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Spiegelwelt
10.08.2012

„Wie der Wind“

Wie so oft stehe ich vor dem Spiegel und betrachte mein Spiegelbild. Fett und hässlich bin ich. Brüste und Po zu groß. Oberschenkel und Bauch zu dick. Haare zu kraus und Staßenköterblond!
Wieso kann ich nicht einmal mit mir oder dem was ich tue zufrieden sein? Eine Frage, die ich mir immer wieder stelle.
Wieso muss ich das wenige Gute, das es in meinem Leben gibt immer wieder zerstören?Wenn ich es nicht kaputt mache, kommen irgendwelche Umstände, die mich wieder runter ziehen.
Als ob eine höhere Macht ein Problem damit hat, dass mal etwas bei mir klappt.
Die Augen im Spiegel starren mich an. Die Klinge in meiner Hand schreit: „Tu es! Jetzt! Aber richtig!“
Langsam ziehe ich die Klinge über meine Haut. Auf die paar Narben mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich beobachte wie die Haut einen kleinen Spalt bildet, der rot gefüllt wird. Ein Tropfen bildet sich und läuft meinen Arm hinunter. In dem kleinen Spalt. Der Spalt wird größer und mehr Blut fließt heraus. Ein drittes und viertes Mal sehe ich die Klinge an. Immer in der gleichen Wunde. Fasziniert von dem Rot des Blutes, das inzwischen in kleinen Rinnsalen ins Waschbecken tropft. Ich bin innerlich total ruhig und ausgeglichen.
Immer tiefer wird die Wunde. Bis das Gewebe sich teilt und die Haut weit auseinander klafft.
Unter dem Gewebe ist es tiefrot, fast schwarz. Immer nur kurz zu sehen, bevor das Blut heraus strömt.
Ich lasse die Hand mit der Klinge sinken, lege sie auf dem Waschbeckenrand ab. Den verletzten Arm halte ich noch einige Augenblicke in der Luft und spüre die Ruhe, die von der Verletzung ausgeht.
Dann habe ich genug Kraft daraus geschöpft. Ich bin zurfieden mit mir und meinem „Werk“, weil ich weiß, dass ich jetzt ins Krankenhaus muss um es wieder zusammennähen zu lassen. „Schön blöd sich die Arme aufzuschneiden und es dann zunähen zu lassen!“, denke ich, „zumal die meisten Cirurgen sauer sind, es nicht verstehen, einen einweisen wollen oder einem Vorhaltungen machen.“
Ich lege ein noch gefaltetes Taschentuch auf die Verletzung, was sofort Blutgetränkt ist. Darauf ein zweites und einen Verband drum.
Gehe ich ins Krankenhaus oder lasse ich es einfach sein? Ich müsste, aber Lust habe ich keine. Was, wenn mich der Chirurg wieder in die Psychiatrie schickt?
Tief in mir weiß ich eh, dass ich ins Krankenhaus gehen werde. Spätestens wenn der zweite Verband durchblutet ist.
Der Schnitt ist mal wieder etwas tiefer geworden. Aber der Druck ist weg. Ich kann mich wieder im Spiegel betrachten ohne mich zu ekeln. Ich fühle mich leicht und voller Energie.
Ich packe für den Fall einer Einweisung ein paar Sachen in meine Tasche. Ich verstecke noch zwei oder drei Klingen, nur für den Notfall. Mein bester Freund und Sporttrainer ruft mich an, weil ich nicht beim Training war. Er erkennt an meiner Stimme, dass etwas nicht stimmt und ich sage es ihm. Er sagt mir, dass ich zuhause bleiben und auf ihn warten soll, dass er gleich mit einem Freund, der ein Auto hat vorbei kommt und mich ins Krankenhaus bringt. Ich packe nochmal mehr Sachen ein, weil ich weiß, dass wenn der Arzt mich nicht einweisen sollte, meine Freunde mich nicht wieder alleine nach hause lassen würden, sondern dass ich das Wochenende bei ihnen verbringen würde.

Der Weg

Der Weg ins Krankenhaus zieht sich in die Länge. Was für ein Chirurg wird es sein? Bekomme ich wieder nur kalte Ablehnung? Weist er mich auch gegen meinen Willen ein oder gehe ich freiwillig? Wie soll ich der Schwester am Empfang das Erklären? Mein bester Freund ruft im Klinikum an, wo es hieß, dass wir dort zwei Stunden warten müssten, dann ruft er die Zentrale an und fragt, in welches Krankenhaus wir am besten fahren sollen. Ins Elisabeth Krankenhaus. Dort war ich erst einmal wegen einer Bronchitis. Wenigstens nicht das Klinikum... Was sollte ich denen im Krankenhaus sagen? Ich will nicht in die Klinik! Und wenn die mich einweisen, was würde ich dann machen? Fragen über Fragen und dann war ich auch schon da.

Krankenhaus

Die Schwester am Empfang ist Abweisend. Sie nimmt meine Daten auf und sagt mir ich solle Platz nehmen. Außer mir sind noch ein paar andere Personen im Wartebereich. Einer nach dem anderen wird in ein Behandlungszimmer gerufen. Schon beim Warten merke ich, dass der Chirurg ein Arschloch ist. Schon alleine wie er die Schwestern herum kommandiert und wie abwertend er sie behandelt. Ca. eine Stunde muss ich warten, bis ich an die Reihe komme. Eine Schwester bringt mich in ein Behandlungszimmer. Öffnet den Verband und bereitet alles fürs Nähen vor. Dann kommt der Arzt. Das erste was er zu mir sagt ist: „Eigentlich rede ich mit LEUTEN WIE IHNEN gar nicht mehr!“ Dafür hat er aber ziemlich viel gesagt. Warum ich diesmal längst geschnitten habe und dass das seiner Meinung nach eine hochgeradig gefährliche Verletzung sei. Ob ich mich umbringen wollte und ob er nicht doch mal in der psychiatrischen Klinik anrufen soll. Ich meinte, dass ich mich nicht umbringen wollte (sonst wäre eine Einweisung sicher). Und, dass er nicht auf der Station anrufen soll, dass ich da nicht hin möchte. Er erzählte mir, dass er einmal eine Patientin acht mal in zwei Wochen nähen musste. Fragte mich ob ich aus Kassel komme. Ich meinte, dass ich hergezogen bin. Wo ich ursprünglich herkomme? Göttingen! Seine Reaktion war abwertend: „Ach, im hohen Göttingen gibt es auch sowas wie Borderline?“ Ich antwortete bissig: „Ja, da gibt es auch sowas wie sexuellen Missbrauch!“ „Jetzt hören sie aber auf, sonst fange ich gleich an zu heulen...“ Woher wir immer ganz genau wissen, wie tief wir schneiden können ohne irgendwelche wichtigen Nerven zu treffen? Ich antwortete nicht. Er wollte mir erklären, dass es zur Therapie gehäre, dass die Ärzte unfreundlich sind bei sowas, damit wir uns das nächste Mal besser überlegen, ob wir uns verletzen. Ich meinte, dass ich mir dann nur noch öfters überlege ob ich anschließend ins Krankenhaus fahre. Ob ich nicht irgendwelche vernünftigen Hobbies habe. Ich meinte, dass ich Kampfsport mache. Er meinte, dass er nichts davon hält, weil es die Leute nur noch aggressiver macht.
Dann kam er mir wieder mit Psychiatrie und ob ich denn auch wüsste, dass er mich auch gegen meinen Willen einweisen kann. Ich meinte ja, dass ich aber trotzdem nicht dahin möchte. Ich musste ihm versprechen mich am Wochenende nicht umzubringen, er wolle nicht von mir in der Zeitung lesen. Dann holte er meinen besten Freund hinzu und der musste ihm versprechen, dass er auf mich aufpasst und die Verantwortung für mich übernimmt. Der meinte, dass das kein Problem sei, dass ich schon öfters in solchen Situationen bei ihnen war. Dann ließ mich der Chirurg gehen und sagte noch, dass ich bloß nicht wieder in „sein Krankenhaus“ kommen solle. Ich meinte nur, dann gehe ich eben nächstes Mal ins Rote Kreuz Krankenhaus!
Danach habe ich das Wochenende bei Freunden verbracht. Das war OK...

Das nächte mal, wo ich mich geschnitten hatte, habe ich in den Spiegel gesehen. Mein Spiegelbild flüsterte ich solle es berühren. Zitternd hob ich meine Hand um mit einem finger die Konturen meines Gesichtes entlang zu fahren...Ich erwartete kaltes Glas zu berühren und bin umso erschrockener darüber, dass es eine warme Luft war, die ich berühre. Schnell ziehe ich meine Hand zurück. Der Spiegel flüstert wieder, dass ich näher kommen soll und mit meinem Arm in dein inneres zu greifen. Ich gehe vorsichtig noch einen Schritt auf den Spiegel zu. Ich hebe meine Hand und stecke sie durch den Spiegel. Es ist wie eine warme Nebelschicht, die ich durchdringe. Der Spiegel flüstert mir wieder zu ich solle näher kommen und durch ihn hindurch steigen. „Das ist ja wohl nicht dein Ernst!“, rufe ich empört. Panisch drehe ich mich um, ob das jemand gehört hatte. Aber niemand kam.
Nach längerer Überlegung komme ich zu dem Schluss, schlimmer kann es ja nicht mehr werden. Ich habe nichts zu verlieren, also kann ich auch durch einen sprechenden Siegel steigen. Ganz langsam trete ich gebückt mit dem rechten Fuß hinter den Rahmen des Spiegels. Sofort umgibt mich eine angenehm warme Brise. Dann folgt der linke Fuß und ich richte mich wieder auf. Das kann nicht wahr sein. Das kann nicht alles in dem Spiegel sein es ist eine ganze Stadt, die vor mir liegt. Eine Stadt aus buntem Glas und Kristallen. Wunderschön erstreckt sich das leuchtende, funkelnde Glas über mein gesamtes Sichtfeld. Ich will erstmal zurück in meine Welt. Aber der Spiegel ist fort. Stattdessen steht an einer Hauswand: „Du kannst erst in deine Welt zurück, wenn du deine Lektionen gelernt hast.“ Was für Lektionen? Was soll ich lernen? Ich will nach hause! Weinend hocke ich mich an eine der bunten Glaswände und verberge mein Gesicht in meinen Armen...

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Tag der Veröffentlichung: 23.08.2012

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