Engel können fliegen
Kapitel 1
Jenny blickte kritisch an sich herunter. Von diesem Blickwinkel aus sahen ihre Oberschenkel unglaublich dick aus. Sie verzog den Mund, so wie sie es immer tat, wenn ihr etwas nicht gefiel. "Walross", dachte sie.
Jenny stand nun schon seit mindestens zwanzig Minuten im Mädchenklo ihrer Schule und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die Angst dass ihr geliebter Dave sie hintergehe, nahm mit jedem neuen Makel den sie an sich entdeckte, zu. Doch ehe sie den Gedanken weiterdenken konnte und sich zu sehr in die Sache hineinsteigerte, verwarf sie ihn. Jenny drehte sich um, stieß die Tür auf und ging den langen Flur zu ihrem Klassenraum entlang. Dabei schaute sie wieder auf ihre Beine. Waren die schon immer so schwabbelig und breit gewesen? Ehe sie sich versah stand sie vor ihrer Klassentür. 11a stand in großen Buchstaben darüber. Sie atmete tief ein und öffnete sie.
"Jenny.", begrüßte Mrs. Garne sie, als sie die Klasse betrat. "Hast du auf dem Klo noch ein 3-Gänge-Menü verspeist oder weswegen hast du solange gebraucht? Du warst bestimmt 20 Minuten weg. Kannst du mir das erklären?" Die Klasse kicherte. Warum mussten denn heute alle auf ihr rumhacken?
"Ich..", fing Jenny an, doch dann fiel ihr nichts ein und sie beschloss sich einfach stumm auf ihren Platz zu setzen. Alice stoß sie an und schob einen Zettel hinüber. Mrs. Garne seuftze und kritzelte etwas in ihr Notizheft ehe sie mit dem Unterricht fortfuhr.
Jenny faltete den Zettel ihrer besten Freundin auf. "Vergiss diese Bemerkungen.", stand dort. Süß von ihr, weshalb Jenny ihr ein Lächeln zuwarf. Jenny liebte sie. Trotz vielen Streitereien in der Vergangenheit war sie die beste Freundin, die sie sich wünschen konnte. Doch ihrem Rat, diese Bemerkungen zu vergessen, ignorierte sie.
Den Rest der Stunde bekam sie gar nicht mehr richtig mit. Mrs.Garne's Worte waren nur ein dumpfes Rauschen in Jennys Ohren. Wen interessierte schon der Englischunterricht? Diese ständigen Kommentare über Jennys stinknormales Essverhalten und ihr Gewicht ging ihr ziemlich auf den Zeiger und es verletzte sie so sehr, dass sie ihren Körper sogar fast zu hassen lernte. Diese Speckrollen nervten sie sowieso schon immer. Die Schenkel, die beim Laufen aneinander reiben. Ekelhaft. Abartig. Inaktzeptabel.
"Ich werde einfach abnehmen. Das macht im Moment sowieso jeder ...", beschloss sie kurzerhand.
Es klingelte, die Stunde und damit auch die Schule für den heutigen Tag war beendet. Endlich. Alle standen auf.
"Was wir für eine erbärmliche Klasse wir haben.", sagte Alice zu Jenny, so laut, dass es Mrs. Garne hören konnte. Jenny nickte, sie war noch immer in Gedanken versunken.
"Naja, Jenny. Ich ruf dich nachher an okay?"
- "Jaja. Klar."
Sie umarmten sich zum Abschied.
Nach der Schule ging Jenny normalerweise zu Starbucks, das gleich um die Ecke war, um sich dort ihren geliebten Chocolate Frappochino für den Nachhauseweg zu kaufen. Die Angestellten kannten sie schon beim Namen, und manchmal bekam Jenny sogar etwas geschenkt. Als sie heute an ihrem Lieblings - Café vorbeiging blieb sie einen kleinen Moment stehen. Die Leute die dort saßen und gemütlich ihren Kaffee schlürften, sahen alle so glücklich aus. Doch dann erinnerte Jenny sich an die letzte Schulstunde und schüttelte den Kopf. Nein, wer weiß schon wie viele Kalorien so ein Ding hatte?! Kalorien. Jenny hatte noch nie wirklich über so etwas wie Kalorien oder Fett nachgedacht. Sie hatte einfach immer das gegessen, worauf sie Lust hatte. Egal ob es gesund war, oder nicht. ''Das muss ab sofort anders werden'', dachte Jenny entschlossen und beschleunigte ihre Schritte nach Hause.
Zwanzig Minuten später schloss sie auch schon die Haustür auf. Ihre Mutter, Mrs. Daniels, wartete schon auf sie. ''Hallo Schatz. Wie war die Schule?'', fragte sie wie jeden Tag und streckte lächelnd den Kopf aus der Küche. ''Gut.'', antwortete Jenny mechanisch und versuchte ebenfalls zu lächeln. ''Schön. Komm, das Essen steht schon auf dem Tisch. Du musst doch Hunger haben.'' Jenny schüttelte den Kopf. ''Nein danke. Ich hab schon gegessen.'' Jennys Mutter runzelte die Stirn, nickte dann aber. Normalerweise hatte ihre Tochter um diese Zeit doch immer Lust auf Mittagessen. ''Okay, wenn du meinst.'', antwortete sie und verschwand im Esszimmer, wo Jennys Vater und ihre Schwester bereits am Tisch saßen.
"Warum ist das Leben eigentlich so ungerecht?", dachte Jenny als sie ihre Tasche nach oben hievte. Ihre große Schwester Vanilla hatte meterlange, dürre Spinnenbeine, einen super flachen Bauch, man sah ihre Wangenknochen, ihre Hüftknochen und sie kam jeden Tag mit einem neuen Verehrer nach Hause. Sie war so anders als Jenny. Früher hatte Jenny vermutet, das sie selbst adoptiert wäre. Sie passte einfach gar nicht zu ihrer Schwester und sah ihrer Meinung nach, ihrer Mutter nicht ein kleines bisschen ähnlich. Und da war noch Jennys beste Freundin Alice, die ebenfalls bohnenstangendünn war. Warum hatte sie sich eigentlich nie Gedanken über das Abnehmen gemacht? Peinlich, dass ihr das solange egal war. Was die Leute wohl gedacht haben müssen, wenn sie bei Mc Donalds zu finden war. "Genug. Reicht doch langsam mal. Noch eine Pommes mehr und du platzt gleich!", waren wohl ihre Gedanken.
Sie setzte sich auf den Boden und machte Sit-Ups. "Ich werde solange weitermachen, bis ich an meine Grenzen stoße.", sagte sie sich. Nach 127 war sie schweißgebadet und bekam kaum noch Luft. 128. 129. 130. Puhh.
Und jetzt Hampelmänner. 1.2.3...107.108...228.229...
Sie blickte in den Spiegel und bemerkte, dass sie die Farbe einer reifen Tomate angenommen hatte. Ihr Herz schlug 100-mal in der Sekunde, so kam es ihr vor. Alles in ihr bebte, pochte. Und ihr Magen knurrte.
Auf einmal surrte ihr Handy. Alice stand auf dem Display. Richtig, sie wollte ja anrufen. "Ja?", meldete sich Jenny außer Atem.
"Hey Jenn! Alles klar?"
- "Mhm."
- "Du, hast du Lust nach Mc Donalds zu gehen?"
- "Nein, lass mal. Ich hab heute noch so viel vor."
- "Ähm... okay. Dann nicht."
Jenny wollte noch etwas wie eine Entschuldigung murmeln, doch Alice hatte bereits aufgelegt. Jetzt nach Mc Donalds? Das wäre das Letzte, was nun in Frage kommen würde.
Sie drehte sich wieder um und schaute weiter angewidert in den Spiegel.. Besonders ihre Beine störten sie. Seit wann waren die denn so … fett? Alice hatte schöne Beine. Wunderschöne Beine. Zart und dünn. Wie von einer Elfe. Jenny zog ihr T-Shirt ein Stücken hoch. Ihr Hüftspeck quirlte über der Hose hervor. Jenny verzog das Gesicht. ''Igitt.'', sagte sie leise und betrachtete jeden einzelnen Punkt ihres Körpers genauer. Sie kniff sich in ihren Speck. Wo kam der auf einmal her? Oder war er etwa schon immer da? Vorher war es ihr so gut wie egal gewesen, wie viel sie wog. Ein Fehler.
Plötzlich, ohne anzuklopfen stieß jemand die Tür auf. Jenny schrak zusammen. ''Hey Schwesterherz. Was stehst du da so vor dem Spiegel?'' Vanilla war hereingekommen. Jenny betrachtete ihre bildhübsche Schwester. Sie hatte wunderschöne, lange, blonde Haare, große, grüne Augen und das gewisse Etwas, was die Männer so an ihr liebten.
"Genau das Gegenteil von mir.", dachte Jenny verächtlich und warf noch einmal einen Seitenblick in den Spiegel.
''Man darf doch wohl mal in den Spiegel schauen.'', murmelte sie dann und sah ihrer Schwester wieder in die Augen.
''Du bist ja ganz nass geschwitzt.'', stellte Vanilla fest und musterte Jenny argwöhnisch. ''Hast du Sport gemacht?'' War es denn so außergewöhnlich, wenn ein dickes Mädchen Sport machte?
''Na und wenn schon. Das geht dich nichts an.'', erwiderte Jenny und wendete sich von ihrer schönen Schwester ab.
''Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du mit ins Kino willst.'', sagte Vanilla stattdessen und lehnte sich gegen den Türrahmen. Kino. Jenny liebte Kino. Die weichen Sitze, der riesige Leinwand, das Knistern von Popcorn. Essen, schonwieder Essen. Warum war bloß alles mit dem dickmachenden Zeug verbunden? Denn jetzt schon aufgeben, wäre erbärmlich.
''Nein, ich hab keine Lust auf Kino.'', sagte Jenny und setzte sich an ihren Schreibtisch. ''Gut, dann eben nicht.'' Vanilla schloss die Tür hinter sich. Jenny beschloss zu notieren, wie viel sie am Tag aß, wie viel sie am Morgen und am Abend wog. Sie begann etwas wie eine Tabelle zu kritzeln und trug die ersten Daten ein. Dann hatte Jenny eine Idee. Wenn Vanilla nicht da war, konnte sie ja ein paar Sachen von ihr anprobieren. Ihre Schwester hatte immer die schönsten und teuersten Klamotten. Eigentlich hasste Vanilla es, wenn Jenny in ihren Klamotten wühlte, aber was konnte schon passieren? Sie hatte vermutlich jemand anderen gefunden, der mit ihr ins Kino gehen will.
Als Jenny die Haustür ins Schloss fallen hörte, schlich sie leise in das benachbarte Zimmer.
Der Duft von Vanillas Parfüm lag noch in der Luft. Apfel-Kirsch von Christian Dior. Sie öffnete den Kleiderschrank und blickte in eine Welt voller Chanel-Accessoires, Calvin Klein Jeans, Lacoste-Taschen, Armani-Blusen und Gucci-Pullover. Dass sie sich sowas leisten konnte, war kein Problem - Jennys Vater war Pilot und Jennys Mutter eine erfolgreiche Immobilien-Maklerin. Nur gab Jenny das Geld entweder für Essen aus oder es blieb auf ihrem Konto. Vorsichtig nahm sie eine Bluse von ihrem Bügel und eine Jeans aus dem Regal. "Jeansgröße 2" stand darauf. Aus wie wenig Stoff diese Hose bestand. Sie selber trug Jeansgröße 6 oder 8. Drei Kleidergrößen größer. Es hätte keinen Sinn gemacht Vanillas Sachen anzuprobieren, es wären bloß alle Nähte geplatzt. Also legte sie die Sachen wieder zurück in das Regal und ging in die Küche, wo ihre Mutter saß und die Zeitung studierte.
"Mum, ich brauch neue Klamotten.", sagte Jenny.
"Engelchen, du hast doch Klamotten."
"Aber Vanilla hat viel mehr! Und außerdem sind meine No-Name-Produkte!"
"Ach, Süße. Seit wann legst du darauf wert?"
"Ich glaube es ist langsam mal Zeit Wert darauf zu legen, wir wohnen schließlich in New York wenn mich nicht alles täuscht." "Ach Engel. Nun gut, bei Vanilla fing das ähnlich an. Alles klar. Ich schreib deinem Dad eben eine SMS, er ist noch unterwegs. Steig schon mal ins Auto."
Jenny zog ihr Handy aus der Hosentasche. Dave schrieb ihr nie SMS. Auch heute nicht. Wahrscheinlich vergnügte er sich gerade mit super süßen dünnen Mädchen, das wäre kein Wunder. Ein Wunder war es, warum sie überhaupt einen Freund hatte. Sie musste perfekt werden. Sie musste es für Dave tun. Damit er sich mit ihr blicken lassen konnte. Jenny lächelte gespielt in den Spiegel, wie die Models in den Hochglanzmagazinen. Sie würde das schaffen.
Kapitel 2
Jenny lief nach draußen und stieg in den großen, schwarzen Wagen ein. Auf den schwarzen echt Ledersitzen war es wunderbar kühl und Jenny fühlte sich wie in Frühstück bei Tiffany, in dem Audrey Hepburn als Holly Golightly in einer schwarzen Abendrobe vor dem Juwelier auf und ab schlendert. Audrey Hepburn war wirklich das It-Girl der Sechziger gewesen. "Mit der Figur, kein Wunder.", dachte Jenny. Wenn man erfolgreich sein wollte, musste man eine super Figur haben. Und wie Kate Moss schon sagte: "Nothing taste as good as skinny feels."
Ein paar Minuten später kam Mrs. Daniels auch schon aus dem Haus und stieg vorne in den Wagen. „Und, wo willst du dir denn neue Klamotten kaufen, süße?“, fragte sie, während sie den Wagen zurücksetzte. „Hm, wie wär’s wenn wir mal zu Bendel’s fahren? Oder zu Barney's.“, schlug Jenny vor. Dort gingen viele ihrer beliebten Mitschülerinnen einkaufen, zumindest diejenigen, die immer die allerbesten und teuersten Klamotten besaßen. Also so gut wie alle. Jennys Schule war auf der Upper East Side und wenn man sich ihre "Freundinnen" ansah, glaubte man sich auf einer Mercedes Benz Fashion Week verlaufen zu haben. Mit ihren Haarbändern, den teueren Schuhen und den Birken Bags, stolzierten die nächsten Lindsay Lohans die Flure entlang.
‚Also gut, zu Bendel’s.’, antwortete ihre Mutter ein wenig verdutzt , aber erfreut und riss Jenny somit aus ihren Gedanken. "Ich freue mich, das du endlich ein wenig .. mehr wie deine Schwester wirst."
Jennys Mutter hatte das bestimmt nicht so gemeint, aber für Jenny selbst war es mal wieder eine Bestätigung, das sie einfach nicht in diese Familie hineinpasste. Sie atmete tief durch und schaute aus dem Fenster. Ja, wäre sie doch nur mehr wie Vanilla. So perfekt, so schön, so begehrt.
Draußen zogen sich Hochhäuser entlang, die in den tiefblauen und wolkenlosen Himmel hineinragten. Ihre Mutter hing vorne am Steuer schon wieder an ihrem Handy und diskutierte mit ihrer Mitarbeiterin über ein Loft auf der Park Avenue. Jenny verkniff sich eine Träne, und drehte ihren Ipod lauter.
Nach dem Mrs. Daniels den Wagen geparkt hatte, gingen Jenny und sie durch die verzierten Türen, auf denen in goldener Schrift Henri Bendel stand.
Die mamorfarbenen Wände konnte man nicht mit einen der Freizeitläden in denen Jenny sonst immer war vergleichen. Alles wirkte so edel und Jenny fühlte sich langsam wie ein kleines Mädchen, die bei einer neuen Freundin zu besuch war, wo man nichts im Haus anfassen dürfte.
Sie konnte einfach nichts mit den Klamotten, die dort ausgestellt waren, anfangen. Sie sahen glamourös aus. Sie konnte sich Vanilla in diesen Klamotten gut vorstellen, aber nicht sich selbst.
"Mum.. mir gefällt‘s hier nicht."
"Das habe ich mir irgendwie schon gedacht, Engel. Wie wär's wenn wir zwei Hübschen uns jetzt erst mal eine Currywurst gönnen und dann weiter schauen? Dann probierst du ein paar Sachen an und wenn sie dir gefallen, landen sie in den Einkaufswagen. Wir haben ja noch gar nicht geguckt, hm?"
Jennys Mutter lächelte zuckersüß. Sie war ebenfalls dünn. Schlank, schön und erfolgreich. Ihre Sonnenbrille verschwand in ihrer voluminösen blonden Mähne und die weiße Bluse war in die teure Jeans von Armani gesteckt. Sie hatte echt Geschmack.
"Nein. Ich bin immer noch satt von heute Mittag. Lass uns bitte jetzt Klamotten suchen. Suchst du mir schöne Sachen heraus?" Mit einem Blick der so viel wie "Selbstverständlich, Liebling." ausdrückte, verschwand Jennys Mutter zwischen Kleiderständern, Regalen ging Rolltreppen hoch, Rolltreppen runter und kam schließlich mit drei Jeans, zwei Blusen, einen schicken Schal und zwei Paar Schuhe wieder. "Ab in die Kabine mit dir."
Jenny nahm die Klamotten und sah schon Etiketten von Armani und Gucci aufblitzen. Obwohl die Kleider Größe 38 entsprachen, wollte nichts so richtig passen. Auch bei den Jeans wollte es nicht klappen. Die erste bekam sie zwar zu, doch sie drückte gewaltig gegen ihren Hüftspeck. Bei der zweiten bekam sie den Knopf nicht zu und die Dritte wollte nicht mal über ihre Oberschenkel kommen. Dabei war alles Jeansgröße 6, die eine sogar 8. Und die Klamotten waren so wunderschön. "Ich hasse meinen Körper.", sagte Jenny leise. Tränen liefen an ihrer noch immer rosigen Wange entlang. Bald würden die Jeans ihr jedoch passen, da war sie sich sicher. Sie kam aus der Kabine und sagte: "Die Schuhe und den Schal nehmen wir. Der Rest gefällt mir nicht."
Als Jenny und ihre Mutter wieder zuhause waren, lief Jenny direkt in ihr Zimmer. Sie war einerseits wirklich glücklich, neue, schöne Schuhe zu haben und hoffte dass auch Dave die Sachen gefallen würden. Doch die Sache mit den Jeans brannte immer noch in Jennys Kopf, als hätte sie jemand dort hinein tätowiert. Sie hatte die eine Jeans noch nicht einmal anbekommen! Das war so deprimierend und peinlich. Alice oder Vanilla hätten zusammen zwei Mal in die Hosen gepasst. Ein wenig traurig ließ Jenny sich auf ihr weiches, mit Kissen übersätes Bett fallen. Wäre sie nur schön, schön und dünn. Leicht wie eine weiße Feder. Aber sie war schwer, schwer und fett und sah aus wie ein Elefant. Jenny hatte sich seit Monaten nicht mehr auf die Waage gestellt. Die Waage stand in Vanillas Bad. Jedes Familienmitglied im Haus hatte ein eigenes, großes Badezimmer. Jenny stand auf und ging langsam den langen Flur entlang, vorbei an den Bildern großer Künstler und horchte. Niemand rührte sich. Also ging sie zum Zimmer ihrer Schwester, öffnete abermals die Tür und schloss diese so schnell und leise wie möglich wieder. Dann eilte Jenny zügig in’s Bad und schaute sich um. Überall lag teures Make-up verstreut. Chanel, Dior, Bobbi Brown, Lancôme, M A C. Jenny atmete tief durch, bückte sich und zog die Waage hervor und stellte sie in die Mitte des raumes. Dann zog sie sich aus und ließ ihre Kleider auf den Boden fallen. Bedacht keine lauten Geräusche zu machen stieg Jenny auf die Waage. Sie schloss die Augen. Sie war 1,70m. Zu klein wie sie fand. Models waren meist fünf zentimeter größer. Wie viel man da wohl wiegen dürfte? Als sie die Augen öffnete starrten ihr eine große 65 entgegen. Jenny öffnete den Mund. Wann war denn das so viel geworden? Panisch stieg sie wieder von der Waage. Das musste ein Fehler sein. Sie konnte niemals ganze 65kg wiegen! Jenny vollführte die Prozedur ganze drei Mal. Doch die Zahl blieb gleich. Den Tränen nah, zog Jenny sich wieder an und rannte aus Vanillas Zimmer. Ihr war es nun egal ob sie jemand bemerken würde. Bei dem Gewicht musste es sich durch die Decke anhören, als ob ein Elefant den Flur entlang liefe. 65,3 Kilogramm, dachte Jenny und knallte die Tür zu. 65 verdammte Kilos.
Ein Sack Mehl war 1 Kilo schwer. Das mal 65. Wenn sie irgendwann mal heiraten würde, könne sie kein Mann tragen. Schrecklicher Gedanke. Da fiel ihr etwas ein. Vanilla hatte neben ihrem Spiegel immer eine Tabelle wie viel sie wann wog. Das machte sie einmal im Monat, da sie Modeling als Nebenjob machte und ihre Figur halten musste. Zum dritten Mal an diesem Tag ging Jenny in das Zimmer ihrer Schwester und warf einen Blick auf die Tabelle. Ihr blieb der Atem weg. Wie kann das sein!? April: 1.78m - 55kg. WAS? Sie war 8cm größer und wog weniger! 10kg weniger! WIE konnte sie das schaffen? Sie aß doch auch immer denselben Fraß, den Mum auf den Tisch haute! Okay. Aber NUR den. Außerdem joggte Vanilla, besuchte einen Jogakurs, spielte leidenschaftlich Tennis und ging regelmäßig ins Fittnesstudio. Jenny hingegen aß zwischendurch gerne mal die ein oder andere Tüte Chips. Sie hatte zwar einmal Tennis spiele versucht, war aber so grottenschlecht gewesen, das sie unmotiviert aufgab. Aber damit war nun Schluss. Es war 22:07 Uhr und Jenny merkte erst jetzt, wie erschöpf sie war. Müde ließ sie sich in ihr Bett fallen. 65, 3 Kilogramm. 65,3 kg. 65,3 kg. Mit dem Geräusch eines knurrenden Magen schlief sie ein.
Am nächsten Morgen wurde sie von einem lauten Geräusch geweckt. Es war ein Samstag und als sie auf den Wecker sah, war es gerade mal 8.00 Uhr. Eigentlich wollte sie wieder einschlafen, aber ihr knurrender Magen ließ es nicht zu. Normalerweise wäre Jenny nun aufgestanden, in die Küche gegangen und hätte sich ein riesiges Frühstück mit frischen Eiern, Toast und Speck zubereitet. Sie war auch schon fast zur Tür hinaus, als sie einen Blick in den großen Spiegel warf, der in ihren Augen ein dickes Mädchen mit zerzaustem Haar und verschlafenem Blick zeigte. Jenny blieb stehen und erinnerte sich an die Zahl, die ihr gestern Abend nicht mehr aus dem Kopf wollte. 65,3. Anstatt wie sonst also nach unten zu gehen und ausgiebig zu frühstücken, ging Jenny ins Bad, putze sich die Zähne und zog ihre Sportsachen an. Eigentlich hasste Jenny Sport, aber wenn sie so Kalorien verbrannte, war das eine gute Sache. Jenny schlich auf Zehenspitzen nach unten um niemanden zu wecken und schloss die Haustür hinter sich. Langsam lief sie los und merkte bald dass sie keine gute Kondition besaß. Aber das war ihr egal, sie lief einfach weiter. Immer weiter, egal wie schwer sie zu atmen begann. Sie kam an Hundebesitzern vorbei, die sie merkwürdig anstarrten. Jenny wusste dass sie fett war, da mussten sie nicht auch noch alle anglotzen und ihr das so versuchen mitzuteilen. Warum ließen sie nicht einfach alle in Ruhe? Jenny beschleunigte ihr Tempo und merkte wie ihr langsam die Luft wegblieb. Sie starrte beim Laufen an sich herunter. Fett, überall Fett. Anderthalb Stunden lief Jenny durch den Park und machte dann erschöpft kehrt. Sie hatte keine Lust Typen aus ihrer Schule zu begegnen, die um diese Zeit bestimmt ebenfalls laufen gingen.
Jenny lief den Weg wieder zurück und spürte zunehmend einen stechenden Schmerz an der Seite. Erst jetzt wusste sie, das es genug war.
Vanilla hatte einmal gesagt: "Wenn es nicht weh tut, dann bringt es auch nichts." Wahrscheinlich hatte sie da recht.
Kapitel 3
Sie schlug die Tür zu und keuchte.
"Jenny, wo warst du denn?", fragte Jennys Mutter die das Reinkommen ihrer Tochter nicht überhören konnte.
"Ich war joggen.", sagte Jenny völlig außer Atem.
"Nimm doch nächstes Mal dein Handy mit. Komm, frühstücken."
"Mir ist jetzt aber so schlecht, Mum."
"Ja, vor Hunger, Liebes. Du hast doch gestern Abend nichts mehr gegessen! Komm."
Am Frühstückstisch saßen Vanilla, Dad, Vanillas neuer Freund Jamie, der unglaublich heiß war und Dave. Moment. Dave?
"Was machst du hier?", fragte Jenny ihn fassungslos aber mit einer gewissen Freude in der Stimme.
"Ich wollte unser 2-Monatiges mit dir feiern.", sagte er und zwinkerte. "Oh, ja richtig."
Jenny hatte das völlig vergessen und strich sich beschämt eine Strähne aus dem Gesicht. Dafür, dass es so rüber kam, dass die Beziehung ihr egal war und dafür, dass sie so unglaublich scheiße aussah. Bei Jamies Anblick wurde sie rot.
"Hey Jenny. Ich bin Jamie.", sagte einer der beliebtesten und coolsten Typen der Schule zu ihr. Als ob sie das nicht wüsste. Er und Dave gingen beide in eine Stufe über Jenny und waren unglaublich angesehen und begehrt.
"Hey."
Sie nahm Platz und auf einmal war ihr alles egal. Sie hatte so unglaublichen Hunger. Ein Brötchen und eine dicke Schicht Butter, landete auf ihrem Teller. Dann Nutella. Marmelade. Mortadella. Salami. Nach dem vierten Brötchen war Schluss und sie war endlich satt. Sie nahm einen großen Schluck von ihrem warmen Kakao der sich nach kurzer Zeit zu den Brötchen in ihren Magen gesellte. Vanilla kicherte. "Jenny, du hattest aber einen Bärenhunger!" Sie nämlich hatte gerade mal die Hälfte eines Brötchens hinunter bekommen.
Jenny fühlte sich schwer. "Ich muss kurz aufs Klo." Dann rannte sie nach oben in ihr Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Was hatte sie getan? Ihr war warm und kalt und sie bekam keine Luft, Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie wollte doch hübsch werden. Hübsch und Dünn. War das Essen denn so verdammt wichtig? Sie schaute in den Spiegel. Fett. Alles was sie sehen konnte war Fett. Jenny hatte lange nicht mehr ein so starkes und widerliches Gefühl empfunden. Selbsthass. Sie zitterte. Irgendwas musste sie tun. Im Spiegel sah sie hinter sich eine Nagelschere liegen. "Du ekelst mich an. Versagerin.", sagte sie leise zu ihrem Spiegelbild, welches mit roten Augen aus dem Spiegel herausblickte. Jenny sank zu Boden, griff nach der Nagelschere und schnitt sich tiefer und tiefer in den Arm. Der Schmerz befreite sie, sie vergaß alles andere, die Aufregung um sie herum. Blut tropfte auf die Fliesen. Unmengen von Blut. Es war rot, sah beinahe unwirklich aus. Tränen vermischten sich damit.
Nach einer Weile krallte sich Jenny an das Klo, öffnete den Klodeckel, beugte sich über es und lies ihren Finger tiefer und tiefer in den Hals gleiten.
Alles was sie sich gerade in den Mund gestopft hatte, kam nun aus den Tiefen ihres Magens wieder heraus. Jenny würgte und spürte wie ihr noch mehr Tränen in die Augen schossen. Ihre Finger zitterten. Als sie sich ein klein bisschen leichter fühlte, betätigte sie die Spülung und klappte den Klodeckel wieder herunter. Jenny zitterte weiter unkontrollierbar am ganzen Körper. Sie kam sich ekelhaft, dreckig und schlampig vor. Doch ihr ging es besser. Das Fülle-Gefühl war wirklich fast weg und sie fühlte sich frei. Sie stand auf, war noch etwas wackelig auf den Beinen und schaute in den Spiegel. Ihr Gesicht war vom kotzen rot und aufgedunsen. Ihre Augen tränten und sie sah aus als ob sie von einer Horde Bienen im Gesicht gestochen worden wäre. So konnte sie doch unmöglich mit Dave ihr 2-Monatiges feiern. Sie drehte den Wasserhahn auf, wusch sich ihr Gesicht und spülte ihren Mund aus. ‚Schon besser.’, dachte Jenny als sie sich wieder im Spiegel betrachtete. Sie sah zwar immer noch hässlich und fett aus, aber das musste Dave heute wohl genügen. Sie sah an ihrem Arm hinunter. Er blutete immer noch. Wie sollte sie das vor Dave verstecken? Sie hielt ihren Arm unter kaltes Wasser. Es brannte wie Feuer und Jenny verzog das Gesicht. Dann zog sich den Pulli der noch über der Badewanne hin über den Kopf. Dave sollte nicht sehen, das es ihr schlecht ging. Es klopfte.
‚Jenny?’, fragte jemand draußen vor der Tür, ‚Alles in Ordnung, Engel?’ Es war Dave. Er nannte sie immer Engel, obwohl Jenny fand, dass diese Bezeichnung eher auf Vanilla zugetroffen hätte. Sie sah wenigstens auch aus wie ein Engel.
‚Alles in Ordnung’, trällerte Jenny bedacht fröhlich zu klingen und öffnete die Badezimmertür. Dave sah sie an.
‚Okay, dann bin ich ja beruhigt.’, sagte er und lächelte, auch wenn er sie ein wenig argwöhnisch ansah. Gott, wie Jenny dieses Lächeln liebte.
‚Und, was wollen wir machen?’, fragte er schließlich und sie setzten sich auf Jennys Bett.
‚Na ja, wir haben 2-Monatiges.’, erwiderte Jenny und fühlte sich hässlicher denn je. Warum gab sie Dave eigentlich mit so was wie ihr ab? Sie war nicht hübsch, nicht beliebt, nicht dünn und schöne Klamotten besaß sie auch nicht. Sie war eine Versagerin.
‚Wie wär’s wenn wir zum See fahren? Ein bisschen Schwimmen, und ich habe gedacht das wir vielleicht picknicken.’
Dave wusste genau wie sehr Jenny den See liebte, genauso wie schwimmen. Aber im Bikini sah man ja wirklich ALLES. Nichts könnte Jenny unter einem weiten T-Shirt verstecken.
‚Klingt echt gut. Aber schwimmen vielleicht besser nicht. Ich fühl mich heute echt nicht danach .. Tut mir Leid.’
Dave lächelte nur verständnisvoll.
‚Geht klar. Du willst bestimmt noch duschen. Soll ich dich in 2 Stunden abholen kommen?’ Jenny nickte und sie verabschiedeten sich noch mit einem Kuss.
‚Bis später, Engel’, sagte Dave und Jenny schloss die Tür hinter ihm.
Sie war noch immer unglaublich aufgelöst. Erneut blickte sie in den Spiegel, um sich zu begutachten. Ihre Haare hatten noch nie schlimmer ausgesehen. So präsentierte sich Jenny Dave allen Ernstes zur Feier des Tages! Und Dave bestand trotz allem noch aus Zucker. Er war so verständnisvoll. Ob er wohl nur wegen Vanilla mit ihr zusammen war? Um ihrer perfekten Schwester nahe zu sein? Warum auch sonst?
Dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie zog ihren Pulli hoch. Die Blutung hatte aufgehört, der Schmerz aber war noch da.
"Gut so.", dachte sich Jenny, als es wieder an der Tür klopfte und Vanilla trat herein.
"Engelchen, ich brauch mal deine Bürste, ich find meine nicht mehr." Dann sah sie, dass ihre Schwester Tränen in den Augen hatte.
"Du weinst ja, mein Engel."
Der Versuch ihre Tränen vor Vanilla zu verstecken war also missglückt. "Vanilla, bitte. Warum bin ich nicht so schön wie du?!", weinte Jenny.
Vanilla war der Schreck ins Gesicht geschrieben.
"Was redest du, Jennifer? Du bist wunderschön, siehst du das nicht? Deine aschblonden Haare, deine tiefgrünen Augen."
"Deine sind so viel schöner .."
Vanilla schwieg. Anscheinend wusste sie, dass ihre Schwester Recht hatte.
"Nimm dir die Bürste, sie liegt auf meinem Schminktisch."
Sie kam sich fast lächerlich vor Schminktisch zu sagen. Auf diesem Tischchen lag nichts weiter außer eine Discounter-Wimperntusche und Lidschatten aus einer Zeitschrift, so wie ein kleiner runter Spiegel. Vanilla griff nach der Bürste und wollte das Zimmer verlassen.
"Warte. Kannst du mich vielleicht schminken? Mir die Haare machen? Mir Sachen zum Anziehen raus legen? Dave und ich haben doch heute unser zwei - monatiges .. "
"Klar doch.", trällerte Vanilla zuckersüß und lächelte ihre Schwester an.
Während Vanilla Jennys Haare mit einer Intensiv-Kur versah, ihr Make-Up auftrug und ihr die Nägel rot lackierte, dachte Jenny darüber nach, was sie Dave schenken sollte. Ein Fotoalbum. Auf dem sie auf jedem einzigen Bild fett aussah? Bestimmt nicht! Pralinen? Zu eintönig. Blumen? Out. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als Vanilla zu fragen, nachdem sie ihr die Wimpern getuscht und die Augenbrauen gezupft hatte.
"Hm, Engelchen. Das muss etwas ganz Persönliches sein. Was mag Dave denn am liebsten?"
"Flugzeuge."
"Na gut, einen Flugtrip kannst du ihm wohl nicht schenken."
Vanilla lachte - wunderschön. Elfengleich.
"Wie wäre es denn mit einem Gutschein für das Fluglabor hier in New York? Das ist doch irre teuer, das kann der sich sicher nicht leisten, aber wir ja schon."
Obwohl das ziemlich oberflächlich rüberkam, war das keine schlechte Idee. Ständig redete Dave von diesem Fluglabor. Also beschloss Jenny ihm gleich einen Gutschein zu schreiben.
"So, Engel. Fertig.", sagte Vanilla stolz und gab Jenny einen Handspiegel.
Jenny erkannte sich kaum wieder. Die Wimpern reichten bis zu den Sternen, ihr Teint war rosig und doch blass - schön blass. Ihre Haare glänzten blond und waren voluminös und sie fand sich hübsch. Das einzige was jetzt noch fehlte war die perfekte Figur, doch auch sie würde noch kommen. Trotz all dem war Vanilla noch hundert Mal hübscher. Allein schon wegen ihrer Linie. Nachdem Jenny den Gutschein geschrieben und sich umgezogen hatte, klingelte es auch schon an der Tür. Jenny lief gespannt die Treppen hinunter und öffnete die Tür. Mit einem zuckersüßen Geschenk und einem breiten lächeln stand dort Dave, der Jenny den Atem wegblies.
Doch sollte sie in Tränen ausbrechen oder sollte sie sich freuen?
Früher hätte sie sich darüber gefreut, aber heute?
Dave sah wieder einmal umwerfend aus.
‚Du siehst wunderschön aus.’, sagte Dave und strahlte.
Anscheinend meinte er das ernst.
‚Danke.’, murmelte Jenny ein wenig ungläubig und lächelte.
Sie konnte den Blick nicht von ihrem Geschenk abwenden.
‚Ich weiß nicht wie man so was überreicht. Herzlichen Glückwunsch kann man ja nicht unbedingt sagen. Aber, du bist wirklich etwas besonders, weißt du das, mein Engel?’
Dave fuhr sich etwas zerstreut und überwältigt von dem Anblick seiner Freundin durch die Haare. Dann überreichte er Jenny einen riesigen Korb voller Süßigkeiten und Leckereien, die sie so sehr liebte. Früher war es das perfekte Geschenk. Und jetzt? Jenny versuchte sich wirklich ein Lächeln abzuringen, doch sie brachte schließlich nur ein halbwegs glückliches Gesicht zustande.
‚Danke.’, sagte sie wenig überzeugend und nahm Dave den Korb aus der Hand.
‚Was ist?’, fragte er, als er Jennys Gesicht sah.
‚Gefällt es dir nicht? Ich weiß das so ein Geschenkkorb eigentlich echt unorginell ist, aber du wolltest ja eigentlich nichts großes, und ich dachte .. du freust dich über deine Lieblingssachen.’ Dave sah enttäuscht aus, und irgendwie gekränkt. Jenny hasste sich gleich noch ein wenig mehr dafür, dass sie sich über Daves Geschenk nicht freuen konnte.
‚Doch, doch! Natürlich. Ich freue mich total.’, erwiderte Jenny schnell, stellte den Korb ab und umarmte ihren Freund, so das er ihr verzweifeltes Gesicht nicht sehen konnte.
‚Vielen Dank. Du bist der Beste. Wirklich!’
Wie sollte sie ihm nur erklären dass sie das ganze nicht essen konnte? Um von der ganzen Sache abzulenken überreichte Jenny ihm ihr Geschenk.
‚Also, ich wusste erst nicht was ich dir genau schenken sollte. Nichts war gut genug für dich, weißt du? Aber ich glaube, es gefällt dir.’
Er öffnete gespannt den weißen Umschlag und zog den Gutschein hervor. Eine lange Pause.
‚Oh mein Gott, Jenny. Du bist verrückt.’
Dave blickte Jenny mit leuchtenden Augen an.
‚Weißt du wie teuer so was ist? Und ... ich kann das gar nicht fassen.’ Jenny strahlte. Dave schien das Geschenk tatsächlich zu gefallen. Vanilla hatte also die richtige Idee gehabt. Wie immer.
‚Okay. Wollen wir dann los?’, fragte Jenny, in der Hoffnung das Dave sein Geschenk vergessen hatte.
‚Alles klar. Den Korb nehmen wir einfach mit, dann essen wir davon was am See. Danke nochmal. Du weißt gar nicht wie wunderbar du bist.’ Er gab Jenny glücklich einen Kuss auf den Mund, schnappte sich den Korb, ging zu seinem Auto und ließ Jenny panisch vor der Haustür stehen.
Auf einmal klingelte Jennys Handy.
"Ja?"
"Hey, ich bin's.", sagte Alices Stimme am anderen Ende der Leitung. "Hey Süße."
"Was machst du grad? Wollen wir zu Starbucks und danach was in den Park? Süße Typen angucken? Das haben wir lange nicht mehr gemacht!"
"Geht nicht. Heute ist Daves und mein zweimonatiges."
"Okay. Viel Spaß.", sagte Alice verletzt und legte auf.
Sie mochte Dave nicht. Nein, sie mochte es nicht, das Jenny und Dave zusammen waren. Wie konnte sie auch. Sie war ja selbst lange genug in ihn verliebt und war wegen ihm sogar einen Monat in der Klinik gewesen, weil er ihre Liebe nicht erwidert hatte.
Jenny und sie hatten einen unheimlichen Streit, bei dem Wörter gefallen sind, die man nicht so schnell vergessen kann. Wörter, die für immer in der Seele brennen werden.
In dieser Zeit kam Jenny mit Dave zusammen und Alice landete in der Klinik. Nachdem sie wieder entlassen wurde, entschuldigte sich Jenny bei Alice, die wegen der Geschichte über Monate fast zwanzig Kilogramm abgenommen hatte. Jenny hatte nie gefragt, wie Alice das geschafft hatte. Es hatte sie nie interessiert. Sie mochte Alice dick oder dünn. Demnächst würde sie allerdings mal nachhaken.
"Engelchen, komm schon!", rief die Stimme ihres persönlichen Engels. "Ja, ich komme."
Jenny stieg ins Auto und schnallte sich an. Der Gurt drückte gegen ihren leeren Magen und ließ ihn knurren. Es war nicht zu überhören.
"Iss was, mein Engel.", sagte Dave und griff nach zwei Bonbons. Seine Hände fuhren Richtung Jennys Mund, die immer panischer wurde. "Nein, Dave, NEIN!"
Schockiert sah er sie an.
"Nein, mein Süßer. Ich habe Bauchschmerzen."
Wortlos steckte er den Schlüssel in den Wagen und fuhr Richtung See. Bäume, Felder, Häuser zogen an Jenny vorbei. Sie fuhren raus aus New York und Jenny war mit den Gedanken ganz woanders. Sie war in Paris. Europa musste toll sein. So ganz anders als hier. Viel lebendiger, vielschichtiger und naturverbundener.
"Schatz...", begann sie.
Dave hatte die ganze Fahrt noch kein Wort gesagt. Er schaute sie kurz an, dann wieder auf die Fahrbahn.
"Lass uns nach Paris reisen. Nächstes Wochenende! Meine Eltern bezahlen das auch."
"PARIS? Du hast Paris schon immer gehasst. Was gibt es da schon tolles außer diese ganzen Schicki-Micki-Läden? Du bist doch meine Naturliebhaberin.", sagte er und küsste sanft Jennys Wange.
"Das stimmt doch gar nicht. Außerdem warst du doch noch nie in Paris. Woher willst du wissen wie es dort ist? Außerdem ist es die Stadt der Liebe! Stell dir mal vor, wir beide auf dem Eifelturm!"
Jenny verlor sich in diesen Vorstellungen.
"Wir haben Schule, Jenny.", antwortete Dave nur darauf und fuhr eine kleine Auffahrt entlang.
Dave parkte den Wagen und öffnete erst seine, dann Jennys Tür. "Wow.", sagte Jenny sprachlos.
Hier waren sie noch nie gewesen. Eine atemberaubende Landschaft. Dass es sowas in der Nähe von New York überhaupt gab. Unfassbar.
"Lass uns ins Wasser springen!", sagte Dave, lief ans Ufer und zog sich dabei aus, bereit ins Wasser zu springen. Jenny wusste nicht, was sie tun sollte. Sie stellte ihre Sachen ab und schaute in die Sonne. Es war wie in einen dieser kitschigen Filmen. Dave sah sie erwartungsvoll an. "Komm schon! Das Wasser ist gar nicht kalt!"
Jenny atmete tief durch, lief zu ihm und sprang mit all ihren Klamotten in den See. Dave lachte und kam mit einem eleganten Kopfsprung zu ihr ins Wasser. Dann umarmte er sie und flüsterte: "Du bist wirklich etwas besonderes, weißt du das?"
Kapitel 4
Zwei Tage später saß Jenny neben Alice im Biologieunterricht und ließ gerade das Thema 'Zellen' über sich ergehen, als Alice ihr wiedermal einen kleinen Zettel in die Hand drückte.
"Wollen wir heute irgendwas machen?" stand in feiner, sauberer Schrift darauf. Jenny nickte ihrer Freundin zu und flüsterte: "Klar."
Als die Schulglocke klingelte erhoben sich alle und verschwanden in die Pause. Alice, Jenny, Kate und Isabelle - zwei Mitschülerinnen - saßen meist auf zwei Bänken die im hinteren Teil der Schule standen.
"Willst du gar nichts essen?", fragte Kate Jenny und schaute ein wenig irritiert. "Du hast doch sonst immer super leckere Sachen dabei!"
"Ähm, nein. Ich habe Bauchschmerzen."
Jenny bemerkte nicht das Alice sie genervt musterte. "Sicher?", fragte sie noch einmal nach und hob ihr linke Augenbraue.
"Ja.", sagte Jenny und hielt sich gespielt den Bauch. "Keine Ahnung was los ist." Sie zuckte mit den Schultern und erhob sie. "Ich geh mal auf Klo." Also verschwand Jenny aus der unangenehmen Situation und verkroch sich den Rest der Pause auf die Toilette.
Nach der Schule gingen Alice und Jenny noch ein Stück zusammen zu Fuß. "Und wie läuft es mit Dave?", fragte Alice mit einem seltsamen Unterton in der Stimme.
"Alles bestens. Er ist wirklich super süß im Moment!"
"Aha. Hattest du vorhin wirklich Bauchschmerzen?"
"Ja, hab ich doch gesagt! Warum fragst du mich das die ganze Zeit."
"Ich finde du isst im Moment richtig wenig."
"Woher willst du das denn wissen?"
"Stimmt. Zeit für mich hast du dank DAVE ja sowieso keine mehr."
Jenny wusste keine Antwort darauf. Alice hatte Recht. Sie sahen sich nicht mehr so oft wie früher, und viel essen tat Jenny ebenfalls nicht mehr. Aber warum auch? Sie war fett, fett, fett, fett, fett. Warum sollte sie dann noch mehr ekelhaftes Zeug in sich reinstopfen?
"Jenny?" Alice riss Jenny aus ihren Gedanken.
"Ja, Tschuldigung."
"Du hörst mir noch nicht mal mehr zu. Weißt du was, ist auch egal. Lassen wir's heute gut sein."
"Aber Alice, so war das doch gar nicht -" Bevor Jenny den Satz beenden konnte, hatte sich Alice auch schon abgewandt und war über die Straße gegangen.
"Alice!" Aber sie hörte es nicht, oder wollte es nicht hören. Jenny stieß einen tiefen Seufzer aus. Warum war Alice so eine Zicke. Konnte sie denn nicht verstehen das sie viel Zeit mit Dave verbringen wollte? Also schob sie ihre beste Freundin vorübergehend aus ihren Gedanken. Der Tag war viel zu schön um missmutig durch die Gegend zu stapfen.
Als Jenny die Tür zuhause aufschloss, wartete ihre Mutter schon auf sie. "Hey Schatz, setz dich. Ich hab uns eine Pizza bestellt!"
Pizza. Heiß. Fettig. Kalorienreich. Jenny schüttelte den Kopf.
"Ich hab eben schon mit Alice einen Brownie gegessen. Bei Starbucks."
"Jennifer, setz dich jetzt bitte hin. Wann haben wir das letzte Mal gemeinsam gegessen? Das ist auch schon wieder etwas her. Und erzähl mir doch nicht das du keine Lust auf Pizza hast! Die isst du doch sonst immer so gerne."
"Heute aber nicht. Mom, bitte, lass mich nach oben gehen. Ich muss Hausaufgaben machen. Ich habe echt keinen Appetit."
"Na gut. Dann halt nicht. Ich wollte mich ja nur mit dir unterhalten. Du bist in letzter Zeit immer in deinem Zimmer oder bei Dave. Ich finde es ja schön wenn ihr so verliebt seid, aber -"
"Mooom!" Jenny verdrehte die Augen und wand sich ab. Ihre Mutter war immer so führsorglich, was sie ganz schön nervte.
In ihrem Zimmer machte sie Workouts, die sie in einer Zeitschrift gefunden und sich an die Wand geklebt hatte. Sit-ups, Hampelmänner, Klappmesser, Crunches. Nach dem sie fertig war, aß sie einen Kraftriegel aus dem Supermarkt. 44kcal pro Stück. Wie viel hatte sie heute schon gegessen? Jenny klappte ihr Macbook auf und öffnete die Exeltabelle, die sie erstellt hatte. Bei Gewicht trug sie 63,7kg ein. Das Feld für Kalorien ließ sie noch frei. Bisher waren es 150. Wie viele Kalorien dürfte man am Tag eigentlich zu sich nehmen? Jenny öffnete einen neuen Tab und gab "Kalorien pro Tag" in ihre Suchmaschine ein. Verschiedene Vorschläge wurden angezeigt:
- Kalorienumsatz pro Tag
- Kalorien pro Tag?
- Wie viele Kalorien darf ich zu mir nehmen?
- Elle's Blog
Jenny klickte auf den letzten Link und fand sich in einer pinken glitter Blogger Welt wieder. Elle's Blog, hieß die Seite. An der Seite waren einige Unterthemen aufgeführt. "Ana, Ana's Gebote, Ana's Gesetze, Ana's erster Brief, Ana's zweiter Brief, Kalorientabelle, Thinspiraton, Gewichtsverlauf, Tagebuch, Esstagebuch." Jenny war etwas verwirrt. Was war das für eine Seite? Es ging um abnehmen, aber was oder wer war Ana? Sie klickte auf "Ana's Gebote" und begann zu lesen:
1. Du musst unsichtbar werden. Dafür musst du dünn sein. Dünn sein ist wichtiger als gesund sein.
2. Bist du nicht dünn bist du nicht schön
3. Du sollst hungern, deine haare kurz schneiden, dir neue kleider kaufen, alles tun um dünner auszusehen.
4. Du sollst nicht essen, ohne dich schuldig zu fühlen
5. Du sollst kalorien zaehlen und deine nahrung dementsprechend reduzieren.
6. Du sollst keine nahrhaften dinge zu dir nehmen, ohne dich nachher schuldig zu fühlen
Bei Punkt Sechs hörte Jenny auf zu lesen. Wie krank sich das anhörte. Und trotzdem. Kalorien zählen klang doch plausibel. Jenny klickte weiter und erst als es klopfte, merkte sie, wie lange sie schon am Laptop saß. Hastig klappte sie ihn zu.
"Hey Schwesterchen. Was machst du so?", fragte Vanilla, ging quer durch das Zimmer und ließ sich auf Jennys Bett fallen.
"Ähm, nichts besonderes. Hast du heute nichts vor?" Jenny setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.
"Doch, ich war grade noch etwas joggen, und gleich geh ich noch was raus. Hast du Lust mit Mom ins Kino zu gehen? Deine Hausaufgaben müsstest du doch jetzt fertig haben."
Vanilla sah perfekt und überhaupt nicht verschwitzt aus. Wenn Jenny joggen war, war sie danach immer rot wie eine Tomate.
"Ich muss Alice noch anrufen."
"Achso. Okay. Dann sag ich Mom Bescheid." Vanilla stand wieder auf und verschwand leichtfüßig aus dem Zimmer.
Als Jenny wusste das ihre Schwester wirklich verschwunden war, klappte sie ihren Laptop wieder auf. Sie kopierte die Tipps und die Gebote in eine Worddatei und beschloss, sie sich jeden Tag durchzulesen. Jetzt war Jenny noch motivierter als vorher. Bald würde sie aussehen wie die Mädchen auf den Covern der Vogue und auf den Bildern die den Titel "Thinspiration" trugen. Sie würde das schaffen.
Kapitel 5
Als Jenny zwei Woche später nach Hause kam, war sie stolz darauf, wieder einmal nichts gegessen zu haben. Ihre Mutter stellte natürlich die üblichen Fragen.
"Das Abendessen steht auf den Tisch. Hast du Hunger? Ich hab dein Lieblingsessen gemacht."
"Nein Danke.’, erwiderte Jenny und winkte ab, "Ich hab schon mit Dave gegessen."
"Oh, na gut. Wie war es denn mit Dave?"
"Wirklich toll!", lächelte Jenny und damit ging sie nach oben in ihr Zimmer. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen Alice. Nachmittags wollten sie sich eigentlich treffen, aber Jenny hatte sie wegen Dave versetzt. Sie sahen sich doch jeden Tag in der Schule. Aber trotzdem klang irgendwie traurig. Ob sie sie anrufen sollte? Wahrscheinlich saß sie allein in ihrem Zimmer und heulte. Die arme. Schnell wählte Jenny Alice Nummer und wartete. Das gewohnte Tüten erklang. Nach einigen Sekunden meldete sich Alice Stimme.
"Ja?", fragte Alice am anderen Ende gelangweilt.
"‚Hey süße, ich bin’s Jenny."
"‚Hallo.", sagte Alice wortkarg, "Hast du jetzt mal Zeit für mich? Ist Dave wieder weg?"
"Kling doch nicht so …"
"Wie klinge ich denn bitte?", fragte Alice gereizt.
"Du klingst GENERVT."
Jenny hasste es, wenn Alice so war. Klar, sie konnte Alice verstehen dass sie es nicht gerade toll fand, das ihre beste Freundin mit ihrer großen Liebe zusammen war. Aber dieses Thema wurde schon oft genug durchgekaut und Alice musste sich damit zurechtfinden. Jenny nahm sonst immer auf alles und jeden Rücksicht. Einmal in ihrem Leben musste sie auch an sich selbst denken.
"Ja. Okay. Tut mir Leid. Wie war der Tag?", fragte Alice kompromissbereit.
"Jaja, ganz gut. Sollen wir jetzt noch was machen? Um die Häuser ziehen? Diskos unsicher machen oder so? Ich hab Lust raus zu gehen."
"Ich dachte eher an einen ruhigen DVD-Abend mit ganz viel Chips und Eis!", sagte Alice, die von Jennys Idee nicht gerade begeistert schien.
"Hmm .. du, Alice? Ich wollte dich da noch was fragen.."
"Was ist?"
"Damals, als du in der Klinik warst .. da hast du echt viel abgenommen."
"Ja." Alice klang nervös.
"Wie hast du das geschafft?"
"Jenny, warum willst du das wissen?"
"Naja, ich hab da so eine Diät angefangen..."
"Ach du Scheiße, Jennifer, hör auf! Sowas hast du doch nicht nötig!" "Musst du grad sagen, du mit deiner Traumfigur! DU hast so was nicht nötig. ICH schon."
"Ich esse ja auch wieder normal!"
"Wie? Wieso wieder
normal...?"
"Ach, vergiss es Jenny. Kommst du nun auf einen DVD-Abend vorbei oder nicht?"
Während Jenny mit Alice telefonierte, machte sie sich auf dem Weg ins Badezimmer ihrer Schwester und stellte sich auf die Waage. 60,9kg. Bald konnte Jenny die goldene 50iger Marke sehen! Jenny lächelte erfreut. Dann erinnerte sie sich an Alices Frage.
DVD-Abend. Sitzen. Faul sein. Essen. Schon wieder Essen.
"Nein danke, Alice. Ich bin eher so in Partystimmung."
"Ach so. Ja. Ich nicht."
"Jo."
"Dann Tschüss oder was?"
"Ja, Alice. Machs gut. Aber du musst mir noch sagen, was du damit meintest..."
TUUT. TUUT. TUUT. Alice hatte bereits aufgelegt.
Jenny legte seufzend das Telefon beiseite. Alice musste ihr unbedingt erzählen wie sie es geschafft hatte ganze 17kg abzunehmen. Jenny schaute auf die Uhr. Es war gerade mal acht. Sie zog sich schnell ihre Jacke über, nahm ihre einzige Tasche und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
"Mum?", rief sie und war schon halb zur Tür hinaus, "Ich geh' noch was raus."
Ohne eine Antwort abzuwarten schloss Jenny die Haustür hinter sich. Es war schon dunkel und die Luft war kühl. Jenny liebte die Nacht und sog den wunderbaren Duft der Stadt ein. Sie beschloss ein wenig durch den Central Park zu schlendern. Nach einiger Zeit kam Jenny an ihrer Lieblingspizzeria vorbei. Man konnte den Geruch der frischen Pizzen bis auf die Straße riechen. Den leckeren, geschmolzenen Käse, die Tomaten. Zum Glück hatte Jenny kein Geld mitgenommen. Bevor der Besitzer der Pizzeria sie begrüßen konnte, eilte Jenny im Laufschritt weiter. Sie wusste selbst nicht wohin sie ihre Beine trugen, aber nach ein paar Minuten fand sie sich nicht wie geplant am Central Park wieder, sondern vor einem Club. Jenny hatte schon so manches Mal mitbekommen wie ein paar Jungs aus ihrer Klasse sich hier ihren Stoff besorgten. Jenny hielt nicht besonders viel von Drogen. Es veränderte die Menschen. Aber ein Gefühl sagte ihr, das es heute ihre Bestimmung war, in den Club zu gehen. Warum sonst hätten ihre Beine sie in dieser sternenklaren Nacht hier her bringen sollen?
Ob sie mit den Turnschuhen und der No-Name-Jeans wohl reinkommen würde? Sie zog ihren Ausweis aus der Jackentasche und zeigte ihn vor. Der Türsteher nickte, ging beiseite und öffnete damit die Tür einer geheimnisvollen Welt. Sofort erblickte Jenny John, einer aus ihrer Stufe. Als er auch sie sah, kam er zu ihr und sagte.
"Hey Jenn! Du hier? Magste was haben?"
"Ne, lass mal John.", winkte Jenny hab.
Ob Drogen wohl fett machten?
"Nicht mal Pep? Bisschen Ecstasy? Komm schon, ich will dir schon kein Crack andrehen, Engel. Ich pass auf dich auf."
Auch er nannte sie Engel. Das war so rührend, dass Jenny nicht anders konnte, als John in seine königsblauen Augen zu blicken, ihre Lippen an sein Ohr zu legen und zu flüstern:
"Gib mir, was du brauchst, mein Held."
Jenny kam sich gut vor. Dave war vollkommen vergessen. Es zählte nur der gutaussehende John. Dieser zog eine Tablette aus seiner Hosentasche und reichte sie ihr.
"Bitte sehr, Engel. Komm mit auf die Handels."
Die Handels war die Kuschelecke des Clubs, weiche Sitzflächen und nur Pärchen, die sich ihre Liebe unter Drogen gestanden. Jenny fand sowas immer lächerlich, aber diesmal ging sie mit John mit.
Sie nahm die Pille in den Mund und schluckte sie runter. Was es wohl war? Ecstasy vielleicht. Wenige Augenblicke später musste Jenny anfangen zu kichern. Sie fühlte sich großartig, unschlagbar. Nichts und niemand konnte ihr etwas anhaben. Ihr wurde immer wärmer, also zog sie ihre Jacke aus. Johns Lippen näherten sich Jennys Mund. Anstatt wie sonst panisch zu reagieren erwiderte sie und ihre Lippen berührten sich sanft. Dann wurde der Kuss leidenschaftlicher und immer wilder. John berührte Jennys Brüste und ging unter ihr T-Shirt. Für einige Augenblicke vergaß Jenny, wie dick und unwohl sie sich eigentlich fühlte und dass sie sich all das gar nicht leisten konnte. Sie war versunken in ihre Traumwelt. Johns Küsse, Johns Berührungen, sie waren so viel sinnlicher als Daves Hände, als Daves Lippen. Jenny bekam ein Kribbeln im Bauch, es war so schön. Seine Küsse hörten gar nicht mehr auf. Sie entführten Jenny in eine andere Welt.
Sie drehte sich um. Neben ihr lag John. Jenny war schockiert. Wie spät war es? Draußen war es hell. Sie wollte aufstehen, drehte sich wieder um und sah neben ihr eine Packung Kondome.
Panisch nahm Jenny ihre Tasche die auf dem Fußboden lag und rannte hinaus. Sie rannte so schnell sie konnte. Passanten gingen an ihr vorbei, und musterten sie angewidert. Sie wusste überhaupt nicht wohin sie musste. Jenny kam an einem Schaufenster vorbei, und fast wäre sie vor Schreck über einen nahen Mülleimer gestolpert. Sie blieb stehen. Ihre Schminke war total verschmiert, ihre Hose saß nicht richtig und ihr T-Shirt war total zerrissen, so das man an der einen Seite ihren BH sehen konnte.
Was war letzte Nacht nur passiert? Jenny holte ihr Handy aus der Tasche, die aussah als ob sie die ganze Nacht in Kotze gelegen hätte. '33 verpasste Anrufe', stand auf dem Display.
"Fuck.", dachte Jenny und zwang sich weiter zu gehen. Sie musste unbedingt schnellstens nach Hause kommen. Ihre Eltern machten sich bestimmt Sorgen, und Vanilla .. Wenn sie so jemand sehen würde der sie oder ihre Eltern kannte. Das ganze würde ihr mehr als Hausarrest einbrocken.
Doch zu spät. Als sie über die nächste Straße hastete kam ihr Alice entgegen. Als sie Jenny erblickte blieb sie stehen.
"Jenny?", fragte sie ungläubig.
Jenny war ebenfalls stehen geblieben, so dass die beiden Freundinnen sich gegenüber standen und den anderen anstarrten.
"Äh, hi.", erwiderte Jenny und sah betreten zu Boden.
Sie sah schlimm aus und die letzte Person die sie so treffen wollte war Alice. Oder Dave.
"Wie siehst du denn aus?" Alice musterte sie von oben bis unten. "Wo warst du denn?"
"Nirgendwo.", entgegnete Jenny schnell und fuhr sich durch ihr Haar. Es fühlte sich an, als ob John Alkohol darüber gegossen hätte. John. Oh Gott. Jenny fiel es wieder ein. Sie war im Club gewesen, mit John. Hatte Drogen genommen und John geküsst. Sie hatte Dave betrogen. Jenny war nach heulen zu Mute, wollte vor Alice aber die Fassung bewahren. "Na gut. Du erzählst mir ja gar nichts mehr. Was ist überhaupt los mit dir? Warst du feiern? Alleine?"
"Ich sagte doch gestern schon. Mir war eben nach Party."
"Aha. Bis jetzt oder wie?"
"Ja." Alice nickte beschämt.
Es schien als würden Jahre vergingen, doch Jenny musste schnell nach Hause. Ihre Mutter machte sich sicher schon unheimliche Sorgen.
"Und?", fing Alice an. "Hast du Drogen genommen?"
Jenny rang nach Luft. Woher wusste sie das?
"Was?"
"Ob du Drogen genommen hast."
"Was bist du für eine Freundin..."
Jenny suchte nach den richtigen Worten, doch sie wollten ihr nicht einfallen. Sie stammelte und brachte es nicht auf den Punkt.
"Du hast also Drogen genommen. Man, Jenny! Was ist los mit dir? Was ist los mit dir in letzter Zeit? Wie du aussiehst! Als wärst du vergewaltigt worden. Ich erkenn dich echt nicht mehr wieder."
Vielleicht wurde sie das ja. Jennys Magen knurrte. Sie atmete tief ein und wieder aus und fasste sich ein Herz.
"Alice... gestern Nacht ist etwas passiert."
"Haben du und Dave es endlich getan? Das freut mich ja für euch, dass ihr das endlich mal hinbekommen habt."
"Nein."
"Was dann?"
"Ich habe mit John... geschlafen. Glaube ich. Keine Ahnung."
"WAS!?"
"Schrei doch nicht so. Ich kann mich nicht erinnern."
Alice schien fassungslos.
"Das musst du unbedingt klären, Jenny!"
"Ja.", Jenny weinte. "Ich weiß."
Alice nahm ihre Freundin in den Arm und ihr Zorn verschwand. Jenny fühlte jeden einzelnen Knochen von ihr. Die Umarmung löste sich.
"Ich muss jetzt nach Hause, Al. Ich ruf dich nachher an. Versprochen."
Jenny stürmte los.
"Wer weiß ob es da nicht schon zu spät ist.", flüsterte Alice, doch Jenny hörte es nicht mehr.
Als Jenny endlich zuhause angekommen war, merkte sie, dass sie ihren Schlüssel vergessen hatte, was es ihr unmöglich machte unbemerkt ins Haus zu gelangen. Doch bevor sie die Klingel betätigen konnte wurde die Tür schon mit voller Wucht aufgerissen. Ihre Mutter stand vor ihr. Aber Jenny konnte sie nur schwer erkennen. Man sah deutlich das sie geweint hatte.
"JENNIFER!", schrie sie.
Doch anstatt ihre geliebte Tochter in den Arm zu nehmen und sich zu freuen das sie wieder zuhause war, hob sie die Hand. Das nächste was Jenny spürte war ein brennender Schmerz auf ihrer linken Wange. Heiße Tränen flossen ihr über das make-up verschmierte Gesicht. Nun begann Jenny vollends aus der Fassung zu geraten und begann zu weinen. Ihre Mutter war schon von der Türschwelle verschwunden und so stand Jenny weinend und alleine im Hausflur. Nach einiger Zeit hörte sie ein Knurren. Sie hatte sein Stunden nichts gegessen. Das letzte Mal gestern Mittag. Und auf einmal war ihr alles egal. Ihr Leben war doch sowieso scheiße. Sie hatte Drogen genommen, Dave betrogen, ihre Jungfräuchlichkeit an einen blöden Typen aus der Schule verloren und das mit ihrer beste Freundin war auch nicht das was es einmal war. Alice und sie telefonieren immer seltener miteinander und wann war Jenny das letzte Mal mit ihr shoppen oder Kaffee trinken gewesen? Es kam ihr Ewigkeiten her vor. Was würde es denn so überhaupt bringen schön und dünn zu sein? Es gab doch niemanden mehr.
Jenny ging in die Küche. Ihre Mutter war wahrscheinlich oben im Zimmer oder im Garten. Wie sauer sie sein musste. Aber Jenny dachte gar nicht daran sich bei ihr zu entschuldigen. Sie tappte immer noch etwas benommen von der Ohrfeige zum Kühlschrank und öffnete ihn. Nacheinander zog sie die Kalorienreichsten Sachen heraus. Kuchen, Schokopudding, Cola, eine 500ml Ben & Jerrys Cookie Dough Packung, noch mehr Eis. Jenny ging zum nächsten Schrank. Kekse und Unmengen von Chipstüten landeten auf dem Boden. Nach dem sie alles essbare aus der Küche auf dem Boden verteilt hatte begann sie zu essen. Schnell und bedacht das niemand herein kam. Ihre innere Stimme schrie: "Jenny! Hör auf. Hör auf damit!"
Doch Jenny ignorierte sie. Das Eis schmeckte einfach zu gut, die Chips waren zu lecker. Nach dem sie die ganze 500ml Packung Ben & Jerrys aufgegessen hatte, machte sie die Kekse auf und stopfte sich so viele wie möglich davon in den Mund.
Als sie fertig war, alles Essbare in sich hinein zu stopfen, merkte sie was sie gerade getan hatte.
Jenny warf die Überreste ihrer Fressattacke in den Mülleimer, griff sich ihre Tasche und taumelte die Treppen hinauf. Dann durch ihr Zimmer in das Bad, griff nach der Nagelschere, wie sie es mittlerweile immer öfter tat. Es war so leicht. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Im Radio lief "Goodbye" von "And then I turned Seven".
"Everything is worthless, no one who wants me to stay. And I'm sorry, but I've waited too long. So here's my goodbye, no one will cry over me. I'm not worth any tears."
Sie schnitt immer tiefer und tiefer. Ihr war alles egal. Das Blut tropfte auf die kalten Kacheln. Warum sah niemand ihren Schmerz, ihre Narben? Dave, Vanilla, Alice, ihre Mutter. Selbst John hätte sie sehen können. Alle hätten sie sehen können. Aber niemand scherte sich um sie. Nicht mal ihre Schwester, oder ihre Mutter. Jennys Vater war ja sowieso immer auf der Arbeit. Aber die anderen .. ?
Die Tränen brannten auf Jennys Wange, sie bekam keine Luft mehr und schnitt fester und tiefer. Heulend brach sie zusammen. Sie zitterte.
"Ich bin stark.", heulte sie und öffnete den Klodeckel. Sie versuchte sich mit ihren Fingern im Hals, doch es klappte nicht. Sie fühlte sich dick. Schwer. Fett. Sie griff nach einer Zahnbürste und lies sie in ihren Hals gleiten. Immer tiefer. Sie würgte, sie heulte. Nichts gelang in die Kloschüssel. Erneut nahm Jenny die Nagelschere in die Hand.
"Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr!", weinte sie.
"Warum sieht keiner den Schmerz?!", sie heulte.
Sie weinte und weinte. Sie gab es auf. Soll sie doch fett werden. Sie stellte sich auf die Waage, die sie aus dem Bad ihrer Eltern genommen hatte. 59,6! Sie hatte abgenommen. Sie war unter 60 fetten Kilos. Waren die Drogen Schuld? Sollte sie jetzt immer wieder Drogen nehmen, um dünner zu werden? Warum nicht? Ihr Leben war sowieso sinnlos. Auf einmal summte etwas. Jennys Handy.
"John ruft an."
Sollte sie dran gehen? Eigentlich hatte Jenny überhaupt keine Lust jetzt mit John zu reden. Ihr ging es scheiße genug. Aber andererseits wollte sie wissen was gestern Nacht genau passiert war. Also nahm sie den Anruf entgegen.
"Hallo?" Ihre Stimme zitterte.
"Hey süße.", meldete sich John. Er klang ein bisschen erschöpft, aber wach.
"Hallo John.", murmelte Jenny.
"Und, wie geht’s meinem Engel? Du warst heute Morgen plötzlich weg. Ich konnte mich gar nicht mehr richtig von dir verabschieden."
"Äh, John. Die Sache ist die -"
"Ich weiß Jenny. Wegen Dave. Aber mach dir keine Sorgen, Babe. Der kriegt das schon nicht raus. Ich kann schweigen wie ein Grab."
Da war Jenny aber anderer Meinung.
"Nenn mich nicht Babe.", sagte Jenny stattdessen und beobachtete weiter wie Blut von ihrem Arm auf die Fliesen tropfte.
"Ohh, ein bisschen zickig die kleine. Das mag ich." John war definitiv noch nicht wieder normal.
"John, hör auf. Was ist gestern Abend passiert?"
"Keine Ahnung. Aber es war schön."
"JOHN!"
"Ich hab echt keine Ahnung. Wir haben uns geküsst, und dann .. Nichts. Filmriss."
"Scheiße.", murmelte Jenny. Hatte sie jetzt mit John geschlafen oder nicht? Ihr Arm brannte höllisch. Sie legte das Handy weg, drückte auf 'Anruf beenden' und begann ihren Tränen weiter Lauf zu lassen. Was sollte sie denn nun machen? Und wie sollte sie das ganze Dave erklären? Dann klopfte es an der Tür.
"Jenny?", sagte Vanillas Stimme.
"Du bist jetzt schon gut eine halbe Stunde im Bad. Mach mal hin, ich möchte gleich noch zu Jamie."
Jenny nahm ein Handtuch und wickelte ihn um ihren Arm und zog ihren Ärmel darüber und legte die Zahnbürste zurück. Dann nahm sie sich ihre Tasche und ihr Handy, öffnete die Tür und drängte sich an ihrer Schwester vorbei.
"Hast du geweint, Engel?", fragte sie.
"Leck mich! Und geh doch in dein eigenes Bad, dafür hast du's doch.", schrie Jenny und deutete auf die Tür. "GEH!"
Vanilla hatte ihre kleine Schwester noch nie so erlebt, also verschwand sie, ohne irgendwelche weiteren Fragen.
Erneut klingelte ihr Handy. Diesmal stand Dave auf dem Display.
"Scheiße. Er weiß es. Er weiß es.", dachte Jenny panisch. Aber sie musste abheben.
"Hallo Dave.", murmelte Jenny also zögerlich.
"Hey, Engel. Wie geht es dem schönsten Mädchen unter der Sonne?"
Er wusste nichts. Eigentlich wollte sie es ihm alles erzählen, ihm die Wahrheit sagen, aber seine charmante und schmeichelhafter und einfach zuckersüße Art machte es unmöglich.
"Ja. Gut. Dir?", wimmerte Jenny.
"Du weinst ja! Was ist los?"
"Ich war gestern Abend im Park und bin zu spät nach Hause gekommen und hab Stress mit meiner Mutter, Dave. Mach dir keine Sorgen."
"Soll ich vorbeikommen?"
"Das wird Mum nicht erlauben, lass gut sein."
"Bist du sicher? Ich will dich nicht alleine lassen! Kann ich irgendwas tun?" Er war perfekt.
"Nein. Danke. Ist okay." Jenny legte auf und brach erneut in Tränen aus.
Eine Zeit lang saß sie einfach nur da. Ihre gute, liebevolle Mutter hatte sie geschlagen. Arm, Wange und Herz taten unheimlich weh. Sie wartete. Vielleicht würde ihre Mutter ja kommen und sich entschuldigen. Irgendwas. Doch keine Schritte, die sich Jennys Zimmer näherten, nichts. Jenny gab es auf.
"Alle haben sich gegen mich verschworen", dachte sie.
Dann wischte sie ihre getrockneten Tränen weg und zog sich um. Sie hatte versagt. Und sie musste wissen was passiert war.
Also musste Jenny nun zu John gehen. Sie musste doch irgendwie irgendwas
klären.
Heimlich schlich sie sich an dem Zimmer ihrer Mutter vorbei und verließ das Haus. Sie würde nun den Bus Richtung Brooklyn nehmen, dort wo John wohnte. Mit jedem Schritt brannte ihr Arm mehr, ihr Herz schrie und ihre Wange pochte. Sie fühlte sich noch immer grauenhaft wegen ihres Fressanfalls. Glücklicherweise kam der Bus direkt, Jenny stieg ein und setzte sich neben eine alte Dame, da sonst kein freier Platz mehr da war.
"Och Gottchen.", sagte die Frau und hatte stets Jennys Arm im Blick. "Was will diese Frau.", dachte Jenny gereizt.
"Haben sie keine eigenen Angelegenheiten, um die sie sich kümmern können?!" Die Frau schrak zusammen und schaute weg.
Die Haltestelle, an der Jenny austeigen musste, ertönte durch die Lautsprecheransage einer freundlichen Frau. Jenny stieg aus und lief die noch ungewohnten Straßen entlang bis zu seinem Haus. Er hatte eine eigene Wohnung. Sie klingelte. Eine lange Zeit passierte nichts. Sie klingelte nochmal. Und nochmal. Schließlich surrte es und Jenny drückte die Tür auf, lief das Treppenhaus hoch und lief genau in Johns Arme.
"Engelchen!", empfang er sie.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht herzukommen? Doch bei dem Blick seiner blauen Augen wurden ihre Knie wieder weich und sie schwach. John war so wunderschön.
"John...", hauchte sie. John drückte ihr einen Kuss auf. Jenny konnte nicht anders als es zuzulassen.
Irgendwas hatte John, was Jenny faszinierte und glücklich stimmte. Er nahm ihr alle Sorgen. Dave hatte das nie geschafft. Sie küssten sich leidenschaftlicher und leidenschaftlicher und zogen sich gegenseitig aus. Egal, ob sie gestern ihre Jungfräulichkeit verloren hat oder nicht, sich nicht sicher war. Jetzt war sie sich sicher, dass es passieren wird.
"John. Ich .. kann .. nicht", flüsterte Jenny unter seinen Küssen hervor.
"Doch, du kannst."
Dann vergaß sie alles um sich herum.
Kapitel 6
Ein Surren. Jenny öffnete die Augen. Wo war sie? Jenny drehte sich um. Da lag John, friedlich und schlafend im Bett. Sie war bei ihm zuhause. Das surren wurde lauter. Es war Jennys Handy.
"Hallo?", meldete sich Jenny.
Sekunden später bereute sie es ans Handy gegangen zu sein.
"Jenny.", ertönte Daves Stimme.
"Oh. Hey."
"Wo zum Teufel bist du?" Dave klang böse.
"Ich - ich." Jenny wusste nicht was sie sagen sollte.
"Ich war grade bei dir, doch du bist nicht da. Du hast doch gesagt du hast Stress mit deiner Mum. Wo bist du? Ich mach mir Sorgen um dich! Und deine Mum auch! Was ist bloß los mit dir?"
"Ich, ich erklär dir später alles.", stammelte Jenny und legte schnell auf. "Oh Gott.", flüsterte sie leise. Sie blickte hinab zu John. Wie wunderschön er aussah. Doch hierbleiben konnte sie nicht. Und nachhause? Erst Recht nicht. Ihre Mum würde sie wahrscheinlich wieder schlagen. Ihr Handy klingelte erneut. Dave. Jenny ignorierte den Anruf und zog sich schnell an. Dann flüsterte sie: "Tschüss John.", zum Abschied und schloss die Wohnungstür hinter sich. Sie hatte ein schlechtes Gewissen ohne etwas zu sagen aus John Wohnung zu verschwinden. Aber wenn jemand sie hier finden würde, würde es mächtig Ärger geben. Ihre Eltern würden zwar niemals einen Fuß nach Brooklyn setzten, aber ihnen war ja alles zuzutrauen. Jenny lief die Treppen hinunter. Das Wetter war schön. Der blaue Himmel strahlte und die Sonne schien. Ein viel zu guter Tag. Jenny ging die Straßen entlang. Wo sollte sie hin? Zum zweiten Mal an diesem Tag, kam sie sich verloren und ungewollt vor. Sie beschloss Dave alles zu erzählen. Noch wusste sie nicht, das es zu spät war.
Sie lief nach Hause. Den Schlüssel hatte sie diesmal nicht vergessen. Noch einmal machte sie diesen Fehler nicht. Ihre Mutter schlief auf dem Sofa und ihr Vater war arbeiten. Malwieder. Sie schlich in ihr Zimmer. Niemand da. Dave musste schon weg sein. Sie griff nach ihrem Handy und wählte seine Nummer. Besetzt. Plötzlich stand Vanilla im Türrahmen ihres Zimmers und Jenny schreckte auf.
"Man, hast du mich erschreckt."
"Engel, setz dich mal kurz hin."
"Was denn?", fragte Jenny genervt. Für ein "Geht es dir gut"-Gespräch war es jetzt wirklich zu spät.
"Dave hat mir da etwas erzählt."
"Was denn?!" Jennys Nackenhaare stellten sich aufrecht.
"Du hast ihn betrogen."
"Was..?"
"Er weiß es von Alice.", sagte Vanilla und sah Jenny mit einem mitleidigen Blick an. Ihre Hand ruhte auf Jennys Knie. "Sag mir jetzt nur, Engel, stimmt das?", fuhr sie fort.
Alice war für Jenny nun schlagartig gestorben. Vor voller Verzweiflung, sich nie mehr irgendjemandem anvertrauen zu können, vertraute sie sich widerwillig ihrer Schwester an. Eigentlich war sie doch immer für sie da gewesen, und Geheimnisse waren bei ihr sicher. Das war schon als sie kleine Kinder waren und Jenny Kirschen vom Nachbarsgarten geklaut hatte, so gewesen.
Also begann Jenny zu erzählen, von den Drogen, von seinen wunderschönen Augen. Bloß der Zusammenbruch, die Schnitte am Arm und die Kotzversuche ließ sie aus.
"Wow, Kleine. Lass dich mal umarmen.", sagte Vanilla unter Tränen.
"Das Beste ist, du fährst jetzt zu Dave und sagst im, was Sache ist. Dass du nichts mehr für ihn empfindest."
"ABER ICH LIEBE DAVE! Ich liebe ihn über alles! Er ist das beste was mir jemals passiert ist. Ich habe noch nie so einen gutherzigen Menschen getroffen!"
"Und du stehst zugleich noch auf John?"
"Ja", weinte Jenny verzweifelt. "Ich weiß nicht was ich tun soll!"
"Oh.", brachte Vanilla heraus. Was anderes fiel ihr zu diesem Chaos, das ihr nie passieren könnte, nicht ein.
"Willst du nun Dave oder John?"
"Ich will nur Dave! Nur meinen Dave!"
"Okay. Dann geh und sag ihm genau das. Aber vergiss' zu sagen, dass du was für John fühlst. Das klärst du mit ihm alleine, dass das keinen Sinn hat. Du packst das, kleiner Engel. Ich glaube an dich. Und wenn irgendetwas ist, dann komm einfach zu mir." Vanilla küsste ihre Schwester auf die Stirn.
Jenny war so dankbar, das es sie gab. Sie umarmte ihre wunderhübsche Schwester und flüsterte: "Danke."
Vanilla ließ Jenny allein und sie atmete tief durch. Es war 18:27 Uhr. Wenn sie sich beeilte würde sie den Bis gleich noch schaffen. Also rannte sie so schnell sie konnte zur Bushaltestelle und schaffte es gerade noch so, den Fahrer davon abzuhalten ohne sie ihren Stadtteil zu verlassen. Nach sieben Haltestellen stieg sie aus.
Daves Haus konnte man schon von hier sehen und Jenny rannte ohne auf ein vorbeifahrenes Auto zu achten über die Straße und klingelte Sturm. Daves Mutter, Mrs Haley öffnete die Tür. Ob sie es wohl auch wusste? "Ich komm ja schon!", rief eine Stimme hastig von drinnen.
"Oh, hallo Jenny. Jan ist oben.", begrüßte sie sie verdutzt.
Sie schien keine Ahnung zu haben.
Jenny stürmte ohne ein Wort die Treppe hoch in Daves Zimmer und die Tränen brannten schon auf ihrer Wange und ihre Seele schmerzte wie verrückt. Sie klopfte an seinem Zimmer und öffnete die Tür, ehe jemand sie hereinbeten konnte.
"Was willst du hier, du Schlampe?!", schrie Dave als er sie sah.
"Bitte, Dave, bitte. Hör mir zu Dave, ich bitte dich.", weinte Jenny.
"Was hast du mir noch zu sagen, he?! Hat es dir gefallen?! Mit mir wolltest du warten, mit John springst du direkt in die Kiste?! Du bist so eine Heuchlerin! Als Alice mir das alles erzählt hat, konnte ich es nicht glauben. Das du mir so was antust! Ich war immer für dich da! Warum? War ich dir nicht gut genug?!"
Jenny brach zusammen und ihr Ärmel schob sich hoch. Jenny versuchte noch schnell die Narben noch zu verdecken, doch es war zu spät - Dave hatte sie bereits gesehen.
"Du hast dich geschnitten...", sagte er fassungslos. "Wann, wo? Wieso?"
Seine Stimme klang nun ganz anders. Dave wollte etwas für seine Freundin tun, aber er schüttelte den Kopf.
"Tut mir Leid Jenny, aber wenn ich mir vorstelle, dass John..." Seine Stimme brach ab.
"Es tut mir so Leid.", schluchtze Jenny. "Ich wollte das alles doch nicht. Ich weiß nicht was in mich gefahren ist! Ich verstehe mich nicht. Du bist so wundervoll .."
Sie sah ihn mit einem leeren Blick an. Ihr Herz tat so sehr weh, dass sie weder was sagen noch irgendetwas fühlen konnte.
Sie ring um Fassung. "Dave... ich liebe dich. Nur dich. Das war der größte Fehler meines Leben und ich könnte mich dafür umbringen!"
"Das hast du offenbar auch versucht", spielte Dave unter Tränen auf ihre Arme an.
"Nein Dave. Ich schäme mich so, verdammt! Ich weiß, ich habe dich nicht verdient. Du bist zu gut für mich! Viel zu gut. Aber ich liebe dich, das weiß ich! Ich liebe dich so sehr, wie ich noch nie für einen Menschen gefühlt habe und auch wenn ich den größten Fehler meines Lebens begangen habe, kein Mensch auf der Welt wird dich jemals so sehr lieben wie ich es tu!"
Dave nahm seinen Engel in den Arm und küsste ihr die Stirn.
"Ich liebe dich auch, Jenny."
Kapitel 7
Jenny aß bei Dave zu Abend, obwohl sie eigentlich fasten wollte. Aber sie war so glücklich das er ihr verzieh, das sie ihren Selbsthass zu verdrängen versuchte. Sie verabschiedete sich mit einem innigen Kuss und dem Versprechen nachher noch zu telefonieren.
Sie liebte Dave so sehr. Er hatte ihr verziehen, und das war so unglaublich. Jenny selbst hätte das nie gekonnt. Sie konnte es immer noch nicht fassen das es Alice gewesen war, die Dave alles erzählt hatte. Sie musste das klären. Aber heute war sie viel zu müde dafür. Es war mittlerweile kurz vor acht und die Läden fingen an ihre Gitter vor den Türen herunter zu lassen. Jenny beschloss zu Fuß ein Stück durch die Stadt zu laufen um wenigstens noch ein paar Kalorien zu verbrennen. Auf dem Weg kam sie an einer Apotheke vorbei. Im Schaufenster stand einer dieser bunten Aufsteller. "Magenprobleme? Mit Dulcolax bald kein Problem mehr!" Jenny trat näher an das Schaufenster heran. 'Das beste Abführmittel für den verstimmten Magen' stand unter der Überschrift. Jenny hatte gelesen, das manche Stars diese Tabletten missbrauchen, um die eingenommen Kalorien nicht aufzunehmen.
Jenny betrat die Apotheke. Eine blonde Frau, Mitte Vierzig stand hinter der Theke.
"Was kann ich für die tun?", fragte sie freundlich.
"Ähm, ich brauche .. Eine Packung Duculax."
"Sie meinen Dulcolax?" Die Frau lächelte und ließ dabei einige Goldzähne aufblitzen.
"Ja."
Die seltsame Blondine nickte, verschwand hinten im Lager und kam wenig später mit einer Grün-Silbernen Packung wieder.
"Bitte schön. 6,22$ bitte." Jenny gab mir das Geld und verschwand so schnell es geht aus dem Laden. Die Frau war ihr unheimlich.
Jenny machte sie auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle und öffnete dabei die Packung. Die kleinen, weißen, runden Tabletten verschwanden schnell in ihrem Mund. Drei Stück warf sie ein, ehe der Bus vor ihr anhielt und sie einstieg.
Am nächsten Tag, nach einem Telefonat mit Dave und einer Nacht auf der Toilette saß Jenny während ihre Familie draußen frühstückte, auf ihrem Bett und wählte Alice's Nummer. Niemand meldete sich. Jenny versuchte es noch einmal. Nichts. Beim dritten mal wurde abgenommen, aber schnell wieder aufgelegt.
Jenny hatte keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel. Alice musste irgendwann doch wieder mit ihr reden. Außerdem hatte wenn überhaupt sie selbst das Recht sauer zu sein. Immerhin war Alice zu ihrem Freund gegangen und hatte sie verraten. Die Waage hatte heute morgen 58,6 angezeigt. Immer noch zu viel. Aber besser. Die Dulcolax schienen wirklich zu wirken. Jenny hörte Vanilla draußen lachen und lief raus in den Garten.
"Schatz, hast du mittlerweile doch Hunger bekommen? Ich seh dich kaum mehr essen.", sagte Mrs. Daniels besorgt und deutete auf die frischen Brötchen. Jenny und ihre Mutter hatten sich immer noch nicht ausgesprochen. Vanilla hatte ihr erzählt, sie hätte bei Dave geschlafen und Jenny versichert, das ihre Mum nicht mehr sauer auf Jenny sei und im Moment einfach viel zu tun hätte.
"Ach Mom, das stimmt doch gar nicht! Ich geh jetzt zu Alice und wir frühstücken zusammen!" Sie schien beruhigt.
"Das hört sich gut an. Ich hatte schon das Gefühl ihr beide macht gar nichts mehr miteinander!"
Das ließ Jenny unkommentiert, verabschiedete sich von Vanilla und ihrer Mutter und verließ das Haus.
Mit Musik im Ohr lief sie eine viertel Stunde durch die Straßen und stand ehe sie eine neue Playlist auswählen konnte schon vor Alice's Elternhaus. Es war eine Spur kleiner als das Haus von Jenny, aber genauso hübsch. Im Garten hinter dem Haus hatten sie einen Pool, in dem die beiden als Kinder immer gespielt hatten. Früher war alles einfacher gewesen. Keine Typen wegen denen sie sich streiten mussten. Keine Sorgen über das Aussehen. Keine Probleme. Sie hatten so viel Spaß hier gehabt. Das Leben früher war schön. Heute war es schwer. Schwer und ungerecht.
Jenny ging die Auffahrt hinauf und klingelte an der Tür. Niemand öffnete. Jenny versuchte es noch einmal. Kein Geräusch von Füßen die die Treppen herunter eilten. Nichts. Jenny ging um das Haus herum in den Garten. Die Verbindungstür stand glücklicherweise offen. Der Garten lag so friedlich da, so wie früher, als ob keine Sekunde, kein Tag, seit damals vergangen war. Jenny blickte zur Terrasse. Die Tür stand ebenfalls offen. Jenny ging ins Wohnzimmer was direkt an die Terrasse angrenzte. "Alice?", schrie Jenny. Doch niemand gab ihr eine Antwort. Niemand schien da zu sein. Alice's Vater war auf Geschäftsreise und ihre Mutter musste Sonntags oft arbeiten. Eilig ging Jenny die Stufen zur ersten Etage nach oben. Sie kannte den Weg zum Zimmer ihrer besten Freundin auswendig und stand schnell vor ihrer Zimmertür.
"Alice, bis du da drin?" Es dauerte einen Moment, doch dann regte sich etwas hinter der Schneeweißen Tür.
"Was willst du?", ertönte endlich die Stimme ihrer Freundin.
"Ich will mit dir reden."
"Warum? Was willst du denn da noch groß reden?"
Jenny öffnete die Tür. Alice saß mit dem Rücken zu Jenny auf ihrem Sofa und bewegte sich nicht.
"Alice. Warum hast du das gemacht?" fragte Jenny besorgt.
Sie schloss die Tür hinter sich und ging ein paar Schritte Richtung ihre beste Freundin.
"Hat doch sowieso alles nichts gebracht."
"Bitte?" Alice redete wohl von etwas anderem. "Alice! Ich wollte es ihm selber sagen! Du hättest beinahe alles kaputt gemacht."
Alice lachte leise. Es hörte sich nicht an wie sie selbst.
"Ja, wie immer. Schieb ruhig alles auf mich. ICH habe ja alles kaputt gemacht. Natürlich."
"Alice! Sieh mich an, Mensch!"
Alice stand auf. Was Jenny bisher nicht gesehen hatte war die kleine Dose in Alice Hand. Waren das Tabletten? Alice wankte leicht.
"Was ist das? Was .. was tust du? Was hast du getan?!"
"Er hat gesagt das er dich liebt.", erwiderte Alice zusammenhangslos und lächelte ein wenig dabei. Sie starrte auf den Boden.
"Wer?"
"Dave. Ich hab ihm gesagt das du's mit John getrieben hast. In einem Club. Einfach so. Er war nur traurig. Gar nicht sauer. Er hat gesagt das er dich liebt. Egal was passiert. Egal was ich sage. Ganz egal was du ihm antust."
"Oh, Alice. Es .. Ich weiß auch nicht. Es tut mir Leid."
Alice nahm die Dose in ihrer Hand und schüttete sich kleine, weiße, runde Pillen in die Hand. Die Dose war jetzt fast leer.
"Er liebt dich wirklich.", flüsterte sie, schmiss die Tabletten in ihren Mund und schluckte sie herunter.
"Was ist das?", fragte Jenny nervls. Sie bemerkte wie Tränen ihre Wangen herunter liefen.
"Kann dir doch egal sein! Du warst doch nie für mich da. Du hattest immer nur Augen für Dave. Und dir was es verdammt nochmal scheiß egal, dass ich in ihn verliebt war und sogar in der Klinik war. Du hast ihn dir direkt gekrallt! Und jetzt? Du behandelst ihn wie Dreck, schläfst mit andern' Typen und er liebt dich immer noch! Das ist so unfair. Du gibst einen Dreck auf die Gefühle anderer!" Ihre Stimme zitterte.
"Alice. Alice, hör auf damit!" Jenny schrie nun fast. Sie versuchte Alice die Dose mit den Tabletten aus der Hand zu nehmen, doch Alice war fast einen Kopfe größer als sie selbst und so brauchte Alice die Dose nur etwas höher zu halten.
"Es ist zu spät.", sagte sie.
"Alice!" Jenny begann zu weinen.
"Du hast alles kaputt gemacht, weißt du das? Du hast alles zerbrochen was wir hatten. Wir waren beste Freundinnen."
Alice begann langsamer zu sprechen. Ihre Augen flatterten. Sie blieben immer länger geschlossen.
"Alice! Ich rufe jetzt eine Arzt!", schrie Jenny. "Was sind das für gottverdammte Pillen?! ALICE!"
"Jenny. Lass es. Ich will nicht mehr. Nicht mehr kämpfen. Nicht mehr stark sein. Verstehst du das denn nicht? Du hast ja keine Ahnung wie schwer das ist. Ich bin einfach zu schwach."
Und mit diesen Worten schlossen sich ihre Augen und sie fiel nach vorne, direkt in Jennys Arme.
"ALICE!", schrie Jenny, doch es war zu spät.
Alice Körper hing schlaff an Jenny herunter. Jenny begann heftiger zu weinen und Tränen fielen auf Alice schönes, braunes Haar. Alice Augen blieben geschlossen.
Sie war tot.
Kapitel 8
Jenny behielt ihre Freundin, ihre so geliebte beste Freundin einige Augenblicke in den Armen. Ihr Körper fühlte sich kalt an. Alles Leben war aus Alice gewichen. Jenny war fassungslos.
"Nein. Bitte, Gott, nein.", wimmerte sie, als es an der Tür klopfte.
Alice Mutter fragte :"Kinder? Was macht ihr für einen Krach? Warum schreit ihr denn so durchs Haus?"
Dann öffnete sich die Tür. Jenny hielt Alice noch immer fest in den Armen. Der schöne, dünne Körper hing reglos an ihr wie fest geklebt. Ihre Haare fielen herunter und berührten den Boden ihres Zimmers. Kein Muskel arbeitete mehr. Kein Blut floss mehr durch ihre Venen. Jenny wollte und konnte es nicht realisieren.
"UM HIMMELS WILLEN, WAS IST PASSIERT!?", schrie Alices Mutter und schnappte nach Luft.
Sie kniete sich nieder zu Jenny und ihrer Tochter, strich Alices Haar weg und blickte auf das regungslose Gesicht.
"Mrs Huber, Alice hat Pillen geschluckt. Ich weiß nicht wie viele. Ich weiß es einfach nicht! Ich .. ", Jennys Stimme brach ab. Sie wusste nicht was sie sagen sollte. Es gab dafür keine Erklärung.
Alice's Mutter konnte es nicht fassen. Sie fühlte den Puls ihrer Tochter, doch sie konnte es einfach nicht wahrhaben.
"Jennifer. Was waren das für Tabletten, Gott im Himmel - WAS WAREN DAS FÜR TABLETTEN?" Ihre Stimme zitterte, genauso wie die dürren Hände.
"Ich weiß es nicht.", gab Jenny kleinlaut zurück. "Da. Die Dose. Da waren sie drin." Jenny schluchzte weiter und deutete auf die Dose die vor Minuten noch von Alice's Hand umschlossen war.
"Um Gottes Willen! Das sind meine Optalidontabletten! Die brauchte ich gegen meine zuckenden Muskeln. Herrgott, drei Tabletten zu viel und der ganze Körper wird gelähmt."
Alice hatte eindeutig eine Überdosis konsumiert.
Jenny ließ Alice widerwillig los.
"Mrs. Huber.", fing sie an. "Warum hatte Alice so viel abgenommen in der Klinik?"
"Bitte geh jetzt, Jenny."
"Mrs. Huber, ich -"
"Jennifer. Geh' jetzt bitte sofort."
Jenny stand auf. Sie schaute sich noch ein letztes Mal im Zimmer ihrer Freundin um und drehte sich zur Tür. Mrs. Huber saß auf dem Boden, wählte den Notarzt und hielt ihre Tochter in den Armen und begann zu weinen. Jenny wollte gerade zur Tür raus gehen, als sie auf dem Schreibtisch DIARY auf einem Buch geschrieben sah. Alices Tagebuch. Sie schnappte es sich schnell und ging davon.
Im Bus konnte Jenny noch immer nichts begreifen, was gerade passiert war. Warum fühlte sie nichts? Warum hatte Alice das getan? Warum war Jenny nicht für sie da gewesen?
Sie öffnete die ersten Seiten des Tagebuchs. Jeder Eintrag hatte eine Überschrift. Sie überflog die Überschriften: Sinnlos ; Dave ; Dave, mein Herz ; Leben oder Tot ; Klinik ; Essstörung. Bei der Überschrift Essstörung blieb Jenny hängen. Noch nie hatte ihre Freundin irgendetwas über eine Essstörung erzählt. Sie begann zu lesen:
11.04.2008: Liebes Tagebuch. Die Ärzte diagnostizierten heute eine Essstörung und nannten sie Anorexia Nervosa. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich fragte nach. Sie sagten, Alice du hast die Magersucht. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte bloß dünner sein, damit Dave, mein Herz mich beachtet. Ich hab übertrieben. Ich hab es zu weit getrieben. Ich hab alles kaputt gemacht. Ich hab den Haufen Asche, den Dave mir in die Hände gelegt hat in Teile zerrissen. Ich hab alles zerstört. Jeder hasst mich. Jeder. Wer liebt mich schon noch? Wenn du einfach nur die Antworten auf deine hundert Fragen suchst. Befindet sich die Antwort vor dem Zug? In der Klinge? Beim Schuss? Im Sprung? Ich weiß, wie es ist, wenn die Welt grau ist, die Luft kühl und das Leben schwarz-weiß. Wo ist hier der Sinn? Ist hier noch Platz für mich? Warum habe ich Gefühle, wenn sie niemand erwidert? Warum habe ich einen Mund, wenn mir niemand zuhört? Ich brauche Dave. Ich brauche seine Nähe.
Ich kann nicht ohne ihn. Und niemand ist für mich da.
Alice
Jenny konnte nicht fassen, was da gerade gelesen hat. Alice hatte Magersucht. Und eindeutig auch schwere Depressionen.
"Alice, meine beste Freundin. Dave. Alice. Ich. John. Es hätte so gut gepasst. Was bin ich nur für ein Mensch! Ich habe keine Probleme und mache mir selbst welche. Ich war nie für Alice da!", ging es Jenny durch den Kopf.
Wie gerne hätte sie Alice irgendwie helfen wollen. Doch es war zu spät. Alles war nun zu spät. Sie bemerkte, dass sie schon längst ein paar Haltestellen weiter gefahren ist, doch sie blieb im Bus und las weitere Überschriften: Innerlich tot ; Von allen gehasst ; Der Sinn des Lebens.
Wieder las Jenny ein wenig.
10.04.2008: Der Sinn des Lebens, liebes Tagebuch, ich habe ihn gefunden. Der Sinn besteht daraus zu hungern, wenn man essen will. Zu helfen, wenn man ratlos ist. Lachen, wenn man weinen muss. Leiden. Gefoltert werden. Der Sinn - das ist stark bleiben. Das Ziel ist es zu überleben. Doch ich kann das nicht. Ich bin nicht aus dem Holz geschliffen ...
17.04.2008: Liebes Tagebuch. Ich kann einfach nicht mehr. Niemand hört mir zu. Ich bin nun in dieser verfluchten Klinik. Sie sagten mir, ich sei Selbstmordgefährdet und es sei schwer mir zu helfen. Helfen. Mir braucht niemand helfen. Nicht mehr. Es ist vorbei. Entgültig.Ich war immer für sie da. Für das Mädchen mit den schönsten Augen und dem Engelshaar. Und sie? Sie lässt mich und mein Herz links liegen, und tritt mit diesem Tag auch noch darauf herum. Sie und er sind nun zusammen. Halten Händchen und tun diese Sachen, die nur verliebte Paare machen. Dave gehört nun ihr. Und ich? Ich habe nichts. Nichts außer diesen Stimmen und der Kontrolle über meinen Körper.
Jenny hörte auf zu lesen. Tränen tropften auf das Papier. Warum hatte sie bloß nichts unternommen? So viele Fragen, und doch schien Jenny keine einzige Antwort auf all das zu kennen. Nur eins stand fest:
Sie war Schuld an Alice's Tod.
Sie stieg aus. Brooklyn-Bridge. Noch 50m bis Johns Haus. Sie musste einiges mit ihm klären. Sie brauchte jemandem zum Reden.
Sie hatte keine Schuld. Alice wollte sich umbringen. Auch ohne Jenny. Das redete sie sich ein. Bis sie vor Johns Haustür stand. Doch auch dann glaubte sie ihren eigenen Worten nicht.
Zitierend klingelte Jenny.
"Ja?", meldete sich Johns Stimme aus dem Lautsprecher.
"Hey.", sagte Jenny leise. "Ich bin‘s. Kann ich hoch kommen?"
Einen Moment lang verharrte John an der Sprechanlage, dann wurde die Tür aufgedrückt. Schnell ging Jenny die Stufen hoch. Sie wusste selber nicht warum sie zu John gegangen war, und nicht zu Dave. Wahrscheinlich konnte sie es einfach nicht ertragen Dave zu sehen. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte sah sie John an seine Haustür gelehnt stehen.
"Hi Engel.", entgegnete er. Doch diesmal kein Lächeln.
"Hi John." Jenny sah etwas verlegen zu Boden.
Doch bevor sie es fertig brachte weiter zu reden fing sie an zu weinen. Sie brach schluchzend im Flur zusammen. Jenny merkte wie John sie in die Wohnung trug und immer wieder fragte, was denn passiert sei. Doch Jenny konnte nicht antworten. Sie konnte nur daliegen und weinen. Als John nichts mehr sagte, schloss sie ihre Augen und schlief ein.
Kapitel 9
Es war Montag, früher Morgen als Jenny wieder aufwachte. John saß neben ihr.
"Hey. Du bist wieder wach. Sag mir doch, was los ist."
Jenny kniff die Augen zusammen um erneute Tränen zurückzuhalten und schüttelte dann den Kopf. Sie war eigentlich nur gekommen um mit ihm zu reden, um das zu klären. John strich ihr sanft über den Kopf. Doch Jenny blieb stumm und hielt die Augen geschlossen. "Engel. Sprich mit mir."
Jenny wollte nicht daran denken was passiert war. An nichts davon. Sie wollte jetzt nur mit John alleine sein. Nur sie, und er.
"Weißt du, das du wunderbar bist?", fragte Jenny zärtlich und öffnete die Augen. John lächelte.
"Das sagst du.", flüsterte er und gab Jenny einen sanften Kuss auf den Mund. "Aber sag, was war eben los?"
"Ich will nicht darüber reden, okay? Ich will einfach hier mit dir sein. Allein." Jenny setzte sich auf und schlang ihre Arme um John.
"Du bist toll."
John fragte nicht weiter nach. Stattdessen küsste er Jenny noch einmal, diesmal intensiver.
"Du bist wunderbar.", flüsterte er und drückte Jenny sanft in die Kissen zurück. Jenny vergaß die Welt um sich herum. Mit John war alles leicht und sie konnte all' den Schmerz vergessen. Die Zeit schien still zu stehen, wenn sie bei ihm war.
Der Fernseher lief, während Jenny sich an John kuschelte.
"Jenny.", fing John an. "Vielleicht willst du davon jetzt nichts hören. Aber du bist vergeben. Ich meine, du und Dave..."
Doch bevor er den Satz beenden konnte, legte Jenny ihren Zeigefinger auf seine Lippen.
"Shht. John, ich bin hier. Ich bin hier bei dir. Ich will die grausame Welt die auf mich wartet, sobald ich deine Wohnung verlasse, die Treppen runtergehe und auf die Straße trete, vergessen."
John schien es wirklich ernst mit Jenny zu meinen. Er drehte seinen Kopf und blickte hinaus dem Fenster. Draußen hörte man die Autos hupen und Menschen schreien. Er hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, fast gekränkt. Verletzt. So wie Alice es beschrieb in ihrem Tagebuch. Alice. Ihre beste Freundin Alice. Jenny lief eine Träne über die Wange. Dann noch eine. Und noch eine. Sie fing leise an zu schluchzen. John drehte sich zu ihr, streichelte ihr Gesicht zart. "Engelchen, sprich mit mir." Doch Jenny schwieg. Eine Zeit lang herrschte bedrückende Stille.
"Ich dürfte gar nicht hier sein.", brach Jenny das Schweigen.
"Warum nicht?"
"Ich liebe dich nicht, John!", weinte Jenny. Liebte sie ihn doch? Log sie? Liebte sie John mehr als Dave? Was sollte mit Dave geschehen? Alice ließ ihr Leben wegen ihm. Und Jenny vergnügte sich nun mit John! Sie war so eine falsche Person. Dave hatte niemals schlechten Einfluss auf sie gehabt. John drehte ihr Drogen an, schlief mit ihr.
"Ich weiß, Engel. Ich weiß.", sagt John gekränkt.
"Ich liebe Dave. Ich liebe nur Dave.", log Jenny. Warum log sie John an? Warum log sie sich selbst an? Vielleicht liebte sie niemanden.
"Ja, Jennifer. Das weiß ich. Deswegen wundere ich mich, warum du hergekommen bist."
"Um zu beenden, was war.", sagte Jenny unter Tränen und schämte sich für diese verletzenden Worte.
"Okay. Soll ich dich in dich noch zur Tür, die in die grausame Welt da draußen führt, begleiten?", fragte er kalt.
"Du verstehst das nicht, John!"
"Stimmt. Erkläre es mir doch!"
"Ich liebe es bei dir zu sein. Ich fühle mich bei dir wohl. Man, ich glaube... ich weiß nicht. John, ich liebe dich. Und ich liebe Dave." Jenny schnappte Luft und fuhr fort: "Ich weiß das. Dass ich für euch beide viel empfinde. Aber ich weiß auch, dass das falsch ist. Ich verletze euch nur beide. Ich muss mich entscheiden und ich und Dave, wir sind so lange..."
"Engel.", unterbrach John sie. "Ich verstehe dich. Du willst das hier beenden, aber noch bleiben. Obwohl du ein schlechtes Gewissen hast."
John brachte es auf den Punkt. "Aber entscheide dich."
"Ja. Ich... ich bin schrecklich! Ich bin eine herzlose Person! Ich habe noch nie gut mit Gefühlen gekonnt, ständig verletze ich irgendjemanden. Dave, dich, ALICE!", Jenny weinte.
John nahm sie in den Arm und küsste ihre Stirn.
"Ich wüsste auch nicht, was ich an deiner Stelle gemacht hätte. Meiner Meinung nach tust du das Richtige." Er verstand nicht.
"John...", begann Jenny. "Alice hat sich umgebracht. Vor meinen Augen. Wegen mir. "
Jenny sagte es emotionslos und doch so kraftvoll, dass John schlagartig Tränen in die Augen schossen.
Einige Minuten sagte niemand der beiden etwas. Der Fernseher lief weiter und draußen ertönte eine Sirene. Jenny sah aus dem Fenster und weinte stumm. Sie merkte das John ebenfalls Tränen über das Gesicht liefen und auf die Bettdecke tropften. Endlich brach er das schweigen. "Willst du -", fing er an, doch Jenny schüttelte den Kopf.
"Ja." Sie wusste selbst nicht was sie wollte. Sie hatte einfach keine Ahnung mehr. Sollte sie John alles erzählen? Irgendjemandem musste sie sich anvertrauen, sonst würde sie platzen. John drängte Jenny nicht. Er lag einfach nur stumm neben ihr, und wartete.
"Also, es fing alles damit an, das Alice unsterblich in Dave verliebt war, weißt du?"
Bei dem Gedanken musste Jenny wieder schluchzen. Sie schloss die Augen um weiter zu sprechen.
"Doch er - er liebte sie nicht. Und naja. Das hat sie eben total fertig gemacht und so. Dann war sie ja in der Klinik. Und 17kg hat sie abgenommen, wusstest du das?" Jenny erzählte das ganze nicht John, sondern viel mehr sich selbst.
"Man hat es gesehen.", antwortete John leise.
"Ja. Sie war magersüchtig. Und ich? Was hab ich nur gemacht? Ich hab mir Dave gekrallt und ... Ich war NIE für sie da!" Jenny begann wieder zu weinen.
"Dich trifft keine Schuld.", versuchte John sie zu beruhigen.
"Natürlich trifft mich Schuld! Wär ich für sie da gewesen, wäre sie nun nicht - " Jenny konnte es nicht fassen. Mit jeder Minute wurde ihr klarer das sie nie wieder mit Alice reden konnte.
"Engel." Mehr konnte John auch nicht darauf erwidern.
"Und dann ... sie hat sich umgebracht! Wegen mir! Vor meinen Augen! Und was mach ich? Ich renn gleich zu dir und ... Es hätte alles so gut gepasst! Sie und Dave, ich und du. Sie hat Dave wirklich geliebt. Ich habe ihr so weh getan und es noch nicht einmal gemerkt! Ich hätte für sie da sein sollen."
"Sie hätte bestimmt nicht gewollt das du dir jetzt solche Vorwürfe machst."
"Natürlich. Sie hat mich bestimmt gehasst. Ich verstehe sowieso nicht wie sie das ganze ausgehalten hat."
"Süße. Was willst du jetzt tun?"
"Ich weiß es doch auch nicht. Was würdest du machen?"
"Das kann ich nicht entscheiden. Du musst ... tun was du für richtig hälst."
"Ich glaube, ich muss zu Dave." Jenny hievte sich aus dem Bett. Sie wollte nicht zurück auf die Straße. Sie war schutzlos, kalt und grausam. Die Gedanken an Alice würden sie überfallen, ohne jegliche Ankündigung. Ohne irgendeinen Schutz.
"Okay, mein Engel. Wenn was ist, ich bleibe hier, okay?" Auch John war aufgestanden.
"Danke." Damit schloss Jenny die Tür hinter sich, und war wieder in der grausamen Realität.
Es fing langsam an zu regnen und Jenny beschloss auszusteigen und zurückzulaufen. Der Regen prasselte laut auf den Gehweg, aber Jenny konnte ihre Gedanken immer noch laut in ihrem Kopf hallen hören. Der Himmel war nun grau und es sah nach Gewitter aus. Jenny beschleunigte ihre Schritte. Tot. Sie war wirklich tot. Ihre beste Freundin. Und sie hatte sie auf dem Gewissen. Sie hätte es verhindern können. Jenny hätte Alice retten können. Aber sie hatte ja nur Augen für sich selbst gehabt, hatte ihr das Herz gebrochen und war mit Alice's großer Liebe ausgegangen. John log, sie war es Schuld. Nur sie allein. Jenny kam sich unheimlich schlampig vor. Wann war sie so geworden? Alice hatte Recht gehabt. Sie hatte alles kaputt gemacht, alles was sie gehabt hatten. Die Erinnerungen, die Geheimnisse.
Geheimnisse. Anscheinend hatte Alice genug davon gehabt. Warum hatte sie sich ihr nie anvertraut? War Jenny wirklich so egoistisch und dachte nur an sich selbst? Sie wäre doch für Alice da gewesen, hätte sie nur den Mund aufgemacht! Andererseits, hatte Jenny ihr den Typen weggenommen. Warum hätte Alice überhaupt noch mit ihr reden sollen? Und trotzdem hatte sie es getan.
Jenny wünschte sie hätte eine Klinge dabei. Irgendetwas scharfes. Einfach um zu spüren, das sie noch da war, und Alice sie nicht mit in den Abgrund gerissen hatte.
Der Regen wurde stärker, doch Jenny beachtete ihn nicht. Jenny spürte Alice's Tagebuch in ihrer Tasche glühen. Sie wollte gar nicht wissen was für schlimme und zu gleich traurige Dinge noch dort drin standen.
Etwas anderes machte sich in der Tasche bemerkbar. Jenny blieb stehn und fischte ihr Handy heraus. "Mom", blinkte auf dem Display.
"Hallo.", meldete sich Jenny ohne jede Emotion.
"Schatz? Wo bist du? Ich hab gerade bei Alice's Mutter angerufen, aber niemand ist da!"
Bei Alice's Namen zuckte Jenny kaum merklich zusammen. Sie würde nie wieder Alice's Stimme hören können, noch ihr Lachen. Niemals wieder würden ihre Augen im Sonnenschein funkeln, oder ihre Füße Geräusche auf dem Asphalt machen. Nie mehr.
"Ja. Ich bin ..", doch bevor Jenny noch etwas sagen konnte, wurde ihr schwarz vor Augen, und sie fiel auf den Bordstein.
Die Wassertropfen prasselte weiter auf die Straßen herab. Es war der erste Tag seit langen, an dem es regnete, und der Himmel grau war.
Kapitel 10
"Sie hat einfach dort gelegen. Ich weiß nicht was passiert ist."
"Was passiert ist? Ich kann dir sagen was passiert ist. Ihre beste Freundin hat sich umgebracht. Ist doch klar das sie total am Ende ist."
"Was kann ich tun? Bitte, ich will zu ihr."
"Sie schläft. Sie wird dich anrufen, okay?"
Eine Tür wurde zugeknallt. Treppen knarzten und Jennys Zimmertür wurde geöffnet.
"Engel?" Es war Vanillas Stimme. Langsam öffnete Jenny die Augen. Vanilla stand vor ihr und schaute sie besorgt an.
"Oh gott, gut, du bist wach. Ich hab mir solche Sorgen gemacht."
"Was ist passiert?" Jenny konnte sich an fast gar nichts mehr erinnern. Nur an diesen Regen.
"Mom hat dich angerufen, und dann warst du auf einmal weg und sie ist dich bei dem Wetter suchen gefahren. Ich war grade bei Thomas und auf dem nach Hause weg, habe ich dich dort liegen sehen. Du hattest so Glück das ich vorbeigefahren bin! Du bist im strömenden Regen zusammengebrochen. Das alles war wohl etwas viel für dich. Es tut mir so, so Leid."
Jenny richtete sich ein Stück auf. Ihr Kopf tat weh, und ihr war kalt.
"Hast du Hunger?", fragte Vanilla und strich ihr sanft über den Kopf.
"Nein." An Essen konnte Jenny gerade gar nicht denken.
"Willst du alleine sein?"
"Nein."
Jenny wusste überhaupt nicht was sie wollte.
"Willst du .. reden?"
"Nein."
"Sicher nicht?" Vanilla verzog mitleidig den Mund, wie sie es immer tat wenn sie nicht weiter wusste. Jenny schüttelte den Kopf und zog ihre Beine an den Körper.
"Bleib einfach hier, okay?" Vanilla nickte und kuschelte sich neben ihre Schwester unter die Bettdecke. "Ich hab dich lieb.", flüsterte sie.
Nach einer ganzen Weile Schweigen öffnete Jenny den Mund:
"Ich bin es Schuld.", sagte sie, während sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten. "Ich habe sie umgebracht."
"Jenny. Das stimmt nicht."
"Doch. Ich bin für ihren Tod verantwortlich. Das hat sie mir selber gesagt." Jenny strich über ihre kalten Beine.
"Lass mich dir helfen.", sagte Vanilla und schaute ihre kleine Schwester traurig an. "Ich kann nicht mitansehen wie schlecht es dir geht."
Jenny wusste sie konnte ihrer Schwester vertrauen. Also fasste sie den Entschluss, ihr die Wahrheit zu sagen, in der Hoffnung, ihr würde es danach ein kleines bisschen besser gehen.
Vanilla hörte ihr zu, unterbrach sie kein mal, selbst wenn es ein, zwei Minuten dauerte, bis Jenny weiter sprechen konnte. Als Jenny ihren Mund schloss, war es einige Sekunden still.
"Mein Engel. Es ist nicht deine Schuld. Alice ging es davor schon nicht gut. Sie war depressiv. Du hättest nichts tun können."
"Doch, das hätte ich. Ich hätte für sie da sein, ihr zuhören sollen. Verdammt, gib es doch zu. Ohne mich, würde Alice noch leben."
"Jennifer.", fing Vanilla an und stand auf. "Hör auf damit. Alice hat ihren Tod ganz allein gewählt. Du darfst dir nicht die Schuld daran geben. Bitte versprich mir das. Bitte."
Es klopfte, ehe Jenny ihrer Schwester antworten konnte.
"Hallo ihr beiden." Jenny's Mom stand im Türrahmen. "Alles okay bei euch?"
Niemand gab eine Antwort. 'Okay' war in dieser Situation definitiv die falsche Umschreibung. "Tut mir Leid ..", murmelte sie. Keiner wusste was er sagen sollte, um die Stille zu durchbrechen. "Schatz .. Jenny, möchtest du mit essen?"
Jenny schüttelte den Kopf. Ihre Mutter nickte verständnisvoll.
"Ist okay. Komm Vanilla. Lass sie etwas schlafen."
Das Licht ging aus, und die Tür fiel ins Schloss. Jenny legte sich wieder ins Bett und drehte sich zur Wand und schloss die Augen.
...
Tage vergingen, Nächte kamen als der Morgen ging. Jenny hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Ab und zu aß sie etwas von dem was ihre Mutter oder ihre Schwester ihr brachten und griff zur Wasserflasche. Manchmal verschwand sie im Badezimmer, um sich zu übergeben, oder um sich weitere, tiefere Schnitte zuzufügen. Essen. Warum sollte sie essen? Ihr Magen knurrte zwar, aber war doch schon fett genug, und so etwas wie essen verdienten nur schöne und reine Leute. Menschen die für ihre Freunde da waren. Jenny war nicht für Alice da gewesen, als es ihr am schlechtesten ging. Sie hatte Alice verraten. Auch Vanilla hatte oft an Jennys Bett gesessen und auf sie eingeredet. Doch Jenny hatte sie gekonnt ignoriert und einfach nur an die gegenüberliegende Wand gestarrt. Warum wollten ihr denn alle einreden, das sie keine Schuld an dem ganzen hatte? Alice hatte es doch selber gesagt! Hatte sie es? Selbst wenn nicht - es stimmte doch.
Als der Kalender Oktober zeigte, übergab sich Jenny fast jeden Tag. Sie konnte diesen selbstekel nicht mehr loslassen.
Am dritten Oktober verließ sie nach gefühlten Jahrzehnten das erste Mal wieder ihr Zimmer. Es war ein Samstag und ihre Famile saß zusammen im Wohnzimmer. Ihr Vater war zuhause, weswegen das Bild ein wenig ungewohnt aussah. Ihre Mutter las ein Buch und Vanilla saß mit ihrem Laptop auf dem Schoß auf der Couch und studierte Facebook.
Als Jenny die Treppe herunterkam, schauten alle von ihrer Arbeit auf. Es war still. Dann klopfte Vanilla neben sich. "Süße, setz dich neben mich. Willst du irgendwas?" Jennys Mutter lächelte sie an.
"Nein danke ..", sagte Jenny und krallte die Fingernägel in ihre Handballen. "Ich setze mich einfach nur hier hin."
Jennys Mutter nickte und wendete sich nach einigen Blicken auf ihre Töchter wieder ihrem Buch zu.
Jennys Vater durchbrach die Stille die nur von Vanillas Tippen gestört wurde nach einer halben Stunde. "Mein Schatz. Ich weiß nicht ob es .. okay ist, wenn ich dir diese Frage stelle, aber .. Ich soll dich fragen, ob du auf Alice's Beerdigung gehen möchtest?"
Es schien als ob der ganze Raum den Atem anhielt.
"Ben ..", fing Jenny's Mutter nachdrücklich an, aber Jenny unterbrach sie.
"Ja, ich will hingehen. Ich meine, sie ist meine beste Freundin. War. Sie war meine beste Freundin."
"Bist du dir bereit? Sie könnten es sicher verstehen wenn du nicht wollen würdest." War Jenny bereit? Bereit worauf? Konnte man sich auf die Beerdigung der besten Freundin denn überhaupt vorbereiten?
"Nein Mom, es ist okay. Ich will es wirklich. Wann ist die Beerdigung?"
"Am Dienstag um 12:00 Uhr. Möchtest du das wir mitkommen?"
"Ist mir egal."
"Okay. Wir kannten Alice ja auch. Ich finde wir sollten ihr ebenfalls .. die letzte Ehre erweisen."
Jenny zuckte mit den Schultern und stand auf. "Ich verschwinde wieder.", sagte sie karg und wandte sich von ihrer Familie ab.
Als sie oben war, griff sie nach dem Handy, das neben ihr dem Bett lag und schaute auf das Display. 27 entgangene Anrufe. Von Dave? Sie hatte ihn kein einziges Mal gesehen, seit dem er am ersten Tag verschwunden war. Sie öffnete den Ordner. John. John. John. Kein einziges Mal Dave.
"Ich bin dir egal, Dave. Ich verstehe.", sagte Jenny leise. Verzweifelt starrte sie weiter ihr Handy an. Es war 15 Uhr und sie hatte über eine Woche in ihrem Bett verbracht. Aber war das nicht egal? War nicht alles egal? Wofür gab es Zeit? Zeit war egal. Man merkte sowieso nicht, wie sie vorbeiging. Wenn man keine Uhr erfunden hätte, keine Zeiger, die voranschreiten. Man wüsste gar nicht, dass es etwas wie Zeit überhaupt gab.
Ihr Magen knurrte wie verrückt und neben ihr lag ein Brot mit Erdbeermarmelade. Sie nahm es in die Hand und betrachtete es. Widerlich sah es aus. Unappetitlich. Wie konnte man sowas in sich hineinstopfen? Außerdem sah sie den Korb. Daves Korb prall gefüllt mit Süßigkeiten, die er ihr zur Feier des Tages vor langer Zeit geschenkt hatte. Zumindest kam Jenny es vor, als wären seit dem viele Monate vergangen.
Sie taumelte ein wenig. Ihr war unglaublich schwindelig, sodass sie sich an der gegenüberliegenden Wand festkrallen konnte, um nicht umzufallen. War es nicht auch egal, wenn sie hinfallen würde? Es gab niemanden mehr, der sie auffangen würde. Niemanden, der hier hochhelfen würde. Alle hatten sie im Stich gelassen. Nur John nicht. John. Sie würde zu ihm gehen.
Einen Blick in den Spiegel verriet, dass sie sich so unmöglich einen Fuß vor die Tür setzen konnte. Sie ging ins Bad und wollte sich die Haare waschen, als sie noch immer die Blutflecken ihres rechten Arms auf dem Boden sah. Klar, es war ihr eigenes Bad. Keiner hat es gemerkt. Wie immer. Sie hielt ihren Kopf unter das Waschbecken und drehte den Hahn auf. Kaltes Wasser floss über ihren Kopf, ihre Stirn, ihren Nacken hinunter. Die Welt war grau. So wie Alice es beschrieben hatte - schwarz-weiß. Sinnlos. Unbedeutend. Sie drehte den Wasserhahn wieder zu und griff nach Apfel-Shampoo. Sie rieb sich ihre Haare so fest ein, bis ihre Kopfhaut juckte und brannte. Doch es war ihr egal. Sie spülte sich die Haare wieder aus und tuschte sich die Wimpern, zog sich ein frisches T-Shirt an und eine alte Jeans.
"Ich bin ein bisschen spazieren. Ich hab das Handy dabei.", rief sie ihrer Familie die immer noch im Wohnzimmer saß zu. Bevor ihr irgendjemand antworten konnte, schloss sie die Tür und trat auf die Straße.
Sie schlenderte Richtung Bushaltestelle. Menschen liefen an ihr vorbei. Sorgenlose, glückliche Menschen. Was verstanden sie schon von Problemen? Wenn der Schnitt sie befreit? Wenn das Leben sie foltert? Wenn der Sinn verschwunden ist? Das Ziel ist es zu überleben, hatte Alice geschrieben. Sie hat es nicht geschafft. Würde Jenny es schaffen?
Der Bus hielt vor ihren Füßen und sie betrat den Bus. Wieder Menschen. Ekelhaft nette und freundliche Menschen, die lachten, die herumalberten, die mit ihren Liebsten telefonierten.
"BROOKLYN-BRIDGE", ertönte es aus dem Lautsprecher und Jenny stieg aus. Vor Johns Haus verharrte sie. Tat sie das Richtige? War es überhaupt relevant, das Richtige zu tun? War es nicht egal, was man tut? Sie klingelte. Es surrte und sie drückte die Tür auf, lief die gewohnten Treppen hinauf und sah John. Den wunderschönen, gutgebauten John. Der sich um sie sorgte. Der für sie da war. Der so beliebt war, dass er eigentlich Vanillas Freund hätte sein können. Vanilla. Wie es ihr überhaupt ging? Sie hatte nicht nachgefragt. Es war ihr egal.
John betrachtete Jenny eine Weile. Dann umarmte er sie und trug das hilflose Mädchen in seine Wohnung auf seine Couch.
"John. Komm mit mir auf Alices Beerdigung. Ich schaffe das nicht alleine. Ich bin zu schwach. Zu hässlich. Zu dick. Zu wertlos. Zu..."
"Jenny.", unterbrach er sie.
"Du bist eine starke, eine so unglaublich starke Person. Du hast so viel durchgemacht und stehst immer noch aufrecht. Du bist wunderschön und schlank. Und du bist goldwert. Was ist mit Dave? Kommt er nicht mit?"
"Wir sind nicht mehr zusammen.", beschloss Jenny.
Wenn er nicht für sie da war in der schlimmsten Zeit ihres Lebens, war das keine Beziehung. Das war nichts mehr. Ein Haufen wertloser Asche.
"Oh.", brachte John heraus. "Natürlich komme ich mit."
"Danke.", sagte Jenny und sank in Johns Armen zusammen.
Kapitel 11
Am Abend beschloss Jenny ihrer Mum eine SMS zu schreiben. Ihre Eltern machten sich bestimmt schon Sorgen, und Jenny hatte eher weniger Lust das ihre Eltern auf einmal vor John Haustür standen.
John lag auf dem Bett, zusammengerollt wie eine Katze. Das Radio lief im Hintergrund. Irgendein Sänger summte leise ein Lied vor sich hin und spielte dazu Gitarre. Den restlichen Tag hatten Jenny und John nur zusammen im Bett gelegen. Jenny hatte sich so sicher, so beschützt gefühlt. Und weniger allein. Weniger schuldig.
Jenny ging leise zu ihrer Tasche und holte ihr Handy heraus. Sechs Anrufe in Abwesenheit. Die Meisten von ihrer Mutter, und einer von Vanilla. Kein einziger von Dave. Aber Jenny überraschte es nicht sonderlich. Dave war anscheinend alles egal. Sogar Jenny. Was war damit, dass er gesagt hatte, das er Jenny lieben würde? Sie seufzte und öffnete den SMS-Ordner und tippte schnell eine Nachricht für ihre Mum.
„Hi Mum. Ich wollte dir nur sagen dass es mir gut geht. Bitte, ruf nicht mehr an, okay? Wir sehen uns Dienstag auf Alice’s Beerdigung. Kuss, Jenny.“
Jenny drückte auf 'Absenden'. Bei Alice Namen wären ihr beinahe wieder Tränen in die Augen geschossen, doch sie wischte sie betrübt weg. Jenny hatte für die letzten Tage wirklich genug geweint. Sie sah zu John hinüber. Er schlief fest. Sein gleichmäßiges Atmen hatte eine beruhigende Wirkung auf Jenny. Sie atmete tief durch, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Sie zog die Waage, ihren mittlerweile besten Freund zu sich heran. Es dauerte ein paar Sekunden, und die Zahlen hingen das heutige Urteil über Jenny. 53,2 Kilogramm. Begnadigung.
Sie schob ihren Freund wieder unter das Waschbecken und schlich leise wieder zu John's Bett und legte sich leise neben ihn. Kurz darauf, schlief auch sie endlich ein.
Jenny träumte davon, wie sie in ein tiefes Loch fiel. Immer tiefer. Es wollte gar nicht mehr aufhören. Irgendwann schlug sie mit einem dumpfen 'Plong', auf den Boden auf. Sie kam sich vor Alice im Wunderland. Alles schien größer als sie. Der Raum in dem sie sich befand war kühl und mit schwarz-weißen Kacheln bedeckt. Auch die Decke. Jenny sah sich um. Hinter ihr stand ein großer, langer Tisch. Er war mit goldenen Pralinen, Schokolade, Pudding, Kuchen und Toaste übersät. Ohne das Jenny etwas dagegen machen konnte, setzte sie sich auf einen der goldenen Stühle und begann zu essen. Immer weiter. Sie merkte wie ihr Hosenbund aufsprang und ihr Bauch herausquoll. In Jennys Kopf tobte es. "Hör auf, Hör auf!", schrien die Stimmen. Doch Jenny ignorierte sie. Sie aß weiter. Auch ihre Arme wurden immer dicker. Dann ertönte ein lauter Knall.
Jenny wachte schweißgebadet auf. Sie atmete schwer.
"Was ...", murmelte sie und sah auf die Uhr. Es war 4.00 Uhr morgens. Jenny sprang nervös auf. War das nur ein Traum gewesen? Sie zitterte am ganzen Leib und lief hastig ins Badezimmer zur Waage. 52,9kg. Wieder war es weniger geworden. Langsam beruhigte sie sich wieder. Sie schlich leise zurück ins Bett und kuschelte sich wieder neben John. Er sah unglaublich perfekt aus - selbst beim schlafen. Jenny gab ihm sanft einen Kuss auf den Mund und schlief wieder ein.
Am Tag von Alice Beerdigung war Jenny wieder ein wenig nach weinen zu Mute. John hatte ihr ein schwarzes Kleid besorgt, welches für den Anlass einer Beerdigung eigentlich viel zu hübsch war. Doch Jenny kümmerte nicht, wie sie aussah. Das einzig wichtige war nur Alice Beerdigung. Ob sie Dave dort sehen würde? Jenny befürchtete es.
Gerade stand sie vor dem Spiegel und starrte leer in ihr eigenes, schneeweißes Gesicht. John trat hinter sie. Er trug einen schlichten, schwarzen Anzug. Auch er sah für eine Beerdigung viel zu gut aus, trotz der leichten Augenringe.
"Iss noch was.", murmelte er leise.
"Auf dem Rückweg, okay?", log Jenny.
„Okay. Wollen wir dann?“, fragte er und legte seine Hand auf Jennys Schulter. Sie nickte stumm.
Die Straßen in Brooklyn waren nicht viel befahren. Die Beerdigung fand jedoch in Manhattan statt, so dass die beiden sich ein Taxi riefen. Die Fahrt über redeten Jenny und John kein Wort miteinander. Sie starrten nur aus den Fenstern des Taxis, in ihre eigenen Gedanken versunken. Es war ein schöner Dienstagmorgen. Der Himmel war blau und die Sonne schien. Alle Welt schien glücklich, bis auf die kleine, in schwarz gekleidete, Menschengruppe die am New Yorker Friedhof wartete.
Als Jenny und John zusammen ausstiegen, drehten sich alle zu ihnen um. Alice ganze Familie so wie Jennys und Daves Eltern waren da, und ein paar Mädchen aus der Schule. Vanilla stand abseits mit ihrem Freund. Sie sah wie immer wunderschön, aber traurig aus. Ganz hinten stand Dave, der sich als einziger von Jenny und John abgewandt hatte.
Er war also doch gekommen.
Er war es Alice schuldig. Doch war er Jenny nicht auch etwas schuldig?
Einen kleinen Anruf vielleicht? Eine SMS? Nein? Nichts? Gut, damit würde sich Jenny abfinden. Würde sie doch, oder? Sie wusste es nicht.
Jenny hörte Johns Magen knurren. Er hatte ebenfalls nicht viel zu sich genommen während der Zeit, in der Jenny bei ihm war. Liebevoll blickte Jenny ihn an und nickte.
Dann gingen die beiden zu Jennys Familie und begrüßten sich leise. Jenny merkte den bohrenden Blick von Dave und von Vanilla im Rücken. Es quälte sie. Sie wünschte sich jetzt in ihrem Bad, einen Griff von der Nagelschere entfernt.
John nahm Jennys Hand und alle zusammen gingen in die Kirche.
Der Pfarrer, der Pastor, oder war es ein Priester? Jenny kannte sich nicht damit aus. Der Mann, der vorne stand fing an zu reden. Von Alices Kindheit. Ihrer so unbeschwerten Kindheit. Einige Male fiel auch Jennys Name, gewiss auch Daves. Doch sie konnte nicht zuhören. Es war unerträglich an die schöne Zeit erinnert zu werden. Sie saß ganz vorne in der Reihe neben ihrer Mutter und John. Ihre Mutter schaute sie die ganze Zeit argwöhnisch an. Wahrscheinlich wegen John. Jenny drehte sich um. Sie sah Dave. Ihren Dave. Ihren so wunderschönen Dave. John bemerkte, dass sie ihn anschaute und wandte sich von Jenny ab. Dave erwiderte Jennys Blick nicht, obwohl er ihn sah. Sowas sieht man aus dem Augenwinkel. Also drehte sie sich wieder nach vorn. Auf einmal standen alle auf. Auf der hölzernen Bank neben ihr, hörte sie Alice's Mutter weinen. Der Mann schien die Rede beendet zu haben. Vorne lagen Blumenkränze mit Aufschriften wie: "Jetzt findest du deinen Frieden." oder "Alice, du lebst immer in unseren Herzen." Aber will sie das? Sie wollte doch sterben. Jetzt wird sie hier zum leben gezwungen.
Vier starke Männer griffen nach dem Sarg, der vorne lag und gingen durch die Tür. Alle anderen folgten ihnen. Jenny und John gingen zuletzt.
Noch einmal sprach der Mann eine Rede, als er vorne am Grab stand. Jenny hörte gar nicht zu. Sie fühlte nichts. Sie dachte nichts. Nacheinander ging jeder einzeln zu dem Grab und warf Sand und Blumen hinein. Im Moment war Jennys Mutter an der Reihe. Nun Vanilla. Dann Dave. Dave. Warum brauchte er solange? Worüber dachte er nach? Liebte er sie doch? Er liebte sie. John war dran. John? Jenny musste als nächstes dran sein. Sie ging nach vorne zum Grab und griff in die Schüssel mit Sand, Blumen hatte sie keine dabei. Tränen rollten ihr über die Wange und ihr Atem war unregelmäßig.
"Warum...", sagte Jenny. Jeder konnte es hören, obwohl Jenny es gar nicht so laut sagen wollte. Es war still. Totenstill.
"Warum, verdammt Alice!", weinte Jenny - diesmal lauter. Sie brach zusammen. "Meinst du es geht mir anders? Lasse ich mein Leben deswegen, tu ich das, ja? Dave liebt mich auch nicht! Lasse ich mein Leben deswegen, he?! Meine Güte, merkst du nicht was du uns damit antust? Wie kannst du uns das antun, wie..." Jenny schluchzte und schluchzte.
"WARUM...", weinte sie. Es klang wie ein Krächzen. Dann stand sie langsam auf und rannte aus dem Friedhof. Hinter den Toren blieb sie stehen. Sie hielt das alles nicht mehr aus.
Sie wollte nicht mehr. Sie konnte nicht mehr.
Dann berührte jemand ihre Schulter. "John, ich will nicht darüber..." Jenny drehte sich um und blickte direkt in Daves Augen.
„Was willst du?“, fragte Jenny mit erstickter Stimme.
„Jenny. Warum hast du gesagt das ich dich nicht liebe?“
War es wirklich das worüber er sprechen wollte? Das konnte doch nicht sein. Es war Alice Beerdigung.
„Warum sollte ich lügen? Du liebst mich doch nicht! DU hast kein Mal angerufen!“
„Jenny. Ich liebe dich, und das weißt du. Was soll ich denn sagen? Du hast mich mit diesem Arsch betrogen. Und dann kommst du mit ihm her.“
Darauf wusste Jenny keine Antwort. Deshalb starrte sie Dave nur wütend an.
„Du hast dich kein einziges Mal bei mir gemeldet seit dem ich heulend zusammengebrochen bin. Auf der Straße, im Regen."
„Was hätte ich denn sagen sollen? Deine Schwester sagte, du wolltest mich nicht sehen.“ Daves Stimme wurde lauter.
„Woher soll ich das wissen? Irgendwas! Wenn du mich geliebt hättest, hättest du alles Mögliche getan und nicht auf meine Schwester gehört.“ Jenny rollten wieder Tränen über die Wangen. Sie wollte nicht weinen. Sie brauchte einen spitzen Gegenstand. Irgendwas.
Also drehte sie sich um und ging davon. Keine zwei Sekunden später tauchte Daves Gesicht neben ihr auf.
„Du weißt dass ich dich liebe!“, schrie er beinahe.
Jenny versuchte ihn zu ignorieren und beschleunigte ihre Schritte. Er konnte leicht mit ihr Schritt halten, war sogar ein wenig schneller. Kein Wunder, er war auch fast 20cm größer als Jenny.
„Lass mich in Ruhe. Kapiert?!“, sagte Jenny und begann fast zu rennen.
„Ich lass dich verdammt noch mal NICHT in Ruhe! Jenny. Hör mir doch endlich zu!“
Abrupt blieb Jenny stehen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte so schnell sie konnte, ohne noch etwas zu sagen, zurück zur Beerdigung. Vor den Toren des Friedhofes stand als einziger John. Dave war ihr nicht gefolgt, was Jenny einerseits überraschte, aber auch erleichterte. „John!“, rief sie und kam vor ihm zum stehen.
"John.“, wiederholte sie noch einmal und begann wieder zu schluchzen.
„Ich weiß, mein Engel. Ich weiß.“, flüsterte er leise und nahm sie in den Arm.
„Wollen wir nach Hause gehen?“ Doch John kannte die Antwort. Er ging mit Jenny zur nächsten Hauptstraße, ganz langsam und orderte geschickt mit seiner Hand ein Taxi. Der Fahrer schaute die beiden die Fahrt über misstrauisch an. Jenny weinte und hatte sich an John Schulter gelehnt. Als sie nach einer ganzen Weile, zumindest kam es den beiden so vor, in Brooklyn angekommen waren, hatte sich Jenny wieder ein wenig beruhigt.
„Alles okay?“, fragte John als er oben die Haustür aufschloss. Es war eine dumme Frage. Nichts war okay. Aber was hätte Jenny sagen sollen? Also nickte sie und ging schnurstracks ins Badezimmer wo sie sich einschloss und sich ein Bad einlaufen ließ. Das heiße Wasser umschlang ihren Körper wie eine warme Decke als sie hinein stieg. Es tat gut. Dann schloss Jenny die Augen und versuchte all den Schmerz zu vergessen. Es gelang ihr nicht.
Kapitel 12
Sie stieg aus der Badewanne und blickte in den Spiegel. Ihre Schminke war verschmiert. Schaum klebte an ihrem Körper. Sie war dünn. Sie war richtig dünn geworden. Man sah ihre Rippen, ohne dass sie den Bauch einziehen musste. Welche Jeansgröße sie jetzt wohl hatte? In letzter Zeit musste sie den Gürtel immer ganz eng schnallen, die Hose wäre ihr schon längst auf den Boden gerutscht. Sicherlich passten ihr nun alle Hosen, die ihr beim Einkaufsbummel mit ihrer Mutter damals nicht gepasst haben. Aber was interessierten sie jetzt irgendwelche Jeans? Selbst das Verhältnis zu ihrer Mutter war zu Grunde gegangen. Sie blickte auf die Ablage über dem Waschbecken und nahm Johns Rasierklinge in die Hand. Ein Gegenstand, der so klein ist und einen doch in eine völlig andere Welt zerrt. Jenny schloss die Augen. Nur ein Schnitt. Das Blut floss. Sie atmete tief ein und wieder aus. Noch einer. Und Noch einer. Tiefer. Fester. Befreiender. Ihre Arme waren nun von Schnitten geziert. Ein Buch in Haut geschrieben. Eine Geschichte, das Leiden, der Schmerz steckte in ihren Armen und für jeden sichtbar. Doch niemand durfte sie bemerken, die Schnitte. Es durfte doch niemand wissen, wie sie sich erlös von dem Schmerz. Zu oft spürte sie die Blicke auf ihren Armen, so sehr dass die Wunden schmerzten. Also schnitt sie sich in den Bauch, unter die Brust, die Rippen entlang. Sie ließ die Klinge fallen und kauerte sich in eine Ecke, riss ein Handtuch vom Regal und deckte sich damit zu. Sie zitterte. Ihr war es egal, ob John ihre Narben und das viele Blut nun sah. Sie hatte keine Kraft mehr, es aufzuwischen und ständig alles verstecken zu müssen. John klopfte an die Tür. "Engel?"
Sie öffnete die Tür und ließ das Handtuch fallen. John schaute sie schockiert an. Ihm liefen Tränen über die Wange.
"Engel..nein.", sagte er und weinte nun richtig. Er nahm Jenny, nackt wie sie war in den Arm und ließ sie eine Weile nicht los. Dann löste sie sich von seiner Umarmung, schaute ihm kurz in die Augen, die eine Menge Schmerz zeigten, drehte sich um, zog sich Unterwäsche an und schrieb ihrer Mutter eine SMS, dass sie bei John war. Es wurde dunkel draußen. Das Radio erzählte von einer Horde Jugendlicher, die an einer Überdosis Kokain gestorben waren. Im Central Park wurde ein 16-Jähriger erstochen. Im Kino hat man 23 Leute beraubt. Was war los mit dieser Generation, mit der Jugend von heute? Warum waren sie alle so depressiv, so hoffnungslos? Jennys Mutter schrieb nicht zurück, stattdessen rief Vanilla an und fragte, ob sie sie abholen sollte. Sie verneinte, schaltete ihr Handy aus, zog ein T-Shirt und eine Boxershort von John an und kuschelte sich in seine Arme. Langsam schlief sie ein. Sie war sicher.
Als sie die Augen öffnete, war John verschwunden. Bloß ein Zettel lag auf seinem Couchtisch: "Engel, ich bin Brötchen holen."
Brötchen machen dick. Jenny war aber sicherlich schon zu dünn. Sollte es ihr nicht egal sein, was dick machte und was nicht? Sie ließ den Zettel fallen und schloss wieder die Augen. Als sie sie wieder öffnete, saß John neben ihr und schaute fern. Der Tag kam ihr so irreal vor. Er schien gar nicht zu existieren, er war ganz weit weg. Ihr war schwindelig und sie schloss die Augen wieder. Ab und zu wachte sie wieder auf und sah, dass der Himmel dunkel war. Bis sie bis zum nächsten Morgen durchschlief.
"Engel, ich habe mich informiert.", mit diesen Worten weckte John sie.
Jenny öffnete ihre Augen.
"Dir geht es so scheiße, du bist so depressiv, weil du so wenig, ja sogar gar nichts mehr isst. Iss was, das tut dir gut."
Johnreichte Jenny ein trockenes Brötchen. Gierig verschlang Jenny es. Ihr Magen rumorte.
"Noch eins?", fragte John liebevoll und lächelte. Er war froh, dass Jenny auf die Genesung ansprang. Jenny nickte und aß ein zweites Brötchen und trank eine heiße Schokolade, die John ihr zubereitet hatte.
Einige Tage später fühlte sich Jenny wieder ein wenig wohler. Sie konnte meist aufrecht stehen, ohne das Gefühl zu haben, umzufallen. Sie war zuversichtlich und einige Male schaffte John es sogar, sie zum Lachen zu bringen. Sie gingen zusammen essen, in die Stadt, machten Fotos, benahmen sich wie ein unheimlich glückliches Liebespaar. Das sie sich immer noch übergab wenn er abgelenkt war, wusste John natürlich nicht.
"Jenny, mein Engel.", sagte er eines Freitagnachmittags. "Heute hat Elena Geburtstag. Sie hat gefragt, ob ich kommen will. Ich darf auch jemanden mitbringen. Hast du Lust?" Jenny nickte und lächelte.
An diesem Abend hatte Jenny das erste Mal wieder Spaß daran, sich hübsch zu machen. Das erste Mal wieder Spaß an irgendwas. In der Anwesenheit von John fühlte sie sich nicht mehr ganz so wertlos, so hässlich und dick. Jenny zog ihr schönstes Kleid an, welches sie dabei hatte und trug Wimperntusche auf, suchte passende Schuhe. Sie war froh noch mal unter Leute zu kommen. Das brachte sie vielleicht auf andere Gedanken.
Elena war zwar eine Unbekannte, aber da sie in Manhattan wohnte kannte Jenny bestimmt ein paar Menschen die auf der Party waren.
Es war schon dunkel als John und Jenny aus dem Taxi stiegen, welches die beiden zu Elena gebracht hatte. Ihre Eltern machten Urlaub in Miami und so hatte sie das Haus an ihrem Geburtstag für sich allein. Was gab es da besseres als eine Party zu schmeißen?
Als Jenny in das große, weiße Haus trat, sah sie gleich bekannte Gesichter aus ihrer Stufe. Sie wurde ein ab und zu begrüßt. Hinter vorgehaltener Hand hörte sie ein paar Mal den Namen Alice fallen, doch sie ignorierte es. Wann war sie das letzte Mal wirklich in der Schule gewesen? Aber das war heute egal.
Der Abend gehörte nur John und ihr. Dieser begrüßte ein paar alte Kumpels.
„Ich geh mir was zu trinken holen.“, flüstere Jenny und lächelte. Gespielt, aber sie lächelte. Sie wand sich nur die Grüppchen von Menschen und die schon jetzt knutschenden Pärchen bis sie an der Bar angekommen war, wo zwei Typen die Cocktails mixten. Bevor sie etwas sagen konnte, bemerkte sie wie jemand sie anstarrte. Dave.
„Du bist hier?“, fragte er und starrte sie an.
Jenny hatte versucht ganze Zeit nicht an Dave zu denken. Keinen einzigen Gedanken an ihn zu verschwenden, auch wenn es schwer war. Doch ihn jetzt so unvorbereitet zu treffen – das war zu viel.
„Darf ich nicht auf Partys gehen, oder was?“, antwortete Jenny und versuchte ihn nicht merken zu lassen, wie nervös sie war und ihr Herz schneller schlug. Was war nur los mit ihr? Sie war mit John hier. Ihrem John. Ihrem wunderbaren John. Hatte Dave schon immer so wunderschöne Augen gehabt? Ja, und seine Haare fielen im so süß ins Gesicht. War er noch größer geworden?
„Doch, natürlich, Entschuldigung.“, sagte er.
„Wie geht es dir?“
„Bestens.“, log Jenny nach einer Weile. Aber jeder glaubte es ihr. Sie hatte diese Frage schon so oft beantwortet, das es ein leichtes war das ‚Bestens’ glaubhaft rüberzubringen.
„Schön. Und, bist du mit ihm hier?“
Ihm sollte wahrscheinlich John heißen. Jenny nickte.
„Ah, okay. Du, siehst heute wirklich toll aus.“
Dave sah so süß aus wenn er verlegen war. Halt, nein. Was machte Jenny denn da? Sie liebte doch John. Ihren John, der immer für sie da war. Dave hatte sie versetzt, sich nicht bei ihr gemeldet. Sie war ihm doch egal gewesen .. Oder?
„Danke, du … siehst auch nicht schlecht aus.“, entgegnete Jenny und warf ihr langes Haar zurück, wie Vanilla es immer tat.
Flirtete Jenny etwa mit Dave? Nein, das war nur ein normales Gespräch zwischen … Freunden? Waren sie nur Freunde? Waren sie überhaupt irgendwas?
„Du, ich wollte mich entschuldigen. Dass ich mich nicht gemeldet hab. Ich weiß das war falsch, und es tut mir wahnsinnig Leid. Ich habe nur an mich gedacht. Dir ging es so scheiße, und ich … Es tut mir leid.“
Hatte Dave sich gerade entschuldigt? Jenny wusste nicht was sie sagen soll.
„Also, okay. Ist schon gut.“, murmelte sie also. Was sollte sie sonst sagen?
Er sah ihr tief in die Augen. Jennys Hände fingen an zu kribbeln. Sie sah ihn ebenfalls an. Die Musik blendete Jenny aus, sie sah nur Dave. Irgendwas lief hier falsch. Sollte sie nicht gerade John anschmachten?
„Ich, ich …“, stammelte Jenny und sah weg.
Auch Dave schien ein wenig aus dem Konzept geraten zu sein.
„Du siehst aus wie ein Engel.“, sagte er.
Das war zu viel für Jenny. Sie wandte sich ab und verschwand schnell in der Menge. Was sollte das? Warum sagte Dave so etwas? Was war das gerade für ein Moment.
„Ich liebe John.“, dachte Jenny. Sie war sich sicher. War sie das?
Sie ging die Treppe hinauf, die anscheinend in die erste Etage führte. Auch hier standen überall Pärchen die sich küssten. Sie dachte daran hier mit Dave zu stehen.
„Ich liebe Dave.“, dachte Jenny. Nun war sie völlig verwirrt. Sie sah dass es eine weitere Etage gab. Es war das Dach, aber anscheinend konnte man durch eine Treppe nach oben gelangen. Dort stand niemand, also drängte sie sich vorsichtig an den anderen vorbei und stieg die Stufen hinauf.
Es war eine kühle, klare Nacht und die Luft war erfüllt von einem Geruch, den Jenny an die Party erinnerte, auf der Dave und sie sich kennen gelernt hatten. Die Sterne waren klar erkennbar, trotz der vielen Lichter in der Stadt und Jenny setzte sich auf den Boden um nachzudenken.
Die letzten Wochen und Monate waren die härtesten ihres Lebens gewesen. Sie fröstelte, da sie keine Jacke mit hatte. Langsam strich Jenny sich über die Arme und fühlte jeden einzelnen Knochen. Sie bemerkte das erste Mal, das sie wirklich dünn geworden war.
Alice war tot, wegen ihr. Und sie liebte einen Typen der ihr Drogen angedreht hatte und einen, wegen dem ihre beste Freundin sich umgebracht hatte. Sie hasste sich selbst für die ganzen Probleme die sie anderen bereitet hatte. Ihren Eltern, ihrer Schwester, Dave und John und vor allem: Alice.
Kapitel 13
Auf einmal hörte sie Schritte hinter sich. Sie drehte sich um und blickte in seine wunderschönen Augen.
"Dave..."
"Weißt du.", fing er an. "Wir haben eigentlich nie Schluss gemacht."
"Dave, bitte. Ich bin mit John zusammen."
War sie das? Wann hatten sie das beschlossen? Warum tat sie Dave so weh? Warum musste sie immer jeden verletzen? Konnte nicht ein einziges Mal alles so laufen, dass ALLE glücklich waren? Nichts wollte in Ordnung sein. Alles lief verkehrt und immer war Jenny Schuld.
"Nein, Engel. WIR sind zusammen." Er hatte Recht. Jenny war mit Dave zusammen. Nein, nein! Dave hatte sie im Stich gelassen, als es ihr so dreckig wie noch nie ging. Die meisten der Schnitte in ihren Armen waren ihm gewidmet! Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, legte er seine Lippen auf Jennys. Ihr Herz sprang in die Höhe und sie hatte Angst, dass er es Klopfen hören konnte, so laut war es. Sie war wie frisch verliebt in ihren guten alten Dave.
"Ich liebe dich.", flüsterte Jenny.
"Ach so.", sagte eine Stimme hinter den Beiden.
"Du wolltest dir also was zu trinken holen."
Jenny schreckte zusammen, stoß Dave ruckartig weg.
"John...", begann sie.
"John.", sagte Dave "Du kleines Arschloch. Wie fühlt es sich an?! Deine Zunge in ihrem Mund zu haben, wo meine vor dir drin war? Na, wie schmeck ich, du Missgeburt?"
Dave ging auf John zu und schubste ihn.
"HÖR AUF, DAVE!", flehte Jenny, doch er ignorierte es.
"Was packst du mich an, du Idiot! Du hast sie im Stich gelassen!", schrie John und schubste zurück.
"WAS SOLL DAS, bitte hört auf!" Sie ignorierten Jennys Kreischen.
"Weißt du was, ich habe sie nicht im Stich gelassen! Sie hat mich mit dir betrogen, bevor wir auch nur irgendein Problem mit einander hatten.", schrie Dave John ins Gesicht, sodass er ihn ein wenig anspuckte.
Eingebildet wischte John sich sein Gesicht mit dem Ärmel sauber und sagte kalt: "Anscheinend warst du wohl doch nicht so geil, mit mir ist die kleine Schlampe beim ersten Abend direkt in die Kiste gesprungen."
Jenny konnte nicht fassen, wie John über sie sprach.
War das alles ein Spiel gewesen? Es tat so weh.
Auf einmal fühlte sich Jenny unbedeutend und klein.
Es schien, als würden ihr schlagartig fünfzig Messer ins Herz fallen. Gefühlsmäßig wurden die Messer wieder rausgezogen, aber nicht dass es eine Erleichterung war. Es war, als würde man mit dem schärfsten Messer der Erde in der größten Wunde, die man sich hinzufügen kann, herumstochern und das war nicht alles. Beim schmerzvollen Herausziehen nahmen sie ihr Herz mit. Es fühlte sich an wie ein kaltes Loch. Eine riesige Schlucht, die sie innerlich zerfraß. Da, wo vor einigen Monaten noch ein Herz schlug und das nur für Dave, war jetzt eine leere, kalte, riesige und nie verheilende Narbe.
Diese Erkenntnis lies Jenny zittern.
"John, sie stand unter Drogen!", schrie Dave.
Ihr Dave. Ihr geliebter Dave.
Jenny nahm seine Hand und blickte in seine Augen.
"Du bist einfach zu gut für mich.", sprach sie unter Tränen.
"Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt, nur dich. Einzig und allein dich. Wenn ich bei ihm war, wollte ich verdrängen, dass ich dich so sehr liebte. Ich habe mich schlecht gefühlt, wegen Alice."
Es war die Wahrheit. Jenny wurde so einiges klar. John lachte.
"Du Miststück.", sagte er. "Wer war für dich da, als du deinen ganzen Körper aufgeschlitzt hast?! Wer hat den Boden von deinem Blut gereinigt?!" Dave schaute John fassungslos an. "Stimmt das, Engel?"
"Ich bin nicht dein verdammter Engel, Dave!", heulte Jenny.
"Ich kann nicht mehr Dave, ich kann einfach nicht mehr! Ich will nicht mehr leben. Ich will nicht mehr.", Jenny brach zusammen, Dave fing sie auf.
"Jenny. Meine Jenny.", sagte er und küsste ihre Stirn. Zitternd krallte sie sich an seinen Arm und versuchte aufzustehen.
Nach zwei gescheiterten Versuchen stand sie endlich auf wackeligen Beinen.
"John...", begann sie. "Danke für alles. Aber wir wissen beide, was zwischen uns war, das war keine Liebe. Ich .. weiß doch auch nicht" John schwieg.
"Es tut mir so leid, John." Unmengen von Tränen rollten über Jennys knochige Wange.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
"Und Dave, mein geliebter Dave. Du bist alles für mich. Mein Leben. Mein Herz. Aber ich kann nicht mehr, verstehst du?! Das mit uns wird nie mehr gut, NICHTS wird je wieder gut. NICHTS!"
"Jenny, Engel. Was redest du da. Bitte. Jenny, bitte...", Dave hielt Jenny am Arm fest, doch sie riss sich los. "Hör mir zu. Ich möchte nicht, dass du um mich weinst. Ich bin keine Tränen wert, Dave, erst recht nicht deine."
"Was redest du da, Jenny! Ich bitte dich!" Dave weinte und hielt sie fest.
"LASS MICH LOS!", schrie Jenny und er gehorchte.
Sie kletterte langsam auf die Erhöhung des Daches und sah nach unten. Dort unten fuhren Autos. Viele Autos. Sie waren klein, sahen aus wie diese Matchboxautos, mit denen kleine Kinder immer spielen. Alles war so unbedeutend geworden.
"Engel, du bist mein... Alles. Du bist das Lachen in meinem Leben. Wenn du nicht mehr wärst, wär auch kein Lachen mehr da."
Dave sah sie zitternd an.
Jenny erwartete einen lächerlichen Kommentar von John, doch auch er sah sie fassungslos an und sagte:
"Jenny, nichts ist vorbei. Alles wird wieder gut..."
"NICHTS WIRD JE WIEDER GUT WERDEN!", weinte sie und blickte ihn direkt an.
"Dave, bitte.", sagte sie im ruhigeren Ton, aber immer noch aufgelöst. "Du musst stark bleiben. Wenn du mich liebst, dann bleib jetzt da stehen, wo du bist. Wenn du mich liebst, dann lass mich gehen. Bitte. Lass mich gehen."
Jenny konnte nicht mehr. Mit letzter Kraft ging noch einen Schritt näherte und blickte ein zweites Mal hinunter auf New York.
"Jenny, ich kann nicht ohne dich leben, bitte!", weinte Dave.
"Tu es nicht, BITTE. JENNY, ALLES WIRD WIEDER GUT, ich verspreche es dir."
Es klang, als würde Dave sich selbst belügen. Sicherlich wusste auch er, dass es nun zwecklos war. Soviel Verluste konnte kein Mensch in so kurzer Zeit verarbeiten.
"Dave. Bitte, bleib stark. Du kannst das schaffen..."
Jenny sah zu ihrem wunderschönen Dave. Sein Gesicht war in Tränen getränkt. John stand mittlerweile im Schatten des Daches, war wie gelähmt. Jenny konnte nicht leben, ohne jemanden zu verletzen. Sie musste all das beenden. Dann konnte sie nie wieder jemanden verletzen. Nie wieder müsste sich jemand aufregen, weil sie wieder alles verhauen hatte. Irgendwann werden sich alle damit abgefunden haben und glücklich werden. Und auch sie war endlich befreit.
"Jenny, bitte! Tu mir das nicht an, bitte Engel!", rief er verzweifelt.
"Ich bin kein verdammter Engel, Dave.", wiederholte sie.
Jenny holte tief Luft.
"Engel können fliegen.", sagte sie und sprang.
Anmerkung: Wenn du bis hier hin gekommen bist: Das Buch ist noch nicht fertig. Hier und da müssen noch ein paar Kapitel dazukommen, noch etwas verbessert werden und und und. Sonst geht wohl alles etwas schnell ..
Das hier ist sozusagen die "Rohfassung".
Danke "trotzdem" für's lesen (:
Texte: Coverbild: weheartit.com
Die Geschichte ist noch nicht vollständig. Sie wird nach und nach vervollständigt und weitergeschrieben.
Tag der Veröffentlichung: 24.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Vanilla.