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5. Kapitel

„Was soll das alles mit Deliera?“ Ich verstehe wirklich gar nichts mehr.
Alisa starrt immer noch in die Luft. Ihr Blick ist leer, die blauen Augen sind eisiger als sonst.
Oma lacht auf. „All die Jahre. Ich hoffe, dass es richtig war“, flüstert sie vor sich hin.
„Oma? Oma! Was ist mit Alisa?“
„Es gibt keine Alisa mehr und es gab nie eine. Alisa wurde mit sechs Jahren in die Lüge gebracht. Sie war vorher und jetzt wieder Deliera, deine Cousine.“
„In die Lüge?“
Oma gibt Alisa einen Stoß.
„Ich glaube, ich muss euch beiden einiges erklären.“
Alisa- nein, Deliera- und ich schauen Oma fragend an.

„Es war eine kalte, mondlose Nacht vor neun Jahren. Der Krieg zwischen den Drachen und den Wölfen dauerte schon Stunden. Die Wölfe waren in der Überzahl, aber die Drachen waren stärker und die Katzen kämpften mit ihnen. Viele, viele starben. Der Tod verwandelt uns zurück in Menschen. In der Luft hing der Geruch von Blut. Die grausamen Drachen töteten alles. Eine Wölfin verwandelte sich zurück in einen Menschen. Sie hatte einen tiefen Schnitt in ihrem Bein. Die Schmerzen ignorierend lief sie zu der Wolfskönigin, ihrer Schwester, die wie alle anderen Wölfe ihren Welpen auf dem Rücken trugen. Die Frau nahm die Thronfolgerin vom Rücken der Königin, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie lief zum Rande des Schlachtfeldes, wo die Ältesten auf den Ausgang warteten. Erschöpft setzte sie sich. Die Mutter der Frau gab ihr ihr eigenes Kind zurück. Am nächsten Morgen war die Schlacht vorbei. Bis auf die, die sich zum Rande zurückgezogen hatten, waren alle Wölfe tot. Die Königin war weder unter den Toten noch unter den Lebenden. Nun stand die Frau da, mit ihrem eigenem Kind und der Thronfolgerin, die sie mit ihrem Leben beschützen musste. Es war die einzige Hoffnung, in einem erneuten Kampf gegen die Drachen zu gewinnen. Die Hunde, die den Wölfen geholfen hatten, verschwanden, die überlebenden Wölfe verwandelten sich alle in Menschen. Es waren nur noch Älteste, verwundetete Kämpfer, von denen die meisten noch vor der heilenden Mittagssonne starben, einige Frauen und Kinder. Sie suchten den Weg aus der Drolfswelt zurück in die wahre Welt. Sie suchten lange, und als sie fanden, war aus der Wahrheit die Lüge geworden. Beim Übergang aber verlor die Frau ihr eigenes Kind, Deliera. Es konnte nicht gestorben sein, denn in der Übergangswelt stirbt niemand. In welcher Welt sie war, wusste aber auch niemand. In der Drolfswelt, der Welt beider Arten, in der die Kämpfe ausgetragen wurden, in der Wolfswelt, der Heimat der Wölfe, in der Menschenwelt, oder gar in der Drachenwelt? Doch aber wussten sie, dass es beim Übergang sein Gedächtnis verloren hatte. Und so zog die Frau, Dellissa, die Thronfolgerin, ihre Nichte, Ellana, auf wie ihr eigenes Kind. Die Mutter der Frau, Inienda, half ihr dabei. Sie trafen sich noch oft mit den anderen Wölfen, denn sie wussten, Ellana und Deliera zusammen könnten die Lüge wieder Wahrheit werden lassen und die grausamen Drachen endgültig vertreiben. Deliera musste aber erst gefunden werden.“
Oma nahm einen Schluck Wasser. Alisa und ich sahen sie mit offenem Mund an.
„Das hast du dir jetzt aber nur ausgedacht, oder, Oma?“ Noch während ich die Frage stellte, wusste ich, dass alles wahr war. Ich erkannte, ich erinnerte mich. An die Zeit, an die wahre Welt, an meine Mutter, die Königin. Unverwandt sah ich in Oma´s blaue, starre Augen.
Deliera schluckte. Langsam drehte sie sich zu meiner Mutter um, die aus ihrem Arbeitszimmer getreten war und schweigend zugehört hatte. „Mama?“ Meine Mutter nickte.
Tiefe Traurigkeit überkam mich. Das war nicht meine Mutter. Alles nur gespielt. Meine Mutter war irgendwo. Sie war überhaupt nicht an mir interessiert, sonst hätte sie sich ja irgendwann gemeldet. Oder sie war tot. Alles nur gespielt. Haben mich im Glauben gelassen. Nicht meine Oma. Nicht meine Mutter. Nicht meine Freundin Alisa. Deliera. Meine Cousine. Wie ich das alles hasse! Weinend rannte ich auf mein Zimmer. Ich hatte keine Familie. Wenn Dellissa von meinem Vater erzählte, redete sie so lieblos. Jetzt weiß ich warum. Alles nur gespielt.

6. Kapitel

Es klopft an der Tür. Ich liege auf meinem Bett und schaue aus dem Fenster. Platsch, platsch. Regen, wie immer. „Ellana? Darf ich reinkommen?“ Meine Ex-Mutter. Soll sie doch bleiben wo sie ist. „Ja klar“. Ich hasse mich für diese Worte.
„Ellana? Ich kann verstehen, dass das alles für dich sehr schwer ist. Aber haben Deliera´s Pflegeeltern sie nicht geliebt, obwohl es nicht ihre echten Eltern waren?“
„Ja“, brumme ich.
„Du bist wie ein richtiges Kind für mich. Ich liebe dich wie meine eigene Tochter, nein, noch mehr, denn Deliera kenne ich nicht. Du warst fünf Jahre alt. Ich konnte dir die Wahrheit nicht erzählen“, sagt Mama. Nein, Dellissa.
„Du kannst mich auch weiterhin Mama nennen. Deine Cousine, Deliera, wird bei uns einziehen. Du hast wahrscheinlich noch gar nicht richtig verstanden, welche Rolle du in dem ganzen spielst. Komm, lass uns zurück zu Oma gehen.“
Doch, irgendwie hat sie recht. Hat Mama- ich werde bei Mama bleiben, Alisa sagt Dellissa und zu ihrer Pflegemutter Mama- mir jemals das Gefühl gegeben, sie hätte lieber ihre eigene Tochter bei sich? Nein, sie hat mich immer behandelt wie ihr echtes Kind.

Ich gehe in unser Wohnzimmer. Eisblaue Augen blitzten mich von allen Seiten an. Sie sehen sich ähnlich. Warum ist mir dass noch nicht früher aufgefallen? Und warum hat Mama ihr eigenes Kind eigentlich nicht erkannt, all die Jahre, in denen Alisa fast täglich bei uns war?

Das fragt auch Oma. Aber Mama antwortet nicht. Sie liest versunken in einem Buch. Es hat einen grünen Einband und seltsame Zeichen stehen auf der Vorderseite. Mama sitzt auf unserem einzigen Sessel. Er ist blau, wie fast alles hier. Blau ist Mama´s Lieblingsfarbe. Ich mag blau auch, aber genauso gern mag ich rot. Mama hasst rot, genau wie gold. Alisa mag diese beiden Farben auch nicht.
Oma und Alisa sitzen auf unserer blauen Couch. Alisa an dem einem, Oma an dem anderen Ende. Ich setze mich zwischen die beiden.
„So, Oma, welche Geheimnisse fehlen noch? Troll, Fee, Elfe, Riese?“, frage ich betont fröhlich.
„Lass den Quatsch“, murmelt Oma gereizt, „Einige dieser Wesen gibt es wirklich, und ich will nicht unbedingt so was im Wohnzimmer“.
„Oma, bitte erzähl Ellana jetzt den Rest. Ich will nicht ewig tatenlos hier herumsitzen“, sagt Deliera mit einem Gähnen. Ihre Augen waren noch geweitet von Überraschung eben und das helle Blau glänzte wie noch nie. Sie war glücklich. So schwer verständlich es auch war, sie war glücklich. Sie wusste dass sie bei dem nächsten Krieg, falls es so was geben würde, sterben würde. Aber sie hatte ihre Familie gefunden. Sie hatte ihren Platz in der Welt gefunden.

Hatte ich meinen schon gefunden? Nein. Es gab noch so viel, was ich machen musste. Ich musste meine Mutter finden. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass sie lebte. Und mein Vater. Ich war die Thronfolgerin. Das war mein Platz. Doch musste ich erst den Thron finden, bevor ich mein Reich regieren konnte.

Oma räusperte sich. Mit müder Stimme begann sie zu erzählen: „Und die grausamen Drachen beherrschen die Welt. Sie verdrängen die Wahrheit, verbreiten ihre Lüge, um Chaos und Verwirrung zu verbreiten. Noch sind es wenige. Aber sie sammeln sich. Die goldenen Drachen hatten ihre Brüder, die roten Drachen verjagt, so wie wir, die grauen Wölfe, die braunen Wölfe verbannten, die zusammen mit den roten Drachen Krieg und Verderben in die Welt brachten. Jetzt sind die Drachen wenige. Die oberen, die königlichen Drachen, können sich in Menschen, in fliegende Drachen und in täuschend echt aussehende Katzen verwandeln. Bis auf einige Spione und Bauern verwandeln sich die Restlichen in flügellose Drachen. Die Spione in fliegende Katzen, die Bauern in nutzlose, flügellose, schwache Katzen. Die Drachen kamen einst aus der Drachenwelt. Immer noch sind die meisten dort. Nur ein Teil der Königsfamilie ist im Moment in der Menschenwelt. Der König der Goldenen erschuf die Welt der Verräter. Dahin wurden die roten Drachen und die Braunen Wölfe gejagt. Vermutlich besaß der König der Roten so viel Dummheit, noch eine Welt zu erschaffen. Die Welt der Aufständischen. Der König wurde getötet, dennoch existiert diese Welt. Wir können nicht auf sie zugreifen. Allerdings können sie auch nicht zurück in die Drachen-, Wolfs- und Menschenwelt. Also stören sie uns nicht. Unser größeres Problem sind die goldenen Drachen in unserer Welt. Wie ihr mitbekommen habt, sammeln sie sich. Wir sind uns sicher, dass sie uns endgültig vernichten wollen. Aber wir konnten keine richtigen Angriffe wagen. Uns fehlte Deliera. Nun haben wir sie gefunden, und wir können mit der Ausbildung beginnen. Normalerweise würde es Jahre dauern, bis ihr vollkommen kampffähig seid, aber wir verkürzen es etwas. In spätestens einem Monat seid ihr vollausgebildete Wolfskriegerinnen.“
„Aber“, „Warte“, stoppte sie mich. „Ich erzähle euch erst noch etwas über die Wölfe. Und unterbrich mich nicht mehr!“, schicksalsergeben nickte ich.
„Bei den Wölfen ist es ähnlich wie bei den Drachen. Wir gehören natürlich zu den grauen Wölfen, die braunen wurden ja verbannt. Die Königsfamilie verwandelt sich in riesige, kräftige Wölfe, mit einer unglaublichen Sprungkraft. Sie gehören zu den Wenigen, die es mit den geflügelten Drachen aufnehmen können. Ellana ist momentan die Einzige, die sich in einen solchen Wolf verwandeln kann. Bis auf einige Spione (fliegende Hunde) und Bauern (nutzlose, kraftlose Hunde) verwandeln sich alle Anderen in mittelgroße Wölfe. Größer als wilde Wölfe, genau die richtigen Gegner für flügellose Drachen. Dellissa und ich sind solche Wölfe. Graue Wölfe sind blond und blauäugig, goldene Drachen schwarzhaarig mit goldenen Augen. Ihr werdet im folgenden Monat lernen, euch zu verwandeln und zu kämpfen und ihr werdet die Wolfs- und Drachensprache lernen.“

Während Deliera begeistert aufspringt, murmele ich nur: „Das sind ja tolle Aussichten.“

Denn einige Fragen bleiben noch offen:

Wo ist meine Mutter?

Warum habe ich rotblonde Haare und graublaue Augen? Oder eher: Wer war mein Vater? Denn Oma hat ihn mit keinem Wort erwähnt, niemals, und dass er kein normaler Wolf ist, ist ja wohl klar.

Warum hat Mama Deliera nicht erkant, Oma aber schon?

Ich verstehe gar nichts mehr.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.07.2010

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