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Es ging so unglaublich schnell.
Eine bloße Berührung und er fiel in sich zusammen. Jegliches Licht in seinen Augen erlosch.
Es ging so unglaublich schnell.
Das kindische, naive Grinsen schwand aus seinem Gesicht. Die Muskeln gaben nach. Ein dumpfer Aufschlag.
Es ging so unglaublich schnell.

Ich ließ in liegen. In der dreckigen Seitengasse, in die ich den so vertrauensseligen Jungen gelockt hatte. Auf dem kalten Straßenpflaster, noch feucht vom Regen der letzten Nacht. Seine Augen offen, vom Schock gezeichnet. Ein unschuldiges Kind.
Ich schwang mich auf den Rücken des pechschwarzen Pferdes, das der Tod mir gegeben hatte, damit ich schneller mein nächstes Opfer aufsuchen konnte, und galoppierte weg, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich hätte den Anblick nicht länger ertragen.
Auf der Kuppel eines Hügels bremste ich den unermüdlichen Rappen.
Hinter mir hörte ich die Aufgeregten Stimmen die nach ihm schrien: „Martin! Martin, wo bist du? Melde dich! MARTIN!!“
Die ganze Stadt schien in Aufruhr. Alle schrien durcheinander. Hie und da weinten verwirrte Kinder.
Unweigerlich musste ich an seine Mutter denken. Geschieden. Ihren einzigen Sohn hatte ich ihr genommen. Wie würde sie wohl von nun an zurechtkommen?

Vielleicht gar nicht.
Aber das sollte nicht mein Problem sein. Ich hatte meine Aufgabe erfüllt und war damit meinem Vater ein Stück näher gekommen. Und der Tod würde mich loben.
Der Tod. Wie das klang. So allmächtig. So fern. Dabei war er doch ein normaler Junge. Zumindest äußerlich. Wundervolle, intelligente Augen und wuschelige Haare. Ein Lächeln das mich zum schmelzen brachte. Und unermesslich großen Charme.
Tod – das wurde ihm einfach nicht gerecht. So jemand besonderes verdient einen schönen Namen. Einen, mit dem man positives verbindet.
„Ich überlege mir einen passenden Namen für dich!“ flüsterte ich leise das Versprechen in den Wind.

Ich atmete ein paar Mal tief ein, und zog dann die lange Liste mit Namen aus der Satteltasche.
Mein Blick fiel auf den ersten Namen. Er war durchgestrichen, doch nicht von mir. Ich hielt das Blatt ungläubig näher an meine Augen, ließ es aber, sobald ich erkannte, womit durchgestrichen war, grauenerfüllt fallen.
Blut statt Tinte.
Martins Blut. Martin Handeas Blut. Das Blut eines Kindes.

Als die Realität mir so hart entgegen knallte, konnte ich nicht mehr an mich halten. Salzige Tränen flossen meine Wangen hinab und in meiner Kehle stieg ein Schluchzen auf.
Ich hatte es getan. Ich hatte einen Menschen umgebracht. Mit meiner Berührung. Ich hatte ein Leben ausgelöscht. Vermutlich weitere damit zerstört. Für Kummer und Leid gesorgt. Aus reinem Egoismus hatte ich grausam und rücksichtslos gehandelt. Und das war erst der erste von so vielen Namen.
Doch es führte kein Weg zurück. Ich konnte nicht entfliehen.

Unter hysterischen Schluchzern stieg ich vom Pferd und schmiss mich in das feuchte Gras der Wiese. Das Gesicht mit Händen bedeckt gab ich mich ganz der Verzweiflung hin. Diese Wahrheit schmerzte und schockte mich. Kein Weg zurück.

Plötzlich berührte mich etwas von hinten an der Schulter. Ich drehte mich um und sah in sein Gesicht. Er saß mir gegenüber in der Hocke und hatte ein trauriges Lächeln auf den Lippen.
So wie schon zuvor in der Holzhütte sah er mir in die Augen und wiederholte: „Es tut mir leid.“
Ich nickte stumm, während mir noch immer Tränen den Blick verschleierten.
Er seufzte und setzte sich dann neben mich ins Gras.
„Weißt du“, begann er „ich wünschte ich hätte verhindern können, dass du diese Aufgabe erfüllen musst. Aber es war nicht meine Entscheidung. Ich war dagegen, aber mein Vater wollte, dass ich beweise, dass ich frei von Emotionen handeln kann. Und damit er sich davon überzeugen kann, musste ich die Person, die… naja, ich musste einfach einen Menschen zu diesen grauenvollen Taten zwingen.“
„Dein Vater?“ fragte ich überrascht „Der Tod hat einen Vater?“
Er lachte, aber es klang alles andere als fröhlich.
„Ja, denn ich bin zwar der Tod, doch ich bin nicht der Teufel, auch wenn das nicht gerade die geeignete Bezeichnung ist. Diese Rolle fällt meinem Vater zu. Er ist es, der den Menschen noch nach ihrem Tode Leid zufügt. Nicht ich bin der böse. Und doch haben die Leute mehr Angst vor mir als vor ihm. Ich hasse ihn. Er ist furchtbar und tut schlimme Dinge. Und er will, dass ich in seine Fußstapfen trete, damit er mehr Macht hat.“
„Vielleicht ist es blöd, das zu fragen aber…was genau ist deine Aufgabe? Vor allem im Gegensatz zu deinem Vater?“
Einen Moment lang dachte ich er hätte meine Frage nicht gehört, denn er starrte vor sich auf den Boden und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen, ohne zu antworten.
Dann jedoch begann er: „Meine Mutter ist, wie du vielleicht schon gedacht hast, sozusagen das Gegenteil zu meinem Vater. Ein Engel, wenn du so willst. Der wichtigste Engel. Das was ihr Gott nennt. Und meine Aufgabe als Tod ist es, jene die sterben in eines der Reiche, die von meinen Eltern regiert werden, zu führen.“
Ich hatte sofort Bilder unzähliger Karikaturen im Kopf, auf denen eine dunkle Gestalt mit Kapuze und mit Laterne eine Menschenmenge, allesamt mit bleichen, eingefallenen Gesichtern, durch einen dunklen Wald führte.
„Zuvor jedoch muss ich diese Leute aufsuchen und töten. Mit meiner Berührung. Aber im Gegensatz zu dir habe ich eine ausgezeichnete Kontrolle über meine…Gabe. Darum konnte und kann ich dich auch berühren.“
Ich erinnerte mich daran, wie er vor wenigen Tagen noch, um mir zu beweisen, dass er der Tod ist, eine Blume wie auf Kommando welken ließ. Mit seinem bloßen Blick. Oder es war die Berührung?
„Und dann?“, die Neugierde lag mir nun auf der Zunge.
„Gehen die meisten freiwillig mit. Vor allem die, die nichts zu befürchten haben. Die in ihrem Leben gutes Karma gesammelt haben.“
„Oh mein Gott, man sammelt in seinem Leben tatsächlich Karma??“
Er lachte kurz. „So was in der Art zumindest. Und als Strafe für schlechtes Karma kommst du in die Hölle. Gutes Karma – Himmel.“
„Dann komm ich in die Hölle…“, überlegte ich. In Anbetracht dessen, wie ich mit meiner Familie umsprang und mit diesen komischen Dates.
„Nein, so einfach ist das nicht. Nur weil du ein paar Mal lügst und unfreundlich bist, bist du ja noch lange kein böser Mensch. Verstehst du die Unterscheidung?“
Ja, ich verstand. Also war da jemand, der über die Menschen urteilte. Jemand wusste den unterschied zwischen gut und böse. So was wie das jüngste Gericht.
„So sollte es sein, nicht wahr?“
Ich weiß nicht, ob er mir nun im Gesicht abgelesen hatte, was ich dachte, oder wirklich Gedanken lesen konnte, aber es wunderte mich in diesem Moment auch nicht. Die ganze Situation war so grotesk, dass wohl auch ein Einhorn mit einer rosarot gekleideten Prinzessin auf dem Rücken vor mir über einen Regenbogen hätte reiten können, ohne dass ich auch nur mit der Wimper gezuckt hätte.
Er fuhr fort: „Doch nicht nur böse Leute kommen in die Unterwelt, wie Vaters Reich auch bezeichnet wird. Denn er ist machthungrig und schummelt stets an der Namensliste herum, so dass auch jene, die in ihrem Leben viel Gutes getan haben, zu ihm müssen. Ich kann nicht entscheiden, was stimmt, aber ich kann die Leute dorthin führen wo ich möchte. Darum versucht mein Vater mich zu erpressen, damit ich… werde wie er und mehr Leute zu ihm führe.“
Er stockte und sah mich kurz schockiert an, als hätte er zu viel erzählt, doch fasste sich sofort wieder.
Er stand auf und blickte in den Himmel, der eine blutrote Farbe angenommen hatte. Seltsam, dass es schon dämmerte. Für mich fühlte es sich so an, als wäre seit meinem überstürzten Aufbruch aus der Kleinstadt keine Stunde vergangen. Vielleicht war es das auch nicht. Vielleicht war es schon da spät gewesen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl über den Tag hinweg verloren, während ich Martin beobachtet und schließlich zu mir gelockt hatte.
Der Tod ging hinüber zu dem dunklen Rappen, der geduldig neben uns stehen geblieben war, und strich ihm über die Mähne.
„Pass gut auf sie auf, mein Freund.“, flüsterte er, bevor er sich erneut an mich wandte.
„Hier.“ Er gab mir eine goldene, feingliedrige Kette in die Hand, an der eine Feder hing, die in den Verschiedensten Farbnuancen schillerte. „Das ist eine ganz besondere Feder. Mit ihr kannst du dieses herrliche Pferd sowohl rufen als auch in jedes andere Tier verwandeln.“
„Ich kann das Pferd verwandeln? Cool…“
„Ich dachte mir, dass ein Rappe vielleicht doch etwas mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als beispielsweise ein schwarzer Hund?“
„Womit du zweifellos richtig liegst… Aber wie funktioniert denn diese Feder?“
„Denk einfach ganz intensiv an das Tier, in das er sich verwandeln soll. Du kriegst den Dreh schon raus. Übrigens musst du dir noch einen Namen für ihn überlegen.“
Er lächelte. Und eine Sekunde später war er einfach verschwunden.

Impressum

Texte: @alicemonstalein
Bildmaterialien: @alicemonstalein
Lektorat: katjaah
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2012

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