Ich fliege, fliege. Weit ausgebreitete Flügel, inmitten der Wolken. Weich, weiß. Tausende Stimmen im Nichts. Ich habe keine Angst. Wovor hat ein Engel Angst? Die Stimmen sind meine Brüder und Schwester. Wir leben in den Wolken. Ja, die Wolken sind unser zuhause. Wir lebten schon immer hier, seit wir denken können. So sollen wir sonst leben? Aber wir leben nicht bei Gott. Alles Gerüchte, nur Gerüchte. Wir sind auch nicht unsterblich. Wer ist das schon? Wir leben. Wir altern und sterben. Nur geschieht dass bei uns langsamer. Ja, wir haben auch Flügel, weich, groß, weiß, wie Wolken. Aber macht uns dass zu etwas Besonderem? Besitzen nicht auch die Vögel Flügel? Aber es sind Menschen. Was können sie für ihre Dummheit? Sie fangen an, uns auszurotten. Ihre Flugzeuge, die Flügel ersetzen sollen… Sie töten uns. Sie zerstören Häuser und ihre Bewohner. Sie zerstören alles, und nennen es einen Fortschritt, eine Entwicklung.
Ich bewege meine Flügel, langsam, dennoch kräftig. Die Welt liegt unter mir. Dicht unter den Wolken fliege ich, von unten nicht zu sehen. Ich liebe mein Leben als Engel. Ich war schon lange nicht mehr unten, aber das ist nicht schlimm. Dort unten gibt es nichts für mich. Für einen Engel ist es dort gefährlich. Alles grau, grau. Graue Wüste. Und Metall, Stein ist gefährlich. Tödlich, giftig. Es macht uns verrückt.
Wir brauchen hier oben keine Namen. Wir besitzen nicht mal eine Sprache. Aber wofür sollten wir auch eine benötigen? Wir benötigen nichts. Wir essen den Sonnenschein. Ornamente, wie Tattoos, bedecken unsere Körper. Wir brauchen keine Kleidung. Wir müssen nicht reden. Wir sind nicht einsam. Warum reden Menschen? Um zu handeln und nicht einsam zu sein. Wir sind Engel. Wir haben nichts, um das man handeln könnte. Die Wolken und die Sonne sind unsere Begleiter. Ich fliege. Deshalb leben wir. Wir fliegen. Wir besitzen keine Häuser, denn wir schlafen nicht. Wenn ich erschöpft werde, setze ich mich auf eine Wolke und ruhe mich aus. Wir Engel sind leicht genug. Aber ich werde nicht erschöpft. Ich fliege. Weiter, weiter. Ich liebe es, zu Fliegen. Das weiche Flattern im Wind. Ich schließe die Augen. Wozu brauchen wir Augen, wenn wir nur fliegen? Meine Haare flattern im Wind. Nein, sie sind nicht von einem goldenem Engelblond, auch nicht von einem feurigen Rot, welches mich als Dark Angel ausgezeichnet hätte. Unsere Haare sind schwarz und glatt, von Geburt an. Wenn wir Erdengel werden, werden unsere Haare blond, unsere Flügel fallen nach wenigen Stunden ab und wir leben auf der Erde. Wenn wir Dark Angel werden wollen, werden unsere Haare rot. Wir werden gemieden. Rote Haare stehen für schwarze Seelen. Ja, ich habe schwarze Haare. Obwohl ich älter als viele bin, habe ich mich noch nicht entschieden. Engel werden etwa 500 Jahre alt, Dark Angel 5000. Wie alt Erdengel werden, weiß niemand. Keiner von ihnen kehrt zurück…
Ich fliege, fliege. Keine Zeit. Ich denke nach, in meiner eigenen Sprache. Ich bin allein mit meinen Gedanken. Plötzlich… Schmerzen…Wucht, Aufprall…Schwarz…Schmerzen.
Ich falle. Weiter, weiter. Direkt nach unten. Meine Schulter brennt. Ich will wieder nach oben fliegen, aber mein rechter Flügel bewegt sich nicht. Ich schlage mit dem linken, flattere. Wie ein verwundeter Vogel. Warum versuche ich es überhaupt? Ich weiß, es ist vorbei. Ein Flugzeug muss mich erwischt haben. Ich öffne die Augen auch jetzt noch nicht. Ich weiß, es ist vorbei. Der Schmerz lähmt meine Gedanken. Ich falle, falle. Bald muss es vorbei sein. Oder werde ich weiter fallen? Weiter in die Tiefe, in die Stille, Leere, ins Nichts. Ich weiß, ich werde sterben, wenn ich aufkomme. Ich höre auf zu denken. Tut es dann weniger weh?
Ich wusste nicht, dass es nach dem Tod so ist. Alles ist weiß, fast wie zuhause. Aber ich habe noch Schmerzen, an meinen Schultern, überall. Plötzlich schiebt sich ein Mensch in mein Blickfeld. Bin ich doch nicht tot? „Sie ist aufgewacht“, höre ich ihn sagen. Wie alle Engel bin ich in meinem zehnten Lebensjahr auf die Erde gekommen, um die Sprache zu lernen. Seltsam und abgehackt ist sie, meine eigene ist viel weicher. Ja, ich bin mir sicher, ich lebe. Ich liege in einem Krankenhaus. Der Arzt schaut mich immer noch an. „Gefallener Engel“, murmelt er und streicht mir sanft über den Flügel.
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2010
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Widmung:
An die Menschen, die zu gut sind für diese Welt und gefallene Engel sein müssten