tiger bewegte sich auf die Bühne, gefolgt von den Nebenrollen.
„Wann komme ich denn endlich dran?“, quengelte Samantha und konnte ihre gierigen Augen nicht von ihm lassen.
„Später“, antwortete ich gleichgültig.
Ich lauschte dem mäßigen Schauspiel, dass sie mir boten. Zwar mussten sie immer wieder auf ihre Dialogzettel schauen, doch die Szenen waren befriedigend umgesetzt.
Nur Khans Reaktionen, Darstellungen und Gestiken waren mal wieder makellos.
Einfach lässig und stilvoll.
Davon bekam man Kopfschmerzen! Warum immer er?
Auch sie beendeten ihr Schauspiel und ich schickte Sam auf die Bühne, die wie ein kleines Kind quietschte und auf die Bühne raste.
„Folgende Situation: Ihr seid in einem großen Saal. Eine Art Party. Dort begegnet ihr euch das erste Mal und müsst feststellen, dass euch jeglicher Kontakt eigentlich verboten ist. Und Samantha – halte dich an den Dialogzettel.“, sagte Mariana, die mir bei den Proben half, zu meiner Verwunderung. Ich fand das gut, sonst hätte ich das hier auch gleich alles alleine machen können.
Beide Darsteller nickten uns verständlich zu.
Sie redeten ihre Dialoge hinab, wobei Sam immer mal wieder dumme Hänger hatte, die Khan geschickt überredete.
„Na gut. Das reicht für heute, geht nach Hause.“, beendete ich die Proben. Erleichtert packten alle schnell ihre Sachen und verschwanden und auch ich war froh, dass das hier ein Ende gefunden hatte.
Mit leichten Kopfschmerzen setzte ich mich noch kurz auf eine der Treppenstufen die zur Bühne führten und atmete tief ein, während ich mir die Schläfen massierte.
„Der Unterricht ist oben, wenn du noch so gerne in der Schule rumhocken möchtest.“
Abrupt blickte ich auf. Wollte er mich etwa wieder ärgern? Vermutlich.
Ein lüsternes Lächeln zierte seine Lippen, als er auf mich zukam und sich neben mich setzte.
Verwirrt blickte ich zu ihm auf. „Was willst du wieder von mir? Musst du nicht nach Hause oder so?“
„Nicht unbedingt“, antwortete er knapp, „ich will nur wissen was für schlechte Launen dich diesmal mitgerissen haben.“
„Das geht dich wohl am wenigsten was an!“, knurrte ich, was er mit seinem melodiösen Lachen abschlug.“Vielleicht kann ich dich ja aufmuntern?“ Spöttisch hob er eine Augenbraue und grinste noch verschmitzter als vorhin.
Empört holte ich tief Luft und sah ihn säuerlich an. „Du bist echt pervers!“
Nun schossen beide Augenbrauen in die Höhe. „Wer hat hier denn von perversen Sachen gesprochen? Daran denkst du also?“
Eine Weile starrte ich ihn einfach an und erntete belustigte Blicke.
„Ohh …“ Ich spürte, wie die Röte in meine Wangen schoss und versteckte mein Gesicht wie schon einmal in meinen Händen. Er lachte laut auf und musste ununterbrochen grinsen.
Scheisse! Zum Teufel mit ihm!
Ich würde am liebsten im Boden versinken. Das war aber auch eine miese Falle von ihm.
„Deine Anwesenheit tut mir nicht gut!“, knurrte ich und drehte beschämt das Gesicht weg, um ihn meine Peinlichkeit nicht länger zeigen zu müssen.
Unerwartet schloss sich seine riesige Hand um mein Kinn und zog es mit Druck zurück in seine Richtung, wo ich gezwungen war in diese unergründlichen Augen zu schauen.
Es ging so schnell, das ich die Augen vor Schock kurz aufriss bis ich realisierte, was passiert war.
„Warum glaubst du das?“, flüsterte er bedacht und mein Herzschlag schoss bei dieser tiefen Stimme innerhalb von Sekunden in die Höhe. Mir wurde schwindelig und meine Konzentration schaltete wie von selbst ab, während es hier plötzlich immer heißer wurde.
Oh Gott, was machte dieser Junge mit mir? Das war nicht gut, gar nicht gut.
„I-Ich … Ich weiß nicht ...“, stammelte ich aus bebenden Lippen, die meine Stimme zu zerbrechen drohten.
Noch immer war seine Hand fest um mein Kinn, unsere Nasenspitzen streiften sich kaum merklich, was an jeder Berührten Stelle ein berauschendes Prickeln hinterließ.
Wieder lächelte er siegessicher, seine Augen funkelten nur so dahin.
„Aber ich weiß es.“, hauchte er in mein Ohr hinein, wobei seine Wange meine glühend heiße berührte und seine dunklen Haare mich dort kitzelten.
Meine Kräfte waren wie aufgebraucht, es fühlte sich an, als wäre ich gelähmt, als wäre meine Lunge zugeschnürt worden.
Ich konnte nichts erwidern, seine gesagten Worte nicht einmal richtig verarbeiten.
Langsam, mit einem bedachten Blick und süßlichem Lächeln zog er sich von mir zurück.
„Du bist süß wenn du verwirrt bist“, kicherte er amüsiert, fuhr mit seinen rauen Fingern zärtlich, fast so wie eine Feder über meine Wange und musterte noch einmal schmunzelnd meine leicht geöffneten Lippen, ehe er aufstand.
Er blickte auf mich hinab, zwinkerte selbstsicher und ließ mich somit einfach sitzen.
Perplex blickte ich hinterher. Mein Herzschlag blieb gleich und schien, aus meiner Brust springen zu wollen. Das Atmen hatte ich anscheinend verlernt, denn es fehlte mir immer noch an Luft.
Allmählich verstand ich die Situation und kam wieder zu Besinnung, wo das Kribbeln in meinem Magen sich abrupt in brennende Wut verwandelte.
Reiß dich zusammen, Névra. Reiß dich zusammen!
Mit einem Schlag wurde mir bewusst, was dieses miese Arschloch wieder mit mir angestellt hatte.
Warum tappte ich jedes Mal in die selbe Falle? Es war nicht mehr auszuhalten!
Was mache dieser Typ nur mit mir?
Ich packte mir mit der Hand an die Wange, die noch immer gerötet war. Dort, wo er mich berührt hatte kribbelte es pausenlos, als wäre es erst vor einer Sekunde geschehen.
War das nicht schrecklich?
Die Rufe meiner Mutter habe ich so lange ignoriert, bis sie sich zischend abwandte und ich ihr Kopfschütteln bildlich vor meinem Auge sah. Der Wecker lag auch schon demoliert auf dem Boden und die Vorhänge ließen kein kleines Bisschen Licht durch.
Zum Teufel mit der Schule. Ich war nie besonders begeistert davon, doch heute hatte ich absolut keine Lust und blieb somit in meinem warmen Bett.
Es ist ja nur für diesen einen Tag, redete ich mir ein. Nichts schlimmes.
Als ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, seufzte ich zufrieden in mein Kissen hinein und suchte nochmals die schöne Traumwelt heim.
Als ich müde die Treppe runter taumelte, sah mich mein Vater vom Esstisch aus mit hochgezogenen Augenbrauen an und schlürfte an seinem Kaffee, sagte aber nichts.
Ich begrüßte ihn mit einem stumpfen „Morgen“ und wandte mich sogleich wieder ab.
Nach einer Weile kam auch mein kleines Brüderchen aus der Schule und ich war gezwungen, für uns zu kochen.
„Schmeckt gut“, schmatzte er mit vollem Mund und ich tätschelte ihm lächelnd den Kopf.
Nach dem Essen verschanzte ich mich mit ihm in seinem Kinderzimmer und schaute kuschelnd unter der Decke einen dieser Disneyfilme an.
Es tat gut, die Zeit mit ihm verstreichen zu lassen.
Noch besser fühlte ich mich aber, als ich ich mir eingestehen musste, wie schön es war weder eine blonde Zicke mit ihrem neuen Macho zu sehen, noch einen sadistischen Tiger der mit seiner Selbstgefälligkeit über sich hinaus strahlte.
Ja, das tat verdammt gut.
Von unten hörte ich gedämpft die Klingel unseres Hauses läuten.
Wahrscheinlich der Postbote, dachte ich mir und konzentrierte mich weiterhin auf den Film.
„Névra“, rief Alex plötzlich zu mir herauf und klang sehr unbeherrscht und wütend, „da ist Besuch für dich.“
Sofort spitzten sich meine Ohren. Besuch?
Ich lugte über die Treppe hinweg, konnte die Gestalt allerdings nicht erkennen.
Ein ungutes Gefühl schlich sich bei mir ein.
Langsam trat ich näher und erkannte ihn schon, ohne sein Gesicht zu sehen.
Gott, nicht schon wieder!
Ich trat neben meinen Vater und blickte in Khans Gesicht. Ein Schauer überschüttete mich wie ein Eimer kaltes Wasser, als ich diesen wilden, gefährlichen Ausdruck in seinen Augen sah. Die beiden Männer schwiegen sich an, doch ich spürte die zornige Verbindung zwischen ihnen. Mein Vater sah ihn abfällig an. „Was will der hier?“, fragte er mich dann kalt.
Ich hatte keine Antwort darauf, weshalb sie sich gegenseitig so kühl musterten und schluckte einen dicken Klos in meinem Hals herunter.
„Ist schon gut. Ich regele das, geh rein.“
Er schaute sein Gegenüber ein letztes Mal an, verschwand dann jedoch nickend ins Haus.
Mit verschränkten Armen lehnte ich mich gegen die Türkante. Und ich hatte wirklich geglaubt, ich wäre einen einzigen Tag verschont geblieben.
„Gibt es einen besonderen Grund dafür, weshalb du meinen perfekten Tag ruinierst?, fragte ich mit einer Welle überschwemmender Ironie.
Die Kühle Maske von vorhin fiel von ihm ab und er lächelte mich amüsiert an. „Freut mich auch, dich zu sehen.“, entgegnete er ebenso süffisant. „Wieso warst du nicht in der Schule?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Hatte keine Lust und eigentlich habe ich auch gehofft, einen von euch für heute nicht sehen zu müssen.“ sagte ich ärgerlich, was sein Grinsen nur größer werden ließ. „Ich hab was für dich, deshalb bin ich hier.“, rückte er dann endlich raus und weckte meine Neugier. Er kramte ein Paar Papiere aus seiner Tasche und wedelte mit ihnen vor mir her.
„Was ist das?“
„Hausaufgaben, Übungsaufgaben, Informationen. Du weißt doch, bald steht die erste Prüfung an.“
„Hab ich ganz vergessen“, sagte ich verblüfft. Die erste Prüfung und ich habe so gut wie nichts dafür getan.
Er streckte mir die Papiere entgegen, und ich wollte sie gerade annehmen, als er sie wieder wegzog.
Böse blickte ich ihn an. „Was soll das?“, knurrte ich.
„Wie ist das Zauberwort?“, fragte er provokant.
Genervt verdrehte ich die Augen. Ich hätte es wissen müssen.
„Bitte“, sagte ich gedehnt und hielt so gleich wieder meine Hand nach vorne, damit er mir die Schulsachen geben konnte.
Der Tiger hielt sie mir hin und gerade, als ich schnell danach greifen wollte zog er sie wieder weg.
„Du Idiot!“, platzte ich, „Gib schon her!“
Er lachte herzhaft und zog herausfordernd eine Augenbraue hoch, genoss den Triumph.
„Ich nehme hier extra diesen Weg auf mich und du bist so fies.“, spielte er theatralisch und feuerte meine Wut damit weiter an. Ganz ruhig bleiben. Tief ein- und ausatmen.
„Das musst du jetzt wieder gutmachen.“, fügte er noch nachträglich hinzu und ich runzelte sogleich die Stirn.
„Was soll das heißen?“, hakte ich misstrauisch nach und wusste, dass das hier schlecht für mich ausgehen würde.
„Komm mit.“
„Was?“ Ich dachte, ich habe mich verhört. Leider nicht.
„Du sollst mitkommen. Wir gehen wohin.“, wiederholte er.
Abermals verschränkte ich die Arme vor der Brust.
„Vergiss es. Im Leben nicht.“, protestierte ich. Wer weiß, wo dieser Psychopath mich hinschleppen würde. Doch der Kampf war schon längst verloren.
Nochmals wedelte er grinsend mit den Papieren vor mir her und trat einen Schritt zurück.
„Dann bist du für die Prüfung halt aufgeschmissen.“ Er zwinkerte mir zu und war im begriff zu gehen.
Mieses Arschloch. Verdammter Sadist.
„Warte!“, rief ich und er blieb abrupt stehen. „Gib mir fünf Minuten.“
Er drehte sich mit einem arroganten Lächeln um und der Sieg glitzerte in seinen Augen. „Fünf Minuten“, stimmte er dann ein.
Ich schnaubte abfällig und fluchte vor mich hin, als ich in mein Zimmer eilte, um mich fertig zu machen.
Mein Herz klopfte wie verrückt und wollte sich nicht beruhigen. Schnell zog ich mir Hotpants und ein Top an, schlüpfte mit großer Aufregung in meine abgetragenen Sneaker.
Wohin würde es wohl gehen? Auf halbem Weg hielt mich mein Vater auf und wollte mich davon abbringen. Ich beruhigte ihn, immerhin wusste ich selbst was für ein Kerl da vor der Tür stand. Papa setzte einen leidendes Gesicht auf, ließ mich dann aber schließlich gehen.
„Warum tust du mir das an.“, murmelte ich als ich neben ihm herging. Gelassen streckte er seinen Kopf der Sonne entgegen und schmunzelte. „Angewohnheit“, sagte er im lächelnden Ton.
Ich musterte den muskulösen Mann neben mir, der seine Hände gelassen in die Taschen seiner hellen Jeans steckte, die ihm gut und locker an den Hüften saß. Darüber hatte er ein weißes Hemd an, das an den Ärmeln bis zur Mitte hochgekrempelt war.
Alles in einem sah er verdammt gut aus.
Sofort wandte ich den Kopf ab als ich merkte, wie ich ihn anstarrte.
„Wohin gehen wir denn nun?“
„Das wirst du gleich sehen.“
Ich hasste Überraschungen. Wir gingen weiter und genossen beide die wohlige Wärme der Sonne und die leichte Brise, die uns die verschiedenen Düfte der Blumen in die Nase wehte. Die Hauptstraße hatten wir bereits hinter uns gelassen und gingen durch den bunten Park. Es war schön, die grünen Bäume über uns zu sehen, deren Blätter wie Regen, nur langsamer, niedersanken.
Von weitem hörte ich ein bekanntes Rauschen. Ein Rauschen von Wasser und Wellen, im Einklang mit leicht wehendem Wind.
„Der Strand?“, fragte ich und blickte zu dem jungen Mann neben mir hoch. Er nickte.
Ich lächelte zufrieden. Ja, das passte mir.
Wir ließen den Park hinter uns und staunten über die neue Aussicht, die sich uns bot. Ein Kilometer langer Sandweg begann vor unseren Füßen, direkt daneben das unendlich weite, blaue Meer das mit kleinen Wellen ans Ufer schlug. Der Geruch von Salzwasser stieg mir in die Nase und es kam mir vor, als würde meine Seele gereinigt werden. Das letzte Mal war ich hier mit Amélie.
„Und? Gut genug?“, fragte Khan und auch ihn umgab ein Lächeln, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Nicht spöttisch oder amüsant, auch nicht selbstgefällig. Er sah zufrieden aus und ich spürte, dass er sich genauso leicht fühlte, wie ich. Ich sah die kleinen Grübchen an seiner Wange die ihn so harmlos machten und die hell glänzenden grauen Augen.
„Perfekt.“, antwortete ich leise.
Ich zog die Schuhe aus und setzte den ersten Schritt nach vorne. Es war wunderschön den Sand unter den Füßen und zwischen den Zehen zu fühlen. Er tat es mir gleich und wir setzten uns in Ruhe in Bewegung.
Die Sonne schmeichelte meinen roten Haaren, die mir der Wind über den Rücken wehte.
„Warum sollte ich mitkommen?“, fragte ich nach einer Weile des Schweigens.
„Nur so. Ich war hier lange nicht mehr und du scheinst mir eine gute Gesellschaft zu sein.“, antwortete er gelassen.
Ich kicherte leise und wurde leicht rot. War ich jetzt vollkommen bekloppt?
„Ja. Bei mir ist es auch schon ein Weilchen her.“
„Der Tag, an dem du alleine nach Hause gegangen bist und überfallen wurdest.“, sagte er mit dieser dunklen Stimme und rief die Erinnerungen in mir hoch.
Ich schluckte.
„Ich weiß.“ Meine Stimme zitterte. „Aber du warst ja da.“
Wieder bildete sich ein kleines Lächeln auf seinen Lippen. „Da hattest du Glück.“
Wir gingen weiter und beobachteten dabei die kreischenden Möwen in der Luft.
Ich blieb stehen und folgte ihnen.
„Wohin willst du?“
Grinsend schaute ich über die Schulter. „Ins Meer!“
Ich steckte ihn anscheinend damit an, denn er folgte mir. Langsam setzte ich einen Fuß ins Wasser. Kalt! Doch das brachte mich nicht davon ab, hineinzugehen. Ich watschelte bis zu den Knien hinein und beobachtete die kleinen Fische, die um meinen Fuß herum schwammen. Es folgte ein Plätschern und ich wusste, dass der Tiger hinter mir war.
„Und ich dachte, Katzen wären wasserscheu.“, neckte ich ihn.
Er lachte, was sich klar und amüsiert anhörte. „Tiger aber nicht!“, konterte er und spritzte mit mir seinem Bein eine Ladung kaltes Wasser über den Körper.
„Hey!“ Empört schnappte ich nach Luft. Ich fuhr mit meinen Armen ins Wasser und tat es ihm mehrmals gleich. Das Wasser spritzte ihm auf jede, freie Stelle die er nicht mit den Armen bedecken konnte.
Siegessicher schaute ich ihn in seiner klatschnassen Kleidung an.
„Tja!“
Gefährlich funkelte er mich an. „Na warte!“
Mein Lachen erstarb abrupt und als sich seine Gestalt bedrohlich in meine Richtung bewegte, fing ich an, kreischend und lachend gleichzeitig vor ihm wegzulaufen.
Das Wasser hielt mich in meiner Geschwindigkeit völlig zurück, und ehe ich überhaupt über die Schulter lugen konnte, hatte der große Junge mich schon in seinem Griff und stolperte mit mir ins Wasser.
„Du bist so mies!“, feixte ich und schnappte nach dieser Jagd erschöpft nach Luft.
Der Braunhaarige über mir wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und schloss sich meiner Fröhlichkeit an.
Ich schaute in sein makelloses Gesicht, in diese tiefen Augen, die an graue Regentage erinnerten und verlor mich beinahe wieder.
Erst jetzt nahm ich wahr, dass er nur ein paar Zentimeter über mir war, seine Arme links und rechts von mir in den Sand abgestützt. Das Wasser schwappte leicht über meinen Oberkörper, doch es störte mich nicht. Viel zu sehr war ich auf ihn fixiert und kam mir wie gefesselt vor.
Er spürte, was ich spürte. Und andersrum. Langsam senkte Khan sein Gesicht und legte seine feuchte Wange an meine. „Du zitterst“, flüstert er in mein Ohr hinein und ich merke tatsächlich, wie mein Körper bebte und prickelnde Gänsehaut sich auf meiner Haut ausbreitete. „Und dir ist heiß“, fügte er hinzu, worauf ich glaubte innerlich zu verbrennen.
Khan hob nur ganz leicht seinen Kopf und seine Nasenspitze streifte meine. Mein Blick fiel auf seine leicht geöffneten Lippen.
Wie er wohl schmeckte?
Er kam ein Stück näher und es fühlte sich so an, als würde ich ersticken.
„W-Was … m-machst du da?“, stottere ich vor mich hin, konnte mich dieser magischen Anziehungskraft, die von ihm ausging allerdings nicht entziehen.
„Beweg' dich nicht.“, säuselte er dicht vor meinen Lippen, sah mich mit hungrigen Augen an. Und ehe ich verstand, was er von mir wollte, legte er sie auf meine.
Mein Herz setzte aus, meine Augen weiteten sich.
Zärtlich bewegte er seine rauen Lippen auf meinen und es war wie, als würde ich gezwungen werden mitzumachen. Meine Lider flatterten zu. Sie waren noch ganz feucht von dem Wasser und bewegten sich wie eine zarte Brise, verschmolzen mit meinen.
Sein Kuss war fordernd, dennoch sanft und voller Leidenschaft. Es war, als würden die Schmetterlinge in meinem Bauch ihre Flügel entfalten, als würde man mir tausende von Elektrostöße geben. Ein Prickeln überzog meinen ganzen Körper, alles in mir kribbelte und schien zu bald explodieren. Ich fühlte unsere Verbindung, und seine Gelassenheit, mit der er mich langsam ansteckte. Auch ich fing an, meine Lippen in seinem Rhythmus zu bewegen und wusste, dass er in den Kuss hinein lächelte. Doch es war die Reaktion meines Körpers, der ihn haben wollte, und nicht ich. Er begehrte mich, verwöhnte mich und hielt sich nicht zurück, sondern forderte immer mehr und mehr von mir. Ich fühlte mich ihm bereits bereits völlig ausgeliefert und hilflos, wie der Tiger und seine Beute. Mein Herz hämmerte so stark gegen meine Brust, das er es vermutlich hören konnte.
Mit Bedacht strichen seine Lippen über meine, nahmen sie gefangen. Immer und immer wieder. Ich ließ ihn nicht mit der Zunge rein, viel zu aufgeregt und ahnungslos war ich in diesem viel zu kurzen Moment des Rausches.
Ich stöhnte auf, mir blieb dir Luft beinahe weg und ich wusste, dass er nur widerwillig von mir ablassen wollte. Langsam streichelte er meinen Arm, doch das verstärkte nur dieses immense, unbeschreibliche Gefühl in mir. Bändigend, nicht doch nochmal über mich her zu fallen knabberte er kurz an meiner Unterlippe und stoppte den Rausch, als ich meinen Mund öffnete und er von mir abließ.
Keuchend blickte ich ihn an, meine Augen waren weit aufgerissen. Ich schwieg und wusste einfach nicht, was ich tun sollte. In mir kehrte eine Leere ein, bei der ich nicht deuten konnte, was sie verhieß.
„Névra“, hauchte er vor mir und berührte mich so zart, dass er womöglich Angst hatte, ich könnte jeden Moment wie dünnes Porzellan zerbrechen. Ich schaute kurz in seine Augen, die so viel unergründliches verbargen, dass ich befürchtete, ich könnte es niemals verstehen. Ihn niemals verstehen.
Der Tornado, der alles in mir aufgewirbelt hatte legte sich und hinterließ ein Chaos an Gefühlen. Beschämt starrte ich auf das Meer und konnte ahnen, wie rot ich war. Langsam richtete er sich auf und zog mich dabei mit hoch, wobei sich der Anblick meines nassen Oberkörpers nicht verhindern ließ.
Eine Träne rollte meine Wange hinab, doch ich wischte sie schnell weg. Ich wollte nicht eine von vielen Mädchen seiner Sammlungen sein.
Khan schaute mich an und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„So ruhig. Und zerbrechlich.“, flüsterte er mehr zu sich selber, als zu mir.
Er hatte Recht. Aber ich war eben auch nur ein Mädchen, das zu kämpfen hatte. Und gerade stand mir mein größter bevor.
„Névra“, wiederholte er und schob mit dem Daumen mein Kinn in die Höhe, „Was fühlst du für mich?“ Die Frage schlug wie eine Bombe in mir ein, doch er selbst lächelte nur leicht. Ich sah mir den Jungen vor mir an. Ein Junge, der mich bis an meine Grenzen trieb, mich ärgerte, mich rettete, mich mit seinem Charme immer wieder schwach werden ließ und um den Finger wickelte, und ein Junge, bei dem ich Angst hatte, ich könnte alles verlieren.
„Ich … ich weiß es nicht.“, gab ich zu. Er nickte. Er glaubte mir.
„Wirst du es jemandem sagen?“, hauchte ich ängstlich. Immerhin hat er mir einen Kuss geklaut.
„Nein“, sagte er gleichgültig, „oder sollte ich?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“ Ich schaute irgendwohin, nur nicht zu ihm. „War doch so wieso unbedeutend.“, fügte ich bitter hinzu.
„Ja. Unbedeutend.“, stimmte er mir zu und richtete seinen Blick verträumt auf das unendliche Meer. „Gehen wir?“
Ich nickte.
Der Kuss – sein Kuss war nicht zu beschreiben. Es war wie Achterbahn fahren, oder dieses Gefühl der Schwerelosigkeit bei einem Looping. So Ähnlich ging es mir auch. Es war schön und warm, sinnlich und nahezu unwiderstehlich. Mein Geist hatte noch gar nicht registriert was da vor sich ging, doch mein Körper machte gegen meinen Willen mit.
Doch gleichzeitig war es wie, als hätte man mir das Herz raus gerissen.
Der schönste Kuss den ich jemals verspürt hatte, mit dem seltsamsten Typen den ich kannte, aber der unbedeutendste von allen. Obwohl ich geglaubt hatte, so viel Gefühl und Leidenschaft in ihm zu spüren, war er doch im Grunde nur zu seinem Spaß. Auf meine Kosten. Und trotzdem wünschte ich mir, diese eine Berührung, dieser eine Kuss würde nicht nur mir so viel bedeuten. Ich hätte es am liebsten mit ihm geteilt. Mit diesem komischen Jungen, bei dem ich nicht wusste ob ich ihn mag.
Irgendwie ja schon.
Wir waren bei mir zu Hause angekommen und der Himmel wurde von dicken Regenwolken bedeckt.
Ich schaute mir Khan nochmals an.
„Du bist klitschnass. Ich gebe dir neue Sachen von meinem Vater. Warte hier.“, bat ich ihn.
„Das ist nicht nötig.“, protestierte er.
„Es ist nötig.“ Ich sah ihn an. Wir beide schienen im selben Moment die selben, leidenden Augen zu haben. „Nun komm schon rein.“
Zu erst zierte er sich, doch dann gab er nach und trat ins Haus hinein. Mein Vater war zum Glück nicht da.
Ich ging nach oben und kramte aus seiner Schublade eine Jogginghose und von mir gab ich ihm einen Kapuzenpullover. Er war für Männer und sehr groß, da ich solche zum Kuscheln gerne anzog und sie allgemein gemütlich waren.
„Hier.“ Er nahm die Sachen dankend, wenn auch etwas unsicher an. Als er den Pullover sah zog er eine Augenbraue hoch. „Von wem ist der?“, wollte er fordernd wissen und seine Stimme klang sehr hart, fast etwas … eifersüchtig. Wieder fing mein Herz an, schneller zu schlagen und ich musste zugeben, dass mir der Gedanke gefiel.
„Der ist von mir, oder glaubst du ich gebe dir Sachen von anderen Jungs?“, kicherte ich.
„So ein Pulli gehört dir?“, bohrte er weiter. Ich seufzte.
„Schau in meinen Schrank, dort findest du haufenweise.“
Der Tiger schien damit zufriedengestellt zu sein und suchte dankend das Bad auf. Auch ich schälte mich aus meinen Schmutzigen Sachen und zog mir frisches an.
Ich empfing ihn im Flur, und selbst in diesen Klamotten sah er erschreckend gut aus. Wie immer, eigentlich.
Wieder ein Stechen in meinem Herzen.
Nun musterte er unser Haus. Ich hatte Angst, es würde ihm nicht gefallen, denn es war mir komischerweise wichtig, was er davon hielt. Natürlich wusste ich auch, dass ich seiner Villa nichts entgegenzusetzen hatte und dass das Haus hier bestimmt sehr schäbig rüber kam.
„Es gefällt mir.“, sagte er nach einer Weile. „Sieht ziemlich gemütlich aus.“
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. „Danke.“
„Aber noch mehr gefällt mir dein Lachen. Wie gerade. Nur zeigst du es mir zu selten.“
Perplex starrte ich ihn an.
Scherzte er mit mir? Die Nervosität holte mich wieder ein, als er näher kam und ich zu ihm hochschauen musste.
Sofort tanzten mir die Bilder des Kusses in den Kopf und mich überkam ein flaues Gefühl.
„Wenn dir das alles so unbedeutend war“, fing er an und legte seine Hand auf meinen Brustkorb, „warum rast dann dein Herz so?“ Nun nahm er meine Hand in seine und hakte sich mit seinen Fingern in meine. „Und warum spielst du so nervös mit deinen Fingern herum?“ Jetzt legte er seine Handfläche auf meine Wange. „Wieso ist dann dein Gesicht so glühend heiß und beschämend rot?“
Ich sagte nichts, war vollkommen sprachlos. Khan lächelte.
„Weil... weil es dir doch unwichtig und egal ist.“, murmelte ich unsicher.
Es war heiß, viel zu heiß. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen, was mir gar nicht ähnlich sah.
Er ließ seine Hand weiterhin streichelnd an meiner Wange.
„Nein. Das hast du gesagt. Aber es stimmt nicht, habe ich Recht?“, redete er weiter ruhig und bestimmt und zog mich in seine Gelassenheit.
Ich nickte. Weil ich nicht anders konnte.
Wieder ein zufriedenes Lächeln seinerseits. Als hätte man die Wildkatze in ihm gesättigt.
„Das finde ich gut. Es war also nicht unbedeutend.“, hauchte er mir ins Ohr und drückte anschließend einen warmen, sanften Kuss auf meine Stirn.
„Und was ist mit dir?“, fragte ich zitternd und hatte Angst vor seiner Antwort.
„Das werde ich dir jetzt nicht sagen, princesa. Außerdem muss ich gehen. Danke. Für alles.“
Er nahm von mir ab und ließ mich in einer tiefen Ungewissheit stehen.
Die Haustür polterte in ihr schloss.
Er war weg. Mal wieder.
Mein Blick glitt auf den Esstisch, wo sich ein kleiner Stapel Papiere häufte.
Mit trüber Stimmung schmiss ich mich in mein Bett und war froh darüber, alleine zu sein.
Meiner Seele quälte sich und ich wusste, dass es etwas mit ihm zu tun hatte.
Tränen benetzten meine Wimpern, rollten mir unaufhaltsam über die Wangen.
Ich spürte ihn immer noch. Den Kuss.
Zitternd fasste ich mir an die Lippen, die er zuvor noch so begehrt hatte.
In meinem Bauch kribbelte es ebenso und ich wusste, ich konnte meine Gefühle nicht mehr leugnen oder unterdrücken. Khan, der sadistische Macho hatte mich auf eine unbeschreibliche Art und Weise geküsst, berührt und gleichzeitig verbrannt, wie ich es noch nie verspürt hatte. Und Es gefiel mir. Alles.
Ich schloss die Augen, um den Tränenstrom zu stoppen.
In diesem schwachen und schmerzlichen Moment wurde mir bewusst, dass ich mich unwiderruflich und ohne es ausreden zu können, in ihn verliebt habe.
„Verdammt!“, schrie er wütend und warf das Whiskyglas in seiner Hand unkontrolliert und mit voller Wucht gegen die Wand, wo es samt Inhalt zersprang und die Scherben durch den ganzen Raum flogen. Der starke Geruch von Alkohol lag in der Luft und die goldbraune Flüssigkeit verteilte sich auf dem Boden.
Völlig außer sich raufte er sich die Haare und schloss gleich darauf die Augen.
„Scheisse“, murmelte er mit zittrigen Händen und stützte sich mit gesenktem Kopf am Waschbecken ab.
„Das durfte nicht passieren.“ Der Junge Mann schimpfte ununterbrochen mit sich und goss sich in einem neuen Glas großzügig das Whisky hinein. Der Alkohol hatte bereits angesetzt und ließ ihn zornig über sich nuscheln.
Um sich noch weiter zu beruhigen zündete er sich gleich darauf eine Kippe an, an der er gierig sog.
Der Plan war, dass sie Vertrauen zu ihm fassen sollte, sich vielleicht sogar in ihn verliebte. Doch nun war er es, der sich kaum dabei zurückhalten konnte, diese weichen, rosa Lippen zu begehren.
Es fühlte sich falsch und egoistisch an, er würde sie beide nur noch Tiefer ins Verderben ziehen. Aber für einen kurzen Moment, als sie diesen Kuss erwiderte, war es das Beste und vor allem das Richtigste Gefühl, das er jemals verspüren durfte.
„Dabei sollte es nicht so sein.“, brummte er und nahm große Schlücke aus seinem Glas. Das stark alkoholisierte Getränk rann ihm brennend die Kehle hinunter und hinterließ für wenige Sekunden ein Prickeln in seinem Bauch.
Am liebsten würde er diese ganzen Lügen aufklären und die Sache abblasen. Es ging nur nicht. Leider. Sonst würde sie nur noch tiefer in Gefahr schwelgen und er könnte sie nicht mehr beschützen.
Abrupt fing er an, über sich und den Dingen, die er dachte zu lachen und schüttelte den Kopf über seine Naivität.
Beschützen, vor was denn, sich selbst? Er lachte bitter.
Doch was sollte er sonst machen? Sich von ihr fernhalten und so tun, als wäre nichts passiert? Konnte er das überhaupt? Die Probleme lösen, würde es jedenfalls nicht.
„Du Idiot. Es ist so wieso schon zu spät.“, flüsterte er.
Bald war doch schon der siebte Tag.
Eigentlich wusste ich so gut wie nichts über ihn. Zumindest nichts persönliches. Trotzdem war es so, dass er, alleine schon wenn ich an ihn dachte, ein Feuerwerk in mir auslöste.
Und obwohl ich wusste, was für ein übler Kerl er war, konnte ich das, was ich fühlte nicht verleugnen.
Kurz und knapp – es war zum Kotzen.
Mit gemischten Gefühlen betrat ich das große Gebäude der Schule. Der Ort, an dem sich so gut wie jeder aus irgendeinem Grund gegen mich verschworen hatte. Im Alleingang suchte ich den Raum auf. Als ich heute zum ersten Mal auf meinen Stundenplan sah, stand Erdkunde ganz oben was mir sogleich den Magen verdrehte.
Augen zu und durch, munterte ich mich selber auf, was allerdings wenig brachte, wenn man mit so wenig Motivation wie ich an die Sache ran ging. Mit geneigtem Kopf kam ich an der Tür an, an der sich der Kurs bereits versammelt hatte. Nicht für einen Moment traute ich mich, meinen Blick zu heben und orientierte mich einfach an der Stimme von Ren die mir verriet, wo sie war. Aus dem Augenwinkel konnte ich ihn dennoch genau ausmachen. Seine grauen Augen ruhten auf mir und schauten hinterher, doch ich konnte nicht sagen, ob es ein freundlicher ober kühler Ausdruck war, den ich ganz kurz vernahm. Ich schüttelte den Gedanken von mir ab und begrüßte die fröhlich redende Asiatin.
Die Stunden vergingen nur quälend langsam. Ich hörte selten zu und kritzelte stattdessen irgendetwas in meinen Block. Ich erwischte mich oft dabei, wie ich hier und da Ausschau nach ihm hielt. Vollkommen verrückt.
Nach vier Stunden wurde mir endlich die erste Freistunde gegönnt, in der ich mich entspannen konnte. Den anderen sagte ich ab, da ich vorhatte alleine zu sein.
Ich lehnte mich an den großen Baum vor dem Schultor, der mir mit seinen vielen, kleinen Blättern genügend Licht spendierte. Es erinnerte mich sofort an jenen Tag, als ich mit diesem braunhaarigen Trottel das Erdkundeprojekt machen musste und wir ebenfalls unter einem Baum in einem riesigen Park saßen. Ich wimmerte die Erinnerungen ab und biss hungrig in mein Brot.
„Du hast bestimmt nichts dagegen, wenn ich mich setze.“, raunte eine mir bekannte Stimme und nahm ohne meine Zustimmung neben mir Platz. Wie schon einmal.
Mein Herz schlug mehrere Oktaven höher, als ich ihn dicht an mir spürte.
„Hast du keinen Unterricht?“ Ich bemühte mich um eine fest klingende Stimme, was mir nur wenig gelang. Er lächelte mich mit diesen kleinen Grübchen auf der Wange an, wobei seine grauen Augen leuchteten. Fast so, als würde er sich freuen, hier zu sein.
„Ach, was. Die Lehrer werden mich für diese eine Stunde schon nicht vermissen.“, sagte er lässig.
„Und warum bist du dann hier?“ Schon wieder glich mein Ton einem wackeligen Pudding.
„Soll ich etwa gehen?“, stelle er mich grinsend auf die Probe.
Am liebsten hätte ich ihn angefleht, dass er hierbleiben sollte, doch ich zuckte nur mit den Schultern und schluckte unbeholfen. Lachend tätschelte er meinen Kopf, woraufhin er einen bösen Blick erntete. Es war wie immer. Er ärgerte mich, ich regte mich darüber auf. Wie in einem Buch, oder einem Film. Dennoch spürte ich die Verlegenheit, die von ihm ausging, was er sich eigentlich niemals hätte anmerken lassen.
„Du hast mir meine Frage immer noch nicht beantwortet.“ Ich war Diejenige, die auf ihn zu ging, obwohl er gekommen war. Er zog in seiner Ungewissheit eine Augenbraue hoch. „Welche Frage?“
Ich senkte den Kopf, damit er nicht sah wie sich meine Wangen rosa färbten. „Die von gestern. Bevor du gegangen bist.“, schloss ich.
Er seufzte tief, als hätte er es schon geahnt und schloss die Augen, während er sich mit einem Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken massierte. Diese Reaktion trieb eine ungeheure Angst in mir, als würde er nichts, nicht mal ein kleines Bisschen für mich empfinden. Ich schluckte, sah ihn aber weiterhin leidend an.
„Névra ...“, begann auch er mit wackelnder Stimme, „Es ist so … kompliziert.“, versuchte er seine Gefühle und seine Situation krampfhaft zu schildern. Ich versuchte irgendwie zu verstehen, was in ihm vorging, doch er ließ es nicht zu. Es war wie eine Wand, mit der er Alles und Jeden blockierte.
„Was soll ich noch darüber denken? Ich meine, ich weiß so gut wie gar nichts über dich, aber trotzdem nimmst du dir das Recht mich zu“, ich schluckte, „küssen.“, endete ich dann unsicher. „Ohne mir deinen Grund dafür zu geben.“
Ich schaute in seine Augen, bei denen ich das Gefühl hatte sie könnten in meine Seele schauen und mich nachvollziehen. Er verstand mich, das wusste ich. Ich ihn aber nicht.
Nun lächelte er leicht und zog mich damit sofort wieder in seinen Bann. „Was möchtest du denn von mir wissen?“, säuselte er beruhigend. Tausende von Fragen keimten in mir auf.
„Ich weiß nichts über dich und deine Familie.“, stellte ich fest.
Khan schaute gen Himmel und schien zu überlegen. „Hmm … Ich glaube, ich bin ein Einzelkind.“, begann er dann unerwartet. Etwas verdutzt starrte ich den Typen neben mir an.
„Du weißt es nicht?“, hakte ich verblüfft nach.
„Nein.“ Sein Kopf senkte sich wieder. „Ich habe auch keine Eltern. Zumindest kenne ich sie kaum. Ich weiß nur, dass mein Vater mehrere Frauen hatte.“ Meine Augen weiteten sich. „Als ich sechs war, ist er dann abgehauen. Keine Ahnung warum, daran erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls zog es meine Mutter ziemlich runter und sie wurde Alkoholabhängig.“ Er schaute mich bedrückt an, um zu sehen, ob ich ihm noch folgen konnte. „Und dann?“, bat ich ihn, weiter zu erzählen.
Wieder richtete er sein Gesicht in die Sonne, die er genoss. „Nach einer Zeit nahm sie auch Drogen und kurz darauf starb sie an einer Überdosis. Zumindest nachdem, was ich gehört habe.“
Ich schluckte einen dicken Klos herunter. „Oh … das tut mir wirklich Leid.“ Beschämt schaute ich weg. Niemals hätte ich gedacht, das hinter diesem sonst so selbstsicheren Jungen eine so erdrückende Vergangenheit steckte, über die er anscheinend sehr ungern sprach.
Erneut ein verständnisvolles Lächeln seinerseits. „Das muss es nicht, querida.“
„Was ist dann passiert?“, wollte ich brennend wissen.
„Da ich keinen Kontakt zu meinen Verwandten hatte, und ich sie damals auch nicht kannte, wurde ich ins Heim gesteckt. Irgendwann kam dort ein Mann aus Spanien vorbei und beschloss, mich mitzunehmen. Er zog mich in Lissabon groß, und nun … bin ich hier.“, beendete er seine Geschichte.
„Du bist also nicht von hier? Woher kommst du dann?“ Gespannt schaute ich Khan an, der über meine Neugier grinste.
„Aus Syrien.“, antwortete er dann gelassen.
„Wow.“, entfuhr es mir staunend. Von so weit her also. „Daher der arabische Name."
Er nickte und fuhr behutsam durch einer meiner Locken. „Du bist einer der wenigen Menschen, die es wissen.“, hauchte er sanft, was mir ein ununterdrückbares Lächeln ins Gesicht zauberte.
So vertraut waren wir noch nie miteinander und es fühlte sich sehr gut und erleichternd an.
„Wie heißt dein Stiefvater?“, wollte ich aus reiner Interesse wissen. Er schien kurz zu zögern und kniff die Brauen zusammen.
„Cuartero.“, sagte er leicht zischend und schaute überall hin, nur nicht zu mir. Es klang abstoßend, als würde er seinen Retter aus dem Heim nicht mögen. „Er finanziert mich auch. Ein ziemlich reicher Kerl der sehr viel Einfluss hat. Daher meine Villa.“
Cuartero, wiederholte ich in Gedanken versunken nochmals. Wo habe ich diesen Namen schon einmal gehört, oder gesehen? Nun, ich beschloss nicht weiter darüber nach zu denken. Nochmals schaute ich den Jungen neben mir an. Unter seinen Augen bildeten sich tiefe Ringe ab, und sein sonst so makelloses Gesicht sah müde und erschöpft aus.
„Hast du schlecht geschlafen?“, murmelte ich kleinlaut und neigte den Kopf schief.
Er schreckte hoch, als wäre er von mir aus seinen Gedanken gerissen worden.
„Oh ... Ähm. Ja. Schlecht geschlafen.“, brummte er zustimmend und rieb sich die Augen.
Khan schaute mich schweigend an, musterte mich einfach. In seinem Ausdruck konnte ich nichts deuten. „Ist was?“
Keine Antwort. Stattdessen legte er zärtlich eine Hand an meine Wange und streichelte mich Federleicht mit dem Daumen. Wie aufs Kommando löste diese Berührung eine ungemeine Hitze in mir aus und ließ mich schwindeln. Das Kribbeln an der Stelle wurde immer intensiver und breitete sich in meinem gesamten Körper aus.
„Es tut mir Leid, Névra.“, flüsterte er plötzlich. Seine Miene war leidend, in den sonst so funkelnden, grauen Kristallen spiegelte sich Schmerz und Reue wieder.
Bevor ich irgendetwas erwidern konnte, stand er prompt auf und unterbrach dieses schöne, berauschende Gefühl. „Ich... ich muss gehen.“
Verdutzt saß ich weiterhin dort und sah ihm hinterher. Mein Magen drehte sich wie in einem Karussell, mein Kopf tat es ihm gleich.
Was könnte ihm mehr leid tun, als dass er mir nicht sagte, was ich in seinen Augen bin?
Schon wieder. Schon wieder konnte er sich ihr nicht entziehen. Krampfhaft wollte er Abstand gewinnen und sich von ihr fernhalten, doch anstatt dies zu tun, erzählte er ihr auch noch seine ganze Lebensgeschichte. Als er sie dort sitzen sah, und ihre schönen, roten Locken ihr um das Gesicht flogen, konnte er gar nicht anders. In diesem Moment hatte er seine Vernunft ausgeschaltet und ging einfach zu ihr rüber. Jedes Mal wenn der Junge Mann dieses Mädchen ansehen konnte, wurde die Welt um ihn herum unbedeutend, ruhig, leicht und er selbst trug dann das Gefühl der Zufriedenheit in sich.
Und immer, wenn die Realität ihn dann einholte, fragte er sich, was sie mit ihm anstellte. Verzweifelt vergrub er das Gesicht in den Händen. Das würde alles so verdammt schlecht ausgehen.
Er schnappte sich seinen Rucksack und stieß energisch das Jungenklo auf, wäre fast einfach nach Hause gegangen.
Mit einem mulmigen Bauchgefühl kam ich aus dem Mathematikunterricht. Erst das mit Khan, und dann konnte ich nicht mal mehr dem Lehrer folgen. Und als ich mir schlussendlich die Aufgaben auf den Blättern anschaute, fühlte ich mich vollkommen aufgeschmissen. Ich konnte so gut wie nichts.
Ich ging einfach den Schulflur entlang und schaute mir die verschiedenen Aufgaben an, achtete dabei gar nicht auf meine Umgebung.
„Sieh an, wer da ist.“, sagte ein Mädchen in einem ekelhaft lachendem Ton und bevor ich aufsehen konnte, schubste mich jemand zu Boden.
Als ich in die Gesichter dieser hässlichen Mädchengang schaute, wo ich auch Amélies erblickte, wurde der Teufel in mir geweckt. Langsam erhob ich mich und klopfte mir den Staub aus den Klamotten. „Ja, da bin ich.“, versuchte ich so ruhig wie möglich zu sagen und atmete tief ein und aus. „Du fühlst dich wohl ganz toll, was? Mit Khan an deiner Seite.“, lachte das Mädchen, dessen Namen ich nicht mal kannte boshaft. „Erst nimmt er dich, dann vergisst er dich. Das hatte ich auch schon.“, sagte sie gelassen.
Meine Wut stieg immer weiter an und ich wusste, es würde nicht mehr lange dauern.
Was wollten diese unfähigen Weiber von mir?
„Jedenfalls würde ich die Finger von ihm lassen, wenn ich du wäre.“, drohte sie mir auf einmal zischend. Ich lachte sie an, konnte es einfach nicht ernst nehmen.
„Verschwindet und lasst mich durch.“, sagte ich noch relativ freundlich.
Das Mädchen versuchte mich mit ihren abgemagerten Stockhänden erneut zu schubsen, doch diesmal war ich schneller und stieß sie mit solch einer Wucht zurück, das sie böse auf den Boden stieß. Ich war so wütend, dass ich sie am liebsten grün und blau geschlagen hätte, doch ich sparte mir meine Kräfte. Es wäre sinnlos. Mein Blick glitt zu ihren sprachlosen Freundinnen, die sich unter meinen vor Zorn brennenden Augen sofort versteiften.Ich sah Amélie enttäuscht an. Ihre blauen Augen konnten meinen nicht länger standhalten, und sie blickte beschämt weg, als täte es ihr Leid.
„Du Miststück!“ Die Furie von eben stand wieder auf, doch jemand packte sie von hinten und und zog sie aus meiner Reichweite.
„Geht. Jetzt!“, knurrte Khan, in dessen Stimme mehr Zorn mitschwang, als in meiner.
Die Mädchen zogen sich wie kleine, ekelige Ratten zurück. Ein letztes Mal schaute ich hinterher und sah, wie Amélie noch über die Schulter zu mir blickte, bis sie dann auch ging.
Nun sah Khan zu mir herunter, doch meine Stimmung verfinsterte sich nur noch mehr.
„Was hast du nur wieder angestellt.“, sagte er tadelnd und hob meine Blätter auf.
„Ich habe verdammt noch mal nichts gemacht!“, keifte ich ärgerlich. Seine Augen bohrten sich in meine und nach einer gefühlten Ewigkeit atmete er mitfühlend aus.
„Ich weiß.“, er legte mir eine Hand auf die Schulter, „Alles ist gut.“
Ich nickte und fühlte die Ruhe, die von ihm ausging, ließ mich davon anstecken.
„Warum bist du wieder hier? Vorhin hast du dich einfach verzogen.“
„Ich brauchte etwas Zeit für mich“, er fixierte die Blätter mit den Mathematikaufgaben, die er noch immer in seinen Händen hielt ausgiebiger. „Du hast da einen Fehler“, lenkte er vom Thema ab, „Um ehrlich zu sein sogar... mehr.“ Ich ging nicht weiter darauf ein, sondern schloss mich ihm an.
„Was? Wirklich? Ich war mir so sicher dass es richtig war.“, schmollte ich etwas gekränkt vor mich hin.
„Die Prüfung wirst du so nicht schaffen“, sagte er lächelnd und wie aus Zauberhand löste sich die angespannte Atmosphäre, die uns vorhin noch umgeben hatte.
„Weiß ich“, zischte ich.
„Na dann zeig ich dir halt, wie's geht.“, meinte er unbekümmert.
Perplex starrte ich ihn an. „Was? Du würdest mir helfen?“, hakte ich vorsichtig nach.
Sein süffisantes Grinsen wurde noch breiter, als hätte er so eben Triumphiert.
„Natürlich“, er schlug mir die Blätter leicht auf den Kopf, bevor ich sie säuerlich an mich riss. „Morgen, nach der Schule. Bei mir.“, säuselte Khan zwinkernd. Es war, als hätte ich niemals vorgehabt, vor ein Paar Minuten einem Haufen Mädchen die Köpfe abzureißen. Dieser Typ ... er nahm mich einfach immer mit in seine Launen.
Etwas verunsichert schaute ich zu Boden. „Na schön … also dann. Bis morgen.“
„Bis morgen, princesa. Ich muss noch sagen, du bist wirklich ein starkes Mädchen wenn es um Gewalt geht.“, säuselte er belustigt und ging mit einem sichtbar amüsierten Zucken um seine Mundwinkel.
Verdutzt über diesen Kommentar ging ich meinen eigenen Weg, und bemerkte erst dann, auf was ich mich da eingelassen hatte.
Es kam, wie es kommen musste. Ich war natürlich viel zu verblüfft und aufgeregt, um ihn klipp und klar sagen zu können, dass ich seine Mathematikkenntnisse nicht brauchte. Doch erstens, wäre es eine Lüge, weil ich sogar sehr darauf angewiesen war, und zweitens musste ich mir eingestehen, dass ein kleiner Teil meines verräterischen Verstandes es unbedingt wollte.
Zusammengefasst, es war kein schönes Bauchgefühl, was ich in mir verspürte, als ich nächsten Morgen aufwachte.
Ich war sogar so aufgeregt, dass ich Mikele darauf angesprochen habe. Doch seine Reaktion war komisch, irgendwie nicht Mikele-haft. Er presste nur die Lippen aufeinander und rückte seine Brille gespielt zu Recht. Doch geholfen hatte er mir nicht. Ren und ihren Kumpanen konnte ich davon nicht erzählen, da sie mich mit Fragen und Blicken wie einen Schwamm durchlöchern würden.
Und somit musste ich mit meinem kleinen, beunruhigenden, schönen, doofen Geheimnis alleine zurecht kommen. Meinem Vater gaukelte ich vor, das ich zu Amélie gehen würde, was er mir natürlich am ehesten abkaufte. Als mir dieser Satz über die Lippen ging, verspürte ich ein leidendes Gefühl in mir. Vor ein Paar Wochen gehörte es zu meinem wöchentlichen Tätigkeiten, mich mit ihr zu Verabreden, oder sie wenigstens anzurufen. Doch an diesem Tag war es eine Lüge, weil es wohl nicht mehr vorkommen werden würde, dass wir jemals wieder so ausgelassen miteinander umgehen könnten. Naja, vielleicht irgendwann wieder. Wenn sie ihren, und ich meinen Fehler gefunden habe.
Ich spekulierte nicht weiter drum herum, sondern nahm diesen Tag so an, wie er für mich vorgeplant war – wahrscheinlich der reinste Horror.
In der Schule versuchte ich, den meisten Menschen aus dem Weg zu gehen – sogar ihm.
Keine Ahnung wieso, doch ich wusste, wenn ich ihn auch nur ansehen würde, müsste ich mit einem knallroten Gesicht rechnen. Und das wollte ich nicht. Wenn ich ihn vorher entdeckte, dann nahm ich sogleich einen anderen Weg. Dieser war zwar länger, aber sicherer. Dachte ich.
Als der Laute Gong der Schule ertönte, schreckte ich hoch und sogleich drehte sich mein Magen. Es war Schulschluss und ich packte und widerwillig und so langsam es ging meine Sachen.
Was natürlich nichts brachte, weil es so oder so passieren würde, dass ich mich vor seine Haustüre befand.
Hör auf, dich selber in Grund und Boden zu treten!, rief ich mir in Gedanken tadelnd zu und fragte mich, wo mein geliebtes Selbstvertrauen blieb.
Ich ging aus dem Gebäude und sah mich nach ihm um – keine Spur. Ein Tick erleichterter kam ich am Tor an und wollte gerade den Weg durch den Park nehmen, als ein lauter Pfiff ertönte, zu dem ich mich automatisch umdrehte. Ich sah zum dem kleinen Parkplatz neben dem Zaun am Tor, wo ein Braunhaariger, großer Junge an einem schwarzen Auto lehnte und mit aufgesetzter Sonnenbrille zu mir herüberwinkte. Ich schluckte mein Unbehagen herunter und marschierte unsicher auf ihn zu. Sein strahlendes, spöttisches Lächeln ließ mich nur noch mehr zögern, doch schließlich kam ich bei ihm an. Er zog sich die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Mir wurde dieser wundervolle Anblick dieser unglaublich schönen und gefährlich glänzenden Augen preisgegeben. Jedes Mal, wenn man das erste Mal an einem Tag in sie hineinblickte, kam so ein Wow-Effekt in einem auf.
„Marhaba Amira“, flötete er heiter.
Verwirrt legte ich den Kopf schief. „Was soll das heißen?“
„Es bedeutet Hallo Prinzessin auf Arabisch.“, raunte er und tätschelte mir leicht den Kopf. Sofort glühten meine Wangen und ich neigte den Kopf Richtung Boden. Dumme Schamgefühle.
„Steig ein, bevor du mir hier wegschmilzt.“, fügte er noch verschmitzt lächeln hinzu und hielt mir die Beifahrer Tür seines sportlichen BMWs auf. Ich schaute mir den Wagen eindringlicher an, und wie aus dem Nichts erschien das Bild einer Erinnerung in meinem Kopf.
„Du warst das“, stellte ich monoton fest. Diesmal war er es, der verwirrt guckte.
„Du hast mich an meinem ersten Schultag beinahe umgefahren!“, sprudelte es dann aus mir heraus, während ich mit meinem Finger auf ihn zeigte.
Einige Sekunden lang starrte er mich an, als wäre ich eine geisteskranke, bevor er ganz plötzlich in ein schallendes Gelächter ausbrach. Seine Augen wurden schon ganz feucht und er wischte das Nass mit dem Handrücken weg.
„Was lachst du so?!“, bellte ich. Unverschämter Bengel.
„Du bist über Rot gelaufen!“, argumentierte er gegen und meine Schlacht war so gut wie verloren.
„Ach was, dir sollte man den Führerschein wegnehmen!“, lachte ich nun auch mit, weil ich wusste, dass er gewonnen hatte und schubste ihn mit einer Hand leicht weg, um einsteigen zu können.
Er schüttelte grinsend den Kopf, vermutlich über meine Sturheit und stieg ebenfalls in den Wagen.
„Schnalle dich an, Amira.“
Na toll. Erst bin ich die princesa, und nun seine amira, was eigentlich die gleiche Bedeutung hat. Doch irgendwie hörte es sich schön an. Und anders.
„Ist das irgendeine Warnung vor deiner miesen Fahrkunst?“, fragte ich und tat vorsichtshalber wirklich das, was er mir riet. Ich wartete auf die Antwort, die nicht kam. Stattdessen setzte er seine Sonnenbrille wieder auf und grinste so dermaßen, dass ich dachte, er hat irgendwas ganz schlimmes vor.
Ich war auf alles gefasst und spannte sogar meinen ganzen Körper an, als er auf einmal voll aufs Gas drückte und der Motor des Autos bedrohlich und laut aufsurrte, sodass die Reifen sich als aller erstes ein paar Mal auf der Stelle drehten, bevor das Auto viel zu schnell aus dem Parkplatz fuhr.
„Oh Gott!“, quetschte ich, „Willst du mich umbringen?!“
Wieder dieses herzhafte Lachen, das sich wie eine schöne Melodie in meinen Ohren anhörte.
Doch das Tempo nahm der Idiot nicht runter, sondern beschleunigte es nur, als wir auf offener Straße waren. Die Schilder rauschten schnell an mir vorbei, andere Autos lagen schön längst hinter uns. „Auf dem Schild da steht 70“, sprach ich meine Gedanken aus, „und du fährst 110!“
„Entspann dich.“
Nein, definitiv nicht. Ich krallte mich mit einer Hand noch fester an den Gurt, während die andere verkrampft an dem Halter an der Tür ruhte.
Wir brausten die Straße hinunter und ich wartete nur noch auf laute Sirenen und Blaulicht hinter uns, doch sie kamen nicht. Das war eben die typische, spanische Polizei.
Nach eine Weile entspannte ich mich, doch an die scharfen Kurven und das abrupte Abbremsen konnte ich mich nicht gewöhnen. Khan fuhr lässig mit einer Hand am Lenkrad, den Sitz tief nach hinten, und die Lehne weit runter verschoben. Er drückte kurz auf einen Knopf und gleich darauf ertönte laute Musik mit starkem Bass aus den monströsen Lautsprechern. Ich brauchte nur eine Sekunde, um zu wissen, was er da hörte.
„Du hörst Madlib?“, fragte ich verblüfft. Er sah mich ungefähr mit dem gleichen Ausdruck von der Seite an. „Du etwa auch?“
„Natürlich!“, lachte ich und fand es mehr als schön, dass wir zumindest eine Gemeinsamkeit hatten.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du Hip Hop magst.“
Ich antwortete nicht, sondern genoss das Lied und wollte schon anfangen mitzusingen, was allerdings unendlich peinlich wäre. So bewegte ich mich einfach zum Takt des Beates und bemerkte die Geschwindigkeit mit der er fuhr, nicht einmal mehr. Es war mir plötzlich … egal geworden.
Ungefragt drückte ich auf den Skip-Knopf, der das nächste Lied abspielte. Und da! Schon wieder eines, bei dem sich meine Stimme fast erhoben hätte. „Und auf Wu-Tang stehst du wohl auch, hm?“
„Ja!“, antwortete ich knapp und summte innerlich weiter mit. Wir beide grinsten breit und ich spürte diese Gelassenheit zwischen uns.
Irgendwann bog er in die prächtige Einfahrt seiner ebenso prächtigen Villa und manövrierte das Auto geschickt zwischen einen Jeep und einen weiteren Sportwagen. „Die gehören auch noch dir?“, fragte ich erstaunt und musterte sie.
Er seufzte. „Glaub mir, ich wollte sie nicht haben, genauso wenig wie dieses riesige Haus."
Er schien es ernst zu meinen und ich fragte mich, welcher Mensch so etwas schon ablehnen würde.
Die Tür wurde von ihm aufgeschlossen und wie immer blieb mir bei der Einrichtung die Sprache verschlagen. Wahrscheinlich knarzten die Treppen dieser Villa nicht so, wie unsere. Die Mauern waren nicht mit Efeu bewachsen, hier musste man sich nicht zu viert auf ein Badezimmer beschränken, dass bei jedem Mal Duschen unter Wasser stand. Und sicher war diese Dusche rundum heiß und wechselte nach fünf Minuten nicht in einen kalten Regenschauer. Ich seufzte.
Ändern konnte man es so wieso nicht und bis jetzt waren wir immer gut ausgekommen.
„Es ist nervig an das andere Ende von 450 m² zu laufen, wenn man bloß ein Glas Wasser möchte, weil die Flasche im Zimmer bereits leer ist. Glaub mir.“, meinte er dann. Zu gerne hätte ich es ihm abgekauft, doch so ein Leben kannte ich nicht und vermutlich würde ich es nie kennenlernen. Daher blieb es in meinen Augen interessant und verlockend, so einen Wohlstand zu haben.
Er wechselte zum eigentlichen Thema. “Hast du deine Mathesachen dabei?“
Ich nickte und er bedeutete mir mit einer Geste, ihm zu folgen. Die Tür zu seinem Zimmer wurde mir von ihm aufgehalten und ich trat ein. Es war wie in meinen Erinnerungen – schwarz-weiße Möbel, ein Boden aus Marmor und ein großes Himmelsbett – in dem ich schon zwei Mal drin schlafen musste.
Die Stühle an seinem Schreibtisch waren so gemütlich, dass man am liebsten darin schlafen wollte, statt Mathematik zu lernen. Die ganzen Gleichungen und Formeln, die ich in meinen Taschenrechner eingeben musste, löste er im Kopf und war dabei fast jedes Mal schneller als ich mit meinem Hightech Gerät. Ich lauschte aufmerksam seiner beruhigenden, tiefen Stimme die mich alles was er sagte, verinnerlichen ließ.
„ ... wenn du also zum Beispiel die Variable a, den Sinus vom Winkel Alpha und b oder den Sinus davon angegeben hast, kannst du den Sinussatz anwenden. Verstanden?“ Er lugte kurz abschätzend zu mir herüber und sah mich bekräftigend nicken.
„Und wenn in diesem Fall der Sinus von Beta gesucht ist, was musst du dann tun?“, fragte er und stellte mich auf die Probe.
„Mit Äquivalenzumformung durch b teilen?“, fragte ich etwas unsicher und blickte zu ihm auf. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als ob er mich mit diesem Wundervollen Anblick für meine richtige Antwort damit loben wollte. Mit einer typischen Jungen Schrift schrieb er die Formel umgestellt von neuem auf und erklärte mir von neuem, warum und weshalb das so ist, und warum und weshalb die Mathematik mich zu töten versuchte.
Nach geschlagenen drei Stunden hatten wir mehr als fünfzehn Seiten meines Blockes vollgeschrieben und fast alle Aufgaben der Blätter gelöst. Nun lag es an mir, meine Faulheit zu überwinden und nach diesem Schema zu pauken.
„Ich kann nicht mehr.“, nörgelte ich und ließ den Kopf auf die Tischplatte fallen.
„Noch eine, kleine Aufgabe.“, versuchte er mich zu motivieren doch ich schüttelte flehend den Kopf und sah ihm in die Augen.
Und da – schon wieder dieser Wow-Effekt, der die Luft um uns herum elektrisierte. Sie nahmen mich gefangen und es fühlte sich an, als würden sie mich in eine andere Welt entführen wollen und mich nie wieder frei lassen. Ich wollte unbedingt in diesen grauen Diamanten versinken und mich darin treiben lassen, und doch wollte ich es wieder nicht. Ich fürchtete mich zu sehr vor dem, was vielleicht da hinter steckte und mir schaden könnte, wenn ich dieses bedrohliche, dennoch anziehende Funkeln wie in diesem Moment darin sah. Er wendete seinen Blick nicht ab – und ich, ich konnte es einfach nicht. Egal, wie sehr ich es versuchte. Mittlerweile war mein Herzschlag so laut und schnell geworden, dass ich Angst hatte, er könnte es hören oder sogar das Beben in mir drin spüren.
Sein süßlicher Duft von Karamell umgab mich, ließ mich schwindeln. Der warme Atem, der von ihm ausging kitzelte meinen Hals und ich wünschte mir, ich könnte in näher an mir heran haben, um diesen Duft unvergesslich zu machen. Kurz huschte der Blick des Jungen vor mir auf meine Lippen und verharrte dort für wenige Sekunden. Mit seinen großen, weichen Händen strich er mir eine Locke aus dem Gesicht und beugte sich immer weiter vor. Die Hitze in diesem Raum wurde beinahe unerträglich, sein unwiderstehlicher Geruch nur noch stärker. Ich schloss die Augen, als er seine Stirn an meine legte. Langsam wanderte er immer tiefer, wobei sein Atem hektischer wurde. Ich spürte seinen angespannten Körper, als ob er sich nicht traute, als würde er denken, etwas falsches zu tun.
Ich rührte mich nicht, sondern wartete einfach auf ihn. Er fuhr mit seinen Lippen weiter herunter, war nur noch weniger Millimeter von meinen entfernt. Mein Körper war wie gelähmt und reagierte nicht mehr auf meine Befehle. Nur ganz kurz streiften seine rauen Lippen meine. Und dennoch war es wie, als hätte man mir mehrere Volt durch den Körper gejagt. Alles in mir schrie nach seiner innigen Berührung, doch ein kleiner Teil sträubte sich auch. Behutsam legte er seine Wange auf meine. Die Stoppeln seines Dreitage Bartes kitzelten mich dort. Plötzlich umfasste seine Hand meinen Hinterkopf und drückte mich behutsam enger an ihn.
Ich ließ es geschehen. Es wortlos mit mir machen. Ich fühlte mich wie etwas, dass er begehrte und haben wollte – aber nicht haben konnte. Vielleicht bildete ich mir dies aber auch nur ein. Vielleicht bin ich wirklich nur ein Spielzeug, ein Teil seines Vergnügens. Er fuhr mit seinem Kopf nochmals etwas höher und hauchte mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Es war wie eine Antwort meiner eben gedachten Gedanken und ließ mich ruhiger werden. Dennoch war dieses Gefühl, nicht zu wissen, was ich für ihn war, unerträglich. Ich wollte mir nichts vormachen, er könnte jede haben.
Warum also ausgerechnet ich, das arme Mädchen mit einem Haufen von Problemen? Ich schüttelte den Kopf und ein Tränenschleier benetzte meine Wimpern, ließ mich nur noch trüb sehen.
Khan drückte mich sanft von sich, um mich ansehen zu können. In seinem Blick lag eine genauso große Unsicherheit, wie in meinem. Mit seinem Daumen strich er mir die Tränen weg, bevor sie ganz ausbrechen konnten.
Das war nicht meine Art, ganz und gar nicht. Doch in seiner Gegenwart war sowieso alles anders, als es eigentlich sein sollte. Ich wagte einen erneuten Blick in seine Augen, die mich freundlich anschauten und ein minimales Lächeln zierte sich auf seinen Lippen.
„Was fühlst du für mich?“ Er neigte den Kopf schief und lächelte mich warm, dennoch bestimmt an. Ich schluckte schwer. Es war jene Frage am Strand die ich beantworten konnte, aber nicht wollte.
„Ich … Ich g-glaube, ich …“ Die Worte wollten einfach nicht aus meinem Mund raus. Ich stotterte blöd vor mich hin und konnte nicht das sagen, das schon so offensichtlich war. Er wartete geduldig, quälte mich absichtlich.
„... mag dich.“, sagte ich schließlich abgehackt.
„Wiederhole es.“
Sadist.
Erneut schaute ich zu ihm hoch. Sein Ausdruck blieb gleich.
„Ich glaube, ich … mag dich.“ Seine undurchschaubare Haltung versetzte mich nur noch mehr in Angst.
„Wie sehr magst du mich?“ Sanft. Ruhig. Kontrolliert – das war seine Stimme.
Ich ließ den Kopf sinken, doch sofort hob er es wieder mit seinen Fingern an.
„Sehr.“, brachte ich schlussendlich heraus und wollte sofort aufstehen und gehen, doch da packte er mich bereits am Handgelenk, fuhr mit der anderen Hand durch mein Haar und drückte mich somit näher an sich, bis er mich mit seinen Lippen erreichen konnte. Eine gewaltige Welle des Schockes überwältigte mich, als er mich wieder küsste. Meine Augen waren weit aufgerissen und plötzlich überschlugen sich die Gefühle und es gab nur noch uns beide. Mein Körper war gänzlich entflammt bei diesem hauchzarten Kuss, der so viel von mir erwartete. Federleicht, wie eine Brise strichen seine Lippen über meine. Diesmal hielt er sich zurück und dennoch verband uns durch diese eine Berührung, eine so innige Leidenschaft.
Langsam löste er sich von mir. Viel zu kurz.
Der Schock schien mir immer noch ins Gesicht geschrieben, doch das amüsierte ihn nur und er schmunzelte. „Ich werde so wieso draufgehen.“, murmelte er lächelnd, doch ich verstand nicht, was er meinte. Viel zu perplex war ich in diesem Moment noch.
Ich schluckte und musterte die Mathesachen vor mir, als seien sie gerade interessanter als er.
„Warum tust du das?“, fragte ich kleinlaut, da sich meine Stimme nicht erheben wollte.
„Was?“, hakte er nach. Ich traute mich nicht, ihn auch nur von der Seite aus an zu funkeln. Er wusste doch, was ich meinte. „Mich küssen.“
Er lachte leise, was mein Herz sogleich höher springen lies. Was so was von falsch war, weil es für so einen wie ihm nicht schlagen sollte! Und doch tat es das. Er lächelte weiter, doch eine Antwort bekam ich nicht. Irgendwie hatte ich auch Angst davor gehabt.
Abrupt stand er vom Stuhl auf und zog mich an der Hand, die er noch immer festhielt, hoch.
„Hör auf mich zu lieben, amira.“, hauchte er mir zu und streichelte mein Gesicht.
Dann dreh die Zeit zurück und komm nie mehr her!, schrie die Stimme in mir, die ihn am allermeisten wollte. In Wahrheit fühlte es sich atemberaubend schön an und ich wünschte, ich würde diese sanfte, tröstende Berührung für immer bei mir behalten können. Trotzdem trafen mich diese Worte tief, wie ein Messer, in mein verwundetes Herz.
Ich fragte mich unweigerlich, wieso es so kompliziert sein musste, und wieso Gefühle und Taten einfach verdreht wurden.
„Komm schon, ich fahre dich nach Hause.“
„Das ist wirklich nicht nötig.“, stritt ich es ab, doch er unterbrach mich mit einer knappen Handbewegung. „Doch, auf jeden Fall. Es ist schön spät und ich will nicht, dass du alleine auf die Straße gehst.“ Seine Stimme war fest und bestimmend und … besorgt?
„Ich bin alt genug!“, protestierte ich weiter und erntete einen bösen, tadelnden Blick von ihm. Und gab sofort auf, weil diese Diskussion hier verloren war. Dabei war jede Sekunde neben ihm so unerträglich schmerzhaft.
Ich packte stumm meine Sachen, wonach wir gleich darauf das Haus verließen und ins Auto stiegen.
„Hast du denn alles verstanden?“, fragte er nochmal nach und lugte kurz auf die bearbeiteten Blätter auf meinem Schoß.
„Ja, auf jeden Fall.“, entschlossen blickte ich zu ihm auf, „Danke.“
Sofort lächelte er mir mit seinen sinnlichen Lippen zu. Ich ließ mich anstecken und meine Mundwinkel zuckten sogleich in die Höhe. „Danke …“, hauchte ich nochmals so leise, dass er es bestimmt nicht einmal gehört hatte.
Nachdenklich fasste er sich ans Kinn, wobei sein Blick in die weite glitt und irgendeinen Punkt fixierte.
Was wäre, wenn er Alessandro das Geld irgendwie unterschieben könnte? Dann wäre das Problem gelöst. Oder? Und sie, sie wäre vielleicht endlich von all dem erlöst.
Der junge Mann schloss die Augen und massierte sich den Nasenrücken.
Nein, das wäre zu auffällig
Er musste dem irgendwie ein Ende setzen. Er brauchte einen Plan, einen sehr genialen.
Nach dieser Zeit mit ihr konnte er es unmöglich durchziehen. Wer wusste schon, was in diesem Psychopathen vorging?
Nein, das ging einfach nicht. Unmöglich. Er selber könnte ihr nie etwas antun, das wusste er nun. Sie musste beschützt werden.
Bitter lachte er auf. Er, der sie in ihr Verderben schubste, sollte sie also beschützen.
Das klang in seinen Ohren so paradox, dass es ihn traurig stimmte. Doch es war die Wahrheit.
Nur wusste er an diesem Zeitpunkt noch nicht, was wirklich geschehen sollte.
Die kühle Sommerbrise rauschte geräuschlos an ihm vorbei und ließ die Blätter unter der untergehenden Sonne rascheln. Schritte ertönten, kamen immer näher. Doch er blickte nicht auf.
Jemand klopfte ihm auf die Schulter und setzte sich neben ihm auf die Holzbank, die mit ihrer dunklen Holzfarbe und den abgesplitterten Enden beinahe tot wirkte und reichte ihm eine gekühlte Flasche Bier.
„Woran denkst du?“, fragte die zaghafte Stimme seines Freundes ihn.
Der dunkelhaarige Mann schaute zur Seite und lächelte gezwungen, während er das Getränk dankbar entgegennahm. Langsam musste er aufhören, so viel in sich hinein zu saufen. „Frag mich mal was leichteres. Ich weiß gar nicht, worüber ich anfangen soll, nach zu denken.“, antwortete er leicht verbissen, war dennoch froh, Rony neben sich zu wissen. Der eigentlich kindische Rebell hatte zugleich eine ernste, und sehr aufmunternde Seite.
Rony schaute ihm in seine klaren, ehrlichen Augen, die ihn freundlich musterten, an.
„Du weißt auch nicht, wie es weitergehen soll, oder? Irgendwie habe ich bei der ganzen Sache ein mulmiges Gefühl.“, schloss er mit seinem amerikanischen Akzent ehrlich. Khan nickte bekräftigend. Es war erleichternd zu wissen, dass jemand so empfand wie er. Seine Verzweiflung musste spürbar sein. „Glaube mir, ich auch.“
„Die kleine ist dir wohl wichtig, was?“, witzelte der Blonde nun und stieß ihn leicht mit der Schulter an. Dafür taxierte er einen bösen Blick.
„Ach, das bildest du dir ein, du mieser Ami.“, konterte Khan und musste sogleich lächeln.
Plötzlich wurde der Gesichtsausdruck seines Freundes wider ernst, und die Anspannung kehrte zurück.
„Egal wie du dich entscheidest – und ich weiß, du wirst das richtige tun - ich bin auf deiner Seite.“, sagte der hellhaarige. Verblüfft schaute Khan ihn an. Es war, als hätte man ihm die schwere Last auf seinen Schultern erleichtert. Er wusste, auf ihn konnte er sich gezielt verlassen. Ein kleines Grinsen umspielte seine Lippen. „Ich weiß, mein Freund. Danke.“, sagte er schlussendlich, bis sie das Thema gänzlich verdrängten.
Er würde einen Ausweg finden. Es war ihm egal, dass er sie verraten musste.
Immerhin war heute Tag sieben.
Etwas schrie in mein Ohr, so laut, dass ich das Gefühl hatte, taub zu werden. Ich merkte, wie ich nuschelte und wimmerte, mir vergeblich versuchte, die Ohren zuzuhalten. Doch es hörte nicht auf, es schrie immer weiter und weiter …
Plötzlich flatterten meine Augen weit auf und ich schreckte, wie als hätte ich schon lange keine Luft mehr bekommen, hoch. Völlig außer Atem schaute ich neben mich, wo mein Wecker noch immer piepte und mir das unerträgliche Geräusch in die Ohren trieb.
Mit einem energischen Klopfen brauchte ich das nervige Ding zum schweigen und versuchte, meinen viel zu schnellen Puls zu beruhigen.
Was war bloß los mit mir?
Ich merkte bereits, wie sich die Schweißperlen auf der Stirn lösten und sich durch mein Gesicht schlichen. Mit dem Handrücken wischte ich diese sofort weg und stellte fest, wie sehr meine Hände dabei zitterten.
Ich zitterte.
Da ich es mir nicht erklären konnte, beschloss ich einfach, nicht mehr darüber nachzudenken und kletterte aus dem Bett. Noch halb verschlafen schaute ich auf mein Handy und war sogleich froh darüber, wieder daran erinnert zu werden, dass Samstag war.
Doch die Nervosität verfolgte mich und nistete sich wie ein Parasit in meinem Körper ein.
Dir geht’s gut, Név. Beruhige dich, sprach ich selbst zu mir und hoffte irgendwie, dass es klappen würde. Natürlich vergeblich. Das mulmige Gefühl blieb und verdrehte mir den Magen.
Noch halb außer Kraft tapste ich die Treppen herunter, wo mich normalerweise ein zeitungslesender Alex erwartete.
Doch … Nichts.
Leicht stutzig schaute ich mich im Wohnzimmer um, doch zu finden war er nicht.
„Papai?“, rief ich in das stille Haus hinein, ohne eine Antwort zu bekommen.
Nur ein leises Schluchzen zog meine Aufmerksamkeit in das Büro nebenan.
Wieder rief ich nach ihm, und wieder bekam ich keine Antwort.
Das schlechte Gefühl in mir wurde immer größer, bis ich schließlich leise an die Tür klopfte. Nichts, keine Antwort. Nur Schluchzen und Wimmern.
Claudia!
Leicht verängstigt öffnete ich die Tür, und da saß sie.
Auf dem Boden, völlig aufgelöst, mit tiefen Ringen unter den geschwollenen Augen und am zittern, als säße sie im Schnee.
Dieser Anblick ließ mich mehrere Sekunden zurückschrecken, bis ich das Geschehen realisierte und mich schreiend zu ihr hinunter kniete.
„Mamãe!”, rief ich, immer und immer wieder, umarmte und schüttelte sie zugleich.
Verstört drehte sie sich zu mir hin, sagte aber nichts.
„Mamãe!”, schluchzte nun auch ich und legte meine Hand auf ihre nasse Wange. Plötzlich fiel ihr schwacher Körper auf mich und sie fing bitterlich an zu weinen, was auch mir die Tränen in die Augen trieb. Auch, wenn ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, was los war.
„Er ist weg”, hörte ich sie mit bebenden Ton flüstern.
„Wer? Wer ist weg?”, fragte ich alamiert nach und zwang sie, mich anzusehen. In ihrem Blick erkannte ich, wie sie innerlich gerade zerbrach.
„Er”, sie schluchzte, „dein Vater.”
Ich schwieg.
Konnte nicht anders, als nur dies zu tun.
Ich merkte, wie das Blut in meinen Adern förmlich gefror, und wie mein leerer Blick in die Ferne glitt. Ich musste nicht nachfragen, um es zu verstehen.
Alessandro war weg. Einfach fort.
„Névra”, wimmerte sie und nun war sie es, die mir ihre Hand auf die Wange legte.
Sie öffnete meine Finger behutsam und ich spürte, wie sie mir etwas faltriges darein legte.
Zitternd öffnete ich das Stück Papier und las mir die wenigen Worte in der Männerschrift durch, die meinem Vater gehörte.
„Das … das kann nicht sein Ernst sein.” Ungläublig schüttelte ich den Kopf.
„Nein. D-Das geht nicht!” Ich wurde immer lauter und lauter, bis der verletzte Teil in mir sich in pure Wut verwandelte.
„Mamãe! Das kann er nicht tun!”, schrie ich. Ich war völlig außer mir und zerriss den Brief, den mein Vater uns zum Abschied geschrieben hatte.
Es waren so unbedeutende und oberflächliche Worte, dass er auch hätte ein leeres Blatt abgeben können.
Sie stand ebenfalls auf, zog mich wie schon einmal in ihre Arme.
Wie lange lag ich schon nicht mehr in ihnen drinnen?
„Névra. Da gibt es noch etwas.”, schluchzte sie leise unter weiterlaufenden Tränen.
Ich sagte nichts, sondern wartete einfach auf den nächsten Schock, der kam.
„Wir müssen bald raus hier. Die Mieten wurden nicht bezahlt. Oh glaub mir, ich habe nichts davon gewusst!”
Aber ich! Ich habe verdammt nochmal etwas davon gewusst! Ich habe die Briefe und Mahnungen in seinem Büro gefunden, und nie habe ich ihn darauf angesprochen!
„Nein, sag mir, dass das nicht stimmt!”, flüsterte ich und sank auf die Knie zurück.
So viel Trauer, so viel Tränen und so viel Schmerz hatte ich noch nie auf einmal aushalten müssen. Mamãe umarmte mich fest, doch es brachte nichts.
„Was tun wir nun? Wohin mit uns?”, wimmerte ich verzweifelt.
„Deine Tante. Ich denke, wir müssen für eine Weile zu ihr.“
Ich schwieg. Wir waren schlicht und einfach auf uns alleine gestellt.
Er, Alex, würde nicht mehr wiederkommen. Das wusste ich einfach.
„Wo ist Lucas?“, schluchzte ich nach einer Weile in der Umarmung in ihre Schulter hinein.
„Er schläft“, antwortete sie, „ich werde es ihm erklären.“
Ich nickte.
Das konnte meinem Bruder ohnehin nicht antun
Noch immer überlegte ich streng nach, doch Nichts wollte mir einen Hinweis darauf geben, weshalb er einfach gegangen ist, und seine Familie zurückgelassen hat. Meine Tränen verschleierten Augen schauten ausdruckslos auf den Schreibtisch, fixieren irgendeinen bedeutungslosen Punkt von Briefen.
Unter den ganzen weißen, erkannte ich einen schwarzen Umschlag. Er kam mir bekannt vor …
Und da war sie, da kam die Erklärung. Augenblicklich versteifte ich mich in den Armen meiner Mutter und bekam panische Angst. Ich löste mich zwanghaft von ihr und schaute ihr tief in die Augen.
„Das Geld. Es geht ums Geld. Und um -“ mein für sie sinnloses Gerede wurde vom klingelnden Telefon unterbrochen. Verunsichert und mit pochendem Herzen starrte ich auf das Telefon, bevor ich langsam darauf zu ging. Irgendetwas in mir sagte mir, dass ich nicht darangehen soll, doch ein anderer Teil schrie förmlich danach.
Ich schluckte mein Unbehagen herunter, nahm den Hörer ab und bemühte mich um eine fest klingende Stimme.
„J-Ja?“, stammelte ich trocken.
„Név?“, schluchzte eine mir sehr bekannte, piepsige Stimme am anderen Ende der Leitung und klang fast schon verzweifelter als ich.
Amélie.
Schlagartig verkrampften sich meine Hände um den Hörer des Telefons und pressten ihn mit immer mehr Druck gegen mein Ohr. So, als würde ich sie dadurch besser verstehen können. Bei ihrer brüchigen Stimme zuckte ich kurz zusammen, bevor ich wirklich realisierte, dass sie es war.
„A-Amélie?“, fragte ich unsicher nach, um mich auch wirklich noch einmal zu vergewissern
„Ja“, sie brach ab, als würde sie durch das ganze Schluchzen und Wimmern keine Luft mehr bekommen.
„Nun mach schon!“, hörte ich eine weitere, fremde Stimme neben ihr, die ihr zynisch etwas zuflüsterte, sodass ihr Weinen wieder lauter wurde.
„Amélie, was ist da los?“ Ich merkte, wie sich langsam Panik in mir ausbreitete.
Das verhieß definitiv nichts Gutes.
„Névra, i-i-ich brauche dich“, hauchte sie kaum hörbar in den Hörer hinein, „Sie wollen dich hier haben. Jetzt sofort. Oh Gott ich hab so Angst! Sie drohen mir“, piepste sie hysterisch und panisch zu gleich, konnte ihren flachen Atem und die vielen Schluchze nicht verbergen. Noch immer verstand ich nicht, von was die da redete.
„Wo bist du?“, kam es so ruhig wie möglich von mir, doch auch ich würgte die Wörter nur schert hoch. Es war so eine verzwickte Situation, so komisch und vor allem nicht zu begreifen.
„An der alten Fabrikhalle aber...“ Stille.
„Aber was, Amélie? Scheisse! Bitte hör auf mich zu verarschen“, auch mir kamen vor Angst erneut die Tränen hoch und ein dicker Klos bildete sich in meinem Hals.
„Gib mir das Telefon. Sie weiß, wo sie hin muss.“, meldete sich die männliche Stimme erneut, nur dies mal einen Deut bedrohlicher.
Ich lauschte gespannt. Das Telefon wurde noch nicht weitergereicht, denn Amélie verneinte mit einem mhmh, wobei ich mir ihr hastiges Kopfschütteln bildlich vorstellen konnte.
„Gib es her!“ ein lautes Poltern erklang, das blonde, zierliche Mädchen schrie kurz auf.
„Amélie!“, schrie ich, immer und immer wieder.
„Komm nicht! Komm nicht, Ne-“ etwas wie ein dumpfer Aufprall schallte durch den Hörer, ehe ihre Stimme endgültig verebbte. „Keine Polizei“, zischte die fremde Stimme und eine Sekunde später verriet mir das gleichmäßige Tuten des Telefons, dass er aufgelegt hatte.
„Amélie“, flüsterte ich leise, starrte wie gebannt auf einen Fleck und der Hörer glitt ganz langsam aus meinen verkrampften Fingern, bis er schließlich vom Kabel getragen über den Boden hing.
Ich war vollkommen bewegungsunfähig, mein Mund staubtrocken.
Sie hatten Amélie gekidnappt. Wegen mir!
Mein Kopf schien eine viel zu schnelle Karussellfahrt zu machen und ehe ich mich versah, stützte meine Mutter mich an den Schultern.
„Was ist los, Kind?“, fragte sie angespannt und versuchte mich ins vollständige Bewusstsein zu rütteln.
Ich sah in ihre trüben Augen, und schüttelte den Kopf. Verständnislos schaute sie mich an, doch ich drückte mich langsam auf.
Was dachte ich mir eigentlich dabei, eine Pause einzulegen?
Ich packte sie fest an den Schultern. Adrenalin sammelte sich langsam in mir an, rauchte durch meinen Körper.
„Ich muss weg“, eine verräterische Träne sammelte sich in meinem Augenwinkel, doch ich blinzelte sie schnell weg, „und ich weiß nicht was geschieht.“
Ihrem Blick nach zu urteilen, verstand sie gar nichts von dem, was ich sagte.
Wie auch. Ich verstand es ja selber nicht.
Plötzlich ergriff sie meinen Arm. „Wohin gehst du, Névra?“, wollte sie misstrauisch und zugleich besorgt wissen. Zärtlich legte ich meine Hand an ihre, die sich um meinen arm schlang. „Ich weiß es nicht.“, gab ich zu, drückte sie im gleichen Moment mit genügend Kraft von mir und stürmte, solange ich es noch konnte, aus dem Haus. Niemals würde ich sie da mit reinziehen wollen. Ich wusste immerhin nicht, wie schlimm es sein würde, geschweige denn, was auf mich zukommen würde.
Doch es versprach, etwas sehr schlimmes zu sein.
Ich rannte, so schnell es ging, und hörte ihre nach mir schreiende Stimme nach etlichen Minuten immer noch. Ich ignorierte es, musste es sogar.
Ein paar Straßen weiter drosselte ich mein Tempo. Meine Lungen brannten wie Feuer, meine Beine schmerzten bereits und ich bekam kaum Luft.
Schwer keuchend und in einem zügigen Schritt durchquerte ich die Gassen.
Eine alte Fabrikhalle. Ja, ich wusste genau, wo sie lag.
Ein seelenruhiger, verlassener Ort, stets in den Schatten der Bäumen gehüllt.
Etwas schrie und zerrte an mir, wollte zurück laufen und sich für immer verstecken.
Aber nein. Es ging um Amélie. Es ging um mich.
So sehr meine Angst mich auch zu lähmen versuchte, ein Entkommen gab es nicht mehr.
Nach einer halben Stunde Fußmarsch sah ich von weitem bereits das verlassene,dunkle Gebäude aus grauem Beton. Alle paar Sekunden schaute ich um mich herum, drehte mich um meine eigene Achse – doch ich sah niemanden.
Langsam näherte ich mich, darauf bedacht, keine Geräusche zu machen. Mit zitternden Händen kam ich an de verrosteten Tür an und schaute noch einmal gründlich um mich. Doch noch immer waren Bäume und Gras das einzige, was ich erblickte.
Meine Finger fuhren über die Klinke und verweilten dort wenige Sekunden. Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch, ehe ich mit viel Kraft die knautschende Tür aufstieß und in eine tiefe Schwärze blickte.
„Amélie?“, rief ich, ohne wirklich darüber nach zu denken. Als ob sie mir antworten könnte. Natürlich nicht. Ich wagte einen weiteren Schritt hinein. Und noch einen.
Ich wusste sowieso, dass es ein Fehler war, und das ich am Ende diejenige sein würde, die überrumpelt werden würde. Und so war es dann auch – kaum war ich naives Ding tief genug in der Dunkelheit, schloss sich die Eingangstür mit einem lauten Knall.
Und bevor ich überhaupt aufschreien oder mich irgendwie regen konnte, packten mich zwei große Hände, wobei mir die eine den Mund zuhielt.
Ich schrie, versuchte es zumindest, doch es kamen nur erstickte Laute raus. Das Adrenalin in mir schien zu explodieren, denn ich schlug wild um mich, doch nichts von all dem brachte etwas.
„Schön, dass du doch noch gekommen bist.“, sagte mir jemand mit einer lauten, klangvollen Stimme. Mein Atem stockte. Ich kannte sie, diese Stimme. Oder? Bildete ich mir das nur ein? Nein, das konnte nicht sein. Ich war mir sicher.
Mikele.
Ich war so geschockt, dass ich mich nicht mehr bewegte. Er lachte neben mir frohlockend auf und bevor ich diesen Gedanken auch nur weiter verfolgen konnte, wurde mir ein dickes Chloroformtuch vor Mund und Nase gehalten.
Verdammt!
Ich merkte bereits, wie sich mein Kopf drehte und mein Körper immer müder wurde. Meine Beine wollten mich nicht mehr halten und gaben nach als wären sie aus Wackelpudding.
Auch meine Augen klappten langsam zu – so sehr ich mich auch darum bemühte, sie offen zu halten. Es war, als hätte man mir gewichte an die Lider gebunden. Dementsprechend schlossen sie sich auch endgültig. Mein gelähmter Körper sackte in sich zusammen, in meinen Gedanken wurde ich in ein tiefes, schwarzes Loch gezogen.
Es fühlte sich an, als würde jemand mit einem Presslufthammer auf meinen Kopf einschlagen. Nein. Es fühlte sich wie eine ganze Baustelle an. Ich nahm wahr, wie ich meine Hand hob und zu meinem Kopf bewegte, um ihn zu massieren. Ich lag auf etwas hartem, was sehr ungemütlich war. Zumindest glaubte ich das
Was war passiert? Langsam stützte ich mich auf, als mir vor meinen geschlossen Augen ein Bild von einem blonden Mädchen mit blauen Augen erschien.
Wie ein Hagel von Bomben schlugen die Erinnerungen in mir ein. Völlig geschockt riss ich meine Augen auf und sprang auf die Beine. Sofort übermannte mich eine Schwindelattacke und ich sackte zurück auf die dünne Matratze, die auf einem dreckigen Boden ausgebreitet war. An der Decke hing eine schwach leuchtende Lampe.
Amélie. Ich musste zu Amélie! Keuchend stand ich wieder auf und merkte, wie mir der Schweiß zwischen den Brüsten hinunter rann.
Es war Mikele, der mich hierher geschleppt hatte. Diese Erkenntnis setzte mir einen gewaltigen Stich ins Herz.
Welches kranke Spiel wurde hier gespielt? Und zu welchem Preis? Ohne Antworten zu bekommen, stützte ich mich an der Wand ab und blickte mich um. Es war ein kleines Zimmer, jedoch ohne Fenster. Die Wände waren grau und der Putz bröckelte bereits. Es befand sich hier nichts weiter als die verschmutzte Matratze in der Ecke.
Ich schluckte mein Unbehagen hinunter und ging mit wackeligen Knien zur Tür hin, die natürlich verschlossen war.
„Scheisse!“, fluchte ich und schlug einmal kräftig dagegen. Ich hatte solche, unendliche Angst, dass sie sich bereits in in Wut verwandelte. Aus Verzweiflung.
Doch plötzlich hörte ich zwei Stimmen und Schritte, die immer näher kamen. Wie, als hätte ich mich am Feuer verbrannt sprang ich einen Schritt zurück, taumelte noch ein bisschen nach hinten und starrte angespannt auf die Tür. Der Knauf drehte sich, verriet mir, dass sie jeden Moment aufgedrückt werden würde.
Mein Atem wurde immer schneller, trieb mir ein schwaches Gefühl in die Gliedmaßen.
Wäre es das? Mein Ende? Würde ich heute vermutlich sterben? Doch ehe ich mir mehrere Horrorvorstellungen ausmalen konnte, wurde die Tür aufgedrückt. Ich blinzelte leicht, weil ich es einfach nicht fassen konnte. Aber ich hatte mich nicht geirrt, denn dort stand er – Mikele, begleitet von einem weiteren, großgewachsenem blonden Typen, dessen braune Augen ständig rot waren, als hätte er frisch gekifft.
Atemlos, fassungslos, stocksteif. Das war ich in diesem Moment, als mein ehemaliger Erdkundepartner und Carlos mir ein breites, gehässiges Grinsen zuwarfen.
„Na, überrascht?“, fragte die belustigte Stimme von Mikele. Und ja – ich war sehr überrascht. Mit weit geöffneten Augen und einem drehenden Kopf stützte ich mich an der Wand ab, starrte die beiden verständnislos an.
„Was … Was soll das?“, brachte ich schließlich mühsam aus einer vertrockneten Kehle hervor. Das ich diese Worte in diesem Moment überhaupt zu Stande bringen konnte, grenzte an ein Wunder.
„Oh nein“, murmelte Carlos, „Sie hat's immer noch nicht begriffen.“
„Sie weiß es noch nicht einmal.“, setzte der Brillenträger hinzu.
„H-Hört auf damit!“ Ich spürte, wie meine Stimme wankte und fast brach. Von dem fürsorglichen, schüchternen Mikele war nichts mehr übrig. Na ja, er hatte ja auch nie existiert.
„Amélie.. Wo ist Amélie?!“ Ich wurde immer hysterischer, immer lauter, stieß mich von der Wand ab und trat sogar einen Schritt auf die beiden zu.
„Du steckst gerade selber ziemlich tief im Mist und fragst, wo deiner verräterische Freundin lauert?“, fragte Mikele sarkastisch und grinste spöttisch. Entrüstet blickte ich ihn an.
„Die kannst du später besuchen, meine Kleine. Für dich steht gerade etwas wichtigeres an.“, meldete sich Carlos mit rätselnden Worten zu mir.
„Verdammt!“, schrie ich, sackte auf die Knie, raufte mir die Haare.
„Was soll das...“, schluchzte ich leise, hielt mir die Hände vors Gesicht. Ich verstand es nicht. So sehr ich mich darum bemühte, es wollte nicht in meinen Kopf. Amélies Anruf, dieser seltsame Mann, der meinen Vater bedrohte und schließlich Alejandro selbst, der einfach abgehauen ist und seine Familie im Stich gelassen hat. Und dann auch noch zwei Jungs aus meiner Schule, was schon daran knüpfte, dass Antonio sicher mit in diese Sache verwickelt ist.
„Du bist wirklich dümmer als ich gedacht habe“, setzte einer der beiden an und riss mich schroff aus meinen Gedanken, „du hast es von Anfang an nicht gemerkt. Wir waren die ganze Zeit hinter dir her, Kleine.“
Meine Pupillen verengten sich. Diese Informationen waren zu viel für mich. Sie machten mich schwach.
„Wieso?“, hauchte ich tonlos, hatte das Atmen bereits verlernt. Sie erklärten es mir gerade, doch trotzdem verstand ich es nicht. Das Puzzle in meinem Kopf wollte keinen Sinn ergeben
„Weil du uns Geld einbringst.“ Mikele zuckte mit den Schultern. „Und wir hätten dich schon längst bekommen, wir hatten so viele Chancen. Wäre dein dummer Wachhund nicht ständig bei dir.“Wachhund? Wovon zum Teufel sprachen sie?!
Mikele bemerkte wohl meinen stumpfen Blick der verriet, nichts verstanden zu haben und rollte entnervt mit den Augen. Und plötzlich wurde es mir bewusst. Oh. Mein. Gott.
„Du warst es“, flüsterte ich leise vor mich hin, „Du hast mich damals im Park fast verschleppt!“ Diese Erkenntnis setzte mir einen Schlag in die Magengrube.
„Oh, sie lernt dazu“, spottete Carlos mit einem widerlichen Grinsen im Gesicht.
„Doch dann haben wir uns geeinigt. Denn anscheinend wollte er sich noch ein bisschen die Zeit mit dir vertreiben. Und so war es dann auch abgemacht - er vergnügt sich mit dir, solange er auch dafür sorgt, dass du hier angeschafft wirst. Und sein Plan war wirklich genial“, endete mein Partner.
„Ich muss sagen, es war eine gute Vereinbarung. Wir konnten uns in Ruhe entspannen“, fügte Carlos hinzu, doch wieder erschien mir ihr Gerede wie eine fremde Sprache.
„Keine Sorge, Rotkäppchen. Gleich weißt du, wovon wir reden.“ Auf beiden Gesichtern breitete sich ein höhnisches Lächeln aus, was mir einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
Plötzlich piepte etwas. Während Carlos Mikele fragend ansah, zückte dieser mit einem genervten Gesichtsausdruck sein Handy aus der Hosentasche und seufzte entrüstet.
„Der Boss ruft uns schon wieder. Gott, kann der nervig sein.“, merkte er zynisch an und schaute mir abermals zu mir herab. „Schade, dass der Spaß bald endet.“ Mit verwegenem Grinsen drehten sie sich einfach um und ließen mich abermals alleine.
Zu spät rappelte ich mich auf und stürmte auf die Tür zu – ich war so dumm!
„Macht sie auf! Lasst mich zu Amélie! Amélie!“, schrie ich aus voller Kehle hysterisch und hämmerte wie wild auf die Tür ein. Bis mir klar wurde, dass es nicht bringen wird.
Was würde mich hinter dieser Tür erwarten? Etwas, was ich hätte voraussehen können oder etwas völlig verrücktes, was mir niemals in den Sinn gekommen wäre? Doch eins war sicher, und nur das zählte in dem Moment - ich saß in der Falle. Kraftlos lehnte ich gegen die Tür und glitt an ihr runter. Ich hatte das Gefühl, dass ich mein altes Leben nicht so einfach wider aufgreifen könnte – falls ich hier überhaupt lebend rauskomme.
Texte: Die Texte stammen ganz allein von mir, Alisa C. Ebenso die Charaktere sowie die Handlung gehört mir und war auch meine eigene Idee. Ich verbiete jegliche Veröffentlichung meines Buches auf anderen Plattformen oder Webseiten. Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Deviantart.com / Von mir bearbeitet
Tag der Veröffentlichung: 03.10.2012
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