Wie jeden Sonntagmorgen ging ich die Straße zum Bäcker entlang. Der Frost verwandelte meinen Atem in kleine Wölkchen, aber trotzdem war schon viel los auf den Straßen von Hamburg. Männer im Anzug und mit Aktentaschen in der Hand eilten den Bürgersteig entlang, kleine Kinder wurden von ihren Müttern zum Kindergarten gezerrt und Obdachlose bettelten auf dem Bürgersteig um etwas Geld. Diese Stadt war wirklich rund um die Uhr belebt. Ein Klingeln kündigte mich an, als ich den Bäcker betrat. Der Geruch von frischen Brötchen strömte mir entgegen.
„Guten Morgen! Was kann ich heute für dich tun, Selena?“, fragte mich die etwas pummelige Frau hinter dem Tresen.
„Ach, so wie immer, Margit“, antwortete ich mit einem Lächeln und wandte mich dem Zeitungsständer zu, während die rundliche Bäckersfrau mir das Gebäck einpackte.
Mein Blick schweifte über die wenige Auswahl an Zeitungen und ich laß desinteressiert die Schlagzeilen. „Autounfall an der Kreuzung“ , „Herrenloser Hund gefunden“… Nichts dergleichen zog meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Möchtest du heute vielleicht noch einen Donut?“, fragte Margit mich. Ich nickte nur, denn ich konnte mich nur auf die Zeitung konzentrieren, die in meinen Zitternden Händen hielt. „Schriftsteller Sven Seller flüchtet nach Amerika?“ Ich las wie gebannt den kleinen Text:
„Sven Seller, ein beliebter Schriftsteller, soll laut einer zuverlässigen Quelle schon bald nach Amerika ziehen. Grund dafür sind zu große Menschenmengen, Paparazzi und neidische Autoren. Ob dieses Gerücht wahr ist, weiß man nicht genau. Auch Herr Seller persönlich wollte sich nicht äußern und flüchtete nur rasch in seine Wohnung. Was ist da los?“
Hamburg (RvA)
Mein Vater sollte umziehen? Davon wüsste ich doch! Aber viel mehr als dieses Gerücht, regten mich die Initialen des Journalisten auf. RvA bedeutete Ryan van Ahlen und dieser war kein geringerer als der Vater von James. James ging in meine Klasse. Alle vergötterten ihn, außer mir … Mit seinen hellblauen Augen, dem wuscheligen schwarzem Haar und seinem muskulösen Körper verdrehte er allen Mädchen den Kopf.
„Morgen!“, ertönte eine mir allzu bekannte Stimme.
„Guten Morgen Herr Ahlen, was kann ich für sie tun?“, fragte Margit freundlich und legte ihre beiden Hände vor sich auf den Tresen. Ein unauffälliger Seitenblick verriet mir, dass zwei Schritte von mir entfernt er. Wie immer morgens im langen grauen Mantel und mit schwarzen Stoffhandschuhen an. Hoffentlich bemerkte er mich nicht. , dachte ich. Doch da war es schon zu spät.
„Hey Selena, lang nicht mehr gesehen!“, rief er und ging auf mich zu. Ich zuckte leicht zusammen.
„Hey James, was willst du?“, fragte ich trotzig, seinen misslungenen Smalltalk ignorierend. Ich kannte keinen, der so selbstsicher bei Mädchen war wie James, aber mir gegenüber wusste er einfach nie was er sagen sollte. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich als eines der wenigen Mädchen von unserer Schule nichts von ihm wollte. Und das schien ihn irgendwie zu stören.
„Garnichts, ich wollte nur …“, begann er hilflos. Plötzlich hatte ich Mitleid mit ihm.
„Ach, schon gut“, beteuerte ich. Da fiel mir die Zeitung wieder ein.
„Sag mal, hast du heute schon die Zeitung gelesen?“, fragte ich unschuldig.
„Ich – ähm - nein wieso?“, sagte er verwirrt und musterte mich irritiert.
„Naja, weil …“, begann ich, doch Margit rief nach mir.
„Selena, deine Brötchen!“ Ich nickte ihr zu, warf James einen entschuldigenden Blick zu und ging zum Tresen. Doch bevor ich bezahlte, nahm ich mir eine von den Zeitungen - und zwar gut sichtbar für James.
„Was hat das zu bedeuten?!“, rief ich, dann stürzte ich mit der Zeitung in der Hand in die Küche.
Meine Eltern schauten mich erschrocken an. Irgendetwas stimmte in diesem Bild nicht. Meine Mutter, wie immer top gestylt mit blonden Locken und weinrotem Lippenstift, mein Vater im weißen Hemd mit nach hinten gegeltem schwarzem Haar. Doch etwas störte hier. Und ich wusste auch was: meine Anwesenheit.
„Stör ich?“, fragte ich unsicher.
„Nein Liebling. Zeig, was hast du da?“ Meine Mutter deutete auf die Zeitung in meiner Hand.
„N - nichts schon gut!“
Mein Vater schaute misstrauisch. „Gib her!“, befahl er und ich parierte.
„ Schriftsteller Sven Seller flüchtet nach Amerika?“, las er laut vor. „Beliebter Schriftsteller - nach Amerika ziehen - neidische Autoren - wollte sich nicht äußern - flüchtete rasch in Wohnung.“ Er las nur bedeutende Teile des Textes vor. Mit einem lauten Knall landete die Zeitung auf dem Küchentisch. „Ryan van Ahlen! Dieses verdammte Schwein!“, er schlug mit der Faust auf die Küchenzeile sodass die Tassen klirrten.
„Also ist es nicht wahr? Wir bleiben hier?“, fragte ich mit einem Funken von Hoffnung.
Plötzlich wurde er ruhiger.
„Schätzchen weißt du …“, begann meine Mutter traurig. Ich begriff sofort.
„Wie lange noch?“, hauchte ich und merkte, dass meine Stimme zitterte.
„Eine Woche.“ Traurig schaute meine Mutter aus dem Fenster. Ich konnte die Tränen nicht mehr halten „Warum?!“, schrie ich und ohne eine Antwort abzuwarten rannte ich die breite Treppe hinauf in mein Zimmer. „Warum?!“, schrie ich noch einmal und warf mich schluchzend auf mein großes Himmelbett.
Ein hohes Geräusch ließ mich aufschauen. Jemand hatte mich bei myface angeschrieben. Erschöpft vom langen Heulen sank ich auf meinen Schreibtischstuhl und öffnete das Nachrichtenfenster:
Hey Selli,
jetzt habe ich die Zeitung gelesen und es tut mir ehrlich leid. Mein Vater verbreitet sehr gerne Gerüchte und ich glaube nicht dass ihr wirklich umzieht. Egal was mein Vater auch schreibt, ich habe damit nichts zu tun, das wollte ich dich wissen lassen. Vielleicht kannst du mich ja nur wegen meines Vaters nicht ausstehen.
Lg James
Hinter seinen Namen setzte er ein Herz. Was sollte das denn nun wieder? Ich rollte entnervt mit den Augen. ‚So ein Idiot‘, dachte ich mir und schrieb zurück.
Hey James,
leider hat dein Vater Recht. Ich werde in einer Woche nach Amerika ziehen, wohin genau weiß ich nicht . Und es ist mir egal was dein Vater schreibt. Tu mir einfach den Gefallen und lass das hier mein Problem sein.
lg Selena
Ich schaltete den Monitor aus und ging hinüber zum Fenster. In der Dämmerung erkannte ich nur noch wage den Umriss von unserem angebauten Stall. Wie von alleine öffnete ich die Balkontür und trat hinaus. Die Luft war kühl und der Wind wehte mir durch mein langes schwarzes Haar. Manchmal brauchte ich diese einsamen Momente. Nachtluft, die mir die Sorgen wegpustete. Die Stadtlichter, die weit entfernt leuchteten. Doch heute konnten mir selbst diese Dinge nicht meinen Schmerz nehmen.
Ich trat vor zum Geländer, hielt mich daran fest und schloss die Augen. Ich spürte wie mir der Wind sanft ums Gesicht wehte und wie sich eine Träne den Weg über meine Wange bahnte. An meinem Kinn hörte ihre Reise auf und sie fiel einsam in die Dunkelheit. Ich stellte mir vor wie ich anstelle der Träne war und merke wie gut meine Situation dazu passte. Dazu verdammt in einen tiefen Abgrund zu stürzen, in dem es nur Dunkelheit gab.
„Selena?“ Meine Mutter stand hinter mir und legte eine Hand auf meine Schulter. Eine kalte Geste. „Ich weiß es ist schwer für dich diesen Ort zu verlassen, aber es ist notwendig! Glaub mir.“
Ich drehte mich um und schaute sie mit leeren Augen an.
„Warum Amerika? Warum können wir nicht in Deutschland bleiben?“ Meine Wimpern waren feucht und ich sah noch ganz verschwommen.
Mutter seufzte. „Es geht einfach nicht anders. Weißt du, dein Vater…“, begann sie.
„Vater, immer ist es nur er! Warum bin es nicht einmal ich? Sag mir wenigstens wohin genau wir ziehen!“ Ich spürte wieder dieses Brennen hinter meinen Augen und verfluchte mich innerlich für meine Sensibilität.
„Es wird dir dort gefallen, da bin ich mir sicher.“ Meine Mutter ignorierte meine Frage bewusst. Und auch die Aussage über Dad.
„Wohin Mum?“, keifte ich sie an und ignorierte dabei ihr erschrockenes Gesicht.
„Du wirst diese Insel wahrscheinlich nicht kennen…“
Ich starrte sie ungläubig an.
„Wie bitte? Eine Insel?!“
„Sie heißt Selavide und ist sehr schön anzusehen.“
Das war zu viel für mich. Ich ging schnellen Schritts in mein Zimmer und Samantha folgte mir.
„Bitte geh. Lass mich jetzt alleine.“, murmelte ich und warf mich bäuchlings auf mein Bett.
„Bitte verzeih uns.“, murmelte Mum und schloss leise die Tür hinter sich.
Mein Vater hätte garantiert anders reagiert. Er wäre wütend und aggressiv geworden. Wenn Mum und Dad sich manchmal stritten, tat meine Mutter mir wirklich leid. Manchmal warf er sogar Dinge durch die Gegend wenn er wütend war. Vasen, Bücher, selbst ein Stuhl musste dran glauben und flog schließlich mit den Beinen voran aus dem Fenster. Ich hasste meinen Vater nicht, aber leiden konnte ich ihn auch nicht wirklich. Viel von meinen Eltern bekam ich sowieso nicht mit, denn sie waren fast immer Arbeiten und gingen aus. Natürlich ohne mich. Ich war das fünfte Rad am Wagen. Das Gewicht an ihren Beinen, das sie mit sich rumschleppen mussten. Mein Zufluchtsort war tatsächlich die Schule. Dort war ich beliebt, hatte Aufmerksamkeit und bekam Anerkennung.
Ein hohes Geräusch zeigte mir an dass ich eine Nachricht hatte.
Wow. Schade dass du weg ziehst. Wir sehen uns dann morgen an der Bushaltestelle.
James
Ausstehen konnte ich diesen Schönling noch nie, also warum in den letzten zwei Wochen noch nett zu ihm sein?
Falls dein Vater noch Zeitungsmaterial braucht. Ich ziehe auf eine Insel namens Selavide.
Bye!
Mit gemischten Gefühlen ging ich ins Bett und versuchte zu schlafen. Ich lag mit offenen Augen in meinem Bett und starrte an die weiße Decke. Bald würde sich alles Verändern.
Ich stellte mir wieder die einsame Träne vor. Wie sie auf dem Asphalt aufprallt und in tausend Teile zerfällt. Wie passend.
Es war noch dunkel, als ich den schwach beleuchteten Fußweg entlang ging. Die meisten fuhren um diese Uhrzeit zur Arbeit, oder aber wie ich, zur Schule. Wie ich Montage doch hasste. Ein kalter Windstoß ließ mich frösteln. Ich wickelte meinen langen Wollschal enger um meinen Hals und beschleunigte meine Schritte.
Als ich zehn Minuten später bei der Haltestelle ankam, wurde ich gleich von James empfangen. Er hatte mit einem Mädchen aus der Nachbarklasse geredet. Diese war sichtlich empört, als er sich einfach wegdrehte und sich zu mir stellte.
„Hey Selli!“, sagte er fröhlich und lächelte mich aufmunternd an.
„Heey …“, meine Stimme klang kratzig, wahrscheinlich weil ich so lange nichts mehr gesagt hatte.
„Alles klar bei dir?“
„Ja klar, außer dass das meine letzten sieben Tage hier in Deutschland sind? Alles bestens!“
„Es tut mir leid. Hör mal ich habe mir gedacht, wir könnten mit Ben, Felix, Shane und Juan ins Kino gehen und danach ein Eis essen an deinem letzten Tag. Sozusagen als Abschied.“ Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust, einen ganzen Nachmittag von ihm vollgequatscht zu werden, aber Shane würde ja auch kommen.
„Warum nicht?“, antwortete ich monoton und stieg in den Bus, der bereits angekommen war.
Wie nicht anders zu erwarten, setzte James sich neben mich und quatschte die ganze Fahrt lang auf mich ein.
In den ersten beiden Stunden hatte ich Englisch und was ein Zufall, dass wir gerade das Thema Amerika durchnahmen. Das kann echt alles nicht euer ernst sein, dachte ich mir und ließ mich auf meinem Platz neben Juan sinken. Er lächelt mir mit seinem Grübchen Lächeln zu und dreht sich wieder zur Tafel. Juan war zur Hälfte Italiener. Dementsprechend sah er auch aus. Dunkles gelocktes Haar, nussbraune Augen und einen dunklen Teint. Er gehörte zu der Sorte Jungs, die ein Mädchen nur anlächeln mussten damit sie dahin schmelzten. Bei mir war es natürlich nicht so. Er war nur ein ziemlich guter Freund von mir. Bei dem Gedanken bald ohne ihn leben zu müssen wurde mir ganz flau im Magen.
Der Unterricht begann und die kleine Lehrerin setzte sich mit einem solchen Schwung auf das Lehrerpult, dass die Stifte darauf verdächtig anfingen zu beben. Kein Wunder bei ihrer Körpermasse. Ich konnte diese Lehrerin noch nie ausstehen und schon gar nicht in dem Fach Englisch.
Die nächsten vier Stunden verliefen ganz normal und niemand sprach mich auf den Zeitungsartikel an. Wie gut dass keiner von meinen Mitschülern Zeitung las. Höchstens die, die sich sowieso nicht trauten mich anzusprechen. Während Juan und ich zu unseren Schließfächer gingen, erzählte er mir seine üblichen Geschichten darüber, welche Mädchen er am Wochenende getroffen hatte. Natürlich alle nur Freundschaftlich. Aber sicher.
„…und dann war da dieses blonde Mädchen und ich dachte nur so: Nein bleib wo du bist. Ich meine Blond, Selena. Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?“, brabbelte Juan.
„Natürlich Jossip.“, gab ich zurück und schaute ihn an.
„Ich hasse es wenn du mich so nennst Sel das weißt du doch. So viel rede ich doch gar nicht.“
Den Spitznamen Jossip hatte Felix ihm am Anfang der fünften Klasse gegeben. Eine Mischung aus Gossip und Juan. Es war eine Idee eines Kindes und eigentlich schon vor langer Zeit beerdigt worden, aber wenn Juan mal zu viel redete, benutzte ich ihn trotzdem ganz gerne.
„Schon gut Juan. Ich habe gehört wir wollen mit den anderen ins Kino?“, fragte ich ihn während ich meine Schulsachen im Schließfach verstaute.
„Jap, ganz genau. Da gibt es so einen tollen neuen Film. Das eine Mädchen hat mir von ihm erzählt. Er soll ganz witzig sein. Action, Humor ein bisschen Liebe. Perfekte Mischung also…“, begann er wieder.
„Jossip!“, flötete Felix, der lässig auf uns zu geschlendert kam.
Wir beide lachten, als Juan sein Gesicht verärgert verzog.
Felix ist eine echt eigene Person. Eigentlich überhaupt nicht der Typ beliebt zu sein, das war er aber. Und wie! Er ist einer von der Sorte Gamer, die aber gleichzeitig nur deswegen sexy sind. Naja wenn mein sein Aussehen nicht dazu zählt. Er hat blondes Haar, das er mit einer Menge Haarspray von hinten nach vorne holt. Dementsprechend hängen ihm die spitzen Zacken seiner Haare auch meistens bis über die markanten Augenbrauen. Seine Augen sind grasgrün und mandelförmig. Sein Kleidungstil ist lässig. Weite Hosen, lange T-Shirts und so weiter.
„Na was geht ihr beiden? Bereitet ihr euch schon aufs Kino vor?“, Felix strich sich die Haare aus den Augen und knuffte mir einmal in die Seite, sodass ich kurz auf quiekte. Hatte ich schon erwähnt dass er manchmal echt hyperaktiv war? Dauernd sprang er um einen herum und er redete so schnell dass ich manchmal meinen Kopf nach einer Unterhaltung mit ihm komplett renovieren musste. SO ein Hacker.
Er gab Juan eine Faust und reihte sich dann bei uns ein. Auf dem Weg zur Mensa erzählte ich ihnen wann genau und wohin ich umziehen würde. Auch wenn James ihnen wahrscheinlich schon alles erzählt hatte, wollte ich nochmal auf Nummer sicher gehen.
„Amerika.“, murmelte Juan und er klang dabei fast wie das Mäusemädchen aus Bernhard und Bianka. Ich musste schmunzeln.
„Alter, wäre es nicht so verdammt weit weg, würde ich sagen dass das das geilste ist was dir passieren kann. Die vereinigten Staaten sind schon extrem.“, stieß Felix mit seiner seltsamen Art zu Reden aus. Warum hatte ich bloß keine Normalen Freunde? Ach ja. Weil Normal langweilig ist.
Die anderen saßen schon an unserem Stammtisch in der Cafeteria, als wir drei zu ihnen stießen. Ben saß wie immer still neben James und machte seine Hausaufgaben für die nächste Stunde. Der dunkelhaarige Schönling neben ihm hatte nur die weiße Tischplatte vor sich, die er auch sehr interessiert anstarrte und Lynn saß mitten auf dem Tisch und unterhielt sich mit Sara, die vor ihr auf der Bank hockte. Wenn Juan und Felix noch nicht am Tisch saßen, hatte unsere Gruppe immer die Lautstärke einer Bibliothek.
„Hey Leute!“, rief ich und beugte mich quer über den Tisch um Lynn zu umarmen.
„Oh, hey Sell. Man, das ist echt so mega uncool dass du weg ziehst.“, sagte sie viel zu laut und drückte mich seufzend an sich.
„Ich weiß, ich hasse es auch euch hier alleine zu lassen.“, murmelte ich und setzte mich neben Ben auf die Bank.
„Na, was ist es denn heute Ben? Mathe? Oder Erdkunde?“, fragte ich ihn stichelnd.
„Deutsch. Drei Seiten Aufsatz. Schaff es nicht.“, zum krönenden Abschluss seiner Roboterstimme gab er ein zischendes Geräusch von sich und ließ seinen Kopf auf die weiße Tischplatte fallen.
Ruckartig erhob er seinen Kopf wieder und grinste mich breit an.
„Hey Selli-Maus.“, er drückte mich ganz fest und widmete sich danach wieder seinem Aufsatz.
„Hättest du nicht immer nur deinen Sport im Kopf, würdest du deine Aufsätze auch mal zu Hause schaffen und dich mit deiner Ex-Freundin unterhalten.“, stichelte ich, was mir einen Knuff seinerseits einbrachte.
Vor zwei Jahren waren wir mal ein paar. Ich und der Kapitän unserer Schulfußballmannschaft. Es war eine tolle Zeit mit ihm, aber schon bald war einfach die Luft raus. Erstaunlicherweise konnten wir trotzdem noch gut miteinander umgehen. Im Gegensatz zu Sara. Er hatte sich vor zwei Monaten von ihr getrennt und sie würdigte ihn immer noch keines Blickes. Ich kann sie so und so nicht ausstehen. Die größte Zicke die ich kannte und trotzdem mochten sie alle.
Aber Ben, der ist neben seiner Liebenswürdigen Art, einfach ein Player, der Freundinnen so lange braucht wie seine Unterhosen. Bei mir war es eine Ausnahme. Ganze sechs Monate hatte sie gehalten. Für seine Verhältnisse war das lang.
Ben trug sein hellbraunes Haar nach oben gegelt und an den Seiten kurz geschoren. Seine Augen sind grau-blau und sein Körper durchtrainiert.
James lächelte mir über den Tisch hinweg zu und widmete sich dann wieder ganz konzentriert der weißen Platte.
„Hallo!“, hörte ich eine mir vertraute Stimme rufen. Luzy, Johanna und Lea kamen auf uns zu stolziert und ließen sich fast synchron auf die Bank mir gegenüber sitzen. Felix schwang sich neben mich und Juan schloss sich ihm an.
„So sind wir jetzt komplett?“, fragte ich in die Runde. Ich schaute die gerade neu zugekommenen an und lächelte ihnen zu. Ich mochte diese drei Mädchen, aber meine besten Freundinnen würden sie wohl nie werden. Luzy hatte feuerrotes Kinnlanges Haar und hatte dementsprechendes Temperament. Johanna trug ihr braunes Haar meistens in einem Dutt. Mit ihren großen Kulleraugen und ihrem rosa Herz Mund hatte sie sich den Spitznamen Püppchen verdient und Lea war einfach eine Klasse für sich. Ihre Mutter war Asiatin und von ihr hatte sie auch das lange schwarze Haar. Ihre Augen waren schmal und mandelförmig und ihre Haut blass gelblich. Eine pure Schönheit.
Sie lächelten zurück.
„Selena hat euch anderen etwas mitzuteilen.“, James erhob seine Stimme und er klang mal wieder wie der größte Wichtigtuer der Welt.
Ich erzählte von meinem Umzug und von dem geplanten Kinobesuch. Tatsächlich schlossen sich Luzy und Lea an. Johanna hatte einen Termin. Vielleicht war es nur eine Ausrede, weil sie mich einfach nicht besonders leiden konnte.
Lynn und ich schlenderten über den Kies unserer Auffahrt.
„Es ist toll dass wir nochmal was zusammen machen. In letzter Zeit hattest du so wenig Zeit.“
„Ja, das tut mir auch echt leid. Aber jetzt bist du ja hier. Wir machen uns einen tollen Tag im Poolkeller und danach schauen wir die neuen Folgen Gossipgirl.“, tröstete ich sie und nahm ihre kleine Hand in meine.
Meine beste Freundin war bestimmt ein Kopf kleiner als ich und hatte hellblonde, gelockte Haare.
Äußerlich waren wir wie Tag und Nacht aber innen drin schon fast zu gleich.
Als ich meinen Vater an dem Fenster stehen sah, stellte sich die Angst ein. Wie er wohl reagieren wird, wenn ich einfach jemanden mit nach Hause brachte? Ich drehte den Schlüssel im Schloss herum und betrat mit Lynn zusammen den Flur.
„Mum. Dad. Ich habe Lynn mitgebracht wir gehen zum Pool.“, rief ich bevor sie etwas daran aussetzen konnten zog ich Lynn schon die Treppe zum Keller hinunter.
Unser Haus war für mich schon immer ein Traum. Welches sechzehn jährige Mädchen kann schon sagen dass es ein Haus mit Wellness-Keller und Reithalle hat. Draußen gab es natürlich auch noch ein Schwimmbecken, aber dafür war es im Herbst zu kalt.
„Hattet ihr wieder Stress?“, fragte Lynn mich, als ich leicht gereizt die Kellertür öffnete.
„Ja wegen dem Umzug, ist aber nicht so wichtig.“, grummelte ich und tastete links neben mir nach dem Lichtschalter.
Ich starrte meine Freunde ungläubig an, die sich alle vor dem Pool versammelt hatten und rote Plastikbecher und Amerikaflaggen hochhielten.
„Was zum?“, stammelte ich.
„Überraschung!“, stimmten sie in einem Chor an und grinsten mich an.
Alle waren da: Ben, Felix, Juan, James, Luzy, Johanna, Lea und selbst Sara stand dabei mit einem gezwungenen Lächeln.
„Ihr seit doch verrückt Leute!“, stieß ich hervor und hielt mir vor Erstaunen die Hände vor den Mund.
Gerade als ich dachte es könnte nicht mehr besser werden, kam Shane hinter meinen Freunden hervor und rannte mit seinem breiten, strahlenden Lächeln auf mich zu.
Seine starken Arme schlossen sich um meine Taille und ich vergrub mein Gesicht in seinem hellbraunen Haar, das wie immer nach Vanille roch.
„Shane! Oh ich dachte du bist die ganze Woche auf diesem Seminar?“, jauchzte ich und stieß ihn von mir weg um meinen besten Freund noch besser zu sehen. Der Surfer-boy mit den strahlend blauen Augen.
„Wie konnte ich denn eine ganze Woche verschwenden, wenn wir nur noch vierzehn verdammte Tage zusammen haben?“
Von hinten schlangen sich auf einmal zwei Arme um mich, die mich auf eine breite Schulter warfen und mit mir direkt auf den Pool zuliefen.
„Halt! Wer immer du bist lass…“ Mein Schrei wurde von dem kühlen Wasser unterbrochen, das auf mich einströmte. Doch trotzdem hielt mich die Person immer noch fest. Als wir auftauchten musste ich lachend feststellen, dass die anderen Jungs es uns gleich gemacht hatten und mitsamt Kleidung zu uns gesprungen waren.
Ich starrte ungläubig in das schöne Gesicht von James.
„Du?“, stieß ich empört aus. „Du wagst es mich in meiner Kleidung in den Pool zu werfen?“
Ich fing an zu lachen und befreite mich aus der festen Umklammerung.
„Auf zwei geile Wochen voller Spaß mit unserer Selena!“, grölte Felix, der anscheinend schon einige dieser roten Becher geleert hatte.
Als ich am Kino ankam, schlenderte schon Shane auf mich zu. Er trug ein hellblaues T-Shirt und graue Jeans. Wie man es schon von ihm gewohnt war, hing ein Lederband mit einem blauen Saphir um seinen Hals.
„Na Selena, alles klar?“ Shane war der einzige, der mich mit meinem vollen Namen ansprach. Wir umarmten uns zur Begrüßung. Sein Haar roch wie immer nach Vanille-Shampoo. Es wird der letzte Tag sein, den ich mit ihm verbringen werde.
„Ja klar. Sind die anderen schon da?“ Er schaute sich suchend um, entdeckte aber niemanden.
„Wie es aussieht nicht, es sei denn du meinst die da“, antwortete er gespielt ernst und deutete auf eine Gruppe mit zwölf Jährigen Mädchen, die sich anscheinend schon für 20 hielten, so wie sie sich stylten. Ich musste lachen.
„Idiot!“, gab ich mit einem Lachen zurück. Shane grinste nur und spielte an seinem Lippen Piercing herum. Seine Haut hatte von Natur aus einen gebräunten Teint. Er kam aus Kalifornien. Da schnappte er sich meine Hand und sagte: „Komm, wir gehen schon mal rein.“
Als wir die Glastür zum Kino aufstießen, kam uns schon der Geruch von Popcorn entgegen. Ich atmete ihn genüsslich ein und schloss kurz die Augen. Herrlich.
Die Schlangen vor dem Tresen waren ziemlich lang und weil wir keine Lust hatten, so lange zu stehen, setzten wir uns nebenan in die kleine Bar.
„Meinst du, die anderen sehen uns hier?“, fragte ich. Er guckte sich um und sah dann mich an.
„Keine Ahnung. Ist doch egal, die werden uns schon finden oder?“ Und so zog er mich zu einem Tisch am Fenster.
„Wer kommt eigentlich alles? Du erzählst dauernd etwas von den ‚anderen'. Ich dachte nur James kommt noch?“, fragte Shane mich und sah sich nebenbei die Getränkekarte an. Ich beugte mich zu einem Nachbartisch und schnappte mir ebenfalls eine Karte.
„Soviel ich weiß, kommen noch Luzy, Lea, Lynn, Felix, Ben und Juan … James meinte, es soll ein Abschied für mich sein.“
Mein Blick wanderte durch die kleine Bar. Am Tresen saßen einige Männer, die alleine ihr Bier tranken. Ein Tisch in der Ecke war voll besetzt mit dreizehnjährigen Jungs, die es toll fanden sich mit Pommes und Chips zu bewerfen, weswegen die Kellnerin fast die Beherrschung verlor. Ich mochte es, Leute zu beobachten. Es war besser als Fernsehen.
Ich sah wieder Shane an. Dieser saß zurück gelehnt und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf seinem Stuhl. Seine kühlen blauen Augen starrten ins Leere.
„Was ist denn?“, fragte ich leicht gereizt, weil ich es hasste, wenn er sich so seltsam benahm. „Shane?!“ Ich wedelte so schnell mit der Hand vor seinem Gesicht rum, dass sein Haar durch den verursachten Wind zitterte. Da gab es nur noch eine Möglichkeit, ihn aus seinen Tagträumen zu lösen.
Langsam beugte ich mich über den Tisch und flüsterte: „Da ist Diana …“
Seine Augen weiten sich. Erschrocken wich ich zurück, denn ich merkte wie dicht ich seinem Gesicht war.
„Wo?“ Er guckte sich panisch um.
„Versteck mich!“, zischte er dann und verkrümelte sich unter dem Tisch. Die Leute am Nachbartisch schauten mit verwunderten Mienen zu uns herüber und tuschelten. Dieser Trick klappte bei ihm immer. Diana war Shanes letzte Freundin, sie hatte nie kapiert, dass er Schluss gemacht hatte.
Ich lachte: „Komm da heraus Shane, das war nur ein Scherz.“
„Was ...?“, begann er, ohne wieder unter dem Tisch hervorzukommen.
Doch ich wollte mir noch einen Spaß erlauben und warnte: „Oh nein da ist sie, jetzt im Ernst!“
Vor Schreck riss er den Kopf hoch. Ein dumpfer Schlag und ein „Verdammt!“ sagten mir: Er hatte sich den Kopf gestoßen. Ich konnte mir es kaum noch verkneifen, laut los zu lachen. Er war so leichtgläubig. „Nicht lustig Selena!“, grummelte Shane und krabbelte unter dem Tisch hervor.
„Tut mir leid, du hast nur mal wieder diese psycho-Phase gehabt in der du mich ignorierst und in die Gegend starrst, du weißt dass ich das hasse.“ Ich reichte ihm meine Hand und zog ihn zurück auf die Beine. „Und doch, das war lustig.“
Als wir wieder saßen, bestellten wir uns eine Cola und sagten eine Weile nichts.
Doch da kamen auch schon die anderen. Sie setzten sich zu uns an den Tisch, nachdem wir uns begrüßt hatten.
„So, jetzt erzähl uns doch mal genau wann es losgeht. Würd‘ mich echt mal interessieren.“, sagte Felix und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch.
„Wir fahren heute Abend um neunzehn Uhr zu Hause los und unser Flieger startet um zweiundzwanzig Uhr.“, antwortete ich monoton und strich mir die Haare aus dem Gesicht. „Man ich werde euch so vermissen.“, seufzte ich. Betretenes Schweigen breitete sich in der Gruppe aus.
„Um deine Stimme etwas aufzubessern, habe ich ausnahmsweise mal eine gute Nachricht für dich Selena.“, gab Shane schließlich hinzu.
„Aha. Und die wäre?“ Was konnte mich denn jetzt noch aufheitern?
„Ich werde zurück in mein Heimatland gehen. Allerdings nicht nach Kalifornien, sondern nach Selavide.“ Er grinste mich breit an und seine Augen glänzten dabei wie zwei Saphire. Mir blieb der Mund offen stehen. Fassungslos schaute ich mich um. Doch die anderen guckten mindestens genauso blöde wie ich. Mein Blick blieb bei James kleben. Dieser starrte Shane so wütend und nachdenklich an, dass es mich schauderte.
„Das ist einfach Wahnsinn!“, quiekte ich schließlich und drückte ihn, so gut es mir über den Tisch hinweg gelang.
„Verarsche?“, stieß Felix hervor. Die anderen saßen nur stumm da. Selbst Juan war mal ruhig.
Für die anderen würde es keinen Unterschied machen ob Shane mit fuhr oder nicht. Sie hatten nichts mit ihm zu tun und kannten ihn bis zu der Überraschungsparty überhaupt nicht, da er mit neunzehn Jahren nicht mehr zur Schule ging sondern arbeitete. Doch in jedem dieser Blicke spürte ich etwas Neid.
Nach dem Film trafen wir uns alle vor dem Kinoeingang.
Kurz darauf kamen wir bei mir zu Hause an. Als ich aus dem Auto stieg, sah ich wie James etwas weiter entfernt von unserem Grundstück an einem Baum lehnte.
„Hey James, was machst du hier?“, rief ich. War er uns gefolgt? Als er nicht antwortete und nur weiter zu mir starrte, beschloss ich einfach Shane zu folgen, der schon vor der Haustür stand.
Da tippte mir jemand auf die Schulter.
„Bevor du gehst, solltest du das hier haben“, James stand direkt hinter mir und hielt mir eine kleine Schachtel hin. Wie konnte er so schnell zu mir kommen? Und warum hatte ich ihn nicht herlaufen hören können? „Mach es erst im Flugzeug auf, okay?”
Ich nickte stumm und nahm das kleine Kästchen an mich.
Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er vor meinen Augen verschwand. Geschockt schaute ich mich um, aber ich war anscheinend die Einzige die das hier eben mitbekommen hatte, denn alle anderen beschäftigten sich mit Möbelpacken und aufräumen. Shane legte eine Hand auf meinen Rücken.
„Selena!“, brüllte Shane auf einmal und wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht rum. „Warum schreist du denn so?“, fragte ich irritiert und starrte ihn an. „Du hattest nur gerade diese Psycho-Phase in der du mich ignorierst und in die leere starrst.“, wiederholte Shane meine Worte von vorhin und grinste mich schief an. Ich musterte ihn verblüfft. „Wirklich? Wie schräg. „
Wir betraten den kleinen Flur und gingen in unser großes helles Wohnzimmer. Doch hier sah es nicht mehr aus wie früher. Die vielen Bilder, die meine Mum gemalt hatte, hingen nicht mehr an den Wänden und ließen das Zimmer kahl und ungemütlich wirken. Die geschriebenen Romane von meinem Dad standen auch nicht mehr geordnet im Regal.
In der Mitte des Wohnzimmers stand unser orangfarbenes Ecksofa, eingehüllt in eine große Plastikplane, so wie alle anderen Möbel in diesem Raum auch. Und egal in welches Zimmer wir gingen, überall war es das gleiche.
„Na deine Eltern scheinen ja schon viel getan zu haben während du dich amüsiert hast.“, stellte Shane überflüssigerweise fest.
„Mein Zimmer!“, rief ich aus und ich rannte dicht gefolgt von Shane die Treppe hinauf. Als ich in mein Zimmer stürzte, stellte ich fest dass all meine Sachen in beschriftete Kartons gepackt und von Umzugshelfern hinaus getragen wurden. Gerade versuchte ein kräftiger Mann mit grauem Schnurrbart, meine signierte Gitarre in einen Karton zu quetschen.
„Hey, hey, hey! Passen sie doch auf!“, rief ich und rannte auf ihn zu.
„Pfoten weg, ich mach das!“, bellte ich und riss ihm die Gitarre aus der Hand. Er wich erschrocken zur Seite.
„Schon gut junge Dame, ich tue nur meine Pflicht.“
Erschöpft wischte sich der Arbeiter mit einem Lappen die schweißnasse Stirn ab. Den armen hatte ich total eingeschüchtert mit meinem Gekeife. Naja sollte mir egal sein, den sehe ich eh nie wieder.
Nachdem ich alle meine ‚Lieblinge‘ in ihre Gitarrenkoffer gelegt hatte, rief ich Shane zu mir.
„Shane, komm und hilf mir!“, befahl ich. „Wir müssen die hier in ins Auto bringen. Aber bitte ohne Kratzer!“
Er packte einen Koffer und ließ ihn beinahe fallen, als er gegen einen anderen Karton stieß. „Vorsichtig!“, mahnte ich gestresst und freute mich schon auf die Kratzer, wenn ich sie in Amerika auspackte.
„Ist gut, Chefin“, gab er salutierend zurück. Wir mussten beide lachen, was für verwunderte Blicke bei den Arbeitern sorgte.
„Liebling, lass das doch die Männer machen. Du musst nicht mithelfen.“ Meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer und schaute mir zu, wie ich, schwankend unter dem Gewicht der Gitarren, die Treppe hinunter ging.
„Ist gut, Mum“, stieß ich atemlos hervor und stellte die Koffer am Ende der Treppe ab. Hinter mir kam jetzt auch Shane angeschlendert. Das Gewicht der Gitarren machte ihm anscheinend nicht viel aus, denn er blieb mit Koffern beladen neben mir stehen und nickte meiner Mum zu.
„Guten Tag, Frau Seller.“
Meine Mutter schaute ihn lieb an und sagte: „Du kannst mich ruhig Samantha nennen.“
Sie atmete einmal tief aus. „So, beeilt euch, wir müssen in einer Stunde am Flughafen sein. Also rein ins Auto mit den Gitarren und los geht’s.“
Wieder schwer beladen gingen wir zur Tür. Als ich an der Türschwelle ankam, drehte ich mich noch einmal um und schaute in den kleinen Flur. Jedes dieser Zimmer hatte seine eigenen Geschichten.
Früher, als ganz viel Schnee lag und ich von der Schule nach Hause kam, wollte ich schnell meine nassen Sachen loswerden. Ich schmiss alles vor die große Heizung im Flur und verkrümelte mich zum Lesen in mein Zimmer. Ich war nie ein Kind gewesen, dass sofort nach draußen rannte und Schneemänner baute. Lieber setzte ich mich in mein Zimmer, sperrte mit den Rollos den Blick auf Schnee aus und wartete bis Sommer war.
„Komm Selena, wir müssen los …“ Shane legte eine Hand auf meine Schulter.
Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und folgte ihm auf den Hof. Wir luden alle Gitarren, bis auf eine die ich mit ins Flugzeug nehmen wollte, in den Umzugswagen und gingen dann herüber zum Auto, in dem meine Eltern schon warteten.
Später saßen wir in einem Café am Flughafen und tranken Kaffee. Bis unser Flieger ankam, hatten wir mindestens noch eine Stunde Zeit.
„Und, freust du dich schon zurück nach Amerika zu kommen, Shane“, fragte meine Mutter und nahm einen Schluck Kaffee.. „Auf jeden Fall, Samantha. Ich war so lange nicht mehr in Amerika. Und keine Sorge ich suche mir dort sofort eine Wohnung“, plapperte Shane.
„Ach, ist schon gut. Solange du noch nichts gefunden, hast kannst du ja auch bei uns wohnen. Das Haus ist groß genug.“
„Wir haben also schon ein Haus?“, fragte ich verwundert.
„Aber klar doch.“
„Und wann habt ihr euch das angeguckt?“
„Vor kurzem im Internet. Und jetzt ist Schluss mit der Fragerei“, grummelt mein Vater.
Doch eins wollte ich noch wissen.
„Wo werde ich zur Schule gehen?“
„In Dorf gibt es eine Schule, genaueres sehen wir dann schon. Solange die Herbstferien noch anhalten haben wir ja noch etwas Zeit.“, antwortete mein Vater und beendete somit das Thema.
Etwa sechzig Minuten später gingen wir dann endlich durch das Gate in das Flugzeug. Shane und ich setzten uns auf die Plätze in der Mitte. Dort konnte man zwar nicht so gut hinaus sehen, da man direkt am Flügel saß, aber auf die Platzwahl hatten meine Eltern in der Eile wohl nicht mehr achten können.
Weil meine Mutter es angeblich nur ganz vorne im Flugzeug aushielt, saßen wir getrennt. Das machte mir aber nichts aus, ganz im Gegenteil, ich war ganz froh sie über den langen Flug los zu werden.
Als dann der Flieger startete, wurde mir der Ernst der Lage bewusst. Ich musste alles zurück lassen. Und wenn ich auf Selavide ankam, musste ich mir ein komplett neues Leben aufbauen. Noch etwas wurde mir bewusst. Dieses Flugzeug war bis auf zehn andere Leute vollkommen leer. Selavide war wohl kein beliebtes Urlaubsziel.
Nach dem Start der Maschine öffnete ich die kleine Schachtel von James und darin lag eine zierliche, silberne Kette mit einem funkelnden Rubin als Anhänger. Fasziniert starrte ich auf das edle Schmuckstück. Das musste ein vermögen gekostet haben! Ich legte mir die Kette um, setzte meine Kopfhörer auf und dröhnte mich mit Billie Joes Stimme voll, der "Don´t wanna be an American Idiot ...“ sang.
„Wie wahr", dachte ich und schloss meine Augen.
Ich musste wohl eingeschlafen sein sobald wir in der Luft waren, denn als ich meine Augen öffnete, war es draußen schon Dunkel. Der Mond glühte am nachtschwarzen Himmel. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, denn das Flugzeug war nicht nur dunkel sondern auch unnatürlich still.
Blind tastete ich nach der kleinen Lampe über meinem Sitz. Meine Finger glitten über die Knöpfe für Klimaanlage, Radio und ... ja, das war der Lichtschalter. Ich knipste ihn an, doch nichts geschah.
"Komm schon ...", murmelte ich genervt.
Ich beschloss, es bei einem anderen Licht zu probieren, also lehnte ich mich zu Shanes Sitz herüber und tastete im Dunkeln nach dem Schalter. Mit einem Klick ging das kleine Lämpchen an und leuchtete gerade einmal so stark, dass ich bis zu den nächsten drei Sitzreihen blicken konnte, die alle leer waren. Nur Shane schlummerte seelenruhig neben mir. Ich versuchte ihn zu wecken, doch er rührte sich nicht. Auf unsicheren Beinen tappte ich im Halbdunkel ein paar Sitzreihen nach vorne und schaltete auch dort ein Lämpchen an. Das tat ich bis ich vorne ankam, wo eigentlich meine Eltern sitzen sollten, was sie nicht taten. Was war hier los?! Hinter mir hörte ich Schritte, sie kamen näher.
„Na sieh mal einer an, wen haben wir denn da?“, fragte eine hohe Stimme hinter mir. „Hast du dich endlich entschlossen zurück zu kehren? Wir haben dich …“ Ein tiefes Knurren drang an mein Ohr. „… vermisst!“
Die Person stand nun direkt vor mir. Ich erkannte nur vage eine zierliche junge Frau. Sie hatte langes blutrotes Haar und leuchtend orangefarbene Augen. Um ihren schlanken Körper schmiegte sich ein enges rotes Lederkleid, am Saum besetzt mit Federn. Ihre schwarzen Stiefel waren bis hoch zu den Knien geschnürt. Sie kam noch einen Schritt auf mich zu.
Mit ihren spitzen Nägeln fuhr sie über mein Schlüsselbein . Als sie meine Kette entdeckte, erstarrte sie.
„Woher hast du die?!“, keuchte das seltsame Mädchen.
Ich schwieg, verängstigt von der Situation. Ich schaute zu Boden. Mit einem Ruck riss sie mein Kinn hoch und zwang mich, ihr hageres Gesicht anzusehen. Ich war starr vor Angst. „Woher?“, brüllte sie dieses Mal zornig.
Sie holte aus und schlug mir die flache Hand gegen die Wange. Doch bevor ich den Schmerz überhaupt spüren konnte, schleuderte mich die ungewöhnlich starke Frau mit so viel Wucht gegen die gegenüberliegende Sitzreihe, dass ich um Luft ringen musste.
Bevor ich es schaffte, mich wieder zu beruhigen, stand sie schon wieder vor mir, riss mich am Arm hinter ihr her und zur Flugzeugtür.
„Sag mir, woher du diese Kette hast oder ich werfe dich aus diesem gottverdammten Flugzeug!“
Ich begann zu zittern, konnte nicht sprechen und wollte es auch nicht.
„Also gut …“, sie schubste mich beiseite gegen den Sitz.
Ich überlegte gerade, wie ich so schnell wie möglich von hier weg kam, (doch) da fiel mir ein dass wir in ca. 12000 Metern Höhe waren.
„Versuch es gar nicht erst, hier weg zu kommen, denn gleich bist du eh unten.“ Sie packte die Tür und riss sie mit bloßen Händen aus der Wand. Der Wind schlug ihre Haare umher. Die umliegenden Sachen wurden aus der Tür gesogen und ich musste mich mit aller Kraft am Sitz festklammern, um nicht hinterher zu fliegen. Doch da packte mich die Frau am Handgelenk und zog mich zur Tür.
„Lass mich los!“ Ich hatte meine Stimme wieder gefunden.
„Ach, Madame kann ja doch reden!“ Sie grinste mich hämisch an. Ich versuchte verzweifelt, nach ihr zu treten, doch sie hielt mich fest und schob mich vorwärts auf die Tür zu. Der Wind peitschte mir meine Haare ins Gesicht. Ich schrie um Hilfe, wusste jedoch, dass mich niemand hören würde.
„Lass mich los!“, versuchte ich noch einmal, doch es war vergeblich. Niemand würde mich hören, ich würde aus diesem Flugzeug geschubst werden und in die Tiefe stürzen.
Ob ich wohl mit bekommen würde, wie ich vom tiefen Meer verschluckt werde? Wie mir die Luft weg bleiben würde und sich meine Lungen mit Wasser füllten? Oder hätte ich Glück und ein Felsen im Meer brachte es schnell zu Ende?
„So, und jetzt sagst du mir die Wahrheit oder dein Grab wird die Weite des Ozeans sein!“, keifte sie und schüttelte mich so heftig, dass ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen. Ich schwieg, mein Bauchgefühl sagte mir dass ich ihr nichts von James erzählen durfte.
„Also gut, dann viel Spaß beim Baden gehen! Der Eintritt ist kostenlos!“ Mit diesen Worten ließ sie mein Handgelenk los. Mit der flachen Hand schlug sie mir kräftig zwischen meine Schulterblätter und so fiel ich hinaus.
„Hey Selena, wir sind gleich da!“ Shane rüttelte an meiner Schulter.
Mühsam öffnete ich meine Augen. Es war immer noch stockdunkel draußen, doch im Flugzeug war es hell beleuchtet.
„Meine Damen und Herren, wir werden in Kürze an der Ost-Küste von Selavide landen. Bitte legen sie ihre Sicherheitsgurte an. Ladys and Gentlemen …“, hörte ich eine Stewardess durch ein Mikrofon sagen. Ich streckte mich in meinem Sitz und schaute ihn müde an.
„Wie lange habe ich denn geschlafen?“. fragte ich. Shane lächelte mich an. „Den ganzen Flug über, so ungefähr elf Stunden. Ich frage mich wie man so lange schlafen kann und das bei dem Lärm hier drinnen. Du hast selbst das Essen verpasst. Ich war kurz davor, dir eine zu klatschen, weil ich dachte, du würdest schon nicht mehr leben.“
Wir mussten beide Lachen. Den seltsamen Traum schob ich einfach beiseite, im Moment gab es Wichtigeres über das ich mir sorgen machte.
Wenig später standen wir schon am Gepäckband des kleinen Flughafens. Der Raum war eng und stickig. Es lag der Geruch von Schweiß und Stress in der Luft. Die wenigen Menschen hier eilten durch das kleine Gebäude. Direkt neben der Gepäckausgabe waren der Check- in Schalter und ein kleiner Kiosk.
Auf den wenigen Bänken saßen Familien, die, genau wie wir auch, schon ewig auf ihr Gepäck warteten. Ein Kind fing an zu brüllen, ein anderes quengelte, dass es Hunger habe, und die dunkelhäutige Mutter war vollkommen überfordert, sie war noch jung.
Als wir endlich unser Gepäck hatten, traten wir durch die große Holztür hinaus.
„Willkommen auf Selavide!“, strahlte meine Mutter. Vor uns war … nichts. Nur Bäume und eine kleine Sandstraße, die leicht hinab führte. Von dieser kleinen Erhebung konnte man Wald sehen und nichts anderes als das. Ich hatte nicht das Gefühl auf einer sonnigen Insel zu sein. Eher in einem dunkelgrünen Sumpf in dem man versank. Ein Hupen unterbrach meine Gedanken. Ein gelber Jeep parkte direkt vor mir. Auf der Tür stand die Aufschrift: Taxi. Die gelbe Farbe und die halb abgesplitterten Buchstaben waren auch die einzige Ähnlichkeit mit einem Taxi. In dem klapprigen Gefährt machten wir uns auf den Weg. Wir fuhren durch Wälder, an Feldern und nur wenigen Häusern vorbei.
Irgendwann bogen wir in einen schmalen Pfad in den Wald hinein. Vor einem großen Eisentor hielt der bärtige Taxifahrer an und stieg aus. Mit einem Surren ging das Tor auf, der Mann stieg zurück ins Auto und wir fuhren ein Stück durch Wald, bis wir schließlich auf eine riesige Lichtung trafen. Mitten auf dieser stand eine riesige alte Villa. Ihr altes Fachwerk war dunkelbraun und die Ziegel beigefarben. Ein kleines Türmchen war fast vollkommen verglast und an einigen Fenstern in der oberen Etage gab es Balkone.
Hinter dem Haus war ein kleiner Stall mit Koppel. Ein schmaler Bach plätscherte einmal über das Grundstück und war nur über eine kleine Holzbrücke zu überqueren.
Wir gingen zu der Haustür. Alle schwiegen, niemand wagte es ein Wort herauszubringen. Die obere Hälfte der Tür bestand aus buntem Glas, das mit Engels Figuren bemalt worden war.
Als wir die große Eingangshalle betraten, stockte mir der Atem. In der Mitte des Raumes, vor einer großen breiten Treppe, stand ein Springbrunnen mit einer Nixe aus Marmor. Sie hielt eine Glasperle in der Hand, aus der klares Wasser sprudelte und in ein schwarzes Becken floss.
„Wow! Das ist der Wahnsinn!“, stieß Shane begeistert hervor.
„Wartet nur, bis ihr das Turmzimmer seht“, rief meine Mutter fröhlich.
Wir stellten unser Gepäck im Flur neben dem großen Garderobenschrank ab und meine Mutter führte uns zu einer kleinen Tür.
Vor uns lag ein kleiner Raum. Der Bach, den wir gerade draußen noch gesehen hatten, ging mitten durch den Raum und floss durch ein flaches Gitter in der Wand wieder zurück in den Garten. Palmen und Sitzmöbel aus geflochtenem Holz standen am kristallklaren Wasser.
Ich schaute zur Decke und entdeckte eine riesige Statue. Sie ähnelte einem schwarzen Panther und bestand aus rissigem Stein. Er hockte auf einem alten Ast, der so an der Decke montiert war, dass man nicht einmal die Schrauben sah. Die Augen glühten, genauso wie die Risse an seinem muskulösen Körper. Das Maul weit aufgerissen und mit drohender Tatze sah er mich an. Seine strahlenden Augen zogen mich in seinen Bann.
Es war schon spät als wir fertig mit der Hausbesichtigung waren.
„Okay das Haus ist ja wirklich schön, aber wo ist denn nun mein Zimmer?“, fragte ich erschöpft und bei dem Gedanken in ein gemütliches Bett zu sinken fielen mir beinahe die Augen zu.
„Eure Zimmer sind oben gleich rechts um die Ecke die ersten beiden Türen.“, erklärte Samantha und deutete auf die breite Treppe hinter der Statue.
„Sehr schön, kommst du Shane?“, ich streckte ihm die Hand entgegen, die er sofort ergriff. Auch ihm sah man die lange Reise an, denn sein langes Haar war zerzaust und unter seinen Augen waren blasse Ringe.
„Unbedingt.“, stöhnte er ermüdet und folgte mir.
„Das hier muss deins sein, ich denke meine Tür ist die da hinten.“, Shane deutete erst auf die Tür vor uns, dann einige Meter entfernt auf eine weitere.
"Ich schau mir dein Zimmer morgen an, okay? Ich muss jetzt wirklich schlafen sonst wirst du damit vorlieb nehmen müssen einen zusammengerollten, schnarchenden Shane vor deiner Tür zu haben.“ Ich lachte und umarmte ihn, bevor ich mein Zimmer durch die dunkelbraune Flügeltür betrat.
Ich betrat einen großen Raum mit Panoramafenstern, die mit rosafarbenen Seidenvorhängen halb bedeckt wurden.
Auf einer kleinen Erhöhung befand sich ein großes Himmelbett mit vielen Kissen und weißen Vorhängen. Dahinter stand ein riesiger Kleiderschrank und ein Spiegel, der vom Boden bis zur Decke reichte. Rechts von der Tür war eine Sitzecke mit einem alten rosafarbenen Sofa. Die Wand dahinter war komplett bedeckt mit einem Bücherregal, in dem hunderte von Büchern standen. Meine Koffer hatte irgendjemand schon neben der Tür platziert.
Auf dem kleinen Mahagonitisch der Sitzecke entdeckte ich einen großen Blumenstrauß. In dem großen Strauß Rosen steckte eine Brief. Ich setzte mich auf das Sofa und betrachtete den Umschlag aus altem verblichenem Papier.
Für Selena stand in schwungvoller Schrift darauf.
Er war mit einem roten Siegel verschlossen. Behutsam öffnete ich ihn und zog einen kleinen Zettel heraus. Das Papier von Umschlag und Brief sah alt aus und die schungvolle Schrift wurde in grüner Tinte geschrieben.
Selena,
Du wirst mich wahrscheinlich nicht kennen. Zumindest nicht mein wahres Ich. Ich schreibe dir aus zwei Gründen. Erst einmal möchte ich dich herzlich willkommen heißen auf Selavide. Alle hier haben sich sehr auf deine Ankunft gefreut. Wenn du dich jetzt fragst wer 'wir' sind kämen wir zu Grund zwei.
Es ist kein Zufall, dass du hier bist, mein Kind. Du musst wissen, dieses Haus ist schon sehr lange im Besitz von deiner Familie. Auch deine Mutter wohnte hier mit deinen Großeltern. Sie war ein sehr hübsches Mädchen mit ihrem schönen schwarzen Haar, das deinem gleicht. Jedenfalls lebte sie auch in genau diesem Zimmer. Mit genau dieser Einrichtung.
Ich schriebe dir diesen Brief um dir eine Geschichte zu vermitteln. Ob sie wahr ist oder nicht, wirst du wohl selber entscheiden müssen.
Deine Mutter war gerne draußen in der Natur, aber in den Wald hatte sie sich nie getraut. Die Mauer war eine Grenze für sie. Doch an einem Tag sah sie einen Schatten im Wald. Nicht etwa ein Reh oder ein Wildschwein. Sondern etwas Menschenähnliches. Ein Flüstern lockte sie immer näher zur Mauer, bis sie sich plötzlich mitten im Wald wieder fand. Die Mauer war verschwunden und um sie herum nur Bäume. Eine Gestalt mit langem hellbraunem Haar kam auf sie zu. Ein Kranz aus Blumen zierte ihren Kopf und an ihrem Rücken flatterten zierliche Schmetterlingsflügel. Sie forderte deine Mutter auf, ihr zu folgen und das tat sie auch. Sie ließ sich tiefer in den Wald hineinschleppen, bis die Bäume kleiner und weniger wurden.
Sie fanden sich auf einer grünen Wiese wieder und vor ihnen lag eine weite Landschaft. Vereinzelt standen kleine Häuser zwischen der hügligen Landschaft. In der Mitte, im Tal, war ein kleines Dorf. Geflügelte Wesen in hübschen Gewändern liefen umher. Trugen Früchte und andere Dinge in ihre Häuser. Gingen spazieren, oder saßen im Park auf dem Boden und plauderten vergnügt. Die kleine Elfe aus dem Wald zeigte ihr all die Vorzüge des kleinen Dorfes. Gutes Essen, schöne Häuser, ungewöhnliche Tiere, fröhliche Leute und nur Freude und viele Feste.
Dann kam die Frage, die deine Mutter schon erwartet hatte. Wo will sie hin. Zurück in ihre Welt oder hier bleiben. In der Welt des positiven, der Kostbarkeiten und der Freude. Wie sie sich entschieden hat, musst du wohl selbst herausfinden.
Und falls du dich fragst, woher ich das alles weiß, ich stand deiner Mutter sehr nahe. Gib Acht auf dich und halte dich vom Wald fern. Vielleicht werde ich dir bald wieder schreiben.
LG Ophira
Wer war diese Ophira und für wen hielt sie sich eigentlich? Warum mischt sich diese Person in mein Leben ein? Ich steckte den Zettel in den Umschlag zurück. Für mich hörte sich das alles nach einer schlecht geschriebenen Geschichte an. Ich beschloss es einfach zu ignorieren und fiel in meinen Kleidern in das breite Himmelbett.
Ein Klopfen an der Tür weckte mich. Ich hatte am Abend die Gardinen nicht mehr zu gezogen und sah nun dass es schon hell war. Vollkommen übermüdet rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und setzte mich im Bett auf. Es klopfte noch einmal. "Mhhm...", grummelte ich und schon ging meine Zimmertür auf. "Morgen Sel... Wow!", Shane stand staunend im Türrahmen und betrachtete mein Zimmer.
"Schickes Zimmer!"
Er trat weiter in den Raum.
"Kommst du mit runter Frühstücken?"
Ich schwang die Beine über die Bettkante und tapste auf Shane zu.
"Klaro ich komm schon."
Wir gingen in das Ess- und Wohnzimmer in dem ein gedekcter Frühstückstisch auf mich wartete. „Warst du das?“, fragte ich erstaunt. Shane nickte sichtlich stolz und bedeutete mich zu setzen.
"Wow Shane! Vielen Dank!", ich umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange.
Ich setzte mich auf einen der rot gepolsterten Stühle.
"Wo sind eigentlich meine Eltern?", fiel mir auf. Ich hatte sie heute noch gar nicht gesehen.
Shane legte jedem ein Brötchen auf den Teller.
"Die sind schon unterwegs. Ich soll dir den Rest des Hofes zeigen. Und wenn wir fertig mit Frühstücken sind" er schaute an mir herab, "und du dich umgezogen hast, habe ich eine Überraschung für dich."
"Eine Überraschung? Da bin ich ja gespannt.", antwortete ich grinsend und aß mein Brötchen.
Ich verließ durch die breite Tür das Haus nachdem ich mich umgezogen hatte und schaute mich um.
"Shane?!", rief ich, doch nirgends jemand zu sehen.
Da entdeckte ich einen Brief im Blumentopf neben dem Eingang. Darauf stand:
Hey Selena ich bin schon mal vorgegangen.
Du musst einfach rechts um das Haus herum, da ist ein angebauter Stall.
Shane
Ich stapfte durch das hohe Gras um das Haus herum. Hier hinten war der Garten noch einmal so groß wie vor der Villa und in der Mitte stand ein kleiner Stall.
Als ich an dem großen Tor an kam, sah ich ihn schon wie er an der Mauer des Stalls lehnte.
"Du Spinner, was wollen wir denn hier?", ich boxte ihm in die Seite. Er lachte.
"Komm schon mit."
Wir betraten den kleinen, dunklen Stall, es roch nach Heu und...Pferd? Das Licht ging an und vor mir waren zwei Pferdeboxen.
"Komm hier herüber.", er stand bei einer der Boxen und winkte mich zu ihm herüber. In der Box stand eine Fuchsstute mit langer gewellter Mähne und glänzendem Fell. Sie war Bildschön.
"Das ist Thaaia, ihr Name bedeutet übersetzt wachsame Gefährtin. Sie gehört dir."
Ungläubig starrte ich die hübsche Stute an.
"Was? Du schenkst mir ein Pferd? Das ist... Wahnsinn!"
Ich sprang ihm um den Hals.
"Heey... ist schon gut. Ich dachte mir dass du es brauchen wirst, nachdem du dein altes zurück lassen musstest. Außerdem kommt man auf dieser Insel weiter, wenn man ein Pferd hat."
Sein Blick war seltsam. Er musterte das Pferd als wäre es ein Goldklumpen auf vier Beinen, den er nicht bekommen konnte.
"Ich lass dich mal mit ihr alleine... ich muss noch was erledigen."
Und damit war Shane auch schon verschwunden. Erledigen? Was musste er denn hier erledigen. Wir wohnten doch erst seit gestern hier.
Thaaia sah mich mit großen Augen an. Mir fiel auf dass sie nicht wie gewöhnlich braune, sondern hellgrüne Augen hatte. Vorsichtig streckte ich meine Hand durch die Gitterstäbe und als ich mit meinen Fingern sanft über ihre Nüstern strich, schnaubte sie leise auf. Ihr Kopf stupste mir gegen die Hand. Also zog ich die Gittertür beiseite und betrat Thaaias Box.
Ihr Kopf schmiegte sich gegen mich und sie schnaufte mich wieder einmal an.
"Hey, du bist ja so kuschelig.", ich musste Lächeln.
Noch nie hatte ich ein so hübsches und zutrauliches Pferd gesehen.
„Na komm wir gehen mal raus, hier ist es viel zu dunkel und kalt.“
Ich holte das Halfter und den Strick von einem der Haken. Da entdeckte ich einen Sattel und Zaumzeug. Warum nicht gleich reiten gehen?
Ich holte Thaaia aus der Box, putzte ihr seidiges Fell und sattelte sie. Als ich die Trense holte, fiel mir auf, dass sie gar kein Gebiss hatte. Ich würde wohl Vater bitten mir ein neues zu kaufen, sobald er wieder hier war. Trotzdem zäumte ich sie auf und führte sie aus dem Stall.
In meinen engen Jeans war es erst einmal schwer überhaupt auf das Pferd zu kommen, aber nach ein paar Versuchen bekam ich es dann doch hin. Ich wollte zuerst nur im Schritt reiten. Mit einem Schnalzen gab ich ihr das Zeichen zu laufen. Das Gefühl wieder im Sattel zu sitezn erinnerte mich an mein Pferd das ich in Hamburg hatte. Ein schwarzer Araber, der Mustang hieß. Es war mein allererstes Pferd gewesen und es tat weh nicht zu wissen wo er nun war.
Irgendwann wurden die sanft wiegenden Schritte von Thaaia immer schneller. Bis sie schließlich zu traben begann.
Ich versuchte sie zu bremsen doch ich bekam es nicht hin. Thaaia wurde schneller und schneller. Sie galoppierte direkt auf die Mauer zu und...
Stille...
Die Zeit stand still...
Thaaia stand mitten im Wald und ich oben drauf.
Die Mauer hatten wir schon lange hinter uns gelassen.
Doch es hatte sich etwas verändert.
Mein Sattel war verschwunden und stattdessen lag eine weiße Decke auf ihrem Rücken. Das Zaumzeug war mit Efeu geschmückt und in der Mähne von Thaaia steckten Lilien.
Da hörte ich ein knistern im Gebüsch
"Hallo? Ist da jemand?", rief ich vorsichtig.
Jemand kam aus dem Gebüsch. Ich erkannte den groben Umriss eines muskulösen Jungen.
"Selena?", die Gestalt trat aus dem Schatten.
Er trug ein grünes, zerfetztes Muskelshirt, das im Ausschnitt mit einem Lederband verschnürt war. Seine braune Hose reicht ihm nur bis zu den Waden und er trug keine Schuhe. Seine braun-blonden Haare waren hinten kurz und vorne reichten zwei Strähnen bis unter sein Kinn. Er hatte volle Lippen, grüne Strahlende Augen, lange, spitze Ohren und eine leicht gebräunte Haut.
"Du kennst meinen Namen?", fragte ich erschrocken.
"Ob ich deinen Namen kenne? Ich glaube den kennt so ziemlich jeder hier."
"Wie bitte? Wer bist du und wo bin ich hier überhaupt?"
Er kam näher auf mich zu.
"Mein Name ist Yavaan, bedeutet die Verbindung zum Wald, wenn jemand unser Gebiet betritt werde ich hergeschickt. Und du bist in unserem Gebiet."
"Euer Gebiet? Wer seid 'Ihr'?"
Er schaute mich komisch an. Das ganze hier erinnerte mich so sehr an die Geschichte von Ophira, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. Plötzlich war mir kalt, trotz der Sonne die warm duch das Grün der Bäume strahlte.
„Weißt du... Es gibt vieles was du nicht über dich und eure Welt weißt. Folge mir dann erklär ich dir alles." Ich musste ihm vertrauen, ich wusste nicht warum.
"Und mein Pferd?", ich deutete auf Thaaia.
"Thaaia, ist eigentlich MEIN Pferd. Aber zu deiner Frage, sie kann gerne mit kommen, sie wurde schon lange nicht mehr bei uns gesehen."
Was war hier eigentlich los?! Yavaan kam auf mich und mein Pferd zu.
"Rück nach hinten wir reiten zusammen auf ihr."
Ich setzte mich widerwillig ein Stück weiter nach hinten und der muskulöse Junge schwang sich elegant aufs Pferd.
"Halt dich gut fest!", rief er herausfordernd.
Zögernd legte ich meine Hände auf seine Hüfte. Mit einem genervten Seufzer packte er meine Handgelenke und schlang meine Arme um seinen Bauch. Mir blieb nichts anderes übrig als meinen Kopf auf seinen Rücken zu legen. Meine Hände waren auf seinem muskulösen Bauch gefaltet.
"Schon besser, ich habe keine große Lust dich nachher aus dem Gebüsch zu fischen..."
Mit einem lautem Heeej! setzte Thaaia sich in Bewegung und galoppierte durch den dicht bewachsenen Wald. Es ärgerte mich dass dieser seltsame Junge schon jetzt besser mit der Stute umgehen konnte als ich.
Nach ein paar Minuten kamen wir am Waldrand an. Vor uns erstreckte sich eine weite grüne Landschaft und links war ein Feldweg den wir entlang ritten. Diese Landschaft erinnerte mich schonwieder an den Brief von der geheimnisvollen Ophira. Das hier war bestimmt wieder nur irgendein schräger Traum wie der im Flugzeug. Hoffentlich achte ich bald auf, denn das hier war mir eindeutig zu kitschig. Die bunten Blumen, das leuchtend grüne Gras und die Schmetterlinge die über die hellbraune Erde der Felder tanzten.
"Wir stellen das Pferd bei meiner Schwester unter und sie gibt dir andere Kleidung, denn so kommst du sicher nicht in unser Dorf."
"Wie bitte was ist denn an meinen Klamotten auszusetzten?“, fragte ich empört. Das hier war mein Traum, also wie konnte er bestimmen was ich trug? Unverschämt. Ich schnaubte verächtlich.
Er lachte laut auf, sodass sein Rücken unter meinem Kopf bebte.
"Kein Grund zum Stier zu werden. Bei uns kleidet man sich halt anders."
Hä?
Als wir auf das kleine Bauernhaus zuritten kam uns ein zierliches Mädchen entgegen. Wir stiegen ab und er begrüßte sie.
"Caelianna! Wie geht es dir?"
Caelianna war wunderschön. Ihr blondes Haar war lang und glänzend. Eine Haarsträhne hatte sie mit blauen Blumen verflochten, die sie wie einen Kranz auf dem Kopf trug.
Sie hatte ein kurzes grünes Kleid an, das ebenfalls mit den blauen Blumen geschmückt war. An ihren Armen schlängelten sich Rosenranken, fast wie eine Tätowierung die sich bewegte und an den Füßen saßen Sandalen aus hellem Leder.
"Gut danke Bruderherz. Aber wer ist deine Freundin?"
Sie lächelte mich freundlich an.
"Ich heiße Selena."
Sie hielt gebannt die Luft an.
„Schön dich kennen zu lernen, Selena.“, sie sprach meinen Namen mit dem selben schwungvollem Klang wie Yavaan aus. Diese Leute sahen den Menschen zwar ähnlich, doch ich bemerkte sofort dass sie grundverschieden waren. Sie wirkten magisch auf mich. Und dauerfröhlich, was mich ziemlich nervte.
"Sag mal kann ich Thaaia hier bei dir unterstellen. Und könntest du sie", er deutete auf mich, " bitte passend einkleiden?"
Sie lächelte: "Gerne, komm mit Selena!"
Ich folgte ihr in das kleine Häuschen. Wir betraten ein kleines Wohnzimmer mit Holzmöbeln und kleiner Küche. Zum Kochen diente nur ein Ofen mit einem Kessel. An den Wänden hingen allerlei Kräuter und in einem Schrank waren viele Gläser und Dosen verstaut.
"Komm mit nach oben ins Schlafzimmer, da habe ich ganz tolle Kleider!"
Wenn es um Mode ging war ich immer schnell also folgte ich ihr. Oben angekommen fanden wir uns in einem wahren Paradies wieder. Es war ein begehbarer Kleiderschrank mit tausenden von Kleidern.
"Moment, ich weiß schon etwas."
Ich sah mir die vielen hübschen Kleider an.
"Aber du musst mir doch keines deiner Kleider schenken!"
Caelianna kicherte.
"Aber nein du bekommst ein ganz neues, ich werde dir eins schneidern, das geht ganz schnell."
Sie lief zu einem Regal mit vielen verschiedenen Stoffen.
"Welche Farbe möchtest du?"
Ich überlegte nicht lange: "Rosa." Wenn ich schon so einen kitschigen Traum hatte in dem alles fröhlich und bunt war, dann wenigstens ein Kleid in meiner Lieblingsfarbe.
Sie zog eine Rolle mit rosa Stoff heraus.
"So stell dich hierher und hebe deine Arme."
Ich befolgte es und stellte mich hin. Sie schnitt ein Stück vom Stoff ab und wickelte ihn einmal um mich herum.
"So, jetzt zum spaßigen Teil", sagte sie kichernd und auf ihrem Rücken erschienen ein paar prächtige Schmetterlingsflügel. Ich staunte als sie plötzlich so schnell um mich herum flog, dass ich nur noch einen Windhauch spürte und sie vor meinen Augen verschwamm.
Als sie wieder vor mir landete klappte sie ihre Flügel zurück und rollte einen Spiegel zu mir.
"Sieh es dir an.", ihre Augen glänzten erwartungsvoll.
Aus dem einfachen rosa Stoff war ein kurzes Kleidchen geworden. Es war trägerlos und fiel in lockeren Falten hinab bis zu meinen Knien.
"Es ist wunderschön!", staunte ich. Wer, oder eher gesagt, was waren diese Gestalten? Feen? Elfen? Hexen?
"Moment etwas fehlt noch!", sie fuhr mit ihrem Finger über meinen Bauch und plötzlich flocht sich ein Gürtel aus Efeu um meine Taille. An der Seite ließ sie eine weiße Lilie blühen. Gerade als sie mir noch eine Kette machen wollte, entdeckte sie das Schmuckstück von James "Woher hast du die?!", fragte sie ehrfürchtig.
"Von einem guten Freund, sie ist schön oder?"
Sie nickte langsam.
"Ja das ist sie wirklich.“
„Es war ein Abschiedsgeschenk.“
Ihre Miene wurde traurig.
"Dann behalte sie ruhig um, aber zeig sie nicht jedem. Am besten ich belege sie mit einem Farbwechselzauber.“
„Aber nur wenn es wieder rückgängig geht.“, bat ich und musterte das Mädchen eingehend.
„Na klar, es soll nur nicht jeder die Kette von Laryl am Hals eines Mädchens sehen.“, sie schlug sich die zierlichen Hände vor den Mund. Was hatte sie gerade gesagt? Laryl?
Ich schaute sie entgeistert an.
„Wer bitteschön ist Laryl?“
Sie schaute mich ernst an. „Das werde ich dir nochmal erklären… aber in Ruhe und nicht jetzt, okay?“
Ich wollte sie gerade noch weiter ausfragen, da deutete sie mit einem kaum merkbaren Blick zur Tür. Ich verstand nicht was sie wollte.
„Yavaan, ich habe ihr Kleid fertig.“ Mit einer schwungvollen Bewegung ihres Zeigefingers verwandelte sich das rote Schmuckstück in eine silberne Perlenkette. Von wegen Farbwechsel.
Eine große Hand legte sich auf meine Schulter.
„Das steht dir ausgezeichnet Sel.“
Er zupft einmal an meinem Kleid, doch als er meinen skeptischen Blick bemerkte, ließ er den leichten Stoff schnell wieder fallen. Er musterte meine langen schwarzen Haare. Seine Augenbrauen verzog er nachdenklich und nahm mit Daumen und Zeigefinger eine Strähne hoch.
„Hmm…“, machte Yavaan nachdenklich und wandte sich dann an seine Schwester.
„Kannst du noch etwas mit ihren Haaren machen? So geht das nicht.“
Er wandte sich wieder mir zu.
„Ich werde unten im Garten auf dich warten, wenn du fertig bist komm einfach herunter.“
Er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn und ging weg. Meine ganze Haut kribbelte und mir wurde angenehm warm. Eigentlich wollte ich Caelianna weiter ausfragen und ihr vorwerfen dass sie meine Kette verunstaltet hatte, doch das gelang mir plötzlich nicht mehr.
Also fragte ich nur: „Was machen wir mit meinen Haaren?“
Die kleine Elfe schaute mich an und überlegte. Sie zog mich in die Mitte des Raumes und holte ein kleines Köfferchen. Ehe ich mich wehren konnte holte sie eine Schere heraus und schnitt ein ganzes Stück meiner Haare ab.
„Caelianna was tust du da?!“, kreischte ich erschrocken auf und wollte zurück weichen doch es war eh zu spät.
Die eine Seite meiner Haare ging mir nur noch bis zu meinen Schultern anstatt bis zur Rückenmitte. Sie machte unbeeindruckt weiter. Schon bald sah ich im Spiegel ein ganz anderes Mädchen. Sie hatte meine Haare bis auf eine Strähne gekürzt, die sie dann geflochten und mir einmal um den Kopf gelegt hatte. Ich sollte eigentlich traurig wegen meiner Haare sein, aber das war ich nicht. Es sah wunderschön aus.
„So du bist fertig. Jetzt kannst du herunter zu meinem Bruder gehen ich räum hier nochmal schnell auf. Einen Ordungszauber haben wir leider nicht.“, sie lachte glockenhell.
Caelianna raffte den Stoff auf dem Boden zusammen und beseitigte meine Haare, die auf dem Boden zerstreut waren.
„Okay bis gleich.“, gab ich leise zurück und ging hinunter.
Als ich unten in dem kleinen Zimmer stand hielt ich inne. Was tat ich hier eigentlich? Normalerweise würde ich mich in meinem neuen zu Hause umsehen und mit Shane mir die Insel ansehen, stattdessen machte ich einen Ausflug zu einem mir völlig unbekannten Ort, um mich auf hübschen und in irgendein fremdes Dorf führen zu lassen? Doch da fiel mir ein, dass ich in Wirklichkeit wahrscheinlich noch in meinen weichen Himmelbett lag.
Wie lange war ich nun schon hier? Es waren bestimmt schon zwei Stunden vergangen seit ich Yavaan im Wald begegnet war. Ich beschloss ihn zu bitten mich nach Hause zu bringen sobald ich ihn gefunden hatte.
„Yavaan?“, ich stand vor der Haustür und schaute in einen kleinen Garten.
Ein Torbogen wurde von Rosen in den verschiedensten Farben umrankt und es blühten unzählige Büsche und Blumen auf dem saftig grünen Gras. Als ich einen Fuß ins feuchte Gras setzte, merkte ich erst dass ich bis auf ein Fußkettchen das von meinem Fußgelenk bis zu meinem mittleren Zeh reichte, nichts an den Füßen hatte. Als ich durch den Torbogen ging kitzelte mich das Gras an den Fußflächen. Der Duft von Rosen stieg mir in die Nase und die Sonne schien so hell, dass sie mich blendete.
Am anderen Ende des Torbogens stand ein schöner Brunnen aus Marmor. Gegenüber war ein kleiner Sandweg.
Ich ging ihn entlang bis ich auf eine Wiese traf. Das saftige Grün des Rasens wurde in regelmäßigen Abständen von überdimensionalen Maulwurfshügeln unterbrochen. Ich war anscheinend nicht alleine.
Etwas vibrierte im Boden. Ein leichtes Zittern war unter meinen nackten Füßen zu spüren. An einem der Hügel sah ich Erde beben, dann bei einem anderen und immer so weiter. Bei dem Hügel direkt vor mir wurde es am deutlichsten. Jemand oder etwas wollte an die Oberfläche, es hatte mich gehört.
Eine behaarte Hand grub sich aus dem Sand. Sie war klein und zierlich und an den Fingerspitzen prankten lange Krallen. Schon bald tauchte eine zweite Hand auf und irgendwann sah man ein behaartes Köpfchen aus dem Hügel lugen.
Zwei Kugelrunde Augen starrten mich erstaunt an als wäre ich hier das seltsame, hässliche Wesen das aus der Erde kroch. Es hatte eine lange Schnauze, lange Barthaare und große Ohren. Einem Menschen sah es nur kaum ähnlich. Der Kopf war behaart und die beiden kugelrunden Augen waren tief schwarz. Es erinnerte mich an einen Maulwurf. Nach ein paar Sekunden stand die Gestalt vor mir. Er hatte in etwa die Größe eines Kleinkindes und einen gebeugten Rücken.
Bis auf das braune Fell trug es keine Kleidung. Ich fand, dass eine rote Latzhose perfekt zu ihm gepasst hätte.
Es schnüffelte aufgeregt in der Luft. Mit einer Hand näherte ich mich ihm vorsichtig.
„Hey, wer bist du denn?“
Er zuckte zurück und schaute mich an.
„Ich tu dir nichts hab keine Angst.“, ich ging noch einen Schritt auf ihn zu.
Ein erschrockenes Quieken drang aus seinem kleinen Maul. Mit einem Satz sprang er in das Loch zurück und ich spürte wie er sich davon buddelte. Hinter mir tauchte Yavaan auf.
„Was machst du hier?“, er klang erschrocken. „Du hast doch nicht etwa ein Koeham angesprochen, oder?“
Ich schaute ihn verblüfft an.
„Ein was?“
„Ein Koeham, die sind gefährlich. Komm denen bloß nicht zu nahe.“
Ich zuckte mit den Schultern und ging zu ihm. „Für mich sah der ganz niedlich aus.“
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum Garten. Als ich noch einmal zurück schaute, sah ich wie mir die kleinen Knopfaugen hinterher schauten.
„Also was sind diese Koeham? Sind das so eine Art Maulwürfe?“
Er schaute mich an und musste lachen.
„Ist das nicht egal? Sie sind gefährlich und fertig. Also tu mir den Gefallen und sprich sie nicht an.“
Damit war das Thema für ihn beendet. Auch wenn ich vor hatte ihn zu beten mich nach Hause zu bringen, ich glaubte das wollte ich erst mal gar nicht. Hier gab es so viele außergewöhnliche Dinge.
Wir liefen weiter auf die andere Seite des Hauses und betraten einen kleinen Stall. Thaaia stand in einer frisch gestreuten Box und fraß gemächlich ihr Gras, doch als sie mich sah hielt sie inne und wieherte mich erwartungsvoll an.
Neben ihrer Box gab es noch eine weitere und eine Sattelkammer. Yavaan ging zur zweiten Box und führte einen hübschen Schimmel hinaus.
„Das ist Arilyn, Caeliannas Hengst. Ich werde auf ihm reiten und du auf Thaaia. Kriegst du das hin?“, Spott schwang in seiner Stimme mit, doch ich kümmerte mich nicht um seine raue Art, denn meine hellbraune Stute schmiegte schon ihren Kopf an meine Brust. „Hey! Wäre Thaaia mir nicht durchgegangen, wäre ich nicht hier, also halt mal deinen Mund.“
Wenige Minuten später standen wir mit den Pferden auf dem Hof. Yavaan hob mich aufs Pferd als wäre ich ein Fliegengewicht und sprang kurz darauf so schwungvoll auf sein riesiges Pferd als wäre es vollkommen normal.
Caelianna gab uns ein Bündel und eine Tasche mit Essen, die Yavaan an die Sättel der Pferde schnallte. „Auf Wiedersehen Selena! Ich hoffe du kommst mich bald mal besuchen!“
Ich winkte Caelianna noch, ich mochte sie und schaute dann den Elfen an der neben mir auf dem Pferd saß. Ich hatte soeben beschlossen, dass sie Elfen waren. Was sonst hatte Schmetterlingsflügel, spitze Ohren und Zauberkräfte? Er nicke mir zu und mit einem Schnalzen seinerseits galoppierten beide Pferde los in die Richtung aus der wir gekommen waren. Dieses Mal bogen wir jedoch nach links und ritten nicht zurück in Richtung Wald.
„Hast du eigentlich auch Flügel, so wie deine Schwester?“, fragte ich ihn und schaute kurz zu ihm herüber. Beschloss dann aber lieber auf den Weg zu achten um noch einen ungewollten Galopp zu verhindern.
„Na klar, jede Elfe hat Flügel. Im Gegensatz zu denen in euren Märchenbüchern, können wir sie allerdings verbergen. Denn, weißt du, diese Dinge können ziemlich lästig sein.“, antwortete er grinsend. Ich dachte darüber nach wie es wohl sein mag, an seinem Rücken etwas anderes als Wirbel zu haben. Ob in Flügeln auch Knochen waren? Ach Blödsinn.
Wir waren lange unterwegs und es wurde schnell dunkel.
„Wir müssen eine Pause machen, im Dunkeln ist dieses Gebiet zu gefährlich.“
Yavaan schwang sich vom Pferd und half mir herunter. Zu Fuß gingen wir auf eine kleine Wiese. Die Pferde folgten uns.
„Wollen wir nicht lieber in den Wald gehen? Da ist es doch viel geschützter.“, ich zeigte auf den naheliegenden Wald, von dem wir uns immer weiter entfernten.
„Nein im Wald ist es nicht sicher. Wir werden hier unser Lager aufschlagen.“
Er holte ein kleines Bündel von Arilyn herunter und breitete es aus. Es war eine große Plane.
„Da drunter sollen wir schlafen?“
Er lachte leise auf.
„Nein, natürlich nicht. Aber wozu ist man ein Elf?“
Bei dem Wort zuckte ich zusammen. Obwohl ich ihn die ganze Zeit vor mir sah, war es seltsam es zu hören. So bestätigte sich also meine Vermutung. Interessant.
Er hob die eine Hand und bewegte sie langsam nach Oben. Seine Finger schienen mit der Luft zu spielen und dabei bestimmte folgen von Bewegungen auszuführen.
Aus dem grünen Gras sprießte nun ein Ast. Davon ließ er noch einen wachsen, spannte zwei Ecken der Plane fest und legte auf die anderen beiden Ecken, die auf dem Boden lagen, zwei Steine. In das kleine Zelt legte er zwei Kissen und eine Wolldecke und deutete nun auf einen der Plätze.
„Komm setz dich, das müsste erst mal reichen.“
Ich legte mich in das Zelt und Yavaan setzte sich neben mich. Ich wünschte ich könnte so was auch. Warum gab es das alles bloß nicht in der realen Welt? Das Leben wäre so viel interessanter.
„Wohin genau reisen wir denn?“, fragte ich und drehte mein Gesicht zu ihm.
„Wir reiten zum Dorf Arn-Shadar. Es ist ein kleiner Südlicher Teil von Shadar. Dort wo die meisten Elfen leben.“
Ich stützte meinen Kopf auf meine Hand und legte mich auf die Seite um ihn besser sehen zu können. Mir fiel auf, was für ein hübsches Gesicht er hatte. Seine Augen waren starr nach draußen gerichtet und seine Hand lag angriffsbereit auf seinem Messer, das in seinem Gürtel steckte.
„Was ist Shadar? Oder eher, wo sind wir hier. Ich bin mir sicher dass wir nicht mehr auf Selavide sind.“
Er seufzte: „Nein auf Selavide sind wir schon längst nicht mehr. Selavide endet spätestens nach dem Tor. Und hinter ihm beginnt Kerodar.“
Ein langes Schweigen. Ich war mir nicht sicher ob er noch weiter reden würde also hackte ich nach. „Kerodar?“
Er schaute immer noch abwesend in die Nacht.
„Kerodar ist Elfisch und bedeutet so zu sagen Zauberwelt, oder aber Welt des Zaubers. Aber wenn du jetzt denkst du befindest dich in einem Märchenbuch, liegst du falsch. Diese Welt ist voller Gefahren und nicht alles hier ist so Menschenähnlich wie wir, Selena. Es gibt auch andere Wesen, mit anderem Aussehen, anderer Sprache und anderem Verhalten. Eure Welt nennen wir Elfen Amaki. Das bedeutet Die Welt der schönen Leere. Eure Welt mag vielleicht schöner und luxuriöser sein, aber sie ist kalt, leer und langweilig. Bei euch herrscht ein Krieg ohne Grund dafür und die Armut zerstört eure Existenz, Menschenwesen sind eitel und können nur mit Luxus leben.“
Ich schaute ihn verdutzt an: „Vielen Dank auch.“
Yavaan lachte. Ein glockenheller Ton.
„Ich sage nur wie es ist.“
Ich drehte mich auf den Rücken und schaute beleidigt zum Himmel hinauf.
„Aber hier in Kerodar muss es doch auch etwas negatives geben, also einen Ort wo man nicht so glücklich ist wie hier, oder nicht?“
Seine Miene wurde hart.
„Ja natürlich gibt es eine Welt die noch viel gefährlicher ist als hier. Kerodar ist in zwei verschiedene Gebiete geteilt. Einmal unser sonniges Shadar und dann gibt es da noch das dunkle Alidar. In Alidar herrschen Gewalt und Finsternis. Im Gegensatz zu hier, findet man in Alidar kaum grün. Die Landschaft ist voller grauer Steine und Vulkanen. Wir Elfen hier in Shadar leben in einfachen Häusern, die Elfen in Alidar leben ganz oben in den Bergen. Sie haben ihre Häuser in Bergspitzen oder tief im Boden. Ansonsten wirken sie wie normale Menschen. Sie sind euch im Charakter ähnlicher als wir. Aber lass dich nicht von ihrem Menschlichen Leben täuschen. Ihre Möbel mögen moderner sein und ihre Kleidung luxuriöser, aber wenn du ihnen den Rücken zukehrst, zerfleischen sie doch und lecken am Schluss noch deine Knochen ab. Es gibt alsp Gründe warum niemand von Außerhalb +sich dort hin traut und ich rate dir dass auch du dich niemals dorthin begibst. Niemals!“
Das letzte Wort klang drohend und ließ mich zusammenzucken.
Diese Elfen fraßen wirklich Menschen? Gruselig. Hoffentlich muss ich dort niemals hin.
„Hier gab es nicht schon immer so bösartige Kreaturen. Wären die Elfen aus Alidar nicht gewesen, dann müsste ich hier nicht bewaffnet in die Nacht starren sondern könnte seelenruhig schlafen.“
Ich schaute ihn wieder an und mir fiel auf dass er das Messer aus dem Gürtel gezogen hatte und es in seinen Händen drehte. Die Klinge wurde von Mondlicht angestrahlt.
„Wie sind die Gefahren denn hierhergekommen?“
Er schluckte.
„Duah, der Herrscher aus Alidar, wollte nicht zulassen dass jemand glücklicher war als sein Volk, er konnte nicht zulassen dass sein Volk verhungerte, denn der Boden in Alidar war nicht sehr Fruchtbar und es gab kein Wild das man jagen konnte. Er war ein egoistischer und nach Macht strebender alter Mann und wollte einen Teil unseres Volkes zu sich ziehen, dieser Teil hieß Lam-Shadar. Es war der östliche Teil von unserem Land. Duahs Truppen griffen aus der Luft an. Die Elfen des Lam-Shadar Stammes hatten keine Chance gegen sie, denn sie besaßen nur Tiere die sich auf dem Boden bewegten. Die dunklen Elfen warfen ihre gefährlichen Tiere auf unsere Soldaten. Unser König war verzweifelt. Er wusste, sein Volk konnte sich nicht gegen sie wehren. Ihre mächtigen Drachen zerstörten ganz Lam-Shadar. Sie brannten alles nieder und nahmen hunderte Bewohner mit und brachten sie in den Kerker. Ihre Viecher ließen sie hier zurück, als sie zurück in ihr Land flogen und somit verbreitete sich das Chaos in unserem Land. Die Tiere der Finsternis suchten den Schutz des Waldes und verbreiteten sich immer mehr. Sie nahmen den kompletten Wald ein. Auch unter der Erde hatten sich einige von ihnen eingenistet. Wie zum Beispiel die Koeham. Denen bist du ja schon im Garten begegnet. Die Wesen aus dem Schattenland können in der Sonne nicht überleben und deswegen nahmen sie jedes dunkle Fleckchen ein. Keine Elfe traut sich mehr hinaus. Jeder blieb in seinem Dorf und keiner ging wie früher in den Wald.“
Sein Gesicht war von Trauer und Hass erfüllt.
„Ich hatte ja keine Ahnung, es tut mir leid.“
Er nickte nur schweigend.
„Aber wer ist dieser Laryl?“
Er erstarrte und riss seine Augen weit auf.
„Woher hast du denn den Namen?“
Ich zögerte. Sollte ich ihm wirklich erzählen dass ich den Namen von seiner Schwester hatte?
„Caelianna hatte ihn einmal erwähnt.“
Er schloss kurz seine Augen, nur um mich kurz danach einmal wütend an zu funkeln.
Mit abwesendem Blick sagte er: „Schlaf einfach!“
Ich schloss die Augen und drehte mich weg.
„Eine Frage noch…“
Er seufzte: „Hm?“
„Kennst du eine Ophira?“
Ich spürte wie er zusammen zuckte.
Doch eine Antwort bekam ich nicht. Er schwieg und die Stille der Nacht erfüllte uns. Ich hörte ein Knacken und sah wie sich eine Mauer aus zerflochtenen Ästen vor das Zelt schob. Praktisch. Meine Lider wurden so schwer, dass ich einschlief.
Als ich aufwachte dämmerte es schon. Vor dem kleinen Zelt hatte jemand einen Tisch und Stühle aus Baumwurzeln geformt und darauf standen Brote mit Marmelade und Wasser. Ich stand auf, strich mein Kleid glatt und setzte mich zu Yavaan der dort geduldig saß und auf mich wartete.
„Morgen!“, Sagte er amüsiert und reichte mir den Teller mit den Broten.
„Ich weiß das ist vielleicht nicht das was du sonst so isst, aber ich habe nichts anderes.“
Die braunen Scheiben waren nicht Brot wie ich es gedacht hatte.
„Was ist das?“
Er grinste.
„Das sind Clalas. Wilde Rosen, mit einer harten Schale und einem weichen Kern aus Rosen Gelee.“, sagte er amüsiert über mein Unwissen und reichte mir eins.
Ich nahm es in die Hand und hatte das Gefühl eine Tennisball große Nussschale in der Hand zu halten. Da ich nicht wusste wie man so etwas isst wartete ich bis er anfing zu essen.
Er lachte wieder, legte die Schale auf den Tisch und nahm einen kleinen Holzlöffel. Ich tat es ihm gleich. Dann löffelte er es wie Wackelpudding. Das rote Gelee wabbelte auf dem kleinen Holzlöffel. Ich musste wohl ein wirklich dummes Gesicht gemacht haben, denn er lachte immer noch.
Aber als ich probierte war ich positiv überrascht. Es schmeckte köstlich. In Windeseile hatte ich die Schale leer, trank einen Schluck Wasser und war so motiviert dass ich aufsprang.
„Und? Geht’s weiter?“
Er lachte mich an. Grübchen erschienen in seinen Mundwinkel und seine Augen leuchteten. Ich rannte zu meiner Fuchsstute und schwang mich wie von selbst in den Sattel. Yavaan stand voller Staunen neben mir. Ich war selbst überrascht über mich, ließ mir aber von dem nichts anmerken. Er räumte mit einer einzigen Handbewegung den Tisch ab und ließ alles verschwinden. In einem erstaunlichen Tempo kam er neben mir an und schwang sich auf Arilyn hinauf.
Ich schaute ihm herausfordernd in die Augen. Er ließ seine weißen Zähne blitzen und seine Augen funkelten mich herausfordernd an.
„Siehst so aus als wolltest du mich herausfordern…“
Ich lachte: „Ach ja? Um was geht’s denn?“
„Hm…ein Wettrennen? Bis zur großen Eiche dort drüben?“
Ich schaute voraus und entdeckte ein paar hundert Meter entfernt einen großen Baum.
„Wenn ich vor dir da bin beantwortest du eine meiner Fragen die du mir unhöflicher Weise gestern nicht beantwortet hast.“
Er zögerte: „Und wenn ich gewinne heißt es keine dummen Fragen für einen Tag.“
Ich nickte, schlug ein und stellte mich startklar neben ihn.
„Also… Dann LOS!“, ich schnalzte und Thaaia preschte los.
Arilyns Schritte wurden lauter neben mir. Doch Thaaia war jünger und schneller, schon nach ein paar Sekunden hatte sie den alten Baum erreicht.
„HA!“, rief ich und lachte als Yavaan kurz darauf neben mir zum Stehen kam.
„Also gut, du hast wirklich gewonnen… Welche Frage soll ich beantworten?“ Er stieg von seinem Pferd ab und setzte sich Gras.
„Also gut…“, überlegte ich.
„Komm setz dich zu mir.“, er klopfte auf den Rasen neben sich und ich setzte mich zu ihm.
„Wer ist Laryl?“, Ich schaute ihn erwartungsvoll an.
Der sonst so selbstsichere Elf zuckte zusammen und schloss die Augen als hätte man ihm ein Messer in die Rippen gesteckt.
„Willst du nicht lieber wissen wer die Koehams sind?“
„Wenn du mir das freiwillig erzählst gerne, aber zuerst will ich wissen wer Laryl ist.“
So leicht würde ich nicht locker lassen.
„Also gut. Laryl ist…“ Seine Hände zitterten und seine Stimme bebte als er sagte: „Er ist so ziemlich der mächtigste Elf in Rudar. Ach Quatsch er ist der mächtigste Elf in ganz Alidar. Rudar ist die Welt der Traumelfen. Dor leben die Ruess, die Traumelfen. Laryl hat so ziemlich alle Elfen in diesem Teil von Alidar unter Kontrolle. Sein Name heißt übersetzt nicht umsonst Nachtjäger. Er beherrscht die dunklen Mächte. Eigentlich hat jede dunkle Elfe ein Spezialgebiet, doch er beherrscht aus irgendeinem Grund alle. Er hat alles unter Kontrolle: das Feuer, die Blitze, die Erde, die Luft und auch das Wasser. Am meisten jedoch weiß er mit dem Feuer umzugehen. Bis jetzt konnte ihn noch niemand aufhalten. Doch das Gefährlichste ist, dass er auftauchen kann wann immer man an ihn denkt. Deswegen wollte ich es dir nicht erzählen, damit du ihn nicht herbeiträumst.“
Er schaute mich mit seinen blauen Augen an. Seine Augen flehten und suchten nach einer Regung in meinem Gesicht.
„Herbeiträumen? Was genau meinst du damit?“
„Wenn man ihn einmal gesehen hat, oder weiß wie er aussieht, passiert es jemandem oft, dass man an ihn denkt. Vor allem bei Mädchen ist das der Fall. Gerade im Schlaf, wenn man seine Gedanken nicht unter Kontrolle hat, träumt man von ihm. Und sobald er in deinen Träumen erscheint, steht er vor dir. Er ist Gefährlich, ich sage es dir noch einmal. Versuche dir niemals vorzustellen wie er aussieht!“
Ich war verdutzt. So etwas gab es? Und wenn so viele Mädchen an ihn denken mussten, dann sah er wohl verdammt gut aus.
„Okay, komm wir machen uns auf den Weg.“
Er stand auf und reichte mir seine Hand. Ich ergriff sie und er zog mich schwungvoll auf die Beine, sodass ich beinahe in seine Arme fiel.
Was sie nicht wussten, ich sah sie, jede Sekunde,
alles was sie tat.
Auch jetzt. Wie sie halb in seinen Armen lag und ihn anlachte.
Wie der Elf sie aufs Pferd hob und wie sie den Sandweg entlang galoppierten.
Meine Fäuste ballten sich vor Wut.
„Wie lange reiten wir eigentlich noch?“, fragte ich und spürte schon fast meine Oberschenkel nicht mehr, so lange waren wir unterwegs. Es war schon später Nachmittag. Ich war müde und mein Magen machte Randale.
„Machst du etwa schon schlapp?“, lachte er und trabte an. Der Weg war zu Ende und wir ritten auf einer großen grünen Wiese. Ich sah wie er vergnügt über die Wiese galoppierte. Es war sein Leben hier. Auf dem Rücken eines Pferdes, die Wiesen, die Sonne, nur die Natur und er. Wie alt er wohl sein mag? Er sah aus wie neunzehn, war aber garantiert jünger.. Von dem Moment an, als er meine Arme um sich zog, im Wald, hatte ich vollstes Vertrauen in ihn. Mir kam es vor als würden wir uns schon ewig kennen und das hier wäre ein Tag wie jeder andere.
Mir war es egal ob das hier ein Traum war oder Wirklichkeit. Im Moment zählten nur er, ich und die unberührte Natur von Shadar.
Im schnellen Galopp holte ich Yavaan ein. Wir ritten nebeneinander her. Als ich ihn ansah, sah ich das Funkeln in seinen Augen. Er lachte mich an und wir preschten davon. Die Beine der Pferde bewegten sich so schnell, dass es den Anschein hatte sie würden schweben. Ich fing wieder seinen Blick ein. Das Funkeln in seinen Augen ließ nicht nach und vor Freude ließ er das Gras sprießen und bunte Blumen blühen. Ich lachte, so laut und glücklich wie schon lange nicht mehr.
Das Kribbeln in meinem Bauch ignorierte ich. Ich schloss die Augen und ließ mich von Thaaia tragen.
Plötzlich hörte ich Yavaan weit hinter mir rufen: „Selena! Pass auf!!!“ Als ich meine Augen öffnete rannte Thaaia mit mir direkt auf den Wald zu. Ich riss die Zügel zurück und sie hielt abrupt an. Mit den Nüstern berührte sie schon den Ast eines Baumes. Mein Atem ging stoßweise. Neben mir kam Yavaan auf Arilyn zum Stehen.
„Siehst du das?“, ich deutete auf einen Busch im Wald. Eine regenbogenfarbene Blume sprießte aus einem Busch heraus. Sie ähnelte einem Schmetterling und schillerte in den verschiedensten Farben. Nur einige Schritte war sie entfernt. Ich stieg ab und schob einen Ast beiseite.
„Selena! Bleib hier, was tust du denn da?“ Ohne den Blick von der Blume zu wenden antwortete ich: „Schau nur wie hübsch die ist. Und sie ist gar nicht weit entfernt.“
Er stieg ebenfalls ab. „Mach keinen Unsinn, der Wald täuscht und hast du vergessen was ich dir über ihn erzählt habe?“ Ich setzte einen Fuß auf den Moosbewachsenen Boden.
„Komm schon was soll denn bei der kleinen Entfernung schon passieren?“ Ich war bereit jedes Risiko einzugehen, nur wegen dieser einen Blume. Es zog mich magisch zu ihr hin. Als würde sie mich rufen. Der nächste Schritt auf den weichen Waldboden. Mein Verlangen zur Blume zu kommen wurde stärker. „Selena!“, hörte ich Yavaan rufen, immer wieder und wieder, aber folgen tat er mir nicht. Feigling.
Ein Schritt nach dem anderen. Ein Fuß vor den nächsten. Das trockene Laub bröselte unter meinen nackten Füßen. Die Blume war nun noch 2 Schritte entfernt. Etwas krabbelte mir über den Fuß. Mir egal.
Als ich direkt vor ihr stand war ich unfähig mich zu Bewegen. Die in allen Farben schimmernde Blume glitzerte. Sie roch so süß wie… Sie war unbeschreiblich. Langsam streckte ich eine Hand nach ihr aus. „An deiner Stelle würde ich die nicht berühren.“ Ich drehte mich abrupt um, wer hatte das gesagt? Es war weit und breit niemand zu sehen, doch ich hatte die Stimme so deutlich gehört als stünde jemand neben mir. Mit einem Schauder über dem Rücken starrte ich die Pflanze an. Mit meinem Zeigefinger strich ich über ihre bunten Blüten. Meine Hand fing an zu leuchten. Schnell zog ich sie zurück und sie sah wieder vollkommen normal aus. Als ich der Blume wieder näher kam schien sich das Licht noch weiter auszubreiten. Ich umfasste mit meiner Hand den dünnen Stiel. Das Licht hüllte mich ein in seinen bunten Glanz. Ich wollte noch mehr, wollte das Licht überall spüren. Das angenehme Kribbeln auf der Haut, die wohlige Wärme.
Mit der anderen Hand fuhr ich über die glänzenden Blütenblätter.
Das Licht um mich herum wechselte von Lila zu Rot, von Rot zu Gelb, von Gelb zu Blau. Als es schließlich tief Blau war, sah ich um mich herum nichts als Licht. Blaues, kaltes Licht. Mir fiel der Boden unter den Füßen weg. Ohne Kontrolle schwebte ich umher, das einzige was ich sehen konnte war: Blau.
Meine Hände ruderten wehrlos umher bis meine Augen mir zu fielen.
Erschrocken fuhr ich hoch. Ich keuchte, schnappte nach Luft. Anscheinend schrie ich, denn Shane kam in mein Zimmer gestürzt.
„Selena? Was ist los?!“, er kam zu mir gerannt, setzte sich auf meine Bettkante und nahm mich tröstend in den Arm. „Schscht… Alles gut. Was ist denn los?“ Ich fühlte mich wie ein kleines Hilfloses Kind, also befreite ich mich aus seinem festen Griff und lehnte mich in meinem Bett zurück.
„Es.. w-war wohl nur ein Traum. Schon gut, geh wieder ins Bett. Doch ich wusste dass das kein Traum war, denn in der Hand hielt ich eine bunte Blume, versteckt unter der Bettdecke.
„Hast du die die Haare geschnitten?“, er schaute mich komisch an. Ich tastete nach meinem Haar. Es war gerade einmal Schulterlang. „J-ja… als du weg warst.“ Er schaute mich skeptisch an. „Wo hast du denn einen Friseur gefunden?“ Ich war nie gut im Lügen, doch ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich von einer Elfe eine Stil Umwandlung bekommen hatte und auf einem Pferd durch eine andere Welt geritten war, bis ich durch eine seltsame Blume wieder in mein Bett gelangt bin.
„Ich habe sie mir selber geschnitten.“ Er schaute mich bewundernd an. „Klasse, sieht toll aus. Ich gehe jetzt mal wieder ins Bett, schlaf schön.“ Er verließ das Zimmer und sobald seine Schritte auf dem Flur verklungen waren holte ich meine Hand aus der Bettdecke hervor.
Die schillernde Blume lag in meinen Händen. Ich stand auf und ging zu dem kleinen Wohnzimmertisch. Die bunte Blume steckte ich zu den anderen in die Vase.Dort würde sie bestimmt nicht auffallen. Da ich jetzt aber bestimmt nicht schlafen konnte schaute ich in dem Bücherregal nach einem Buch. Es waren hauptsächlich Schnulzen, bis auf eines. Es war in altes zerfleddertes Leder gebunden und die Seiten waren alt und vergilbt. Auf dem Buchdeckel stand in schwungvoller Schrift: Kerodar-Chronik.
Ich klappte es auf und fand ein Register von Namen und Seitenzahlen. Sie waren alle Handgeschrieben in grüner Tinte. Ohne groß zu überlegen suchte ich bei Y, bis ich Yavaan entdeckte. Eilig schlug ich die Seite auf und fand eine Zeichnung von dem hübschen Elfen und einige Notizen.
Yavaan (Verbindung zum Wald)
- Nicht immer Vertrauenswürdig
- Liebt es auf seinem Pferd herum zu galoppieren
- Bewacht den Eingang zu Shadar
- Kann Blumen und Bäume sprießen lassen
- Ernst zu nehmen
- Bruder von Caelianna
- 350 Jahre alt
- Lebt in Shadar (Wohnort unbekannt)
Laut diesem Buch gab es die geheime Welt also wirklich. Das konnte doch nicht sein. Außerdem trafen einige Punkte nicht auf ihn zu, was mich stutzig machte. Er wirkte für mich sehr vertrauenswürdig.
Ohne zu zögern suchte ich nach L, wie Laryl und schlug eine Seite weiter vorne im Buch auf.
Laryl (Nachtjäger)
- Mächtig
- Beherrscht alle Gebiete der Elfenmagie
- Gestaltenwandler
- 400 Jahre alt
- Lebt in Rudar (ein Teil von Alidar)
- Traumelfe
- Nicht an ihn denken wenn man ihn nicht neben sich haben will
- Hat seine Gefühle oft nicht unter Kontrolle
- Vertrauenswürdig
- Mysteriös
- Gutaussehend
- Bruder von Eila
- Ernährt sich von Fleisch (kein Schnitzel, Steak oder sonst was)
- Reißzähne
- Rote Augen, GEFÄHRLICH!
- Risikofreudig
- Selbstverliebt
Das Bild wurde herausgerissen und an der Stelle klebte ein kleiner Zettel. Man sah ihm an, dass er erst später hinzugefügt wurde, denn er war im Gegensatz du dem vergilbten Papier des Buches noch ziemlich weiß.
Auf dem Zettel stand: Zu Gefährlich! Dieses Wort hatte ich langsam satt, alle erzählten mir es sei gefährlich, doch warum genau, hatte mir noch niemand erklärt.
Yavaan hatte anscheinend Recht. Laryl war laut dieser Stichpunkte bösartig. Doch was mich am meisten erschreckte war die Tatsache dass Yavaan recht hatte was die Ernährung der dunkeln Elfen anging.
Nur einer der Punkte passte absolut nicht zu den anderen. ‚Vertrauenswürdig‘ Die Beschreibung deutete auf einen ziemlich üblen Kerl hin, aber warum war er dann Vertrauenswürdig?
Ich schaute mir noch lange dieses Buch an. Doch das einzige was ich noch herausfand, war dass es keine Ophira in diesem Buch gab und die Schwester von Laryl hübsch, aber gleichzeitig auch furchteinflößend war. Ihr Name, Eila, hieß übersetzt Blaue Harmonie und passte so gar nicht zu ihrem äußeren Erscheinen.
Ihr Haar war lang und pechschwarz, ihre Lippen und Augen blutrot. Sie grinste hämisch und aus ihrer erhobenen Hand schoss ein Blitz. Zwischen ihren Perlweißen und perfekten Zähnen blitzten zwei spitze Eckzähne hervor, an denen man noch das Blut ihres letzten Opfers sah, denn sie war wie ihr Bruder auch, ein sogenannter ‚Fleischfresser‘. Das Bild jagte mir so sehr Angst ein, dass ich es eilig zu klappte und zurück ins Regal stellte. Ich merkte wie ich müde wurde und beschloss mich wieder zurück ins Bett zu legen.
Und ich schaute ihr zu
Wie sie Angst vor dem Bild hatte, wie sie es erschrocken weg stellte,
wie sie sich ins Bett legte und ihre Augen schloss. „Bald werden wir uns sehen, das Verspreche ich dir.“,
murmelte ich und freute mich schon auf den Moment sie zu sehen und sie aus dieser grausamen Welt zu ziehen…
Meine Augen taten weh, meine Oberschenkel schmerzten und mein Kopf brummte. Ich hatte das Gefühl, dass ich drei Nächte nicht geschlafen hätte. Mein Schlaf war unruhig heute Nacht. Meine Träume hatten mich gequält, mich nicht eine Sekunde in Ruhe gelassen.
Das Mädchen aus dem Buch, ich habe es im Traum gesehen, wie es an mein Bett trat und mich schief angrinste. Als ich schreien wollte, hatte sie nur ihre kalte, blasse Hand auf meine Lippen gepresst. Mit ihren langen, krallenähnlichen Fingernägeln hatte sie mir den Arm aufgekratzt und ist dann durch meine Zimmertür verschwunden.
Ich setzte mich im Bett auf und konnte gerade so einem herausragenden Nagel im Bett ausweichen, der fast meinen Arm getroffen hätte. Plötzlich fing mein Arm an zu brennen. Vier lange Kratzer zeichneten sich auf meiner Haut ab. Also hatte ich mich im Schlaf wohl so unruhig bewegt, dass ich mir am Nagel den Arm aufgeschürft hatte, typisch. Langsam erhob ich mich aus meinem Bett und schlurfte herunter in die Küche.
Meine Mum wuselte herum und putzte die mit Kaffee bekleckerte Küchenzeile. Als sie mich sah hielt sie inne und lächelte. Irgendwie kam es mir gespielt vor.
„Guten Morgen Schatz!“ Ich schaute vom Kaffeefleck auf ihrer Bluse. „Na, wieder versucht eine volle Kaffeetasse zum Tisch zu bringen?“, sagte ich grinsend und schenkte ihr eine neue Tasse ein um sie dann zum Küchentisch zu tragen. Meine Mum folgte mir und wir setzten uns. Ich schnappte mir einen Apfel aus der Obstschale und biss hinein.
„Und hast du gut geschlafen?“, fragte sie und umfasste die Tasse mit beiden Händen.
Ich schluckte und log: „Klar wie ein Bär. Aber wo sind denn die anderen Zwei?“ Shane und Dad waren nirgends zu finden.
„Dein Vater ist einkaufen und Shane musste etwas erledigen. Vielleicht ist er ja auf Wohnungssuche. Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich hier nicht so bedienen lassen will.“ Bei dem Gedanken dass Shane auszog, wurde mir mulmig zu Mute. Sie lächelte und schaute auf die Uhr.
„Ach herrje!“, ihre Augen weiteten sich. „Ich bin ja viel zu spät dran. Entschuldige Schatz ich muss los! “ Sie stand auf und ich folgte ihr nach vorne in den Flur.
„Wo willst du denn hin?“ Sie zog sich ihren Mantel und die Stiefel mit den Wollpuscheln an
„Ich habe hier einen Job gefunden, es wird spät also bestell doch einfach eine Pizza oder so!“ Und schon war sie weg. So waren meine Eltern, sie hauten ab, sagten mir ich solle mir etwas bestellen ‚oder so‘ und das Thema war geklärt. Dann würde ich mal wieder bis nachts im Wohnzimmer sitzen und Fernsehen, um festzustellen, dass es so spät wurde, dass sie sich ein ‚Hotelzimmer‘ nahmen und erst morgen früh wieder da sein würden.
Also ging ich nach Oben und beschloss mich anzuziehen. Ich schnappte mir eine hellblaue Jeans und ein beiges Top. Meinen Koffer hatte ich immer noch nicht ausgepackt, denn zu Hause fühlte ich mich noch nicht. Mit dem Klamottenstapel über dem Arm ging ich in das große Badezimmer. Ich schmiss alles auf den kleinen Stuhl in der Ecke und stellte mich unter die eiskalte Dusche.
Ich schloss die Augen und dachte an vergangene Nacht. War es wirklich nur ein Traum? Aber warum hatte ich dann die Blume noch in der Hand? Und es fühlte sich alles so real an. Doch was war das nachdem ich dieses Buch gefunden hatte? War das auch ein Traum? Oder stand diese furchteinflößende, junge Frau wirklich vor mir?
Ich hatte so Angst, als sie mir ihre Hand auf den Mund drückte und mir den Arm aufkratzte, ich dachte es wäre real.
Ein greller Blitz blendete mich so sehr das ich beinahe ausgerutscht wäre. Als ich das Wasser abdrehte und mir ein Handtuch umlegte, war es still.
Mit zitternden Knien stieg ich aus der Dusche und schaute mich um. Es war als wäre nichts passiert. Vielleicht war ja eine Glühbirne geplatzt. Ich schaute zur Lampe, doch die brannte noch. An der Decke entdeckte ich einen schwarzen Fleck, es sah aus wie Ruß.
Mein Kopf schwirrte. Was war denn nur los? Seit diesem Vorfall auf dem Balkon, hatte ich diese schrecklichen Wahnvorstellungen. Langsam zog ich mich an. Als könnte auch nur eine ruckartige Bewegung eine weitere Vision auslösen. Ich versuchte meinen Kopf frei von diesen Gedanken zu machen, indem ich den Songtext meines Lieblingsliedes in Gedanken durchging.
Als ich schließlich angezogen war, wollte ich nur noch weg von hier. Unten im Flur angekommen schnappte ich mir meine Jacke und zog meine Schuhe an. Leise schloss ich die Haustür hinter mir, obwohl niemand zu Hause war. Das Gras draußen war feucht und ich wusste, es war eine schlechte Idee gewesen meine braunen Stoffschuhe anzuziehen. Meine Zehenspitzen waren schon nach drei Schritten nass. Ich wusste nicht was ich tun sollte, also schaute ich mich erst mal im Garten um.
Ich ging zu dem kleinen Fluss, der auch durch das Turmzimmer floss. Das Wasser war so klar, dass ich den Boden sehen konnte. Mein Spiegelbild flackerte in der Strömung. Ich setzte mich ans Ufer, obwohl das Gras feucht war, und strich mit dem Finger durch das Wasser. Meine Fingerspitzen hinterließen Kreise auf der Oberfläche. Etwas Silber glänzendes kam angeschwommen und berührte meine Hand. Es war ein Koi. Seine großen Glubschaugen schauten mich an und er stupste mit seiner Nase an meinen Finger. Ich tauchte tiefer in den Fluss und strich sanft über den schuppigen Rücken. Der Fisch blieb wo er war und schwamm nicht weg.
Als ich mich weiter über das Spiegelnde Wasser beugte, baumelte meine Kette nur ein paar Millimeter über der Oberfläche. Auf einmal ging alles ganz schnell, der Koi streckte seine Schnauze zu dem Rubinanhänger, riss ihn mir vom Hals und schwamm mit meiner Kette davon. „Nein! Bleib hier!“, schrie ich. Da bemerkte ich, dass ich mit einem Fisch redete. Ich starrte in das Wasser, der Fisch war weg und mit ihm mein einziges Andenken an James.
Ein frischer Wind ließ mich frösteln und ich schlang meine Arme fest um meinen Körper. Ich hatte genug von diesem Grundstück gesehen und beschloss einfach Mal in Richtung Tor zu gehen. Meine Hände vergrub ich tief in meinen Taschen. Als ich eine Weile Richtung Tor ging, wurden die Bäume dichter und schon bald fand ich mich auf dem Sandweg im Wald wieder. Das Metalltor ragte vor mir in die Höhe. Es war fast doppelt so hoch wie ich und an den Enden der Eisenstangen blitzen, scharfe Spitzen. Zögernd stand ich vor dem Tor. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, auf der anderen Seite sei ich nicht sicher. Doch schließlich drückte ich doch auf den ‚Öffnen‘ Knopf und trat auf die andere Seite der Mauer, dieses Mal freiwillig.
Vor mir erstreckte sich der Waldweg um einige Meter weiter. Nach ca. einer halben Stunde wurden die Bäume weniger und ich hörte schon von weiten, dass ich nahe an der Hauptstraße war. Und tatsächlich: Vor mir war die Hauptstraße, die ärmlicher Weise, aus Wackersteinen bestand. Gegenüber sah ich eine Art Neubaugebiet, was hier wohl die größte Gruppe von Häusern auf der ganzen Insel war.
Die Hauptstadt Damviet. Die meisten Häuser waren hier aus Holz oder beigen Lehm mit einem Reetdach. Es gab viele Geschäfte und Bars.
Die Leute in den Straßen wirkten fröhlich und sie plauderten auf Englisch mit einem ungewöhnlichen Akzent. Sie trugen Baumwollkleidung und wirkten eher so, als stammen sie aus einer anderen Zeit. Ich fühlte mich sowieso auf dieser Insel wie im Mittelalter.
Links sah ich ein kleines Geschäft. Auf einem kleinen Holzschild stand: KanaaStore.
Als ich den Laden betrat klingelte ein Glöckchen. Hinter einem kleinen Holztresen stand eine kleine, bucklige Frau.
„Hallo Mädchen, was kann ich für dich tun?“, krächzte sie. „Danke, ich guck nur mal.“, antwortete ich knapp und ging durch die wenigen Regale. Konserven, Getränke und Pralinen. Anscheinend handelt es sich um einen kleinen Einkaufsladen. Mein Blick schweifte über die Regale während ich den Gang längs ging. „Kenan! Ich muss kurz ins Lager pass mal bitte auf den Laden auf!“, hörte ich die alte Frau rufen. „Ja ich komme gleich!“, antwortete eine Jungenstimme.
„Jetzt sofort!“ Eine Tür knallte und die Frau war anscheinend verschwunden. Ich wandte mich wieder dem Regal mit der Schokolade zu, nahm mir eine Tafel Zartbitterschokolade und ging zur Kasse. Ich wühlte in meinem Geldbeutel nach etwas Kleingeld und legte, ohne aufzuschauen die Schokolade auf den Tresen.
„Haben wir uns schon mal gesehen?“, fragte mich die Stimme von eben, mit einem Amerikanischen Akzent. Ich schaute auf.
Ein schlanker Junge mit kurzen, braunen Haaren und grauen Augen schaute mich aufmerksam an.
„Was? Nein ich bin neu hierher gezogen.“ Ich wandte mich wieder meinem Kleingeld zu. Doch er ließ nicht locker.
„Ich heiße Kenan Kanaa und wer bist du?“ Ich sah eine gebräunte Hand vor mir, ignorierte es und antwortete knapp: „Selena.“
Ein Räuspern und ein neuer Versuch seinerseits. „Gehst du auch auf die Schule hier in Damviet?“
Was wollte der denn von mir? Ich schaute ihn an.
„Nein.“, ich sah seinen irritierten Blick. „Ich meine, doch schon. Also. Bald. Denke ich.“, meine plötzliche Nervosität verwirrte mich. Kenan nickte langsam.
„Alles klar, das macht dann ein Dollar, bitte.“ Er legte seine flache Hand auf den Tisch, doch ich nahm den Geldschein, warf ihn auf den Tresen und ging mit der Schokolade in der Hand hinaus. Der Junge war mir unsympathisch, obwohl ich ihn nicht einmal richtig kannte. Mein Weg führte mich zu dem nächsten Geschäft. Im Schaufenster standen verschiedene Seifen und Parfüms und das Glas der Scheibe war mit blauen Buchstaben beschriftet. McConna’s Shop. Auch in diesem Laden stand ein kleiner Tresen, nur dass dieses Mal keine alte Frau, sondern eine stark geschminkte Dame stand. Als sie mich sah klatschte sie entzückt in die Hände und kam auf mich zu.
Ihre rosa geschminkten Lippen formten sich zu einem Kreis und sie stieß ein Laut der Überraschung aus. „Uh! Beautiful girl! Welcome to my little store!“ Ihr Englisch war schlecht und ein russischer Akzent machte sie schwer verständlich. Das tiefschwarze Haar hatte sie hoch gesteckt zu einem wirren Knäuel und ihr knall pinkes Kleid lag eng an ihrem schmalen Körper. Zum Glück war mein Englisch ziemlich gut sodass ich mich mit jedem problemlos unterhalten konnte. Keine Ahnung woher sie wusste woher ich kam, aber sie antwortete in einem Mix aus Deutsch, Englisch und einem russischen Akzent.
„Was ich kann tun für dich junge Lady? Du bist new here, oder nicht?“, sagte sie mit hoher Stimme. Ihr Deutsch war mindestens genau so schlecht wie ihr Englisch.
„Ja ich bin neu hier. Ich schau mich mal in ihrem Laden um.“ Auf den kleinen beleuchteten Glastischen standen Düfte, Seifen und Cremes. All die Gerüche strömten auf mich ein. Ich schloss die Augen und fühlte mich nach Hamburg zurück versetzt.
Meine beste Freundin Lynn neben mir, die Arme voller Taschen und die Geräuschkulisse eines überfüllten Geschäfts im Sommerschlussverkauf. Kassen klimperten, Kleiderbügel klapperten und das glockenhelle Lachen meiner besten Freundin. Ihre großen, blauen Augen, umramt von schwarz getuschten Wimpern und die Lippen voller Gloss. Lynn. Ich vermisste sie. Sie und meine anderen Freunde in Hamburg.
Sogar Margit, die Bäckersfrau, die mir jeden Sonntag meine Brötchen einpackte und mir einen Kaffee spendierte. Die Stadtluft und lauten Autobahnen, die Alster, die Geschäfte, selbst die Baustellen fehlten mir. Alles weg.
Für immer hinter mir. Ich würde mich wohl an das Leben auf dieser altertümlichen Insel gewöhnen müssen. „Was machst du denn hier?“, hörte ich eine vertraute Stimme direkt vor mir.
Ich öffnete meine Augen und war zuerst von dem plötzlichen Licht geblendet. Vor mir stand Shane. Er trug Knielange Badeshorts, ein weißes T-Shirt und ein offenes Hemd darüber.
„Shane? Naja ich wollte mal raus und mir den Rest der Insel ansehen…“ Er schaute mich schockiert an. „Und wo sind deine Eltern?“
„Die sind nicht da. Ich bin doch kein kleines Kind mehr, ich darf ja wohl noch alleine in die Stadt… ins Dorf gehen!“
„Du bist also von zu Hause bis hier her gelaufen? Ganz alleine? DU hättest wenigstens Thaaia mitnehmen können!“
Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Du bist ja wohl auch alleine hier oder nicht?“
Er setzte an etwas zu sagen. „Shane? Wo bist du?!“, rief jemand.
Er seufzte: „Ich bin hier!“
Ein hübsches Mädchen mit braunen langen Locken und langen, dunklen Wimpern tauchte neben ihm auf und hackte sich an seinem Arm ein. „Ich habe da einen ganz tollen Duft gefunden, würdest du…“
Erst jetzt bemerkte sie mich. Sie beugte sich näher zu Shane und flüsterte gut hörbar: „Warum starrt die mich so an? Kennst du die?“ Oh nein was hatte er denn da für eine gefunden?
„Das ist Selena, bei ihr wohne ich zurzeit. Selena, das ist Celine.“ Jetzt grinste sie mich an und streckte ihre Hand entgegen. Wie ich diese Geste hasste, so falsch und unpersönlich. Trotzdem schüttelte ich ihre Hand. „Schön dich kennen zu lernen.“ Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen.
„Sag es ihr!“, zischte Celina ihn an.
„Ja also…“, Shane räusperte sich. „Also… ich bin… ausgezogen.“
„Wie bitte?“, gab ich entgeistert von mir. „Wohin denn?“ Celine griff nach meiner Hand und grinste mich an. „Er ist zu mir gezogen. Ich habe ein kleines Haus unten an der Dallma-Bucht. Du kannst ja mal vorbei schauen.“
Ruckartig riss ich meine Hand weg und steckte sie zurück in die Hosentasche. „Ich werde dann mal gehen.“, und somit drängelte ich mich an ihm vorbei und verließ den Laden.
„Selena!“, rief er mir auf der Straße noch nach, doch ich winkte ab und ging im Laufschritt zurück zur Hauptstraße. Das konnte er doch nicht machen. Mich alleine mit meinen Eltern, nein ganz alleine, in diesem großen Haus zurück lassen. Ich hatte doch niemanden sonst. Aus dem Grund war er doch mit gekommen. Ich fühlte mich hintergangen, obwohl es ja eigentlich klar war, dass er bald ausziehen würde. Aber warum schon jetzt?
Das Haus war nach wie vor leer als ich zu Hause ankam. Meine Mutter würde also noch eine Weile weg bleiben und meinen Vater hatte ich seit gestern Abend nicht mehr gesehen.
Ich ging in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Meine Wut wurde stärker, meine Trauer wurde verdrängt von dem Hass auf Celine. Meine Hände krallten sich so stark um die Küchenzeile, dass die Knöchel weiß hervor traten. Mein Körper zitterte und meine Lippen bebten.
„Verdammt!“, brüllte ich und schlug mit der Faust auf den Küchenschrank. Nun konnte ich die Tränen nicht mehr halten.
Ich sank auf die Knie und klammerte mich an der Küchenzeile fest. Meinen Hinterkopf schlug ich gegen die Schranktür. Immer wieder, wieder und wieder.
Ich war fertig.
Fertig mit den Nerven.
Mein Leben war zerstört.
Alles kam auf einmal.
Ich vermisste mein altes zu Hause, meine Freunde, der Umzug von Shane, meine Eltern die sich nicht um mich sorgten und besonders der Vorfall mit der seltsamen Welt. Ich konnte nicht mehr.
Zusammen gekauert und weinend lag ich auf den kalten Fliesen. Als die Kaffeemaschine aufhörte zu kochen, rappelte ich mich langsam auf. Mein Kopf war schwer vom langen heulen. Langsam goss ich mir eine Tasse ein und ging damit ins Wohnzimmer. Ich lümmelte mich mit einer Decke auf die Couch und überlegte wie ich es die nächsten drei Jahre hier aushalten würde, bis ich 18 war und zurück nach Deutschland zog. Alleine, ohne dass mich irgendwer jemals wieder von meiner Heimat losreißen konnte. Er hatte mich hier einfach alleine gelassen in diesem großen Haus. Jemand klopfte an die Terrassentür. Als ich hoch schaute sah ich Kenan.
Was wollte der denn hier? Ich stand aber trotzdem auf und öffnete ihm die Tür.
„Hallo Selena, ich dachte ich komme mal vorbei um dir Gesellschaft zu leisten.“, sagte er und wollte sich gerade an mir vorbei ins Wohnzimmer quetschen als ich ihm den Weg versperrte.
„Woher weißt du wo ich wohne?“
Er fasste sich verlegen in den Nacken. „Naja… ich hab dich hier vor dem Tor gesehen und…“
„Du bist mir hinterher gerannt?“, fragte ich empört und wollte die Tür zumachen, doch er stemmte sich dagegen.
Er schaute mich mit großen Augen an. „Naja also nein… ich meine ja irgendwie schon.“
Er grinste mich an. „Also darf ich rein kommen?“
Ich trat widerwillig beiseite und gewährte ihm Einlass. Kenan setzte sich wie selbstverständlich auf das Sofa und klopfte neben sich.
„Wohnst du schon immer hier auf Selavide?“, fragte ich ihn während ich mich neben ihn setzte.
„Ich bin hier aufgewachsen und kenne nichts anderes als diese Insel.“, antwortete er.
„Du warst also noch nie außerhalb dieses Kaffs?“
„Kaff? Oh nein das hier ist kein Kaff Selena. Es hat mehr Besonderheiten als ganz Amerika und Europa zusammen. Diese Insel ist ungewöhnlich, fast kann man sagen, dass es mehr Geheimnisse hat als ein Rätselbuch.“, er sagte es so ernst dass ich fast lachen musste. Was redete er denn da und vor allem wie redete er? Ich musste grinsen.
„Zum Beispiel?“, wollte ich wissen.
„Was zum Beispiel?“
Ich setzte mich auf und schaute ihn direkt an.
„Was für Geheimnisse hat diese Insel?“
Als ich diese Frage stellte, schwebte mir die geheime Welt in den Gedanken umher.
„Weißt du, man nennt sie Geheimnisse weil sie geheim sind.“ Kenan schaute mich immer noch ernst an. Also musste ich meine Taktik wohl ändern.
„Hast du jemals das total verrückte Gerücht gehört, dass hinter dieser Mauer eine Welt namens Kerodar liegt?“
Seine Augen weiten sich. „Wie kommst du da denn drauf? Das weiß niemand!“
Als er meinen erstaunten Blick sah, merkte er dass er sich verplappert hatte.
„Also, ich meine, das hat noch nie jemand gesagt…“
Ich zog meine Augenbrauen hoch. „Was weißt du da drüber?“
Kenan räusperte sich. „ Naja nicht sehr viel…“
So würde ich nichts aus ihm heraus kriegen. „Weißt du wie man dort hinkommt?“
Er zuckte leicht zusammen. „Nein! Und das will ich auch nicht, es ist…“
Ich legte meine Hand auf seinen Arm. „Du warst selbst dort oder? Du weißt wie man da hinkommt, nicht?“
Er schaute auf meine Hand. „Du bist doch verrückt. Ich geh mal lieber nach Hause.“ Ich sprang auf. „Nein, bleib hier!“ Er stand ebenfalls auf. „Tut mir leid, ich hätte nicht gedacht dass du so ein Freak bist der alten Legenden glaubt.“
„Erst erzählst du mir dass du es weißt und jetzt willst du es verleugnen? Na komm schon Kenan!“
Er schüttelte nur den Kopf. „Selena nein!“, Seine Stimme wurde lauter und ich zuckte leicht zusammen. „Darf ich dir was zeigen?“, fragte ich ruhig und nahm seine Hand. „Okay.“, gab er langsam zurück.
„Als ich heute Morgen geduscht habe, sah ich einen grellen Lichtblitz und nun schau dir das da mal an.“ Wir standen zusammen im Badezimmer vor der Dusche und ich deutete auf den Ruß Fleck an der Decke.
„Ach das hat noch Garnichts zu bedeuten.“m murmelte Kenan, doch ich war noch nicht fertig und stürmte schon in mein Zimmer. Er folgte mir. Es war mir egal ob er mich jetzt für Irre hielt. Mein Blick glitt über das Bücheregal.
„Hier schau dir das an.“ Ich reichte ihm das Buch mit den Elfennamen.
„Du hast die Chronik von Kerodar?“, sagte er verblüfft.
„Also gibt es sie wirklich. Die Elfen, die Wesen dort.“, steiß ich begeistert hervor.
Er nickte leise und hielt das Buch wie einen Schatz in den Händen.
„Woher hast du das?“
„Ich habe es hier im Bücherregal gefunden, als ich etwas zu lesen gesucht habe.“ Kenan setzte sich mit dem Buch auf eines der Sofas und ich setzte mich neben ihn.
„Ich möchte zurück kennst du einen Weg?“, fragte ich aufgeregt, doch er ignorierte meine Frage. Denne r war schon dabei eifrig im Buch zu blättern.
„Was suchst du denn?“, ich lugte über seine Schulter und sah wie er starr auf den Namen starrte der in schwungvoller Schrift auf der Oberseite des Blattes stand.
Laryl.
Ich saß an meinem Fenster und starrte in den Garten. Nachdem Kenan den Namen im Buch gesehen hatte, war er aufgesprungen und hatte das Fenster aufgerissen, um kurz darauf hinaus zu springen und elegant auf dem Rasen zu landen. Dann rannte er so schnell weg, als wäre jemand hinter ihm her und verschwand… Irgendwo im Wald. Warum lebten hier eigentlich nur seltsame Menschen? Ich werde mich hier niemals wohl fühlen, das wusste ich schon jetzt. Doch nach Hamburg zurück konnte ich nicht, Ich saß hier fest. Meine einzige Möglichkeit wäre… Kerodar. Dort hatte ich Yavaan und Caelianna. Und Thaaia. Moment mal? War Thaaia hier?
Ich rannte die Treppe herunter und nach draußen zum Stall. Mein Pferd stand fressend in der Box und als es aufschaute hingen ihr noch Heu Reste im Maul.
„Na meine Hübsche?“, sanft strich ich ihr über die Nüstern. „Sollen wir es nochmal probieren mit dem Reiten? Nur dieses Mal nehmen wir das Tor, okay?“
Die Fuchsstute schnaubte zustimmend als hätte sie mich verstanden. Also holte ich mir Zügel und Sattel und machte sie startklar.
Wenig später standen wir startberiet vor dem Tor. In dem Moment, als ich das Tor öffnen wollte, tauchte Shane hinter den Eisenstangen auf.
„Oh Selena, wo wolltest du denn hin?“, fragte er und lehnte sich lässig gegen das Tor. Seine Augenbrauen verzogen sich skeptisch. Ich schwieg ihn für einen Moment an.
„Ich wollte ein bisschen Ausreiten, sie braucht ja schließlich auch mal Bewegung.“
„Super ich komme mit!“ Ich schaute ihn verwundert an.
„Und auf welchem Pferd willst du bitte reiten?“
Shane lachte. „Rück nach hinten, wir reiten zusammen auf Thaaia.“
Die Worte hallten in meinem Kopf wieder. Genau diese Worte hatte Yavaan zu mir im Wald gesagt.
„Vergiss es Shane. Jetzt geh aus dem Weg, ich mach das Tor jetzt auf.“
Mit dem Fuß trat ich auf den Knopf und das Tor schwang auf, sodass er gezwungen war, auszuweichen. Ich trabte an ihm vorbei, doch er holte schnell auf und rannte mit erstaunlicher Geschwindigkeit neben mir her.
„Halt an, oder ich springe auf!“, rief Shane verschmitzt.
Ich lachte hämisch auf. „Das schaffst du doch eh…“ Mit einem Satz saß er vor mir auf meinem Pferd und schob mich somit nach hinten. Er lachte laut, zog meine Hände um seinen Bauch und galoppierte los.
„Was wolltest du sagen, Selena?“ Auch wenn ich ihn nicht sah, wusste ich, dass er grinste und seine blauen Augen blitzten.
Wie er so mit mir durch den Wald preschte, wie glücklich er auf dem Pferderücke war, all das war mir so vertraut. Aber nicht von Shane. Ich beschloss zu vergessen, dass ich sauer war und einfach den Moment zu genießen.
„Warum kannst du so gut reiten? Ich habe dich in Deutschland nie reiten gesehen.“, rief ich ihm zu.
„Ich habe mal in Amerika gewohnt, schon vergessen? Und Thaaia war mein Pferd. Als ich hörte, dass sie wieder zum Verkauf stand habe ich sie zurück gekauft und dir geschenkt.“, gab er zurück.
Was für ein Zufall.
Anstatt zur Hauptstraße zu reiten, bog er vorher in einen kleinen Wald Pfad ein, der mir vorher noch nie aufgefallen war.
Wir galoppierten immer noch, die Stute hatte anscheinend viel Ausdauer. Irgendwann lockerte sich der Wald auf und ich hörte ein Rauschen.
„Wo sind wir?“, fragte ich und kurz darauf preschten wir aus dem Wald heraus an den Strand. Das Meer war türkisblau und der helle Sand wurde von Thaaias Hufen aufgewirbelt. Meine Haare wurden vom Wind ins Gesicht gepeitscht und ich klammerte mich fester um Shanes muskulösen Bauch.
„Es ist herrlich hier, Shane!“, jubelte ich und schloss meine Augen.
„Deswegen sind wir hier!“, rief er zurück und zügelte Thaaia zum Traben.
Wir ritten eine kleine Klippe herauf und oben blieben wir stehen. Shane sprang vom Pferd und hob mich danach herunter. Ich lachte vor Glück, genoss es nach so langer Zeit mal wieder glücklich zu sein. Und wer schaffte das wieder einmal? Shane, mein bester Freund der so viel für mich getan hatte.
Er nahm meine Hand und führte mich zu einem Baum der einsam auf der Klippe wuchs. Er war alt und knorrig und ein dicker Ast wuchs waagerecht über den Abhang hinweg. Als ich wieder zu Shane schaute, saß er auf dem Baum und reichte mir die Hand.
„Was hast du vor?“, fragte ich und starrte auf seine Hand.
„Ich möchte dir was zeigen.“
Also ergriff ich seine Hand und er zog mich zu ihm auf den Baum. Wir kletterten weiter nach oben, wobei er mir immer wieder half und saßen schließlich auf dem waagerechten Ast. Unsere Füße baumelten in der Luft und unter uns tobte das Meer. Die großen dunkelblauen Wellen klatschten gegen die Felswand. Ich war so glücklich wie lange nicht mehr. Es war so schön hier. Nur Natur, keine lauten Autos. Und ich hätte niemals gedacht dass ich das jemals denken würde.
Ich schaute zu Shane, der mich anlächelte. Ich lächelte zurück und sah wieder das glänzen in seinen Augen. „Das habe ich so vermisst.“, sagte er plötzlich und legte seinen Arm schützend um mich.
„Was hast du vermisst?“, fragte ich und schaute aufs Meer hinaus. Die Sonne ging langsam unter, und der Himmel färbte sich orange-rot. Die Engel backen Kuchen, das hatte Shane immer zu mir gesagt als ich elf und er dreizehn war. Er war schon immer wie ein Bruder für mich gewesen.
„Dein Lächeln.“, antwortete er und als ich ihn wieder ansah, merkte ich dass er mich immer noch anschaute.
„Ich hatte ja in letzter Zeit auch nicht viele Gründe dazu.“, gab ich zurück und seufzte. Jetzt war er derjenige der aufs Meer schaute. Ich schaute ihn einen Moment an, versuchte seine Meine zu deuten. War es Trauer? Oder Nachdenklichkeit? Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen und seine Lippen hatte er fest aufeinander gepresst. Er nahm den Arm von meiner Schulter und strich sich über sein Gesicht. Dann drehte er sich zu mir und setzte an etwas zu sagen, doch er tat es nicht. Er saß einfach da, mit halb geöffneten Mund und traurigem Blick.
„Was ist los mit dir? Alles in Ordnung?“ Ich legte meine Hand auf sein Knie.
„Wer glaubst du ist Celine?“
Warum musste er denn jetzt mit der anfangen?
„Naja, ich weiß nicht. Was genau meinst du?“, ich stockte als ich ihn nach Worten ringen sah.
„Naja, was glaubst du bedeutet sie für mich?“
Ich überlegte kurz und schämte mich plötzlich über mein Verhalten im Laden. Wie konnte ich so dumm gewesen sein? Wir waren doch nur Freunde.
„Es tut mir leid, dass ich so komisch war in dem Geschäft, aber ich war einfach so enttäuscht dass du ausziehst. Vielleicht war ich auch eifersüchtig auf sie, aber ich denke du weißt am besten was du willst. Mir macht es wirklich nichts aus mit wem du…“
Er schaute mich erschrocken an: „Nein! Nein, nein, nein so ist es nicht! Ich bin nicht mit ihr zusammen.“ Ich schaute ihn verwirrt an.
„Nicht? Aber ich dachte…“
Shane schaute mich an. „Nein, weißt du sie ist… Sie ist meine Schwester.“
Ich musste wohl ganz schön komisch aussehen, denn ich merkte wie er sich gerade so das Lachen verkneifen konnte.
„Seit ich nach Deutschland gezogen bin, habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie ist damals mit meiner Mutter hier geblieben und ich bin mit meinem Vater weg gezogen. Hier auf der Insel habe ich Celine dann wieder gesehen und sie bat mir an dass ich bei ihr wohnen könnte, weil ihr Strandhaus für sie alleine viel zu groß ist.“
„Sie- sie ist also deine Schwester? Und das erzählst du mir erst jetzt?“, fragte ich etwas verblüfft. Lauter dumme Zufälle. Irgendwie kam mir das alles etwas seltsam vor.
„Ich wollte dich nicht auch noch damit belasten, weil es dir eh nicht gut ging.“
Ich nickte: „Das ist…sehr rücksichtsvoll von dir gewesen. Aber jetzt weiß ich es ja und bin…“
„erleichtert?“, vollendete er meinen Satz. Ich wurde rot und merkte wie bescheuert sich das anhörte. „Nein! Nein! Wir sind nur gute Freunde! Mir macht es absolut nichts aus wenn du eine Freundin hast…..denke ich.“
Lächelnd drückte mich an seine Brust und drückte mir einen Kuss auf mein Haar.
Und ich saß da,
konnte nichts dagegen tun.
Musste zusehen wie der Blonde das Mädchen küsste und umarmte nach dem ich mich so sehnte.
Mein Mädchen.
Zum ersten Mal fühlte ich so etwas wie Trauer.
Schmerz.
Und Wut,
die Wut übernahm die Trauer.
machte die Traurigkeit, zu Aggressivität.
Ich konnte das nicht zulassen.
Sie gehörte doch zu mir. Und ich zu ihr.
Doch ich hatte keine Chance.
Jeder Junge der Welt konnte sie erreichen,
nur ich nicht.
In ihrem Kopf existierte ich nicht einmal.
Wir saßen noch lange auf dem Ast und schauten aufs Meer hinaus. Solange, bis die Sonne verschwunden war und die Dunkelheit herein brach. Mein Kopf war leer. Ich sah einfach nur die Wellen, die Sterne am Himmel. Es war still, nur das Rauschen des Meeres und das gleichmäßige Pochen von Shanes Herz. Mein Kopf lag immer noch auf seiner Brust. Meine Augen wurden schwer und meine Augen fielen mir zu. Nur ein bisschen Dösen.
Ein salziger Lufthauch ließ mich frösteln . Als ich mich aufrichtete kam ich kurz ins Straucheln und konnte mich gerade so am Ast festklammern.
„Shane?!“, rief ich. Er war weg. Warum hatte ich nicht gemerkt wie er mich auf den Ast gelegt hatte und weg gegangen war?
„Bin hier!“, hörte ich ihn rufen und ich sah einen Schatten auf mich zukommen.
„Wo warst du denn?“, fragte ich und krabbelte langsam vom Ast herunter auf den sicheren Boden zurück.
„Musste mir mal die Beine vertreten. Schaffst du es alleine nach Hause zu reiten? Celine hat mich angerufen sie braucht mich zu Hause.
„Ehm… natürlich. Bis morgen.“, rief ich und ging zu meiner Fuchsstute. Obwohl Thaaia nicht angebunden war, stand sie immer noch dort und schaute mich lieb an. Ich ging zu ihr und kuschelte mich an ihren Hals.
„Was hat er nur mit dir gemacht, dass du so lieb bist.“, ich lächelte und drehte mich in Shanes richtung um ob er noch da war. Aber er war schon verschwunden. Ich beschloss nicht sauer zu sein und ihm erst morgen eine Standpauke zu halten. Mich erst auf einem Ast in zwanzig Metern Höhe schlafen lassen und dann auch noch mitten im Nichts verschwinden. Pah!
Als ich Thaaia dort so stehen sah, lieb und geduldig, wusste ich. Dieses Pferd war etwas Besonderes. Eine Verbindung. Und ich wusste nicht zu was. Vielleicht war es auch andersrum und Shane war die Verbindung.
„Die Verbindung?“, flüsterte ich.
In meinen Kopf schossen die Bilder aus dem Wald vorbei. Der junge Elf vor mir wie er sagte: "Mein Name ist Yavaan, bedeutet die Verbindung zum Wald.“
Ich schüttelte diese Gedanken aus meinem Kopf, doch als ich auf Thaaia den Strand entlang ritt kam schon die nächste Erinnerung.
"Thaaia, ist eigentlich mein Pferd. Aber zu deiner Frage, sie kann gerne mit kommen sie wurde schon lange nicht mehr bei uns gesehen."
Irgendwas hatten Yavaan und Shane gemeinsam. Doch ich wusste nicht warum und wie das möglich war.
Ich lag im Bett und wälzte mich umher. Meine Gedanken schwirrten. Ich dachte an den Abend mit Shane. Was hatte er nur mit dem Elfen gemein? Das Aussehen war es jedenfalls nicht. Shanes Gesichtszüge waren längst nicht so markant wie Yavaans und dazu kam noch dass mein bester Freund einen Kopf kleiner war als der Elf. Ich versuchte mir diese Gedanken aus dem Kopf zu schütteln doch es ging nicht. Von all den schlaflosen Nächten war ich so erschöpft. Ich wusste einfach nicht mehr weiter, wusste nicht mehr was ich tun sollte. Im Halbdunkel starrte ich die Decke an.
Ich spürte wie leer und verlassen sie sich fühle.
Doch nur ich wusste warum.
Würde sie mich nur einmal sehen, wissen wie ich aussehe.
Dann würde mich nichts mehr davon abhalten können zu ihr zu kommen.
Doch niemand von außerhalb durfte wissen wie ich aussehe.
Niemand.
Auch sie nicht.
Und das machte mich wütend.
„Ich soll hier zur Schule gehen? Wo ist denn hier bitte eine Schule?“, fragte ich erschrocken und schaute meinen Vater verwirrt an. Ich wusste natürlich auch dass es eine Schule hier gab, Kenan hatte mich schließlich gefragt ob ich dort hingehen würde.
Ich setzte mich in meinem Bett auf und strich mir das Haar aus dem Gesicht.
„Natürlich gibt es hier eine Schule, sei doch nicht albern. Du wirst ab heute auf die Damviet High-School gehen.“
Ich glaubte nicht richtig zu hören.
„Heute schon?“
Er nickte: „Um sieben bist du fertig dann fahr ich dich zum Bus.“
Und somit verließ er mein Zimmer. Ich hatte nur eine halbe Stunde um mich fertig zu machen? Hektisch schleuderte ich meine Bettdecke beiseite und rannte zu meinem Koffer.
Bis ich etwas Vernünftiges gefunden hatte, lagen schon alle meine Klamotten auf dem Boden verstreut. Mit dem Stapel Kleidung rannte ich ins Badezimmer und sprang gehetzt unter die Dusche. Als ich mit dem einen Fuß aus der Dusche heraus war, hatte ich schon die Zahnbürste in der Hand. Mit der einen schrubbte ich meine Zähne, mit der andern kämmte ich meine Haare. Als ich schließlich angezogen vor dem Spiegel stand, war es sieben Uhr, doch ich hatte mich noch nicht geschminkt.
„Selena!“, schrie mein Vater von unten.
Also schnappte ich mir meine Schminktasche und einen Handspiegel und rannte nach Unten. Mein Vater stand wie zu erwarten schon vor der Haustür und machte ein mauliges Gesicht. Er wollte gerade anfangen zu meckern, als ich ihm das Wort abschnitt.
„Du weißt genau dass ich mehr als eine halbe Stunde im Bad brauche, also was weckst du mich so spät? Selber schuld!“, pampte ich, riss ihm meine Schultasche aus der Hand und stürmte aus dem Haus.
Im Auto begann ich mich dann zu schminken und als mein Vater endlich auch am Auto ankam, verdrehte er nur die Augen.
„Warum musst du dich eigentlich immer schminken?“ Ich zuckte mit den Schultern und betrachtete mein Auge im Spiegel. Ein schwarzer Lidstrich, grauer Liedschatten und schwarze Volume Mascara. Ich fand das nicht zu viel. Immer diese Väter.
Die Schule war in der gleichen Straße wie die beiden Läden und bestand aus einem einzigen beigen Gebäude. Wir hatten unterwegs keine Bushaltestelle gefunden und Dad musste mich wohl oder übel zur Schule fahren.
Als ich auf das eckige Gebäude zuging, wurden mir erstaunte Blicke zugeschleudert. Warum starrten die mich alle an, als wäre ich ein Alien? Ich versuchte es zu ignorieren, schlang meinen rosanen Schal enger um mich und öffnete die große Flügeltür.
Dahinter lag ein langer heller Flur mit mehreren Schließfächern. Die Schüler kramten darin herum nach ihren Büchern und machten sich kurz drauf auf den Weg in ihr Klassenzimmer.
Langsam ging ich den Flur entlang. Wo sollte ich denn nun hin? Ich kannte hier niemanden. Anscheinend bestand diese Schule nur aus zwei Fluren. Einmal der Hauptflur, von dem man in die Klassenzimmer kam, und ein kleiner Nebenflur mit Toiletten und einer Treppe in das Obergeschoss.
Ich wollte gerade die zweite Etage absuchen, mit der Hoffnung dort eine Lehrerin zu finden, da tippt mir jemand auf die Schulter.
„Selena?“, sagte eine mir allzu bekannte Stimme.
„Kenan! Ein Glück dass du mich gefunden hast, ich habe keine Ahnung wo ich hin muss!“, stieß ich hervor.
Als ich ihn genauer betrachtete, fiel mir auf dass er verändert aussah. Er war gefühlte fünf Zentimeter gewachsen, ebenso wie sein Haar. Es war nicht mehr nach oben gekämmt, sondern bedeckte schon seine Ohren. Sein Kinn schien mir markanter geworden und seine Augen waren nun grau-blau. Ich erkannte den jungenhaften Kenan, in diesem fast schon Erwachsenen Jungen gar nicht wieder.
„Warum guckst du mich denn so komisch an? Hab ich was im Gesicht?“
Ich musste wohl etwas seltsam geguckt haben. Ich schüttelte den Kopf.
„Wo warst du gestern eigentlich so schnell?“
Er trat von einem Bein auf das andere.
„Naja… lass uns nicht hier darüber reden.“
Er deutete mit dem Kopf hinter mich.
Erst verstand ich nicht doch als ich mich umdrehte sah ich sie. Zwei Personen standen auf einem Treppenabsatz und unterhielten sich. Ab und zu blickten sie mal zu uns herüber. Der Junge war groß, muskulös und hatte schwarzes Haar. Seine Haut war blass und fast durchscheinend. Er erinnerte mich ein wenig an James, nur dass dieser Junge sich dunkel kleidete und fast unheimlich wirkte.
Das Mädchen mit der er sich unterhielt war genau so blass und groß. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden und die Augen waren tiefschwarz geschminkt. Ihre Lippen voll und in einem kräftigen Lila. Sie trug ein eng anliegendes schwarzes Kleid und zum Lippenstift passende Pumps.
Das Mädchen schaute mich mit einem mal mit ihren dunklen Augen direkt an. Ihre dünnen schwarzen Augenbrauen waren hoch gezogen und sie betrachtete mich eingehend.
Der Junge riss ihr am Arm und die beiden gingen eilig die Treppe herauf. Sie schaute mich noch einmal über die Schulter an und kassierte dafür von dem Jungen einen Schlag in die Seite. Dieser Augenblick ging schneller vorbei als es schien und ich drehte mich wieder zu Kenan, der etwas angewidert schaute.
„Wer war das denn?“, fragte ich ihn.
„Das waren Caleb und Symphonie.“
Hieß das Mädchen wirklich Symphonie oder hatte ich mich verhört? Ohne dass ich weiter nachhaken musste fuhr er fort.
„Caleb ist ihr großer Bruder und sie sind eigentlich immer eher für sich. Wie du ja anscheinend bemerkt hast steht sie oft unter seiner Fuchtel. Die beiden sind echt fies und du solltest dich wirklich von denen fern halten.“
Ich erinnerte mich an den Schlag in die Rippen, den Symphonie von Caleb bekam.
„Und…“
Er unterbrach mich.
„Ich erzähl dir das später aber zuerst muss ich in den Unterricht. Bye!“, rief er und verschwand einfach. „Kenan! Halt wo muss ich denn jetzt hin?“, doch er war schon längst verschwunden. Na Klasse. Immer haute er ab wenn es ihm nicht wohl war. Weichei.
„Ist er dir einfach davon gelaufen?“, säuselte eine Stimme hinter mir.
Ich drehte mich ruckartig um und schaute direkt in die schwarzen Augen von Symphonie. Ich war unfähig zu sprechen, also übernahm sie das.
„So was aber auch. Dein kleiner Freund ist weg und die Neue ist Stumm. Hat er deine Zunge mitgenommen?“, zischt sie.
Ich konnte ihr schonwieder nicht antworten.
„Oh wie unhöflich von mir, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt! Ich heiße Symphonie.“, sie streckte mir ihre blasse Hand entgegen.
Ich ergriff sie und die Kälte ihrer Haut holte mich in die Realität zurück.
„Ich heiße Selena.“ Sie machte große Augen.
„Ach, die kann ja doch reden!“
Jemand lachte schäbig neben ihr.
Erst jetzt nahm ich ihn wahr. Neben Symphonie stand Caleb. Er überragte mich um fast zwei Köpfe und stand mit verschränkten Armen und gelassenem Blick dort herum. Als er sah wie ich zusammen zuckte reichte auch er mir die Hand.
Jetzt wo er so vor mir stand fiel mir auf, wie perfekt er aussah. Trotz seiner blassen Haut war sein Gesicht hübsch. Eine Schmale Nase und mandelförmige Augen. Seine Lippen waren voll und geschwungen. Die zotteligen schwarzen Haare fielen ihm immer wieder ins Gesicht. Kenan war ja schon gut aussehend, aber er übertraf ihn noch.
„Nett dass du mir auch mal deine Aufmerksamkeit schenkst Selena. Ich bin Caleb.“
Zögernd schaute ich auf seine Hand, nahm sie dann aber doch. Die Kälte versetzte mir einen weiteren Schlag.
„Ach Symphonie, ich frage mich warum der liebe Kenan immer abhaut wenn er uns sieht!“
Dieses Mal war sie diejenige die lachte.
„Wirken wir denn so gefährlich auf euch?“ Er grinste verschmitzt und entblößte zwei spitze Eckzähne.
Wie passend.
Ich nahm all meine Mut zusammen, nur um diese eine Frage zu stellen: „Könnt ihr mir sagen wo das Klassenzimmer zehn ist?“
Ja diese ‚High School‘ hatte tatsächlich Klassen! Und zwar von jedem Jahrgang eine!
Er kam einen Schritt auf mich zu. „Aber klar, da müssen wir doch auch hin!“
Die beiden wirkten nicht so als ob sie überhaupt noch zur Schule gingen.
Symphonie hielt mir ihre Hand erneut hin.
„Na komm Süße.“ Ich wollte ihre Hand ignorieren, doch sie nahm meine einfach und führte mich die Treppe hinauf.
Als wir die Klasse betraten, waren die meisten Schüler schon da. Kenan saß mit einem blonden Jungen und einem rothaarigem Mädchen in einer Reihe. Als ich mit Caleb und Symphonie herein kam wurde alles ruhig. Kenan schaute mich besorgt an und warf mir einen Ist-alles-in-Ordnung-Blick zu. Ich schaute ihn nur Vorwurfsvoll an.
Caleb setzte sich auf einen Platz ganz hinten und Symphonie führte mich zu einem Platz auf dem ich zwischen den Beiden Geschwistern saß. Na klasse, das hatte mir ja gerade noch gefehlt.
Ich konnte die ganze Stunde nicht dem Unterricht des buckligen Lehrers folgen, weil die beiden neben mir mich mit Blicken löcherten. Als Caleb merkte wie meine Hand unter dem Tisch zitterte, nahm er sie heimlich und drückte mir, als keiner hin schaute einen Kuss auf den Handrücken. Ruckartig zog ich sie weg und rieb mir über die kalte Stelle wo seine Lippen meine Haut berührt hatten. Die beiden Geschwister fingen an zu kichern und ich versank tiefer auf meinem Stuhl.
„Und was unternimmst du heute Nachmittag?“, fragte Symphonie mich als wir das Schulgebäude verließen.
Die Beiden hatten mich doch tatsächlich den ganzen Tag nicht alleine gelassen, was mich trotzdem nicht dazu brachte selbstsicher zu antworten.
„Naja.. ich weiß noch nicht. Hausaufgaben machen, denke ich.“
Caleb lachte leise. „Sicher nicht Süße.“
Bei dem Wort ‚Süße‘ zuckte ich zusammen, was ihn wieder dazu veranlasste meine Hand zu nehmen. Dieses Mal ließ er sie jedoch nicht wieder los.
„Meine Schwester und ich wollen heute einen kleinen Ausflug unternehmen. Wie wär’s bist du dabei?“
„Naja ich weiß nicht…“, begann ich, doch Symphonie schnitt mir das Wort ab.
„Na! Natürlich kommst du mit, was für eine Frage!“
Und somit zog Caleb mich weiter, ohne meine Hand los zu lassen. Wenn man sich mit den beiden einließ stand anscheinend automatisch unter ihrer Fuchtel. Wo war ich da nur wieder rein geraten. Auf dieser Insel lebten wirklich nur komische Menschen.
„Wo willst du denn hin, Liebling?“, fragte meine Mutter und stellte eine saubere Tasse in den Schrank.
„Ich treffe mich mit Freunden.“
Während ich den einen Schuh schon an hatte, hüpfte ich mit dem anderen quer durch die Küche um mir vom Tisch einen Apfel zu nehmen.
„Und du willst wirklich nicht erst noch zum Mittag essen?“, murmelte meine Mum und lief mir hinterher.
„Nein, ich muss gleich los.“
Auf einmal wollte ich unbedingt die beiden Geschwister wieder sehen. Wenigstens musste ich dann dieses große Haus nicht ertragen.
Auf dem ganzen Rückweg vom Bus hatte ich darüber nachgedacht, wie ich mich vor dem Treffen drücken konnte, jetzt konnte ich es gar nicht erwarten sie zu sehen. Oder vor allem ihn. Diese vollen schwarzen Haare, die muskulösen Arme, die dunklen Augen und das verschmitzte Lächeln wenn ich verlegen werde.
Ich merkte wie ich rot wurde und wandte schnell mein Gesicht ab.
„Alles okay bei dir, Liebling?“, fragte Mum mich und ging um mich herum.
„Ja, wirklich alles in Ordnung, ich muss dann auch los.“
Den angebissenen Apfel schleuderte ich zurück in die Schale und stürmte aus dem Haus.
„Komm nicht zu spät wieder!“, hörte ich sie noch rufen, knallte aber schnell die Tür zu.
Was ging denn jetzt mit mir ab? So durfte ich einfach nicht denken.
„Sie mal wer da auf dem hohen Ross angeritten kommt.“, rief Symphonie als sie mich sah.
Sobald ich sie in der Ferne sah, spornte ich Thaaia zum Traben an und machte kurz vor ihr halt.
„Hey Symphonie, wo ist denn Caleb?“, ich sprang schwungvoll vom Pferd, merkte aber erst dann wer da vor mir stand.
Schlagartig wurde ich wieder nervös. Warum bin ich denn bloß her gekommen?
„Oh, der kommt bald. Lass uns los.“
Gerade wollte ich sie fragen wo denn ihr Pferd sei, da holte sie eine hochgewachsene Stute hinter den Bäumen vor. Ihr Fell war schwarz glänzend und die weiße Mähne hing ihr weit über den Hals. So eine Pferdeart hatte ich noch nie gesehen. Auf dem breiten Rücken lag ein großer Sattel mit silbernen Nietenverzierungen und das Zaumzeug glänzte metallic farbend.
Wir preschten durch den Wald und ich war erstaunt darüber was für eine tolle Reiterin sie war. Ihr langer schwarzer Mantel wehte hinter ihr, während sie im eleganten Damensitz neben mir galoppiert. Die Zügel hielt sie nur in einer Hand, die andere legte sie auf den breiten Pferdehals.
Wir machten erst halt, als wir auf einer kleinen Lichtung ankamen. Das kurz gehaltene Gras war übersäht mit winzigen dunkelroten Blumen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Weiter hinten ging die Wiese in grauen Steinboden über und direkt dahinter lag ein kleiner Teich mit einem rauschenden Wasserfall.
„Wow , ist das schön hier, Symphonie!“
Doch ich bekam keine Antwort. Und als ich mich umdrehte war ich alleine. Panisch stieg ich vom Pferd ab und rief ein paar Mal ihren Namen. Als keine Antwort kam, beschloss ich trotzdem zu bleiben. Ich ließ Thaaia grasen und setzte mich an das Ufer des Teiches. Die glitzernde oberfläche wirkte magisch. Wie alles andere hier auf der Lichtung auch.
„Weißt du, ich finde Wasser wirkt beruhigend.“, ich hörte eine monotone Stimme hinter mir.
Er setzte sich neben mich und strich mit einem Finger über die glänzende Wasseroberfläche.
„Caleb?“, ich sah zur Seite und beobachtete wie sein Gesichtsausdruck weicher wird.
„Enttäuscht?“, seine Miene war traurig als er mich ansah.
Hatte ich mich so enttäuscht angehört?
„Nein, alles andere als das. Ich bin froh dich-zu-sehen.“, die letzten Worte kamen mir nur schwer über die Lippen.
Seine Mundwinkel zuckten, als wolle er grinsen.
„Weißt du, ich komme oft hier her. Nur um zu merken wie einsam mein Leben doch ist.“ Sein Kiefer spannte sich an.
Ich wusste nicht was ich antworten sollte. Niemand wollte diese aufmunternden Worte hören, die doch nicht stimmten. Ich kannte Caleb ja kaum, das einzige was mir an diesem einen Schultag aufgefallen war, ist dass die Beiden ziemlich wenige Freunde hatten.
Er fuhr fort ohne von mir eine Antwort zu erwarten.
„Der einzige Mensch den ich habe, ist Symphonie. Und das nur weil wir so anders sind. Eine grausame Welt.“
Caleb macht eine kurze Pause, als kämpfte er mit sich selber, diese Worte auszusprechen.
Mein Blick glitt von der Wasseroberfläche direkt in seine dunklen Augen. Er schaute mich mit einer so verletzten Miene an, dass ich ihn am liebsten umarmt hätte, doch das tat ich nicht. Ich schwieg einfach weiter, da ich es für das sinnvollste hielt, ihm zu zuhören.
„Ich habe dir die Stimmung versaut oder?“, seufzte er und lehnte sich zurück.
Ihm schien es nichts auszumachen auf dem harten Stein zu liegen.
„Nein, das hast du nicht. Ich weiß nur einfach nicht, was ich dazu sagen soll.“
Ich lehnte mich ebenfalls zurück und schaute zum Himmel. Zwischen den hohen, grünen Baumkronen, schaute der blaue Himmel durch. Bauschige Wolken zogen vorbei, während wir schweigend nebeneinander lagen. Ich wusste nicht wie lange wir so verharrten, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Er strahlte eine solche Kälte, aber gleichzeitig auch solch eine Ruhe aus.
Ich drehe meinen Kopf auf die Seite um ihn anzusehen und erschrak. Seine dunklen Augen waren direkt auf mich gerichtet. Hatte er mich die ganze Zeit beobachtet? Ich wurde ursprünglich rot und wendete mich rasch ab.
Caleb konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, das merkte ich daran wie er sprach.
„Was ist denn los, Sel?“
Bei dem Spitznamen zuckte ich kaum merkbar zusammen.
Sel, Sel , Sel… hallte es in meinem Kopf, als ich die Haustür aufstoße und in mein Zimmer renne. Nachdem Caleb mich so genannt hatte, kamen die Erinnerungen an James schlagartig zurück, obwohl mich viele so genannt hatten, erinnerte es mich sofort an ihn. Kurz darauf habe ich mich verabschiedet und Caleb bestand mich bis zu meiner Pforte zu begleiten. Er war auf meinem Pferd mit geritten und vor dem großen Metalltor, das zu meinem Grundstück gehörte, angehalten.
Ich kramte wie wild in meiner Kommode und fand was ich suchte. Behutsam hielt ich die kleine Schachtel in der Hand. Mit zwei Fingern klappte ich sie auf und strick über den Samtweichen Stoff wo einst die Kette von James gelegen hatte. Wütend über meine eigene Sensibilität blinzelte ich die Tränen aus meinen Augen und ging rüber zu dem Samt Sofa.
Mein Blick huschte über die verschiedenen Buchrücken im Regal, bis ich schließlich fündig wurde.
Meine Finger strichen über das alte Papier. Immer und immer wieder murmelte ich diesen einen Namen.
Laryl…
Wo bist du?
Wer bist du?
Ich erinnerte mich an Yavaans Worte:
„Wenn man ihn einmal gesehen hat, oder weiß wie er aussieht, passiert es oft, dass man an ihn denkt.
Und sobald er in deinen Träumen erscheint, steht er vor dir.“
‚Wie gerne wüsste ich wie du aussiehst. ‘, murmelte ich in Gedanken.
„Wie wer aussieht?“, fragte Kenan und beugte sich von hinten über meine Schulter um auf das Buch zu schielen.
Ich fuhr zusammen und schlug erschrocken das Buch zu. Hatte hier eigentlich jeder die schlechte Angewohnheit sich anzuschleichen? Und wie zum Teufel kam er denn überhaupt hier rein?
„Tut mir Leid wenn ich dich erschreckt habe, aber du warst so in Gedanken dass ich dich nicht stören wollte.“, gab er zurück und kam um das Sofa herum. Wiederwillig klopfte ich einmal neben mich auf das Polster.
„Wo bist du heute so schnell gewesen?“, fragte ich und legte das Buch auf den kleinen Tisch vor mir.
„Ich musste in den Unterricht, sagte ich doch bereits.“
„So eilig? So eilig dass du mich alleine lassen musstest?“, schnaubte ich.
„Du hast doch Klassenkameraden gefunden die dich herumführen.“, gab er fast sogar eingeschnappt zurück.
„Super, besser hätte es mich nicht treffen können.“ Ich verschränkte die Arme und schaute Kenan in die
grau-blauen Augen.
„Irgendein bestimmter Grund warum du beschließt unangemeldet hier aufzutauchen?“, ich war eindeutig in Angriffshaltung und gereizt von seiner Unverschämtheit.
„Nein, ich wollte nur mal vorbei schauen. Sehen wie es dir geht. Was du so machst. Worüber du nachdenkst, was wenn du mich fragst, sehr interessant ist.“ Er grinste in sich hinein. Kenan sah meinen fragenden Blick und deutete daraufhin auf das aufgeschlagene Buch.
„Laryl, hm?“, sagte er und beugte sich vor um das Buch aufzuheben, doch ich kam seiner Hand zuvor und schnappte es weg.
Mit einem einzigen Handgriff klappte ich es zu und schützte die heiklen Informationen vor meinem, nicht ganz so offenen aber wissenden Bekannten. Ich wagte es nicht, ihn auch nur als entfernten Freund zu bezeichnen.
„Darf ich das nicht sehen?“, er schmunzelte und ich sah wie seine offene Handfläche vor mir schwebte.
„Zeigst du mir wie ich ihn finde?“, konterte ich und ignorierte seine Hand.
„Nein.“
Ich schnaufte enttäuscht.
Sein Blick folgte mir, als ich das Buch zurück ins Regal stellen wollte. Ich wusste genau wie sehr er dieses Buch noch einmal in den Händen halten wollte. Darum versuchte ich weiter zu Handeln und ging mit dem Buch zurück zu ihm.
„Du darfst lesen, wenn du mich nach Kerodar bringst. Was sagst du?“, ich setzte mich langsam zurück auf das Sofa und musterte ihn eingehend, während er darüber kurz grübelte.
„Du willst also wirklich zurück nach Kerodar? Ernsthaft?“, fragte er und strich sich mit der Hand über die Augen.
„Ernsthaft.“, bestätigte ich und ließ die dünnen Seiten durch meine Finger schnellen.
„Also gut. Auf geht’s. Aber zuerst lässt du mich lesen.“
Ich staunte über seinen plötzlichen Meinungswechsel.
„Nein. Ich werde nach Kerodar gehen und dann bekommst du das Buch.“
„Ich werde dich natürlich begleiten.“, gab er zurück.
„Vergiss es. Ich werde alleine gehen.“
„Ich glaube einfach nicht, dass du mich überreden konntest.“, murmelte ich während wir die Steinmauer betrachteten.
„Glaub es ruhig.“, er untersuchte diese blöde, rote Mauer schon seit einer Stunde, ohne Erfolg.
Nachdem er das Buch nach allen Informationen durchsucht hatte, waren wir zur Mauer, die den Wald abgrenzte, gegangen. Kenan war der festen Überzeugung, dass genau dieses Stück das Tor zu Kerodar wäre.
„Bist du dir sicher, dass du weißt wie man hier herein kommt?“
Meine Frage wurde nur mit einem energischen Sscht beantwortet.
Nach einer weiteren halben Stunde ließ ich mich ins Gras fallen, lehnte mich gegen die Mauer und schloss die Augen. Im Hintergrund hörte ich wie Kenan weitersuchte und zwischendurch einen enttäuschten Laut von sich gab, wenn er erfolglos war. Inzwischen hatte ich das Gefühl dass er gar nicht wusste wie ich dort hin kam und er es nur als Vorwand benutzt hatte um das Buch lesen zu können.
„Was genau erwartest du eigentlich an dieser Stelle? Dass ein geheimes Tor auftaucht?“, ich lachte verächtlich auf und streckte mich im Gras.
„Nein. Es ist eher eine Art Portal, nur ich weiß nicht mehr wie man es hervorruft.“
„Wie bitte?!“, ich fuhr zusammen, „Du weißt es nicht?!“
„Doch! Ich meine… Ich weiß, dass Lu sagte es sei auf diesem Stück Mauer.“
„Wer ist Lu?“, ich setzte mich auf und Kenan ließ sich neben mir fallen.
„Lucy war eine gute Freundin von mir. Sie war sehr Kunst vernarrt. Immer wenn ich zu realistisch dachte, sagte sie zu mir: ‚Sei Kreativ!‘ Doch ich konnte nie so sein. Also erwiderte Lu einmal: ‚Kunst ist der Schlüssel zur Fantasie. Ein Schlüssel den du nicht kaufen, aber erschaffen kannst.‘ Kurz nachdem sie das zu mir gesagt hatte, machte sie ihre Worte wahr und brachte mich nach Kerodar.“
„Was ist aus ihr geworden? Lebt sie noch?“ Da ich aus seinen Worten nicht schlau wurde fragte ich einfach weiter. Er konnte manchmal echt komisch reden. Er redetet wie ein Rätselbuch. Moment, hatte ich gerade tatsächlich seine dumme Redewendung verwendet? Verdammt.
Kenans Gesicht wurde traurig und er hob kurz die Schultern.
„Ich glaube schon.“
„Du glaubst schon? Weißt du wo sie war als du sie das letzte Mal gesehen hast?“
„Ja.“, gab er knapp zurück und richtete seinen Blick in die Ferne. „In Kerodar.“
„Sie ist in Kerodar? Aber warum ist sie denn nicht mit dir zurückgekommen?“, fragte ich, immer noch vollkommen aus der Fassung gebracht. Seine Antwort war nur ein langsames Kopfschütteln.
„Sie konnte nicht.“
„Warum nicht?“, fragte ich weiter.
„Sie wird festgehalten. Ich habe Jahre lang versucht zu ihr zu gelangen, um sie da raus zu holen, aber ich finde dieses verdammte Portal nicht mehr!“, seine Stimme ist laut und aufgekratzt.
Als er mein erschrockenes Gesicht sah, fuhr er ruhiger fort: „Verstehst du jetzt warum ich dich da nicht reinlassen wollte?“
Ich musste Schlucken. Hier saß ein fast fremder Junge vor mir und erzählt mir seine Geschichte, als wären wir Freunde. Obwohl ich dachte ich kann ihn nicht ausstehen, fange ich an mich mit seinem seltsamen Verhalten anzufreunden.
„Aber ich war schon mal dort und bin wieder zurück gekommen.“
„Ja. Und ich frage mich immer noch wie du das geschafft hast.“, er schaut mich prüfend an.
„Aber du bist doch auch wieder hier. Ich verstehe nicht was du meinst.“
„Das ist was anderes.“, blockte er ab. „Ich wollte ja auch nicht dort bleiben.“
„Und sie wollte? Warum?“, ich musste daran denken, wie ich mich in Kerodar gefühlt hatte. All diese bunten Pflanzen, die Ausritte über weite Wiesen und die kleinen Häuser. Und dann ist da noch Yavaan. Der Gedanke an den hübschen Elfen versetzte mir einen Stich.
„Sie... Wir waren in Rudar. Dort hat sie jemanden gesehen den sie nicht mehr loswerden wollte. Oder auch nicht konnte.“, ich musste nicht mehr nachhaken, er erzählte einfach weiter und ich unterbrach ihn nicht. „Er hieß Ilik, ein mächtiger Traumelf. Seine Fähigkeit war es, den Nebel zu beherrschen. Das hört sich vielleicht Harmlos an, ist es aber nicht. Jedenfalls war sie hin und weg von ihm. Ich war nur noch Nebensache. Und als ich sie bat wieder zurück nach Selavide zu gehen, fing sie an zu weinen und erklärte mir ihre Lage. Sie durfte nicht zurück.“, sein Blick war abwesend, als sei er vollkommen in die Vergangenheit abgetaucht.
„Sie sagte er würde ihr folgen und den anderen Schaden zufügen. In den Moment wusste ich nicht was los war, warum sie nicht mit mir zurück konnte. Dank deinem Buch, habe ich nach drei langen Jahren endlich die Antwort bekommen. Ilik war ein Traumelf. Wäre sie zurück nach Selavide gegangen, hätte sie von ihm geträumt. Er könnte durch sie auf der Menschenwelt umhergehen wie er möchte. Laryl ist auch einer von ihnen, er würde ebenfalls herkommen, wenn du ihn siehst. Das Problem dabei ist aber, dass Ilik im Gegensatz zu Laryl gar nichts ist.“, als er aufhörte zu sprechen wirkte es als würde er aus einem langen Traum aufwachen.
Ich hatte keine Worte für das was ich eben erfahren hatte. Die Geschichte von Kenan und Lu war kurz aber zerreißend. Doch trotz dieser eindeutigen Warnung, wollte ich unbedingt Laryl treffen. Jetzt war mir deutlich geworden, wie sehr diese Welt der Realität entsprach. Es gab sie, und Kenan und Lu waren dafür der lebende Beweis.
Als ich im Haus ankam ging ich sofort zum Bücherregal und zog das Elfenbuch heraus. Kenan war, als es dunkel wurde, nach Hause gegangen. Ich warf das Buch auf mein Bett und stürzte ins Bad um mich umzuziehen.
Angespannt setzte ich mich aufrecht ins Bett und hielt das alte Buch in meinem Schoß. Nach einem tiefen Ein- und Ausatmen schlug ich das Buch auf und schaute das Inhaltsverzeichnis durch. Bei dem Buchstaben I waren nur wenige Namen aufgelistet, doch der Name den ich suchte war dabei. Ilik stand in einer alten Schrift mit fast verblasster Tinte dort. Es war eine andere Schrift als bei Laryl und Yavaan. Es war eine der ersten Seiten. Meine Finger zitterten als ich nur die unteren Seitenzahlen durch gucke, um eventuelle Bilder zu vermeiden.
Seite 19. Ich hielt inne, starrte die Zahl an. Wenn ich das Foto sah, war es zu spät. Dann war hier niemand mehr sicher.
„Nein! Was tu ich denn hier?“, stieß ich laut hervor, legte ein Stift in die Seite, legte das Buch auf mein Bett und sprang auf.
Luft, ich brauchte Luft. Das Atmen fiel mir schwer. Fast hätte ich das Leben von Hunderten Menschen aufs Spiel gesetzt. Ich riss die Tür auf und trat auf den Balkon. Die Nacht war kühl. Ein Windstoß ließ mich frösteln.
Vor meinem Fenster sah ich die Stelle, an der wir das Portal gesucht hatten. Dieser Anblick deprimierte mich. Wie gerne hätte ich bei der Suche Erfolg gehabt.
Schnell ging ich wieder in mein Zimmer und ließ die Tür auf Kipp offen. Mit nackten Füßen tapste ich über den kalten Holzboden zu meinem Bett. Ich starrte das geschlossene Buch an und setzte mich auf die Bettkante. Vorsichtig klappte ich den Buchdeckel auf. Nur schnell ins Inhaltsverzeichnis gucken. Nichts weiter.
Da kam ein heftiger Windstoß, ließ das Buch flattern. Die dünnen Seiten schlugen an mir vorbei, bewegten sich so schnell dass ich nur einen verschwommen Halbkreis sah. Und bevor ich reagieren konnte, waren sie an dem Stift angekommen. Wieder so ein dämlicher Zufall. Und dieser war der dämlichste von allen.
Zwei dunkelblaue Augen starrten mich an. Ich erschrak und war unfähig mich zu bewegen. Dunkelbraune Haare, die nach oben gekämmt waren. Ein kantiges Gesicht und spitze Zähne die aus dem grinsenden Mund hervorstachen. Volle Augenbrauen, schmale Lippen und eine blasse, fast durchscheinende Haut. Das Portrait von Ilik.
Immer noch fassungslos starrte ich das Buch an. Meine Finger krallten sich so fest in die Bettkante, dass meine Knöchel weiß hervor traten.
‚Nein‘, dachte ich.
„Nein!“, mein leiser Schrei klang verzweifelt.
Wie konnte denn so etwas passieren? So etwas war unmöglich!
Wenn das Buch von einem Menschen verfasst wurde, der Traumelfen kannte, warum hatte er nicht auch dieses Bild entfernt? Wieso ließ diese Person zu, dass ein Mensch das Bild eines Traumelfen sah?
Immer wieder musste ich zu dem hübschen, aber furchteinflößenden Mann schauen. Er hatte nicht nur spitze Eckzähne. Nein seine ganzen Zähne waren spitz zulaufend wie kleine Dolche. Das Gebiss eines Raubtieres.
Und diese Augen. Die sonst so funkelnden Augenfarben der Elfen, waren bei ihm matt. Sie hatten keinerlei Lichtflecken. Und was mir noch auffiel, er hatte keine spitzen Elfenohren, dafür waren die Lederartigen Flügel umso größer. Sie reichten vom Kopf bis zu seinen Kniekehlen. Mehr sah man von ihm auch nicht. Nur eine trainierte Brust, die teilweise von einem offenen weißen Hemd bedeckt war und breite muskulöse Arme.
Seine Haltung war angriffslustig. Ein irres Grinsen, schmale Augen und ein gekrümmter Körper. Wie eine Raubkatze die zum Sprung ansetzte. Ich wollte die Beschreibung gar nicht lesen. Sie würde mir nur noch mehr grausames zeigen.
Ich musste hier weg! Ich musste nach Kerodar sonst würde er herkommen! Dann musste ich das Portal wohl alleine finden. Ich hasste den Autor des Buches dafür, so unvorsichtig gehandelt zu haben.
Mit zitternden Fingern tastete ich die Wand ab, immer wieder, aber ohne Erfolg. Ziegel für Ziegel, Fuge für Fuge. Aber nichts passierte.
„Suchst du was?“, eine raue, unangenehme Stimme hauchte mir direkt ins Ohr.
Erschrocken drehte ich meinen Kopf um und starrte direkt in die matten dunkelblauen Augen. Ich schrie laut auf und war blitzschnell aufgestanden. Die große Gestalt stellte sich auf, verschränkte lässig die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen die Mauer. Sein breites Grinsen legte eine Reihe weißer Zähne frei. Normale Zähne mit zwei spitzen Eckzähnen. Die Flügel an seinem Rücken fehlten ebenfalls.
„Tut mir leid mein Püppchen, dass ich dich erschreckt habe.“, seine unangenehm raue Stimme ließ mich zusammen zucken. Jeder Junge der sich bis jetzt an mich geschlichen hatte, war so überfreundlich gewesen. Doch er war so… ekelhaft, trotz seines guten Aussehens.
„Ilik“, murmelte ich leise. Er hörte es.
„Und wie ist dein Name?“, in seiner Stimme schwang tiefer Hohn mit.
„Selena.“ Seine Augen weiteten sich kurz.
„Selena, hm? Man was würde Laryl dafür geben dich zu sehen. Aber mal wieder habe ich das Glück ein menschliches Mädchen zu treffen. Und dann auch noch das Mädchen seiner Träume.“ Er lachte auf. Ein unmelodisches lautes Lachen. „Man, eine Traumelfe die Träume hat. Ich hab es einfach drauf mit den Wortwitzen.“
Laryl kannte mich?
„Hmm…. Ich genieße es immer wieder ein Ruess zu sein.“ Wieder ein grässliches Lachen. „Durch ein dummes ‚Versehen‘ “, Ilik sprach das Wort ironisch aus. „Hast du mein Bild gesehen und schon- Tadaa! – bin ich da!“
Mich schüttelte es bei dem Klang seiner Stimme. Als würde man Sandpapier schlucken und dann sprechen. Kratzend, dunkel und ekelhaft. Fehlte noch dass sein Gesicht mit Menschenblut beschmiert war.
„Aber wo ich schon mal hier bin“, sein Blick wurde ernst und er kam langsam auf mich zu. Ich wich ihm immer einen Schritt aus. „Da kann ich dir ja auch mal einen Gefallen tun, oder? So zu sagen als Gegenleistung für meine Eintrittskarte in eure Welt. Man das wird eine Zeit voller Festessen.“
Wir hatten uns irgendwie im Kreis gedreht, denn ich stieß mit dem Rücken gegen die Mauer.
Er legte den Kopf schief und schaute mich gierig an. Sein Körper drückte mich an die harte Steinmauer. Mir wurde schlagartig kalt. Ich versuchte ihn mit meinen Händen weg zu stoßen, doch er griff blitzschnell zu und hielt meine Handgelenke hoch.
„Denk nicht mal dran. Weißt du, ich liebe kleine Mädchen wie dich und du erinnerst mich ein bisschen an die bezaubernde Lu.“ Ein grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit.
„Ich würde liebend gerne etwas tun.“
Ilik riss den Mund auf und entblößte die spitzen Dolchzähne in seinem Mund. Jetzt erkannte ich den Mann vom Foto in ihm. Seine spitzen Zähne kamen meinem Hals näher. Seine eiskalten Lippen streifen meinen Hals und wandern zu der Stelle unter meinem Ohr. Mein ganzer Körper zitterte. „Du weißt sicher, dass Traumelfen sich gerne von Fleisch ernähren oder?“ Ich schauderte.
„Allerdings schulde ich dir was. Und ich weiß was du tun willst.“, mit einem lauten Brüllen schleuderte er mich über die Mauer und warf mich auf seine Schulter.
Er rannte durch den Wald, ich baumelte hilflos auf seiner Schulter und bin immer noch betäubt von seinen kalten Berührungen.
Doch ich wusste wo er hin rannte.
Er brachte mich zu ihm.
Er bringt sie zu mir.
meine geliebte Selena.
Endlich siehst du mich.
Endlich.
Endlich bist du mein.
Mein ganz allein.
Texte: Alina H.
Bildmaterialien: Eigene Fotos und Cover selbst bearbeitet! Brushes für Kapitelüberschriften: Erster Buchstabe von Deviant Nep (deviantart.com), scrambled letters von redheadstock (deviantart.com)
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle die mich unterstützen und mich so nehmen wie ich bin :) <3