Ein langer, steiniger Weg
Das Leben kann eine Qual sein. Und immer wieder werden einem Steine in den Weg gelegt. Hindernisse errichtet und Konflikte entstehen.
Ich habe Borderline und eine posttraumatische Belastungsstörung mit latenter Suizidalität und will euch möglichst verständlich machen, was dies im Alltag bedeutet. Borderline ist mehr als sich zu ritzen! Viele stellen das eine mit dem anderen gleich. Aber um eine Borderline Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren müssen mindestens fünf von neun Kriterien erfüllt sein.
Das Leben besteht aus verschiedenen Teilen. Oft kann ich Gefühle und Gedanken nicht auf einen Nenner bringen. Ich widerspreche mich oft. Sage das eine und denke das Gegenteil und beides ist richtig.
Die Welt mit Borderline ist oft nur schwarz oder weiß. Gut oder böse. Ein Mittelding gibt es selten. Trotz vieler Therapien dauert der Änderungsprozess lange und es ist ein sehr langer und steiniger Weg.
Eine Ärztin sagte mir mehrfach: "Ihre Lebensqualität ist schlechter als die eines sterbenden Tumorpatienten." An diesem Satz ist etwas dran. Wenn man nur noch am kämpfen ist. Meistens gegen sich selber, kann das viel Kraft rauben und sehr anstrengend sein.
Wir müssen um Hilfe kämpfen, die Täter bekommen Therapien hinterher geschmissen. Wir müssen irgendwie weiter leben mit den Erlebnissen, die andere uns angetan haben.
Ich habe wohl schon seit Jahren Teile meiner Seele abgespalten. Erinnerungen gut vergraben und versteckt, damit ich überhaupt noch lebensfähig bin.
Mittlerweile gibt es bei mir auch einen grauen Bereich zwischen den Extremen. Auch, wenn er meistens nur schwer zugänglich ist.
Wenn wir uns Ritzen und dann dafür Verachtung ernten finde ich das traurig. Die wenigsten, die es nicht selber kennen, haben keine Ahnung und sind mit uns überfordert. Mittlerweile setze ich mich mit meiner Gefühlswelt mehr auseinander. Ich denke viel darüber nach und handle weniger. Von Außen betrachtet geht es mir also besser. Dafür ist der innere Konflikt wesentlich größer und das Aushalten um einiges schwerer. Es ist nicht leicht dem Handlungsimpuls etwas entgegen zu setzen. Da es ein eingeübter Mechanismus ist und es einem Erleichterung bringen kann, wenn man sich verletzt. Es ist letzendlich ein Schutzmechanismus, der über einen langen Zeitraum viel Erleichterung gebracht hat und mich am Leben hielt. Ebenfalls die Abspaltungen von Gefühlen und Erinnerungen.
In den letzten Jahren war ich fast mehr in Kliniken als zuhause. Immer wieder kommt es zu schweren Verletzungen oder schweren Suizidversuchen. Keiner kann sich oder mir erklären, wie ich all das überleben konnte.
Die schweren Zeiten mit den Traumata sind zwar vorbei, aber die Hilfsorganismen von Verletzungen und Abspaltungen bleiben. Mittlerweile lerne ich, wie ich den Druck ohne Verletzungen aushalten kann. Es ist nicht immer leicht, im Gegenteil. Es ist um einiges Schwerer gegen den Druck anzukämpfen, als ihm einfach nachzugeben.
Früher habe ich mich einfach verletzt. Es war "normal", dass ich mir fast jeden Tag die Arme aufschnitt. Heute denke ich darüber nach. Versuche den Druck anders auszuhalten, was verdammt schwer ist. In Stresssituation dissoziiere ich noch heute. Heißt ich spalte. Meine Seele, Gedanken, Erinnerungen oder Gefühle sind in den Situationen nicht mehr zugänglich. Auch wenn ich dann mit jemandem an einem Tisch sitze, gibt es für mich mein Gegenüber nicht mehr. Ich kann mich dann oft am nächsten Tag auch nicht mehr daran erinnern. Ich habe ein Blackout. Erfahre es durch Zufall einige Zeit später, wenn Situationen zur Sprache kommen, in denen ich dabei war, aber nichts mehr davon weiß. Ich habe auch schon Texte gefunden, wo ich mich nicht daran erinnern kann. Manchmal war ich in so einer Situation auch aggressiv anderen gegenüber ohne mich daran erinnern zu können. An ganze Tage kann ich mich nicht erinnern. Einmal habe ich ein Buch gefunden, das ich laut Kassenzettel am Vortag gekauft hatte, konnte mich nur nicht mehr daran erinnern überhaupt in der Stadt gewesen zu sein.
Das Aushalten ist schwerer. Früher habe ich mich einfach verletzt und es war wieder OK. Heute denke ich stundenlang darüber nach. Kämpfe gegen meine eigenen Impulse und versuche sie Auszuhalten ohne Verletzungen. Es kommt immer seltener zu Verletzungen, also geht es mir besser? Nein! Die harte Arbeit hat begonnen. Ich habe mich dem steinigen Weg gestellt und versuche Hilfe anzunehmen. Mit Menschen darüber zu reden. Ihnen Dinge zu erklären. Anderen zu helfen. Ich schreibe meine Gedanken auf. Habe den verschiedenen Anteilen Namen gegeben und schreibe die Konflikte in meinem Kopf auf. Das macht es für meine Umgebung einfacher zu verstehen, was in mir vorgeht. Und mir hilft es auch es aufschreiben zu können.
Der Weg zurück ins Leben hat begonnen. Ich muss mich ihm stellen! Ich bin immer wieder in der Klinik, damit ich vor mir selber geschützt bin. Damit ich mir nichts antun kann, wenn der selbstzerstörerische Anteil die Oberhand hat. In "besseren" Zeiten bin ich dann zuhause und versuche mir ein Leben aufzubauen.
Ich habe Sport angefangen. Die ambulante Ergotherapie gibt mir Struktur und Halt. Meine Betreuerinnen helfen mir dabei und meine Psychiaterin ebenfalls. Sie wollen den Teil unterstützen, der Leben will. Und stehen mir in depressiven, mutlosen Zeiten zur Seite und unterstützen mich.
Aus irgendeinem Grund finden mich die meisten Menschen sehr symphatisch, was ich ehrlich gesagt nicht verstehen kann.
Mein leben ist ein täglicher Kampf. Jeden Tag muss ich mich aufs Neue für das Leben entscheiden. Wenn der destruktive Teil zu stark wird, schaffe ich das jedoch nicht immer und dann muss ich wieder in die Klinik. Mittlerweile kennen sie mich auf der psychiatrischen Station alle und in der Notaufnahme oder vom Rettungsdienst kennen mich auch schon einige. Ich bin eine Last für die Krankenkasse. Versuche mein Leben auf die Reihe zu bekommen. Ich schreibe meine Gedanken und Gefühle auf. Arbeite an mir, was sehr anstrengend ist. Kämpfe gegen die selbstzerstörerischen Impulse und inneren Konflikten an. Ich male und zeichne viel. Ich habe mit Sport angefangen. Kampfsport, was mir gut tut und etwas mehr Selbstvertrauen gibt. Es ist ein harter Weg.
Mit 19 musste ich Rente beantragen, weil mich der Amtsarzt erwerbsunfähig geschrieben hat. Nun lebe ich von Grundsicherung.
Ich will wieder ein Praktikum machen, stehe mir aber selber im Weg. Es ist gar nicht so einfach. Vor allem gibt es viele Vorurteile gegen Menschen mit meiner Erkrankung. Selbst bei Therapeuten sind Borderliner unbeliebt. Wegen den ewigen Widersprüchen und den destruktiven Handlungen. Wie eine tickende Zeitbombe, die jeden Moment hoch gehen kann ist mein Leben. Nach außen wirke ich normal. Nur wenn man meine Narben sieht oder ich stark dissoziiere merkt man es mir an. Auf der Straße würde es niemand erkennen, auch wenn ich das lange gedacht habe.
Viele Jahre habe ich es verborgen gehalten. Mittlerweile kann ich recht offen damit umgehen und darüber schreiben. Ich kann mich selber besser einschätzen. Es war ein langer, steiniger Weg bis ich darüber reden konnte. Ein noch längerer Weg, damit offen umgehen zu können. Heute kann ich im Sommer mit T-Shirt rumlaufen und über die Blicke hinwegsehen. Früher nur kurze Ärmel. Heute kommt es alle paar Wochen zu Selbstverletzungen, früher fast jeden Tag. Heute habe ich kurze Aufenthalte auf der Station. Früher war ich Wochen- oder Monatelang auf der Station. Heute kann ich darüber reden oder schreiben, was in mir vorgeht. Früher nur Schweigen. Heute kann ich darüber nachdenken und Gedanken und Impulse überdenken. Früher habe ich gehandelt.
Trotz dieser Fortschritte ist das Leben schwerer geworden. Der Konflikt liegt nun eher in mir. Früher habe ich mich einfach verletzt. Heute denke ich darüber nach und versuche Lösungen zu finden. Alternativen zum Destruktiven. Früher habe ich mich einfach verletzt und es ging wieder. Heute versuche ich ein einigermaßen "normales" Leben zu führen bzw. mir derzeit noch aufzubauen. Früher war mir alles egal.
Ich habe ein Selbsthilfe und Hilfe Forum gegründet, was mir ermöglicht mit anderen darüber zu reden. Es hilft mir und anderen. Gibt Stabilität und einen respektvollen Umgang. Ich fühle mich besser verstanden und kann mich mehr öffnen. Durch Höhen und Tiefen sind einige dort mit mir bereits gegangen. Ich helfe und sie helfen mir. Es ist ein geben und nehmen. Und das tut einfach gut. Nicht für seine Gedanken oder Handlungen verachtet zu werden, sondern so akzeptiert zu werden, wie man ist.
Ich danke allen, die mich unterstützten und unterstützen. Die mir auf diesem ermüdenden und langem, steinigen Weg beistehen.
Trotz der Fortschritte in den letzten Jahren wird es wohl noch einige Zeit dauern, bis ich einigermaßen gut mit meiner Erkrankung leben kann.
Ich bitte euch die Handlungen von uns zu hinterfragen, versucht es zu verstehen, fragt nach, statt zu verurteilen. Zeigt Verständnis statt Abweisung. Das ist das, was mich am Leben hielt, das Vertrauen und Verständnis meines Umfeldes und das Schreiben helfen mir sehr.
Ich danke euch, dass ihr diesen Text bis hierhin gelesen habt. Das zeigt ein wenig Verständnis und gibt Hoffnungen…
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2012
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