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Doppelleben II


Ihr geht es besser, sie ist aktiver geworden. Hat angefangen zu einer Theatergruppe zu gehen und zweimal in der Woche zum Kampfsport. Sie trifft sich öfter mit Freunden, ist mehr draußen, kaum noch zu hause.
Sie lacht mehr, erzählt fröhlichere Dinge, hat Zeit mit ihren Geschwistern verbringen dürfen und war bei ihren Eltern zu Besuch. Alles scheint im Moment so gut zu laufen.

Ihr geht es schlechter. Sie weint viel. Wenn sie das nicht kann, schneidet sie sich. Ihre Augen sind oft starr und sie guckt nur noch in die Luft ohne wirklich anwesend zu sein. Sie verletzt sich die ganze Zeit. Schläft nur ein paar Stunden in der Nacht oder einfach gar nicht. Sie isst kaum noch etwas. Ihr Körper ist geschwächt, aber sie ist aktiv und fitter, zumindest vom Körper her. Sie legt es darauf an wieder zusammen zu brechen. Sie will zusammen brechen. Nur um ein paar Minuten bewusstlos zu sein und nichts mehr mitzukriegen…

Sie hat sich die Texte zu dem Theaterstück, das gerade geprobt wird, geben lassen um zu wissen worum es geht. Auch in der Gruppe selber ist sie aktiver geworden und bringt sich mehr ein. Trifft sich häufiger mit Freunden und hat die letzten sonnigen Tage draußen genossen.

Sie zieht sich innerlich immer weiter zurück. Will nur noch alleine sein. Mit sich und ihren Gedanken. Sie hat kaum noch die Konzentration ein Gedicht oder eine Geschichte zu schreiben, kann sich auf keinen Text konzentrieren. Sie kann nicht mehr klar denken, ist hin und her gerissen. Weiß nicht mehr, was sie tun soll. Sitzt stundenlang irgendwo rum und die Zeit vergeht. Ihr Kopf ist leer und doch so voll. So viele Gedanken, aber alle drehen sich nur um ein Thema.

Alles läuft doch gerade ganz gut. Arbeitserprobung ist in Planung. Sie will zwei Praktika machen und nächstes Jahr wieder in der Schule einsteigen und eine Ausbildung zur Sozialassistentin machen oder ihr Fachabi machen. Sie hat wieder Kontakt zu ihrer Familie, guten Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer etwas jüngeren Schwester. Auch die beiden kleinsten Geschwister durfte sie dieses Jahr schon dreimal sehen, wo sie die letzten fünf Jahre drum gekämpft hatte. Selbst die Begegnungen mit ihrem Vater waren OK.

Nachts ist sie am liebsten zuhause. Alleine in ihrer Wohnung, wo niemand ihre Tränen sieht. Wenn sie überhaupt ein paar Stunden schläft, weint sie vorher erst Stundenlang, bis ihr vor Erschöpfung die Augen zufallen. Sie isst kaum noch etwas, bei jedem Bissen, alle zwei Tage mal, wird ihr schlecht.
Sie will sich schwächen. Sie will zusammen brechen. Sie will nichts mehr mitkriegen. Sie will nur noch sterben.

Zu ihren Terminen kommt sie immer zuverlässig. Ihre Maske ist aufgesetzt und niemand merkt, wie es ihr wirklich geht. Nach außen scheint alles OK zu sein. Die Tage vergehen und sie vergetiert vor sich hin. Macht eine gute Miene zum bösen Spiel.

Zwischen den Terminen schreibt sie depressive Texte. Mehrere Abschiedsbriefe hat sie schon wieder angefangen rumliegen. Im Internet geht sie auch auf Distanz oder verabschiedet sich von Freunden aus den Foren.

Vor jedem Termin die Angst. Die Angst die Maske nicht mehr aufrecht erhalten zu können. Sie weiß, wie schnell sie dann wieder in der Klinik wäre.

*
Zu viel Schlafmangel, zu wenig gegessen, zu wenig Kraft meiner Betreuerin noch etwas vorzuspielen.
Eine halbe Stunde vor dem Termin bin ich erst aufgestanden. Habe mich angezogen und ansonsten nichts mehr geschafft. Wie in Zeitlupe fühlt es sich an. Die Zeit vergeht und ich brauche für alles eine halbe Ewigkeit. Meine Wohnung habe ich schon seit zwei Wochen etwas vernachlässigt und auch nicht mehr die Kraft aufbringen können, komplett aufzuräumen.
Mich selber habe ich auch vernachlässigt. Eigentlich wollte ich vor dem Termin noch duschen, das wollte ich schon am abend, aber ich habe es nicht mehr geschafft. In der frühen Nacht hatte ich mich am Arm verletzt, aber das wusste meine Betreuerin erst gar nicht.
Die Maske ist gefallen und meine Betreuerin hat sich Sorgen gemacht. Meine Zusagen, dass ich am Abend noch leben würde, dass ich den Termin bei meiner Psychiaterin wahrnehme und am nächsten Tag doch auch wieder Termine hätte, haben ihr nicht gereicht.
So wollte sie mich nicht gehen lassen. Ich hatte nur noch die Wahl, ob ich freiwillig mit ihr mitfahre und sie mich jetzt in die Klinik bringt oder, ob sie die Polizei dazu rufen muss.
Ich bin dann mehr oder weniger freiwillig gegangen. Sie hat in der Klinik angerufen und da auf meiner regulären Station kein Bett frei war, bin ich auf die Station dadrunter gekommen.

Ich hatte erstmal Tavor bekommen um ein bisschen zur Ruhe zu kommen. Die Station ist OK. Das Personal ist freundlich und die Patienten auch. Ich habe Leute mit Zeichensachen gefunden und zum Karten spielen.

Dennoch sind da immer wieder die Gedanken. Ich will doch einfach nur noch sterben. Und essen will ich auch nichts mehr. Wenn ich schon keine Klingen schlucken darf, will ich auch nichts anderes essen!
Klingen und Tabletten (außer denen, die ich im Dienstzimmer einnehmen muss) habe ich keine. Zwei Alternativen, die ich ausprobieren will, habe ich schon gefunden. Tabak essen. Oder so viel Deo inhalieren, dass ich eine Lungenembolie bekomme. Aber selbst dafür fehlt mir inzwischen die Kraft und der Antrieb.

Warum ist es so schwer zu sterben? Warum kann ich nicht einfach einschlafen ohne jemals wieder aufwachen zu müssen, dann wäre das alles viel leichter!

Am liebsten würde ich den ganzen Tag einfach nur noch im Bett liegen. Gar nicht mehr aufstehen. Einfach nur alleine sein und langsam sterben. Auch wenn der Hungertod kein besonders schöner sein soll, aber irgendwas muss ich machen. Ich kann nicht leben, wenn ich lebe! Das geht einfach nicht und ich will auch einfach nicht mehr!

Es tut mir Leid für alle, die sich mit mir beschäftigt haben. Die sich Sorgen machen und die ich zurück lassen muss, aber ich halte das Dasein einfach nicht mehr aus…

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Tag der Veröffentlichung: 08.10.2011

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