Cover

Prolog

Es ist ein besonderer Tag gewesen. Ein Tag, der mein ganzes Leben verändern soll. Denn an diesem Tag soll ich erfahren, was ich in Wirklichkeit bin, wer ich in Wirklichkeit bin. Es ist mein sechster Geburtstag gewesen und meine Eltern sind mit mir ins Schwimmbad gefahren. Ich habe es geliebt, Zeit mit meinen Eltern zu verbringen. Nicht, dass ich es heute nicht mehr mögen würde. Aber damals ist es etwas ganz anders gewesen. Ich habe in meinem zarten Alter schon eine übernatürliche Intelligenz besessen. Meine Muttersprache war deutsch, allerdings ist es für mich ein leichtes gewesen diese Sprache perfekt zu lernen. Zudem habe ich auch perfekt rechnen können und die englische Sprache habe ich auch gesprochen. Ich bin praktisch ein Wunderkind gewesen. Und ich weiß, dass meine Eltern stolz auf mich gewesen sind. Und ich weiß auch, dass dieser Tag mir etwas offenbaren würde, wovon ich nie geglaubt habe, dass es so etwas gibt. Ich erinnere mich, als ist es erst gestern gewesen.

 

○  ○  ○

 

Wir sind auf dem Weg ins Schwimmbad. Meine Beine baumeln, während ich aus dem Fenster sehe. Landschaften fliegen an dem Fenster des SUVs vorbei, in dem ich und meine Mutter und mein Vater sitzen. Ich sitze auf der geräumigen Rückbank in meinem Kindersitz.  Meine Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz und unterhält sich gerade mit meinem Vater, der das Auto steuert. Irgendwann erhebt mein Vater die Stimme: „Hey Spatz, freust du dich schon?“ Ich sehe in den Rückspiegel und erblicke meinen Vater. „Ja!“ rufe ich mit meiner hellen, sanften Glockenstimme. Ich merke, wie meine Eltern sich vielsagend ansehen und schlucke schwer. „Hör zu, mein Liebling.“ beginnt meine Mutter und hat meine vollkommene Aufmerksamkeit. „Dein Vater und ich…Wir müssen dir etwas sagen.“ Ich höre aufmerksam zu, während mein Vater Auto fährt und gleichzeitig spricht. Er beobachtet mich im Rückspiegel und ich spüre seinen Blick auf mir ruhen.  „Du kennst doch die alten Märchen. Deine Lieblingsmärchen. Ich sage dir nun, dass diese Märchen keine Märchen sind.“ Ich verstehe, was meine Eltern mir sagen möchten. „Was?“ frage ich und meine Eltern nicken. „Das beste Beispiel dafür bist du, mein kleiner Engel.“ Meine Mutter dreht sich zu mir um und lächelt mich an, aber ihr Lächeln fällt ihr nicht leicht. Ich kann ihr ansehen, wie viel Mühe sie aufbringen muss. Irgendetwas liegt ihr schwer auf dem Herzen. „Wie meinst du das?“ frage ich verwirrt. Ich bin doch ein ganz normales Mädchen. Mein Vater atmet schwer, bevor er weiterspricht. „Du bist eine ‘Nigrum Magus‘, ein Wesen, das dir vielleicht eher unter Hexe bekannt ist. Liebling, du bist eine Auserwählte der schwarzen Magie. Genauso, wie ich.“ sagt meine Mutter und streckt ihre Hand demonstrierend aus. Auf ihrer Handfläche erleuchtet eine schwarze Flamme. Sie scheint keine Schmerzen zu spüren, also muss es wirklich Magie sein. „Und das bedeutet jetzt was?“ frage ich. „Das heißt, meine kleine Lia, dass ich dir ab jetzt Zauberunterricht geben werde.“ sagt meine Mutter und tippt mir auf die Nase. Ich lächle und so fahren wir gemeinsam ins Schwimmbad. Ich bin eine Hexe? Eine richtige Hexe? Das ist ja mega cool! Welches kleine Mädchen möchte denn bitte keine Zauberkräfte haben? Als wir im Schwimmbad angekommen sind, ist die Zeit wie im Flug vergangen. Bald schon habe ich fast vergessen, was meine Eltern mir zuvor im Auto erzählt haben.

Nachdem wir einige Stunden im Schwimmbad verbracht haben, möchten meine Eltern sich eine kleine Auszeit gönnen. Ich als kleiner Wirbelwind finde das allerdings nicht ganz so cool und plansche trotzdem weiter im Wasser, natürlich im Kinderbecken. Dort ist das Wasser immer so schön warm. In Gedanken verloren werfe ich meine Hände ins Wasser und spritze andere Kinder nass. Die Kinder schreien, lachen und laufen wild umher, aber keines scheint mich wirklich zu beachten.  Ich sitze recht abseits, mit dem Gesicht zu einem der großen, deckenhohen Fenster. Draußen scheint die Sonne, aber hinten am Horizont beginnen sich dunkle Regenwolken zu bilden. Ich seufze. Irgendwie möchte ich wieder nach Hause. Ich schaue auf meine Beine, die im Wasser liegen und betrachte wie sich das Wasser seicht in kleinen Wellen an meine Haut schmiegt. Ich beginne mir vorzustellen, wie die Wellen stärker werden und zu einem Sturm, einem Strudel werden. Es bilden sich Wolken, die vor lauter Donner nur so graulen und auch den ein oder anderen Blitz loslassen. Plötzlich schrecke auf und zucke zusammen. Der Schock sitzt mir tief in den Knochen. Die Vorstellung eines Unwetters ist keine Fantasie. Nein, die kleinen Wolken, der Strudel und der Sturm spielten sich in der Realität genau vor mir ab. Zwar in kleinerer Version, aber meine Gedanken haben sich manifestiert. Habe ich gerade…gezaubert? Geschockt springe ich auf und hüpfe auch gleich zwei, drei Schritte zurück. Der kleine Sturm bricht zusammen und löst sich auf. Mein Herz pocht ganz wild, denn mein Körper ist voller Adrenalin. Erstaunt schaue ich auf meine Hände. Dort ist es herausgekommen. Dort muss es herausgekommen sein. Oder? Ich bin verwirrt, weiß nicht, was gerade passiert ist und schaue mich um. Die Kinder spielen weiterhin, niemand scheint das Geschehene mitbekommen zu haben. Mein Blick wandert weiter. Doch da steht ein Junge und starrt mich aus blass grauen Augen an. Sein Haar ist schwarz und tropft. Er ist bedeutend jünger als ich, vielleicht vier oder drei Jahre alt. Er steht dort und starrt mich einfach nur an. Sein Blick ist dabei kalt und unergründlich. Es scheint, als würde ich in genau den gleichen Sturm sehen, den ich ein paar Minuten zuvor noch selbst veranlasst habe. Er bewegt sich nicht, nicht einmal ein paar Millimeter. Er wirkt beinahe wie eine Statue, beinah unmenschlich. Ich mache einen Schritt in seine Richtung. Ich möchte mit ihm reden. Irgendetwas in mir treibt mich dazu, ihn anzusprechen. Damals ist mir nicht bewusst gewesen, was dieses etwas war. Eigentlich weiß ich es heute noch nicht einmal so genau. Meine Augen blicken nur verschwommen in seine Richtung. Woher der Schleier auf meinen Augen kommt, ist mir ein Rätsel. Die Geräusche um mich herum werden intensiver, lauter. Ich spüre einen kühlen Windhauch auf meiner Haut, mein Atem gerät ins Stocken. Plötzlich wird mein Blick wieder klar. Der Junge, der eben noch dort gestanden hat, ist nun verschwunden. Ganz langsam entweicht mein Atem aus meiner Lunge. Langsam drehe ich mich um und erstarre, als mir bewusst wird, dass der Junge jetzt direkt neben mir steht. Er steht mir zu nahe. Ich versuche einen Schritt zurück zu machen, doch er hält mich an meinem linken Oberarm fest. Obwohl er jünger als ich ist, ist er stark. Sehr stark. Ich versuche seinem Griff zu entkommen, aber ich schaffe es nicht. „Ich möchte dir nichts tun.“, flüsterte er mir ins Ohr. Sein Atem war warm und seine Stimme sanft. Augenblicklich entspannt sich mein Körper und als er das mitbekommt, lässt er meinen Arm sofort los. „Wer bist du?“, frage ich wehmütig. Es ist seltsam, denn er hat sich geräuschlos bewegt. Obwohl wir beide mit den Füßen im Wasser stehen, macht er keinerlei Geräusche. Mit jeder Sekunde, die er neben mir steht, macht er mir Angst, sorgt aber auch dafür, dass ich nicht in Panik verfalle. Er ist in gewissermaßen angsteinflößend und beruhigend zugleich. Ich atme tief ein und aus. „Mein Name ist Damian Alas.“ Der Name sagt mir nichts. „Kenne ich dich?“ Ich überlege, ob ich seinen Namen irgendwo schon einmal gehört habe. Doch er sagt mir immer noch nichts. Woher soll ich ihn kennen? „Noch nicht.“ „Wie?“ Erst jetzt fällt mir auf, dass er nicht wie ein vierjähriger redet und sich verhält. Hier ist etwas komisch, aber so richtig weiß ich noch nicht was. „Wir werden uns noch kennen lernen.“, sagt der Junge namens Damian. Sein Gesicht ist recht schmal. „Wie meinst du das?“ frage ich sichtlich verwirrt. Ich bin ein sechsjähriges Mädchen und ein vierjähriger Junge erzählt mir gerade etwas, was womöglich in der Zukunft stattfindet? Das klingt sehr unwahrscheinlich. „Wir werden uns bald kennen lernen, es dauert nicht mehr lang.“

Bevor ich etwas dazu sagen kann, drückt er sich an mich und hält mich in einer innigen Umarmung gefangen. Eine Welle aus Trauer und Mitgefühl überkommt mich. Solche Gefühle habe ich noch nie gekannt. „Ich wünsche dir so viel Stärke & so viel Kraft für deine nächsten Jahre. Und ich wünsche dir auch mein tiefstes Beileid.“ Nun bin ich gänzlich verwirrt. Wovon redet Damian? „Was…?“ Ich bin unfähig irgendwelche weiteren Worte aus mir herauszubekommen.  Ich zittere, aber wieso nur? „Ich kann dir jetzt nichts weiter dazu sagen, aber bitte versprich mir, dass du nicht aufgibst, bis wir uns wiedersehen.“ Meine Muskeln verkrampfen und ich weiß nicht, was gerade passiert. „Ich kann nicht in das Zeitgeschehen eingreifen.“, fügt Damian noch hinzu. Seine Stimme zittert und er drückt mich nur noch fester an sich. Er vergräbt sein Gesicht an meiner Schulter. „Versprich es mir.“ Seine Stimme klingt flehend und ich kann nicht anders, als ihm seine Bitte zu erfüllen. Obwohl ich ihn nicht kenne, fühle ich eine tiefe Verbundenheit zu ihm. „Ich verspreche es.“ Er seufzt erleichtert und umarmt mich noch fester als zuvor. „Dann bin ich beruhigt.“ Und mit diesen Worten befreit er mich aus seinem Griff. Ich schließe nur für einen kurzen Augenblick meine Augen, doch in dieser kurzen Zeit ist er bereits verschwunden. Nun kann ich sicher sein, dass er nichts Menschliches an sich hat. Aber was ist er dann?

Ich stehe noch eine Weile da, schaue ins Leere. Immer noch versuche ich mir zu erklären, was gerade passiert ist. Wer ist dieser Junge gewesen? Wie hat er das gemeint, dass wir uns bald kennen lernen werden?

Ich weiß nicht einmal mehr, wieviel Zeit nachdem vergangen ist. Nachdenklich stehe ich in dem Wasser, wie erstarrt. „Lia?“ Aus der Ferne höre ich leise, wie jemand meinen Namen ruft. Ich wende mich der Stimme zu. Am Beckenrand stehen Mama und Papa. Sie sehen besorgt aus. Mama kommt langsam zu mir ins Wasser. Erst jetzt fällt mir auf, dass kein weiteres Kind außer mir mehr im Becken ist. Mein Blick wandert zu den Fenstern. Die Sonne ist bereits untergegangen. Wie lange habe ich hier gestanden? Meine Mutter kniet sich vor mich und schaut mir tief in die Augen. Ihre blauen Augen erinnern mich immer wieder ans Meer. „Ist alles okay, Lia?“, fragt sie und streichelt mir mit ihrer rechten Hand über den Hinterkopf. Ich bin noch etwas benommen, nicke aber lächelnd. Meinen Eltern möchte ich von dieser Begegnung nichts erzählen. Das würde sie nur unnötig beunruhigen. „Wir haben dich gesucht.“, sagt Papa sanft. Er stand immer noch am Beckenrand. Das Licht bricht sich im Wasser und wirft sich auf meinen Vater zurück. „Ich war die ganze Zeit hier.“, antworte ich ihm. Mama sieht meinen Vater verdutzt an. Er erwidert ihren Blick einen kurzen Moment lang und blickt mich dann wieder an. Mama dreht sich wieder zu mir. „Du bist nicht hier gewesen. Wir haben das ganze Schwimmbad nach dir abgesucht.“, erklärt Mama. Ich schaue sie an. Das kann nicht sein. Die ganze Zeit habe ich hier in diesem Becken gespielt. Ich bin die ganze Zeit hier gewesen. „Lia, es ist nicht schlimm, wenn du woanders spielen warst. Papa und ich sind nicht sauer.“ Sie glauben mir nicht. Aber ich bin einhundertprozentig hier gewesen. Wie ist das möglich? „Vielleicht bin ich doch noch woanders gewesen.“, sage ich und Mama und Papa atmen tief durch. Ihnen fällt sichtlich ein Stein vom Herzen. Bevor ich ihnen unnötig Angst mache, möchte ich sie lieber beruhigen. Mama nimmt mich in den Arm und hebt mich hoch. „Wir sollten gehen, es ist schon spät.“

Abschied

zwölf Jahre später...

 

 In weiter Ferne hörte ich ein leises Klingeln, welches an Lautstärke stetig zu nahm. Ich kniff meine Augen fest zusammen. Nein, ich wollte sie jetzt nicht öffnen müssen. Ich nahm mir mein Kopfkissen und drückte es auf meine Ohren. Ich konnte es trotzdem noch hören. Da das Klingeln aber nicht abnahm, zwang ich mich dann doch nach fünf Minuten dazu, meine Augen zu öffnen und den Wecker auszustellen. Es war Montag und gerade einmal fünf Uhr. Um diese Uhrzeit war ich noch nie in der Lage, voll funktionsfähig zu sein. Meine Mutter meinte einmal vor ein paar Jahren zu mir, dass man sich an das frühe Aufstehen schon bald gewöhne. Mittlerweile ist dies aber auch schon vier Jahr her und ich habe mich immer noch nicht dran gewöhnt. Ich schaute verschlafen zu meinem bodenhohen Fenster, welches mit türkisfarbenen Vorhängen verhangen war. Leichte Lichtstrahlen fielen durch den dünnen Stoff hindurch und leuchteten auf meinem weißen Dielenboden. Ich richtete mich in meinem Bett auf und rieb mir verschlafen den Sand aus meinen Augen. Ich scheute noch einen kurzen Blick auf den Wecker und hoffte mich noch einmal für ein paar Minuten hinlegen zu können. Doch mein Wecker hatte heute morgen schon so oft geklingelt, dass ich zu spät kommen würde, wenn ich mich noch einmal hinlegen würde. Jeden Morgen immer wieder das Gleiche. Komm schon, Lia. Ich zwang mich meine Beine aus dem Bett zu heben und stand auf. Ich streckte meine Hände hoch hinaus und stellte mich auf die Zehenspitzen. Dabei knackten meine Gelenke wie bei einer alten Frau. Ich stiefelte langsam in das angrenzende Badezimmer, um mich frisch und fertig zu machen. Ich zog mein abgetragenes Studio Ghibli Shirt aus, warf es in eine Ecke des mittelgroßen Badezimmers. Ich erschauderte, da ich noch an die Wärme meines Bettes gewohnt war. Also sprang ich schnell und die Dusche um das warme Wasser aufzudrehen. Ich seufzte als das warme Wasser meinen Körper hinunterlief. Ich liebte dieses wohlig warme Gefühl auf der Haut schon seit meiner Kindheit. Dieses Gefühl erinnerte mich an irgendetwas, aber ich hatte vergessen, was dieses Etwas war. Ich wusch mir die Haare und trocknete sie danach, um ihnen mit einem Lockenstab schöne Locken einzudrehen. Am Spiegel hielt ich einen kleinen Moment inne, um mich genauer zu betrachten. Meine Haare gingen mir zu den Schultern, etwas länger vielleicht. Sie waren dunkelblond, fast hellbraun sogar. Meinen Pony hatte ich vor ein paar Jahren heraus wachsen lassen und da das ewig dauerte, scheute ich mich immer noch davor, mir erneut einen Pony schneiden zu lassen. Wobei ich langsam wirklich eine Typveränderung brauchte. Ich konnte meine Haarfarbe langsam nicht mehr sehen. Meine Augen waren eisblau und strahlten. Ich war 1,65cm groß und damit kleiner als all meine Freunde und generell kleiner als überhaupt irgendwelche Menschen aus meinem Umfeld. Ich war recht dünn, allerdings auch nicht untergewichtig. Meine Körper hatte trotzdem seine Rundungen an den richtigen Stellen und genau deswegen liebte ich ihn so. Man könnte sagen, ich wäre selbst verliebt, aber ich war einfach nur mit dem zufrieden, was ich war. An meinem Körper könnte ich sowieso kaum etwas ändern. Ich trug meinen Eyeliner in klassischer Form auf, tuschte meine Wimpern, betupfte mein Gesicht mit Make-Up und puderte es danach ab. Danach trug ich einen sanften rosafarbenen Ton mit einem Lippenstift auf. Ich steckte mein Schmuckset an, welches ich vor ein paar Jahren von meiner Mutter geschenkt bekommen habe. Sowohl die Ohrringe als auch die Kette zierten zwei ineinander verwobene kleine, lilafarbene Perlen. Meine Mutter brachte mir immer wieder kleinere Geschenke mit. Ich schätzte jedes davon. Ich zog mir ein niedliches Kleid an, welches aus einem Stoff voller Blüten genäht war. Die Hauptfarbe des Kleides war weiß. Mein Mobiltelefon klingelte laut und ich hüpfte schnell zu meinem Bett. Ich schaute aufs Display. Matthew rief an. Ich nahm ab. “Guten Morgen, Matthew.”, sagte ich melodisch ins Telefon. “Einen wunderschönen guten Morgen, Lia! Bist du schon fertig?” Ich mochte es, wenn er mich morgens anrief. Es war so schön, seine Stimme als allererstes am Tage zu hören. Abgesehen vom Wecker natürlich. “Ja, ich bin fertig. Du kannst losfahren.”

“Okay, dann mache ich mich jetzt auf den Weg.”

“Alles klar, bis gleich.” Ich beendete das Telefonat. Matthew kannte ich schon seit Ewigkeiten. Seit ungefähr einem Jahr versuchten wir uns nun an einer Beziehung. Ich wusste nicht, wieso ich nicht vorher erkannt habe, wie toll Matthew eigentlich war. Er hatte sich immer für mich interessiert, aber er war, bis vor einem Jahr, nur ein sehr guter Freund für mich. Dabei war es nicht so, als hätten andere Mädchen nicht ihr Glück bei ihm probiert. Er hatte einfach nur Augen für mich. Ich schnappte meinen Schulrucksack, packte die wichtigen Dinge ein und warf ihn mir über den Rücken. Ich begab mich in den Flur, der in hellen Farben gestrichen war. Auf dem Boden lag ein dunkelgrauer Teppich als Kontrast. Um diese Uhrzeit waren meine Eltern bereits arbeiten. Daher konnte ich das Haus einfach verlassen. Ich tänzelte zum Geländer der Treppe und hüpfte die Stufen hinab. Ich summte irgendeine Melodie vor mich hin. Obwohl ich vor dreißig Minuten noch zu nichts zu gebrauchen war, hatte ich jetzt sehr gute Laune. Unten im Flur angekommen, suchte ich meinen Schlüsselbund. Normalerweise lag er auf der Kommode direkt am Eingang. Heute lag er dort allerdings nicht. Ich schnaubte. Wo hatte ich den Schlüssel diesmal hingelegt? Ich durchsuchte meine Tasche. Im hinteren Fach ganz unten fand ich ihn dann schließlich. Ich atmete erleichtert auf. Draußen vor der Tür hupte ein Auto. Schnell öffnete ich die Haustür und sprang durch den Türrahmen hinaus. Ich drehte mich schnell um und verschloss die Tür. Dann hüpfte ich gut gelaunt den grauen Pflasterweg entlang zur Hauptstraße. Vor meinem Elternhaus parkte ein weinroter Cadillac Coupé DeVille, ein Oldtimer, den Matthew zu seinem neunzehnten Geburtstag von seiner ganzen Familie geschenkt bekommen hatte. Matthew drückte erneut auf die Hupe und ich beschleunigte meinen Schritt etwas. Ich öffnete die Beifahrertür, schwang mich hinein und zog sie wieder zu. Ich wandte mich zu Matthew und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Seine dunkelbraunen Haare waren zur rechten Seite gekämmt und mit Haarspray fixiert. „Guten Morgen, mein Schatz.“, sagte er und blickte mich aus dunkelgrünen Augen schelmisch an. „Alles Gute zum Geburtstag.“ Er drückt mir noch einen Kuss auf die Stirn und ich lächle nur. „Danke, mein Liebling.“, antwortete ich ihm. Er kramte in seiner Tasche und zog ein kleines schwarzes Päckchen heraus. „Hier, das ist für dich.“, sagte er und überreichte mir das kleine Geschenk. „Aber Matthew…Du weißt doch, dass ich keine Geschenke haben möchte.“ „Nun mach schon auf.“ „Okay…“ Ich zog vorsichtig an der Schleife, die auf dem Geschenk prangte und es verschlossen hielt. Seidig öffnete sie sich und als ich den Deckel abgenommen hatte, entdeckte ich ein silbernes Armband. Das Armband war wunderschön. „Oh Matthew… Danke!“, sagte ich gerührt. Mit so etwas hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. „Ich habe dir extra ein silbernes Armband gekauft, damit es auch gut zu dem Schmuck von deiner Mutter passt.“, erklärte er mir sanft. Sein Blick ruhte auf mir, während ich das Armband betrachtete. „Es ist wunderschön.“, brachte ich nur über meine Lippen. Es war filigran gearbeitet und in der Mitte befand sich ein kleiner silberner Schmetterling. „Freut mich, dass es dir gefällt.“, sagte er und startete den Motor. „Wir müssen los.“ Mit diesen Worten fuhr er los. In der Zeit holte ich das Armband aus der Packung und band es um meinen linken Arm. Zu der Musik von Twenty One Pilots betrachtete ich das Armband. Es glitzerte im Sonnenschein. Bis zur Schule war es nicht weit. Ich wohnte nur knapp zehn Minuten mit dem Auto entfernt. Matthew nahm mich jeden morgen mit, da er immer durch meine Straße fährt, wenn er auf dem Weg zur Schule ist. Nach ein paar Minuten wand ich meinen Blick von dem Armband ab und betrachtete die Umgebung. Wir wohnten in einer kleinen Vorstadt mit einer Einwohnerzahl von 4.500 Menschen und dem Namen Varis Creek. Das mochte vielleicht viel klingen, aber hier kannte wirklich jeder jeden. Es gab zwei Stadtteile. Auf der einen Seite waren die Einkaufsmöglichkeiten und die Schulen, sowohl Grundschule. Junior High und Highschool. Ein College haben wir leider nicht im Ort. Auf der anderen Seite befanden sich die Wohnviertel und der ganze Rest. Getrennt wurde die Stadt von einem kleinen Fluss. Der Varis River. Ich hatte bereits mein ganzes Leben hier gelebt. Wir bogen in die Straße ein, die zur Schule führte. Die Schule konnte man bereits vom Weiten sehen, denn die Straße endete direkt davor in einem großen Parkplatz. Ich war in der elften Klasse, Matthew war bereits im Abschlussjahr. „Geht es dir gut heute?“, riss Matthew mich aus meinen Gedanken. Ich lächelte ihn an. „Ja, mir geht’s super.“

„Na das klingt doch gut. Was hast du jetzt zuerst?“ Ich überlegte kurz. „Ich glaube, ich habe Geschichte.“ „Na dann pass mal schön auf. Du brauchst das in deiner Abschlussprüfung.“ Matthew fuhr auf einen der Parkplätze und brachte sein Auto zum stehen. „Ich weiß.“ Er war schon immer fürsorglich gewesen. Matthew wollte immer das Beste für mich. Ich packte meine Sachen zusammen, legte die Geschenkverpackung in meinen Rucksack und stieg aus dem Auto aus. Wir lächelten uns über das Autodach hinweg an. Ich schloss die Beifahrertür, wartete, bis Matthew um das Auto herum gekommen war und ergriff seine Hand. Unsere Highschool war ein hohes und langes, rostfarbenes Backsteingebäude und erinnerte eher an ein Anwesen als an eine Schule. Die vielen Fenster stachen gut daraus hervor, denn sie waren strahlend weiß. Genauso wie der große Haupteingang, der in der Mitte des Gebäudes prunkte. Vor der Schule gab es reichlich Grünfläche und schattenbietende Bäume. Einige Blumen waren ebenfalls hier und da gepflanzt worden. Gerade im Sommer saß ich gerne unter diesen schattigen Bäumen. Der Pausenhof und die Turnhalle befanden sich hinter der Schule. Von Vorn konnte man sie kaum erahnen. Ich mochte unsere Schule. Es wurde immer sehr darauf geachtet, dass wir Schüler gut unterrichtet wurden und uns wohlfühlten. Matthew und ich begaben uns zum Haupteingang. Schon vom weiten konnte ich die beiden Gestalten erkennen, die neben dem Haupteingang im Schatten lungerten und auf mich zu warten schienen. Mir war sofort klar, wer diese Gestalten waren. Zum einen hatten wir da Mila. Sie war genau so alt und circa 10cm größer als ich. Ihr Haar war hellblond. Vor ein paar Wochen hatte sie sich ihre Haare kürzer schneiden lassen. Mittlerweile trug sie sie in einem lässigen Bob, der allerdings doch mädchenhaft aussah, weil sich ihre Spitzen in kleine Locken einrollten. Ihre grünblauen Augen schauen mich oft vorwurfsvoll an, denn viele Entscheidungen, die ich treffe, findet Mila nicht ganz so toll. Dann wäre da noch Alea. Sie war das komplette Gegenteil von Mila. Ihre Haare waren tiefschwarz und ging ihr bis zur Hüfte. Sie trug eine dunkelrote Strähne auf ihrer rechten Seite. Aleas Lebensstil war generell etwas rockiger. Sie selber spielte sei ihrem vierzehnten Lebensjahr Gitarre und das, seit drei Jahren, auch in einer Band. Ihre Augen waren braun und erinnerten an dunkle Schokolade. Alea war immer lockerer als Mila und lies mir dadurch auch sehr viel durchgehen. Als wir ihnen näher kamen, ruf Alea schon vom weiten: „Jo! Lia! Halt dich mal ran!“ Ich konnte nicht anders als zu schmunzeln. „Typisch Alea.“, murmelte Matthew nur. Auch in seiner Stimme lag ein Schmunzeln. Wir wohnten früher alle in einer Nachbarschaft, daher kannten wir uns schon ewig. Mila war dabei immer die Vernünftige von uns gewesen. Matthew war irgendwas dazwischen und Alea war die Unvernünftige. Ich hing, genau wie Matthew irgendwo dazwischen, wobei das bei mir immer etwas schwankte. Mila stand schon dort und wartete wie ein kleiner Hund. Sie trug heute einen hellblauen Faltenrock mit einer weißen Bluse dazu. Ihr Haar hatte sie hinter ihr linkes Ohr gesteckt. Matthew und ich erreichten die Beiden. „Guten Morgen, ihr Beiden.“, begrüßte Matthew Mila und Alea. Sofort fiel Alea mir um den Hals und umarmte mich fest. „Alles, alles, alles, alles GUTE!“, brüllte sie mir ins Ohr. Ich versuchte mir die Ohren zuzuhalten, aber Alea hatte mich fest im Griff. „D-an-ke.“, brachte ich nur heraus. Sie ließ von mir ab und ich holte einmal tief Luft. „Alea, du erdrückst sie immer fast.“, tadelte Matthew, während er meinen Rücken tätschelte. „Ach Quatsch. Sie kann das schon ab. Dafür kennt sie mich ja schließlich schon so lange.“ Ich lächelte nur gequält, immer noch nach Luft japsend. Mila breitete die Arme aus und lächelte mich breit an. Auch sie schloss mich in ihre Arme, nur um weiten sanfter als Alea. „Alles Gute zum Geburtstag, meine Süße.“ Ihre Stimme war glockenklar und sanft. Sie wippte hin und her. „Danke!“, sagte ich und lächelte. „Und wie ist es jetzt achtzehn Jahre alt zu sein?“, fragte Alea. Sie stand neben uns, hatte ihr Gewicht auf ihr rechtes Bein verlagert und strahlte mich an. Mila entließ mich aus ihrer Umarmung und ich wendete mich Alea zu. „Nicht viel anders als gestern.“ Alea wusste, wie sehr ich solche Floskel-Fragen hasste, fragte sie dennoch immer wieder. Das tat sie einfach nur, weil sie wusste, wie sehr mich sowas ärgerte. Sie meinte es keineswegs böswillig, sondern als Spaß. Alea lachte über meine Antwort. „Und? Hast du schon Geschenke bekommen?“, fragte Mila neugierig. Ich hob mein Handgelenk hoch, sodass sie das silberne Armband sehen konnten. „Oh wow, von wem hast du das denn?“ Mila betrachtete das Armband fast schon neidisch. Ich warf einen Blick zu Matthew. „Matthew hat es mir geschenkt.“, erwiderte ich. „Oh Matthew, ganz der Charmeur.“ Alea grinste ihn breit an. Matthew lächelte ein klein wenig verlegen. „Das Armband ist richtig hübsch. Gut gemacht, Matthew!“, lobte Mila ihn. „Danke dir.“ „Wir sollten hinein gehen.“, sagte ich zu den anderen. Sie nickten, nahmen ihre Taschen auf und stiefelten los. „Welche Kurse habt ihr jetzt?“, fragte Matthew die Mädels. „Also ich hab mit Lia Geschichte.“, antwortete Mila ihm und hakte sich bei mir ein. „Ich habe jetzt Mathematik.“ Mitfühlend sah ich Alea an. „Du Arme! Bei Herr Pasternack?“ Sie nickte und streckte angewidert die Zunge heraus. „Exakt.“ Auch Mila sah sie betroffen an. „Du schaffst das schon! Wir sehen uns ja in der Pause wieder.“ Alea verdrehte die Augen. „Ja, das stimmt.“, antwortete sie dann noch. „Bis später.“, meinte sie und bog in einen Gang nach rechts ab. Dort war der Raum von ihrem Kurs. Ich drehte mich zu Matthew um und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Bis nachher, Schatz.“ Ich wollte mich gerade von ihm lösen, da zog er mich noch einmal fest an sich um mich ein weiteres Mal zu küssen. „Ich liebe dich.“, hauchte er nur und ließ mich dann los. „Bis später, Mila.“, sagte er, winkte ihr zu und begab sich zu seinem Raum. Sie winkte ihm nach. „Hach, du hast so ein Glück mit ihm.“, sagte sie wehmütig. Auch Mila war eines der Mädchen gewesen, welches es bei Matthew probieren wollte. Doch auch sie war abgeblitzt bei ihm. Ich wusste noch, wie verletzt sie gewesen war. Wochenlang hatte sie kein Wort mehr mit ihm gesprochen und war ihm aus dem Weg gegangen. Selbst mit mir sprach sie kaum noch. Angesichts der Umstände hatte ich aber vollkommenes Verständnis dafür. Das Ganze ist mittlerweile schon drei Jahre her. „Was hängst du denn so in Gedanken?“, fragte Mila mich und ich lächelte sie an. „Ach, es ist nichts.“ Wir hatten den Klassenraum bereits erreicht. Wir gingen hinein und setzten uns an unseren üblichen Platz. Ich fand Geschichte immer recht spannend, aber unser Lehrer hatte nicht die Fähigkeit gehabt, uns dieses Fach interessant beizubringen. Dafür sprach er einfach immer zu langsam. Dazu kam, dass er jede zweite Stunde irgendeinen Dokumentationsfilm von YouTube anschaltete, den wir uns dann angucken durften. Nur leider wurde in den Dokumentationsfilmen doppelt und dreifach von den Fakten erzählt, die wir bereits schon aus einer anderen Dokumentation kannten. Es war einfach ermüdend. Und wenn der Lehrer dann mal keine Dokumentation hatte, machte er Tafelbilder. Die Betonung liegt auf Bilder. Nicht nur eins oder zwei. Nein, wenn dann gleich zwanzig über die ganze Tafel verteilt. Herr Cors, so hieß er, war inzwischen eingetroffen und hatte seinen Unterricht begonnen. Auch diese Stunde warf er einen Dokumentarfilm an. Dieses Mal ging es um Thomas Jefferson und die Unabhängigkeitserklärung. Auch Dinge, die ich schon so oft gehört hatte.

 

• • •

 

Die Zeit verging wie im Flug, trotz dass der Unterricht heute sehr langweilig war.Nun saßen wir zu viert im Diamond-Park auf einer großen Picknickdecke. Auf dem Stoff waren lauter kleine Melonenstücke zu sehen.Alea und Mila hatten das Picknick organisiert. Sie hatten den Ort ausgewählt und das Essen vorbereitet und mitgebracht. Es standen Sandwiches, Obst, Gemüse, Salate und kleine Knabbereien zur Verfügung. Mir lief bloß vom Ansehen schon das Wasser im Mund zusammen. Mila hatte noch kühle Getränke besorgt. Matthew sorgte für gute Musik. Zwar durften wir nicht laut Musik hören, um die anderen Gäste im Park nicht zu belästigen, aber das war in Ordnung so. Matthews Cadillac stand auf dem anliegenden Parkplatz. Wir konnten ihn von unserem Platz aus sehr gut sehen. Es war bereits recht spät, die Sonne ging schon langsam unter. „Und? Wie findest du deinen Geburtstag bisher, Lia?“, fragte Alea mich und nippte an ihrem Getränk. Sie hatte ihr schwarzes Haar inzwischen zu einem lockeren Zopf geflochten und hatte ihn über die rechte Schulter gelegt. Ich lehnte mich an Matthew, der mit ausgestreckten Beinen neben mir auf der Decke saß und sich mit seinen Händen am Boden aufstützte. „Abgesehen von der Schule hätte ich mir nichts Besseres vorstellen können.“, antwortete ich ihr und lächelte sie und Mila an. Ich nahm mir ein Stück Gurke und schob es mir in den Mund. „Was ist mit deinen Eltern?“, fragte Mila mich vorsichtig. „Die sind, soweit ich weiß, für die Woche beide auf einer Dienstreise. Sie kommen erst Samstag zurück.“ Matthew legte seine linke Hand auf meinen Kopf, um mich zu streicheln. „Mach dir nichts draus. Haben sie dir wenigstens gratuliert?“, fragte er mich mit sanfter Stimme. Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber das ist auch nicht schlimm. Sie haben zu viel zu tun.“ Mein Geburtstag war nichts Besonders mehr. Immerhin war ich schon achtzehn Jahre alt, da hat man schon einige Geburtstage hinter sich gehabt. „Naja, dafür machen wir uns heute einen schönen Abend.“, warf Mila ein und öffnete eine eiskalte Flasche Cola. „Schade, dass wir morgen wieder Schule haben.“, sagte Matthew wehleidig. „Wie läuft eigentlich deine Prüfungsvorbereitung, Matt?“ Mila überreichte ihm ein Glas Cola und sah ihm dabei in die Augen. Er nahm ihr das Glas schnell ab und trank einen großen Schluck. „Frag mich besser nicht.“ Er wandte den Blick ab. „Matthew, du hast nur noch paar Wochen Zeit.“, tadelte Mila ihn. Scheinbar hatte er noch nicht viel gelernt. „Ich weiß.“ -

„Weißt du schon, was du dann machen wirst?“ Alea hatte ihm diese Frage neugierig gestellt. Ich sah ihn gespannt an. Bisher hatten wir noch nicht über seine Vorhaben nach dem Abschluss gesprochen, denn ich hatte Angst, dass er weg gehen würde. Unser Leben zusammen wäre dann vorbei, das war mir und ihm gleichermaßen bewusst. Matthew erahnt die Sorge in meinem Blick, kaut sich auf der Lippe herum und schaut dann zu Boden. „Keines der umliegenden Colleges hat mich aufgenommen. Oft sind auch die Studiengebühren einfach zu hoch. Meine Eltern haben nicht wenig Geld, wie ihr wisst. Aber die Studiengebühren hier sind auch für uns einfach nicht tragbar.“ Ich schluckte und mein Atem stockte. „Wirst du dann arbeiten gehen?“ Nein, Matthew wollte studieren. Das war schon immer einer seiner tiefsten Wünsche gewesen. Er sah mir traurig tief in die Augen und ergriff meine Hand. „Ich werde nach Denver gehen.“ Mir stockte der Atem. „Halt warte! Denver wie Denver in Colorado?“, fragte Alea geschockt. Wir befanden uns in einer kleinen Stadt in Virginia. Denver war selbst mit Flugzeug vier, fast fünf Stunden weit entfernt. Mit Auto würden wir einen ganzen Tag bis nach Denver brauchen. Matthew nickte ohne etwas zu sagen. „Das kann nicht dein Ernst sein.“ Auch Mila war aufgebracht und verstand die Welt nicht mehr. Ich saß da, konnte einfach nichts sagen und wusste, dies war unser Ende. „Ich versuche so oft wie möglich nach Hause zu kommen. Versprochen.“ Matthew wusste, wie sehr die Nachricht uns, aber vor allem mich traf. Milas Blick war ausdruckslos. Sie starrte in die Leere. „Matt, du weißt, dass das alles verändern wird.“ Aleas raue Stimme wirkte furchtbar laut. „Ich weiß. Deswegen habe ich es euch bisher noch nicht gesagt. Lasst uns doch bitte die restliche Zeit noch so verbringen, wie bisher.“ Ich lehnte mich an Matthew. Ich war immer noch unfähig etwas zu sagen. Er veränderte seine Position so, dass ich meinen Kopf auf seinen Schoß legen konnte. Ich legte mich mit dem Rücken auf den Boden, sodass ich in den Himmel schauen konnte. Die Sonne war bereits vollkommen untergegangen und am Himmel begannen langsam die Sterne zu funkeln. Die Mädchen hatten extra kleine Teelichter mit passenden Gläsern besorgt. So kam etwas Lagerfeuerromantik auf. Ich hörte wie Mila und Alea etwas murmelten. Beide wollten die Sache nicht ruhen lassen, taten es aber mir zu liebe. „Ich habe meine Gitarre dabei, möchtet ihr etwas hören?“ Alea legte ihre Gitarrentasche vor sich und holte ihre Gitarre heraus. „Sing einfach, was dir gerade in den Sinn kommt.“, sagte ich. So stand Alea auf um besser spielen zu können und legte los. Bereits in den ersten Gitarrenklängen war mir klar, für welches Lied sie sich entschieden hatte. In dem Lied ging es um Gefühle und Gedanken, die man während einer Fahrt auf einer Landstraße nach Hause hatte. Der Fahrer erinnerte sich an seine Heimat in West Virginia. Der Refrain beschwörte den intensiven Wunsch nach Hause zurückzukehren, an den Ort, wo man hingehörte und aus dessen Bergen man stammte. Im Liedtext wurden einzelne Referenzen von dem Bundestaat angesprochen, wie zum Beispiel die Blue Ridge Mountains, der Shenandoah River, aber auch Dinge wie selbstgebrannter Moonshine und die lokale Bergwerkindustrie. Es handelte sich um das Lied Take me home, Country Roads von John Denver. Das der Interpret mit Nachnamen Denver hieß, war im Kontext mehr als ironisch. Ihre Stimme passte gut zu dem Lied, doch schwang in ihr ein ungewöhnlicher Trauer mit. Das Lied war wunderschön, aber gleichzeitig auch sehr traurig.

 

Wir lagen dort noch ein, zwei Stunden. Alea und Mila hatten noch ab und zu ein paar Worte miteinander gewechselt, jedoch lagen wir die meiste Zeit einfach nur da und lauschten der Musik von Hedley, einer kanadischen Pop-Rock Band. Nach der Information von Matthew hatte sich die Stimmung radikal herunter gekühlt. Jeder von uns brauchte seine Momente alleine für sich, in der er das Gesagte verarbeiten musste. Es war acht Uhr abends, als wir uns entschlossen, aufzuräumen und nach Hause zu gehen. Ich versuchte Mila und Alea dabei zu helfen, allerdings winkten sie nur ab und meinten, ich solle nach Hause fahren und meinen Abend zu Hause in Ruhe ausklingen lassen. Die Beiden kümmerten sich um alles Weitere. Matthew hatte seitdem auch kein Wort mehr verloren und wirkte sehr in Gedanken vertieft. Er stand ruhig neben mir, als wir uns von Alea und Mila verabschiedeten. Zur Verabschiedung murmelte er nur ein leises „Wiedersehen.“ und ging dann mit mir zu seinem Cadillac. Wir sprachen kein Wort miteinander. Ich wusste nicht, wie ich eine Unterhaltung mit ihm beginnen sollte. Was hätte ich ihm sagen sollen? Hey, schade, dass du weggehst. Wir können trotzdem ein Paar bleiben? Vielleicht hätte ich das sagen sollen, aber ich wusste genau, dass ich das nicht konnte. Ich konnte keine Fernbeziehung führen, da war ich lieber allein. Es war nicht so, als wollte ich es nicht probieren. Matthew und ich sahen uns jeden Tag. Es würde mich kaputt machen, ihn nicht mehr täglich zu sehen. Wir hatten jetzt noch knapp bis Ende Mai Zeit. Wir hatten Mitte April. Das waren nur noch eineinhalb Monate. Wir waren an Matthews Auto angekommen und stiegen ein. Wortlos startete er den Motor. Ich wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte. Von Tag zu Tag liebte ich ihn mehr. Sollte ich die Beziehung jetzt beenden oder bis zum Ende warten? Mein ganzes Herz hing an Matthew. Es würde mich so verletzen, mit ihm Schluss zu machen. Angesichts der Umstände wäre es aber wahrscheinlich für ihn und mich das Beste. Er fuhr los. Selbst aus dem Radio ertönten keine Geräusche. Es war so still. „Wieso hast du nichts eher gesagt?“, fragte ich ihn und brach damit die bedrückende Stille. Ich sah ihn an. Er biss sich auf die Lippen. Seine Lippen waren bereits aufgebissen und bluteten leicht an einigen Stellen. „Ich wollte so etwas wie heute einfach vermeiden.“ Seine Stimme zitterte. Ich blickte auf meine Hände und zupfte an dem silbernen Armband herum. „Aber dann hättest es du einfach vorher sagen sollen.“

Matthew setzte den rechten Blinker und bog in die Williams-Street ein. „Ich weiß. Es ist unfair gewesen, es dir nicht zu sagen.“ Er schluckte schwer. „Ich wollte es so lang wie möglich hinaus zögern.“ Ich sah ihn traurig an. Er kannte mich nach all den Jahren einfach zu gut. Es war, als würde Matthew meine Gedanken lesen. So ging es uns oft. Ich schwieg einen Augenblick um die passenden Worte zu suchen. „Du kennst mich einfach. Wieso versuche ich dir etwas vorzumachen?“ Matthew brachte den Wagen zum Stehen. Er hielt direkt vor meinem Haus. „Du bist einfach so, Lia. Und das ist auch gut so.“ Er drehte sich mir zu und legte seine Hand an meine Wange. „Du bist so ein wunderbarer Mensch und glaub mir, es zerreißt mir das Herz nach Denver zu gehen. Aber mir bleibt keine andere Wahl.“ Ich schaue ihm traurig in die Augen. „Komm, es ist spät. Ich bringe dich zur Tür.“ Er öffnet die Fahrertür und steigt aus. Ich beobachte ihn. Dann läuft er um das Auto herum und öffnet meine Tür. Ich ergriff die Hand, die er mir reichte und stieg aus seinem Wagen aus. Matthew nahm meinen Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Seine andere Hand ruhte an meinem Rücken und führte mich über den Gehweg hinweg langsam in Richtung Tür. Ich spürte, wie angespannt er gewesen war. Jeder Schritt weiter zur Tür fiel im sichtlich schwer. Auch in meinem Magen bildete sich mit jedem weiteren Meter ein fester Knoten. Unser Haus war einst im viktorianischen Stil erbaut worden. Wir folgten dem Weg aus Pflastersteinen der vom Gehweg zur Veranda führte. Ich betrat die erste Stufe der Treppe die hinauf zu Veranda führte und spürte, wie sich Matthews Hand von meinem Rücken löste. Ich drehte mich zu ihm um. Selbst auf der ersten Stufe stehend war ich kleiner als er. So sehr ich auch wollte, dass er die Nacht mit mir verbrachte, wusste ich, dass es uns Beiden leichter fiel, wenn wir es jetzt und hier beenden würden. Traurigkeit spielte in seinen Augen mit. Der Mond schien hell auf uns herab. „Matthew…“, brachte ich nur leise hervor. Mein Hals war wie ausgetrocknet. Ich konnte kaum sprechen. Auch ihm fiel es sichtlich schwer, gerade hier zu sein. Er nahm mein Gesicht vorsichtig in seine warmen, sanften Hände und küsste mich liebevoll. Seine warmen Lippen erfüllten mich mit Glückseligkeit. Jedoch spürte ich, wie sehr sein Körper zitterte. Ich spürte etwas Feuchtes an meiner Wange. Tränen. Ich weinte. Langsam lösten sich seine Lippen von meinen. Ich wollte nicht, dass dieser Kuss jemals endete. Er zog seine Hände zurück und ließ sie locker an seinem Körper hinunter fallen. Ich griff ein allerletztes Mal nach seiner Hand. Er sah mich einfach nur an. Auch in seinen Augen spiegelten sich Tränen. Unsere Hände glitten auseinander. Ich liebte ihn. Ich liebte ihn so sehr und ihn jetzt gehen zu lassen, war die schwerste Entscheidung, die ich bisher in meinem Leben treffen musste. „Ich liebe dich.“, flüsterte er nur noch und ging. Meine Tränen rollten ungehemmt meine Wangen hinunter und brannten auf meiner kalten Haut. Ich begann zu schluchzen, als ich ihm nachsah und er in seinen Wagen stieg. Ich ließ mich auf die Stufen der Treppe nieder, kauerte mich zusammen und weinte bitterlich. Die Tränen quollen nur so aus meinen Augen heraus. Bald schon war mein ganzes Kleid nass. Ich konnte den Tränenfluss nicht stoppen. Meine Nase begann zu laufen und ich kramte in meinem Rucksack nach ein paar Taschentüchern. Ich konnte allerdings keine finden und so zog ich mich an dem Geländer hoch und schleppte mich die Treppe hinauf.

Veränderungen

Ich wollte gerade den Schlüssel ins Schlüsselloch stecken, als mir völlig verheult ein braunes Paket vor meinen Füßen auffiel. Ich bückte mich hinunter und nahm es auf. Oben war eine Karte eingesteckt. Für unsere Lia. Das Paket war von Mama und Papa. Ich klemmte mir das Paket und den Arm, öffnete die Tür und trat ein. Meine Tränen waren beinahe versiegt. Ich zog meine Schuhe aus und brachte das Paket in die Küche. Dort legte ich es auf die Anrichte und suchte zuerst nach einem Taschentuch, mit dem ich mir die Nase schnaubte. Dann widmete ich mich dem Paket. Ich entfernte den Deckel und staunte. In dem Paket war ein altes, staubiges Buch. Das Buch war recht groß und hatte einen ledernen Einband. In der Mitte des Buchdeckels prangte ein Pentagramm aus Silber. Darunter stand der Titel mit silberner Schrift geschrieben. „Magicae Libro…“, lass ich stockend vor. Welche Sprache war das? Lateinisch? Ich nahm das Buch in beide Hände und hob es aus dem Paket heraus. Ich öffnete die erste Seite und dort lag ein handgeschriebener Brief. Ich nahm diesen Brief in die Hand. Er war von meiner Mutter.

 

 

Liebe Lia,

wir wünschen dir alles Gute zu deinem 18. Geburtstag. Es tut uns so Leid, dass wir heute

nicht bei dir sein können. Wir feiern richtig, wenn wir am Samstag wieder da sind.

 Anbei liegt übrigens dein Geburtstagsgeschenk. Weißt du schon was es ist?

Das ist ein Buch voller Zaubersprüche. Bisher konnte ich dir leider noch nicht viel über die

Magie, die in dir wohnt, beibringen. Dieses Buch ist dafür da, dass du die Zaubersprüche lernst.

Gerne kannst du dich alleine versuchen, vielleicht brauchst du mich ja gar nicht mehr. Pass nur gut auf, dass dich niemand sieht, während du irgendwelche Magie verwendest. Niemand muss wissen, was du bist. Oder eher was wir sind. Wenn du dich ausprobierst, dann geh hinters Haus in den Wald. Der gehört nur uns und ist abgezäunt, dort dürfte niemand sein.

Sei vorsichtig.

 

Wir lieben dich.

Mama & Papa.  

 

 

 

Ich legte den Brief vorsichtig zu Seite und betrachtete das Buch. Die Sache mit der Magie hatte ich fast vergessen. Meine Eltern hatten mir dies vor Ewigkeiten erzählt. Wieso erinnerten sie mich erst jetzt wieder daran?

Ich durchquerte die Küche und öffnete die Hintertür. Es war zwar dunkel, aber das Mondlicht schien auf einen dunklen Wald. Ich hatte mich schon immer gefragt, wieso wir einen Wald im Garten hatten. Ich schlüpfte in meine Gartenschuhe, die immer an der Hintertür bereit standen, nahm das Buch in die Hand und verließ mein Haus. Im Mondschein öffnete ich die erste Seite des Buches. Es war im Wald selber sehr dunkel. Vielleicht konnte ich etwas finden, was Licht machte. Ich ging die erste und die zweite Seite durch und blätterte einmal komplett nach vorn. Es musste doch ein Inhaltsverzeichnis geben und da. Tatsächlich. Ich suchte nach dem Oberbegriff Licht und blätterte auf Seite siebenhundertneunzehn. Dort in der ersten Zeile stand ein Spruch. „Digitus…lucem…“, sagte ich und wartete. Ich sah mich um. Alles schien unverändert. Ich drehte mich einmal im Kreis und blieb dann wie angewurzelt stehen, als ich mein Spiegelbild in einem der Fenster unseres Hauses sah.

Dort strahlte ein heller Punkt am Buchrücken. Ich nahm meine linke Hand vom Buch und hielt sie vor mein Gesicht. Die Spitze meines Zeigefingers leuchtete wie bei ET als er nach Hause telefonierte. Verblüfft betrachtete ich meinen Finger. Es tat nichts weh. Ich spürte rein gar nichts. Ich erinnerte mich an die Worte aus dem Brief meiner Mutter. Pass nur gut auf, dass dich niemand sieht… Dafür war der Wald. Er diente als Sichtschutz. Ich drückte das Buch an meine Brust, hielt den leuchtenden Zeigefinger vor mich und betrat den Wald. Die Äste der Tannen hingen recht tief und verzweigten ineinander. Es war nicht leicht durch das Gestrüpp hindurch zu gelangen. Das Licht meines Fingers leuchtete den Wald allerdings gut aus. Ich hatte den Wald keine drei Meter betreten, schon war bis auf das Licht meines Fingers nichts mehr zu sehen. Die Tannen standen so dicht, dass von außerhalb kein Licht durchdringen konnte. Die Bäume bildeten praktisch eine Mauer. Alles was drinnen war, blieb auch drinnen und drang nicht nach draußen. Ich ging noch ein paar Schritte tiefer in den Wald hinein. Nach nur ein paar Schritten lichtete Sich der Wald. Ich sah nach oben und war erstaunt, denn die Baumkronen hatten sich zu einer festen Decke verbunden. So entstand ein kleiner Hohlraum, fast wie eine Lichtung. Ich sah mich um. In der Mitte stand ein Podest, auf dem man scheinbar ein Buch ablegen konnte. Im Kreis rundum die Lichtung befanden sich mittelgroße, eiserne Schalen. Scheinbar waren diese Schalen für Feuer geeignet. Vielleicht dann auch für Licht generell. Ich sah erneut ins Buch und schlug das Kapital Licht auf. Mit dem Finger glitt ich über die alten, abgegriffenen Seiten und entdeckte einen Spruch, der genau zu meinem Vorhaben hatte. Ich erhob den Leuchtfinger und sagte: „Lux, distribute tibi.“ Die Lichtquelle sprang von meinem Finger und verteilte sich auf die insgesamt acht Feuerschalen. Der dunkle Raum war somit komplett ausgeleuchtet. Die Situation war so skurril, gleichzeitig doch auch sehr faszinierend. Ich sah auf meine Armbanduhr. Es war bereits 21:30Uhr. Schon recht spät. Ich sah kurz zwischen dem Pult und dem Buch hin und her. Einen kurzen Augenblick konnte man ja bestimmt noch verweilen. Mit großen Schritten ging ich auf das Podest zu und legte das Buch auf. Ich öffnete das Inhaltsverzeichnis und sah mir die einzelnen Unterpunkte an. Feuer, Wasser, Erde, Luft, Licht… Das waren alles Elemente der Natur. Doch als letzter Punkt war Tod aufgelistet. Ich erschauderte und zog scharf die Luft ein. War dies die schwarze Magie, von der Mutter redete? Aber wieso musste ich denn schwarzer Magie nachgehen? Wieso musste meine Mutter schwarzer Magie nachgehen? Ich sah mir die Inhaltsangabe erneut an und betrachtete das letzte Kapitel. Nur dieses eine Kapitel konnte auf sich schließen lassen, dass es sich um schwarze Magie handelte. Ich schlug das Kapitel Wasser auf und sah mir die Sprüche an. Auf den ersten drei Seiten waren keine außergewöhnlichen Sprüche. Doch dann las ich immer düstere Sprüche. „Jemanden ertrinken lassen… Jemanden in Wasser einhüllen und den Wasserdruck drastisch anheben…“ Auf den ersten Blick hatte es zwar so ausgesehen, dass es nur ein dunkles Kapitel geben würde. Wenn man aber genauer hinsah, so hatte jedes Kapitel Sprüche schwarzer Magie in sich. Zum Vergleich schlug ich das allerletzte Kapitel auf. Jemanden von einer tödlichen Krankheit heilen, jemanden von den Toten wieder auferstehen lassen, jemanden töten. Die Sprüche dieses Kapitels waren zwar begrenzt, hatten aber etwas Unmenschliches an sich. Mit diesen Sprüchen griff man in den Lauf der Dinge ein. Dies war, meiner Meinung nach, höchst makaber und nicht vorstellbar. Ich konnte mir nicht vorstellen, welche Ausmaße es haben würde, solche Zaubersprüche zu nutzen und die Magie zu solch einem Zweck zu verwenden. Ich schüttelte den Kopf und versuchte die Gedanken in meinen Kopf loszuwerden. Ich fürchtete mich, diese Kräfte einzusetzen. Niemand wusste davon etwas, nicht mal Alea, Mila oder Matthew. Nachdenklich sah ich mich um und mein Blick blieb an den leuchtenden Feuerschalen hängen. Gleichzeitig konnte diese Magie etwas Wunderschönes hervorbringen. Sie faszinierte mich und ich wollte mehr davon. Ich blickte wieder auf das Buch und trat einen Schritt näher heran. Ich öffnete das Kapitel Erde und las mir aufmerksam die einzelnen Sprüche durch. Ich blieb mit meinem Zeigefinger an einem Spruch hängen. „Adventum lilia.“ Ich wartete einen kleinen Augenblick und beobachtete die Umgebung aufmerksam. Zuerst erkannte ich nichts. Ich spürte nur, wie meine Handfläche kitzelte. Als ich mein Blick dann zu meiner Hand lenkte, sah ich, wie aus meiner Handfläche lauter rosafarbene Blütenblätter quollen und sanft auf den Boden rieselten. Ich hob meine Hand an und hielt sie ausgestreckt. Weiterhin fielen die hellen Blüten zu Boden. Unter meiner Hand hatte sich schon ein kleiner Haufen angesammelt. Fasziniert beobachtete ich meine Hand. Ich holte tief Luft und pustete leicht auf meine Hand. Die Blütenblätter wirbelten wie in Disneys Pocahontas auf und flogen hoch empor. Zu meinem Erstaunen durchdrangen die Blätter selbst die Decke aus Baumkronen, die den Hohlraum bedeckten. Ich war begeistert. Begeistert von der Magie, die in mir wohnte. Begeistert von der Kraft. Nachdenklich blätterte ich durch das Kompendium und lies meinen Blick über die hunderten, nein tausenden Zaubersprüche gleiten. Das Buch war klobig, eingestaubt und sichtlich schon etwas älter. Dieses Buch konnte ich schlecht einfach in meinen Rucksack stecken oder unter dem Arm mitnehmen. Ich konnte schlecht das ganze Buch auswendig lernen. Dafür waren es einfach zu viele magische Formeln. Ich dachte nach. Ehe ich mich versah, stapfte ich auch schon ins Haus. Ich hüpfte die Treppe hinauf in den zweiten Stock und nahm die zweite Tür auf der rechten Seite. Hinter dieser Tür befand sich mein Zimmer. Ich ging hinüber zu meinem weißen Schreibtisch und zog die Schubladen auf. Ich durchkramte die einzelnen Schubladen, bis ich fand was ich suchte. In der Hand hielt ich ein etwas älteres DIN A4-großes Notizbuch, welches von außen mit pastellrosafarbenen Punkten verziert war. Ich hatte mir dieses Notizbuch vor Jahren gekauft, hatte es aber noch nie genutzt. Das Notizbuch hatte einige leere Seiten, die gefüllt werden wollten. Ich ergriff meine Federtasche und hüpfte dann wieder hinaus in das kleine Wäldchen hinter unserem Haus. Dort ließ ich mich mit dem Magie-Buch und den anderem Kram, den ich gerade geholt hatte auf den Boden nieder und begann einzelne Sprüche mit ihrer Bedeutung aufzuschreiben. Mit der Zeit würde man die Sprüche sicherlich lernen, doch ich hatte das Buch erst wenige Stunden in meinem Besitz. Ich schrieb und schrieb und vergaß dabei die Zeit komplett. Nach einer Weile war ich bei der zehnten Seite angekommen, war Kapitel für Kapitel durchgegangen und hatte mir die Sprüche aufgeschrieben, die ich unbedingt mal austesten wollte oder die einfach interessant geklungen haben. Ich setzte den Kugelschreiber ab, streckte mich und blickte auf meine Armbanduhr. Es war bereits halb drei Uhr morgens. Ich schreckte auf. „Ach du heiliger Himmel!“, fluchte ich, sprang auf und sammelte meine Sachen zusammen. Mein Wecker klingelte um sechs Uhr morgens. Ich löschte das Licht mit einem simplen „Lucem.“ und hetzte zurück ins Haus. Morgen bzw. heute begann die Schule wieder um acht Uhr. Ich hatte meine Zeit aus den Augen verloren und würde es nach dem Erwachen zu spüren bekommen. Ich stapfte die Treppe hinauf, warf Zauberbuch und Notizbuch auf meinen Schreibtisch. Dann versuchte ich mich erst zu beruhigen. Würde ich jetzt ins Bett gehen, könnte ich nicht schlafen, da mein Puls auf gefühlt 180 war. Langsam streifte ich mein Kleid von meinem Körper und ließ es zu Boden fallen. Ich trat heraus und ließ mich auf mein Bett plumpsen. Meine Beine hievte ich über die Bettkante und streckte sie vor mir aus. Dann ließ ich mich in meine Kissen fallen, zog die Decke über mich und kuschelte mich ein.

 

Es dauerte bis ich eingeschlafen war und ich hatte das Gefühl, als sei ich erst fünf Minuten, bevor mein Wecker zum Aufstehen klingelte, eingeschlafen. Ich war wie gerädert. Mein Hals war trocken und ich bekam meine Augen kaum auf. Ich hatte es alle anderen Tage schon schwer pünktlich um sechs Uhr aufzustehen. Heute allerdings hatte ich das Gefühl, die vergangene Nacht gar nicht geschlafen zu haben. Ich war selber Schuld. Ich hätte mich gestern nicht mehr an das Zauberbuch setzen dürfen. Es war aber einfach zu verlockend. Ich zwang mich aus dem Bett und ging zu dem Schreibtisch. Verschlafen ergriff ich das Notizbuch und schob es in meinen Schulrucksack. Den Rucksack stellte ich dann auf dem Stuhl ab. Ich stolperte ins Bad, unterzog mich einer kurzen, kalten Dusche, bei der ich einfach nur mit dem Kopf an der Wand lehnte und fast wieder einschlief. Als meine Beine dann aber begonnen einzuknicken, riss ich meinen Kopf hoch, stolperte wieder aus der Dusche hinaus und trocknete mich ab. Heute verzichtete ich auf jegliches Make-Up und ging direkt zu meinem Kleiderschrank. Ich zog ein schwarzes Top und eine blaue Jeanshose heraus und zog sie, so wie auch frische Unterwäsche, an. Über meine Schultern legte ich noch einen großen braunen Wollcardigan. Man konnte mir immer ansehen, wenn ich schlecht geschlafen hatte oder es mir gut ging, denn dann lief ich meist ungeschminkt und in recht labbriger Kleidung herum. Auf dem Weg zurück in mein Zimmer griff ich nach meinem Rucksack, den ich in der rechten Hand festhielt. Ich zog mein Smartphone vom Ladekabel und schob es in meine rechte Hosentasche. Ohne irgendwas weiter zu beachten, schleppte ich mich die Treppe herunter in die Küche. Ich sah mich um. Kaffee. Das war das, was ich nun brauchte. Den Rucksack stellte ich auf der Kücheninsel ab und wandte mich dann zu der dunklen Arbeitsplatte hinter mir. Auf ihr stand ein schwarzer De’Longhi Kaffeevollautomat, welche mir nun einen schönen leckeren Kaffee zubereiten würde. Ich drückte auf den Knopf und hörte wie die Kaffeebohnen in der Maschine gemahlen wurden. Ein wohliger Geruch begann die Küche einzuhüllen. Ich beobachtete, wie sich meine Tasse mit dem schwarzen Gold füllte und konnte es kaum abwarten, den Kaffee hinunter zu kippen. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits kurz vor 07:30Uhr war. Bald müsste ich zur Schule. Matthew würde ganz sicher jeden Moment vorgefahren kommen und die Hupe seines Cadillacs betätigen. Plötzlich fiel mir wieder ein, dass wir uns gestern getrennt hatten. Mich überlief ein kalter Schauer und ich wurde traurig. Mein Kaffee war inzwischen bereit getrunken zu werden. Ich nahm die Tasse und ließ mich auf einen der Barhocker, die an der Kücheninsel standen, nieder. Ich umfasste mit beiden Händen die heiße Tasse und spürte den Schmerz, den die Hitze auf meiner Haut hinterließ kaum. Wieso hatte mich die Magie gestern Abend so in den Bann gezogen, dass ich die Trennung von Matthew vollkommen vergessen hatte? Plötzlich wurde meine Laune immer schlechter und ich überlegte, ob ich nicht doch zuhause bleiben sollte. Ich hatte sowieso nicht viel geschlafen, da täte mir das ganz gut. Unsinn, Lia. Du kannst der Sache nicht aus dem Weg gehen., sagte ich mir innerlich und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. Ich verbrannte mir direkt die Zunge daran. Wie Matthew wohl mit der Trennung umging? Wie ging es ihm gerade generell? Ich sollte ihn darauf ansprechen und zwar gleich, wenn ich in sein Auto steigen würde. Normalerweise war er um diese Uhrzeit bereits hier. Ich entleerte meine Tasse und nahm meinen Rucksack. Nach der Nacht gestern würde er ganz bestimmt draußen stehen und mich nicht hetzen wollen. Ich ging zur Tür, öffnete sie und erwartete schon ein ungeduldiges Hupen, doch dort war nichts. Kein Cadillac, kein Auto und generell kein Matthew. Ich begann nervös zu werden. Sicherlich hatte er sich nur verspätet. Ich sollte einfach noch ein paar Minuten auf ihn warten. Langsam lief ich zum Bürgersteig und blickte die leergefegte Straße entlang. Weit und breit war niemand zu sehen, weder Mensch noch Fahrzeug. Die Zeit verstrich und verstrich. Ich griff nach meinem Smartphone, wählte seine Nummer und hielt es mir an das Ohr. Drei Sekunden später meldete sich die Mailbox: „Hi, hier ist Matthew. Ich bin gerade leider nicht erreichbar. Versuch mich doch einfach später nochmal anzurufen oder hinterlasse- “ Ich beendete den Anruf. Er war nicht erreichbar. Ich starrte abwechselnd von meinem Smartphone auf die Uhr. „Ich komme zu spät.“, stellte ich trocken fest. Es war mittlerweile 07:45Uhr. Die Schule begann um 08:00Uhr. Ich setzte mich in Bewegung in Richtung Bushaltestelle. In drei Minuten würde der nächste Bus fahren. Für den Weg bräuchte ich normalerweise zehn Minuten. Ich warf meinen Rucksack auf den Rücken und rannte los. Wenn ich was in meinem Leben hasste, dann war es zu spät zu kommen. Ich hasste dieses Gefühl, mich in den vollen Klassenraum zu schleichen, dabei den Unterricht zu unterbrechen und zu spüren, wie alle Blicke auf mir lagen. Unteranderer bildete ich mir auch immer ein, wie irgendwelche Mitschüler dann über mich herzogen. Ich wusste, dass dem nicht so war. Ich lief so schnell, dass mir aufgrund meiner Müdigkeit extrem schlecht wurde. Das Einzige, was ich zu mir genommen hatte, war purer schwarzer Kaffee. Dies machte das Ganze nicht großartig besser. Die Häuser zogen an mir vorbei. Ich glaubte, so schnell noch nie in meinem Leben gerannt zu sein. Endlich bog ich in die Seitenstraße, in der die Bushaltestelle war und erschrak. Der Bus stand bereits dort. Und fuhr los. „Halt!“, rief ich laut und wedelte wie wild mit den Armen, um die Aufmerksamkeit des Busfahrers auf mich zu lenken. Er erblickte mich und hielt, Gott sei dank, noch rechtzeitig an. Keuchend lief ich zu der Tür, die der Busfahrer netterweise erneut für mich öffnete. „Das nächste Mal aber bitte ein Bisschen früher.“, sagte der Busfahrer nur. „Ich…danke Ihnen.“ Ich war total verschwitzt. So etwas war ich nicht mehr gewöhnt. Matthew hatte mich immer mit zur Schule genommen, selbst als wir noch nicht ein Paar gewesen waren. Was war in ihn gefahren, dass er so etwas abzog. Nachdem ich mein Busfahrtticket gezahlt hatte, ging ich den Gang entlang und ließ mich auf einem Sitzplatz in der Nähe des Ausgangs nieder. Der Bus war recht leer. Das war klar, alle Schüler hatten den Bus vorher genommen, weil dieser hier nicht rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn ankam. Ich seufzte. Wie konnte das alles nur passieren? Wieso war Matthew nicht gekommen? Wir waren doch trotzdem noch Freunde. Der Bus bog in die Straße der Schule ein. Zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn. Als er endlich hielt, griff ich meinen Rucksack und sprang heraus. Ich eilte zum Klassenraum. Dort angekommen klopfte ich und betätigte die Klinke. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich runzelte die Stirn und blickte auf das Schild, welches den Raum markierte. Raum 265. Ich war definitiv richtig. Ich sah mich um. Weit und breit keine Schüler aus meiner Klasse. Verwirrt drehte ich mich herum und lief hinunter ins Sekretariat, um mir unseren Vertretungsplan anzusehen. Dort fiel mir die Kinnlade herunter. Der Kurs bei Frau Trendler fiel aus. Wut stieg in mir auf. Das hätte mir niemand sagen können? Frau Trendler unterrichtete Biologie und Mila und Alea waren beide in meinem Kurs. Wieso hatte mir keiner von ihnen Bescheid gegeben? Ich hätte zwei Stunden länger schlafen können. Mürrisch sah ich mich um. Was sollte ich nun tun? Ich ging zur Mensa und hoffte, mich dort niederlassen zu können. Die Mensa war ein Glück nicht weit entfernt. Vom Sekretariat aus ging man einfach nur den Gang entlang und dort war sie auch schon. Ich stand vor der großen Glastür, welche die Mensa von dem Flur abtrennte und öffnete sie. Die Mensa war ungewöhnlich ruhig. Gerade, wenn morgens unerwartet ein Unterrichtsblock ausfiel, türmten sich die Schüler in der Mensa. Aber heute Morgen saßen vereinzelt hier und da nur vier Schüler, jeder für sich allein. Ich ging hinein und ließ mich auf einem Platz in der Nähe der Fenster nieder. Aus meiner Hosentasche zog ich mein Handy und checkte meine Nachrichten. Nichts. Ich wählte den Kontakt von Mila aus und schrieb ihr eine kurze Nachricht.

 

Guten Morgen.

Sag mal, wo seid ihr? Und wieso hat mir niemand gesagt, dass der erste Block ausfällt?!

Ich sitze hier in der Mensa und starre Löcher in die Luft. Matthew hat mich heute Morgen

auch nicht mitgenommen… Heute ist wohl einfach nicht mein Glückstag…

 

Ich sendete die Nachricht ab und wartete. Wenn Mila wusste, dass der Unterricht heute Morgen ausfallen würde, schlief sie um diese Uhrzeit noch. Wenn sie es gewusst hätten, hätten sie es mir sagen können. Stattdessen saß ich jetzt mit finsterer Miene in der Mensa und wusste nichts mit mir anzufangen. Ich sah nach draußen. Der Himmel war bewölkt und schien sich am Horizont zu verdunkeln. Es gewitterte bald. Seufzend kramte ich in meiner Tasche und holte das rosafarbene Notizbuch hervor. Ich schlug es auf und begann, mir die einzelnen Sprüche immer wieder durchzulesen. Mit jedem Mal fielen mir die Wörter leichter. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie Lateinunterricht gehabt, dennoch schien ich die Worte leichter zu lernen und zu verstehen. In der Junior High hatte ich Französischunterricht. Dort hatte ich ständig Probleme und auch schlechte Noten. Es war definitiv nicht so, dass ich fremdsprachenaffin wäre. Allerdings viel mir Latein scheinbar leicht. Lag das vielleicht daran, dass ich Magie beherrschen konnte? Das war eine Möglichkeit.

„Seit wann lernst du denn lateinisch?“

Ich blickte erschrocken auf und schlug das Notizbuch zu. Mila stand neben mir und schaute mir über die Schulter.

„Wie bitte?“, fragte ich. „Seit wann du Latein lernst, wollte ich wissen.“ Sie ließ sich auf den Stuhl neben mir nieder und deutete mit ihrem Zeigefinger auf mein Notizbuch. „Ähm…Du weißt doch, ich möchte Medizin studieren. Meine Mutter meinte, ich soll lieber jetzt schon mit dem Lernen der Sprache anfangen.“, log ich. Sie runzelte die Stirn und stützte sich auf die Tischplatte auf. Mila hatte ihre Beine überschlagen und schaute mich skeptisch an. „Ich weiß gar nichts davon, dass du Medizin studieren willst.“ Mir wurde plötzlich sehr warm und ich fühlte mich ertappt. „Ach, habe ich dir das gar nicht erzählt? Seit ein paar Monaten habe ich mir die Flausen dafür in den Kopf gesetzt.“ Sie betrachtete mich weiter skeptisch. „Was machst du eigentlich schon hier?“ Mila deutete auf die Uhr. „Schon? In zehn Minuten beginnt der Unterricht und ich wollte dich einfach abholen.“ Ich folgte ihrem Blick. Tatsache. Ich packte meine Sachen zusammen und legte sie in meinen Rucksack. „Und wieso hat Matthew dich heute morgen nicht mitgenommen?“ Ich hielt in der Bewegung inne und presste meine Lippen zu einer harten Linie zusammen. Meine Augen starrten auf den Tisch. „Habt ihr euch gestritten? Wegen seinem Studienplatz?“ Ich stand angespannt auf und hielt den Rucksack in der Hand. Dann sah ich sie an. Ich musste schlucken. „Nein, wir haben uns nicht gestritten.“ Sie sah mich fragend an. „Wir haben uns getrennt.“ Ihr fiel die Kinnlade herunter und sie starrte mich mit offenem Mund an. „Was? Wie ist das passiert?“, fragte Mila schockiert. „Ganz einfach. Ich wusste von Anfang an, dass wenn er woanders hingeht als ich, dass wir die Beziehung nicht aufrecht erhalten können würden. Bevor die Liebe zwischen uns jetzt weiter von Tag zu Tag wächst, habe ich entschieden, unsere Beziehung sofort zu beenden.“ Mila blinzelte ein paar Mal und stand dann ebenfalls auf. „Das er dich dann heute morgen nicht mitgenommen hat, ist doch dann verständlich. Du hast ihn verletzt.“ Ich ging Richtung Mensaausgang. „Er hat mich vorher doch auch jeden Morgen mitgenommen. Warum also jetzt nicht mehr?“ fragte ich verwirrt. „Das ist doch ganz klar. Er braucht Abstand zu dir.“ Sie hatte Recht. Ich wollte mir das vorher nicht eingestehen, aber sie hatte Recht. Natürlich brauchte Matthew Abstand zu mir. Wir hatten Schluss gemacht, weil unsere Liebe zu einander nicht stärker werden sollte. Aber genau dies wäre der Fall gewesen, wenn wir weiter gemacht hätten wie bisher. „Ich habe da nicht drüber nachgedacht.“ antwortete ich Mila.

Sie sah auf die Uhr. „Komm, wir müssen zum Unterricht.“

 

• • •

 

Der Unterricht der folgenden Tage war sehr anstrengend für mich. Wir schrieben viele Tests und Klausuren, jedoch konnte ich dafür nicht viel lernen. Gedanklich hatte ich nur eine Sache im Kopf. Matthew. Obwohl es am Anfang nicht so ausgesehen hatte, die Trennung viel mir schwer. Mit jeder Minute die verging, wurde mir mehr bewusst, wie sehr sich mein Leben ohne ihn veränderte. Abgesehen davon hatte ich nachmittags auch keine Zeit zu lernen, denn sobald ich nach der Schule nach Hause kam, schnappte ich mir das Zauberbuch und übte den Umgang mit der Magie. Jedes Mal vergaß ich die Zeit. Ich ging oft um Mitternacht ins Bett, manchmal auch später. In der Schule hing ich durch und konnte mich nicht konzentrieren. Ich wusste nicht, wieso mich dieses Handwerk so in seinen Bann ziehen konnte. Ich konnte mich diesem Bann auch nicht entziehen. In den vergangenen Tagen hatte ich oft das Gefühl, zu sehen, wie die einzelnen Wochentage an mir vorbeizogen. Es wirkte beinahe, als würde ich mein eigenes Leben von außen beobachten. Ich befand mich in einem Dämmerzustand und ich konnte nichts tun, um dem zu entfliehen. Ich konnte beobachten, wie meine magischen Fähigkeiten immer weiter anstiegen. Mein Notizbuch war fast voll, die alten Sprüche, die ich noch am Montag hinein geschrieben hatte, konnte ich nun auswendig. Neue Sprüche waren hineingeschrieben worden und auch diese hatte ich fleißig gelernt. Alea und Mila versuchten jeden Tag aufs Neue für mich da zu sein, doch ich wehrte sie ab. Es viel ihnen sichtlich schwer, denn Matthew war auch ihr Freund. Seitdem wir Schluss gemacht hatten, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich wusste nicht, ob er mir absichtlich aus den Weg ging. Morgens und nachmittags sah ich immer seinen Cadillac auf dem Parkplatz stehen. Oft hatte ich überlegt, ob ich einfach auf ihn warten sollte. Glücklicherweise war meine Vernunft jedoch größer. Es brachte uns beiden nichts, wenn wir die Wunde erneut aufrissen. Wir sollten beide den größtmöglichen Abstand zu einander wahren und hoffen, dass wir bald wieder solche Freunde sein können, wie wir es vor unserer Beziehung waren. Ich wusste nicht, ob das jemals wieder möglich war. Allerdings waren wir nicht im Schlechten auseinander gegangen. Ich seufzte und schaltete den Fernseher ein. Es war samstags Vormittag und ich saß unten im Wohnzimmer auf der Couch. Ich hatte eine alte Jogginghose und ein altes Shirt an, welches mir um Nummern zu groß war. Nach der letzten Woche wollte ich heute einfach nur entspannen und nichts tun. Meine Eltern würden heute auch endlich wieder kommen. Die Woche ohne sie war es so leer im Haus gewesen. Ich war nicht gerne alleine. Meine Eltern fehlten mir sehr. Im Fernsehen liefen Nachrichten, aber ich passte nicht wirklich auf. Ich schaute auf mein Handy, welches neben mir auf der Couch lag. Keine neuen Nachrichten. Ich entsperrte es und schaute mir den Chat mit meinen Eltern an.

 

Hallo! Wann kommt ihr morgen? Vermisse euch!

Gestern Nachmittag um 16.00 Uhr

 

Hallo? Geht’s euch gut?

Gestern Abend um 19:30 Uhr.

 

Mama? Papa? Meldet euch doch bitte bei mir.

Heute Morgen um 11:15Uhr

 

Ich mache mir Sorgen um euch, bitte ruft mich sofort an.

Vor drei Minuten.

 

Alle Nachrichten waren ungelesen und noch nicht zugestellt. Ich wählte die Rufnummer meiner Mutter und hob das Telefon an meine Ohren. Es klingelte nicht und direkt sprang die Mailbox an. Besorgt versuchte ich auch meinen Vater zu erreichen. Doch hier war es genau das Gleiche. 

Langsam begann ich mir wirklich ernsthafte Sorgen zu machen. Ich erreichte weder meine Mutter noch meinen Vater. War ihnen vielleicht etwas zugestoßen? Ich stand auf und lief unruhig im Haus hin und her. Nebenbei sah ich aus dem Fenster. Der Himmel war dunkel und es regnete in Strömen. Vielleicht hatten meine Eltern einen Autounfall und lagen irgendwo in einem Straßengraben? Nervös knabberte ich an meinen Fingernägeln. Ich war schon immer gut darin gewesen, mir schlimme Dinge einzureden und diese dann auch nicht so schnell zu vergessen. Mein Herz pochte und ich hatte große Angst um meine Eltern. Ich ging zurück zur Couch und ergriff mein Handy. Ich hatte immer noch keine neue Nachricht. Ich ließ mich auf das Sofa fallen und wippte nervös mit meiner linken Fußspitze. Mein Handy hielt ich immer noch in meiner Hand. Ich starrte auf den Bildschirm und erbat eine Veränderung meines Bildschirmes. Ich hoffte auf eine Nachricht, ein Lebenszeichen meiner Eltern. Doch es geschah nichts dergleichen. Der Bildschirm wurde lediglich aufgrund von keiner Benutzung schwarz. Mittlerweile waren schon 24 Stunden vergangen, ohne dass ich etwas von meinen Eltern gehört hatte. Ich wählte Milas Nummer. Es klingelte und nach dem dritten Klingeln nahm sie endlich ab. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor.

„Lia? Was gibt’s?“, fragte sie und klang leicht genervt.

„Mila…Ich kann meine Eltern nicht erreichen…“, sagte ich. Meine Stimme zitterte und ich war den Tränen nah. „Was meinst du damit?“

„Ich habe seit 24 Stunden nichts mehr von ihnen gehört. Sie melden sich immer, wenn irgendetwas dazwischen kommt, aber diesmal ist es anders.“

„Warte, beruhige dich erstmal. Wo bist du gerade?“

„Zuhause.“

„Gut. Lia, du wirst dir jetzt erstmal einen Tee kochen. Ich bin gleich da.“

Ohne, dass ich etwas erwidern konnte, legte sie auf. Ich blinzelte und nahm das Telefon von meinem Ohr. Erneut keine neuen Nachrichten. Wie gelähmt stand ich auf und ging in die Küche. Ich tat, was sie sagte und nahm eine große Tasse aus dem Schrank. Ich füllte etwas von den getrockneten Früchten in einen Teebeutel ab und setzte Wasser auf. Als dies kochte, übergoss ich den Teebeutel, nahm die Tasse und setzte mich wieder auf die Couch. Im Fernseher lief eine Dokumentation zum Thema Flora und Fauna in Canada. Den Tee stellte ich auf einem kleinen Tisch ab, der neben der Couch stand. Ich starrte auf den Fernseher, bekam dabei aber so gut wie nichts von der Dokumentation mit. Gerade, als ich meinen Blick vom Fernseher riss, um erneut auf mein Telefon zu schauen, klingelte es an der Tür. Ich raffte mich auf und schlurfte zur Tür. Ohne in den Spion zu schauen, öffnete ich sie. Vor mir stand Mila. „Oh Gott, du siehst furchtbar aus.“, meinte sie und trat an mir vorbei ins Haus. Ihre Kleidung war nass. „Danke, dass du gekommen bist.“, sagte ich nur und schloss die Tür hinter ihr. „Ich weiß, wie wichtig dir deine Eltern sind.“, antwortete sie vorsichtig lächelnd und umarmte mich. „Jetzt versuche ich dich aber erstmal auf andere Gedanken zu bringen.“ Sie ergriff meine Hand und zog mich ins Wohnzimmer. Mila ging direkt zum Sofa und ließ sich neben mir nieder. „Schön, dass du dir einen Tee gemacht hast.“, sagte sie. Ich zog meine Beine an die Brust und kauerte mich zusammen. „Möchtest du etwas essen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Sicher? Wir können Essen bestellen. Ich lade dich ein.“ Ich schüttelte erneut den Kopf. „Ich werde nachher trotzdem Essen bestellen, damit du die Chance hast, trotzdem etwas zu essen.“ Seufzend lehnte ich mich an sie. „Ich hab Angst, dass meinen Eltern etwas passiert ist.“, sagte ich nur und schloss die Augen. Mila streichelte über mein Haar. „Ich weiß, Süße. Wir warten jetzt zusammen auf deine Eltern. Wenn sie heute Abend immer noch nicht da sind, rufen wir die Polizei.“ Ihre Stimme war beruhigend. Ich nickte. Im Hintergrund lief die Dokumentation weiter. Die Nervosität fiel ein Wenig von mir ab und mein Puls schien sich zu beruhigen. Mila strich mir weiter über mein Haar. Ihre sanften Berührungen beruhigten mich ungemein. Ich schlief ein.

 

• • •

 

Als ich aufwachte, stieg mir ein vertrauter Geruch in die Nase. Pizza. Mila stand an der Kücheninsel und war dabei, die Pizzen zu schneiden, welche sie scheinbar vor zehn Minuten erhalten hatte. Ich rappelte mich auf und sah auf die Uhr. Es war bereits nach 20Uhr, was bedeuten musste, dass meine Eltern noch nicht angekommen waren. „Mila…“, sagte ich traurig und sie drehte sich zu mir um. Auch in ihren Augen lagen Besorgnis und Kummer. „Ich weiß, es ist jetzt kein guter Zeitpunkt. Aber Pizza ist da.“ Sie kam zu mir und gab mir eine heiß dampfende Salami-Pizza. „Ich möchte wirklich nicht.-“ Sie unterbrach mich. „Du wirst jetzt diese Pizza jetzt essen. Ich rufe in der Zeit die Polizei.“, sagte sie und ermahnte mich mit einem strengen Blick. Sie wusste, dass ich heute kaum etwas zu mir genommen hatte. Wahrscheinlich hatte beim Schlafen auch mein Magen geknurrt. „Die Polizei wird deine Eltern finden.“ Mir war übel. Trotzdem nahm ich ein Stück der Pizza und schob es mir in den Mund. Die Pizza hatte für mich keinen Geschmack, wahrscheinlich wegen meiner Nervosität. Mila nahm unser Festnetztelefon und verließ den Raum. Ich hörte, wie sie zu dem Polizisten am Telefon sprach. „Hallo, mein Name ist Mila Engelheart. Meine beste Freundin Lia Myners erreicht ihre Eltern seit mehr als 24 Stunden nicht. Ihre Eltern hätten schon längst hier sein sollen.“ Es herrscht einen Moment Ruhe. Sie hörte dem Polizisten zu. „Okay, ich danke Ihnen.“ Sie kam zu mir zurück und blickte mich an. „Sie schicken eine Streife vorbei. Sie müssen deine Aussage aufnehmen.“ Ich nickte. Sie ließ sich neben mir mit ihrer Pizza nieder und aß ein Stück. „Iss schon.“, sagte sie und deutete auf mein angebissenes Stück Pizza. Mein besorgter Blick schien mich zu verraten. „Hey Lia. Sie werden deine Eltern finden. Wenn du möchtest, kannst du solange bei uns schlafen. Dann bist du nicht so alleine.“ Ich biss ein kleines Stück von meiner Pizza ab. „Nein, ich möchte hier bleiben.“ Sie nickte. Mila verstand mich sehr gut und wusste daher auch ohne weitere Erklärungen, wieso ich zuhause bleiben wollte. Zuhause fühlte ich mich am Wohlsten. Wenn ich nun auch noch woanders schlafen müsste, würde ich wahrscheinlich nicht mehr alleine klar kommen.

 

Als die Polizei eintraf, hatte ich von meiner Pizza ein Viertel gegessen. Zu mehr war ich nicht in Stande und auch Mila hatte mich nicht gedrängt, mehr zu essen. Mila hatte die beiden Polizisten ins Wohnzimmer gelotst und dort saßen sie jetzt mir gegenüber wie bei einem Verhör. Oft ermahnte ich mich, dass dies alles meinen Eltern hilft. Sie fragten mich, wo meine Eltern zur Geschäftsreise waren, wer mit ihnen Kontakt hatte und wann ich zuletzt etwas von ihnen gehört hatte. Nach circa einer Stunde hatten sie dann alle notwendigen Informationen. Sie verabschiedeten sich und versicherten uns, dass sie morgen früh sofort mit der Suche beginnen würden. Nach dem die Polizei gegangen war, war ich erleichtert. Ich empfand diese ganze Prozedur als seelische und vor allem nervliche Belastung. Natürlich half ich damit, meine Eltern schnellstmöglich wiederzufinden. Trotzdem strapazierte es meine Nerven sehr. Ich wollte danach nur noch schlafen. Wie es morgen weitergehen würde, wusste ich noch nicht. Mila verabschiedete sich eine Weile später, nachdem sie sich gehen konnte, dass ich mich in einem stabilen mentalen Zustand befand. Nachdem sie schlussendlich gegangen war, legte ich mich in mein Bett. Es dauerte knapp drei Stunden bis ich eingeschlafen war. Wobei man das nicht wirklich Schlaf nennen konnte.  

 

Verloren

 

Die Polizei hatte die Suche nach meinen Eltern eingestellt. Ein Jahr war es nun her, dass meine Eltern nicht nach Hause gekommen waren. Sie fanden keine Spur von ihnen. Die Polizei konnte alles genau nachkonstruieren, dennoch blieben meine Eltern auf unerklärliche Weise verschwunden. Es schmerzte mich jedes Mal, wenn ich daran dachte, meine Eltern nie wieder zu sehen. Das Unerträgliche war jedoch nicht ihre Abwesenheit, sondern die Ungewissheit. Lebten sie noch? Würden sie irgendwann wieder zu mir, ihrer Tochter, zurückkehren? Oder war ihnen etwas Schlimmes zugestoßen? Wurden sie ermordet? Als diese Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Jeden Tag dachte ich an meine Eltern und betete, dass es ihnen gut gehen würde. Ich war ca. einen Monat nach Verschwinden meiner Eltern krankgeschrieben. Mila und Alea hatten dafür gesorgt, dass ich alle wichtigen Unterlagen aus der Schule erhielt und mit dem Schulstoff immer aktuell blieb. Nach diesem Monat traute ich mich dann wieder in die Schule zu gehen. Meine Noten waren zu Beginn zwar erwartet schlecht, aber nach einem Monat Abwesenheit in der Schule war es nicht anders zu erwarten. Matthew hatte seinen Abschluss gemacht und war nach Denver gegangen. Wir hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen, obwohl er genau wusste, was passiert war. Ich trauerte dem nicht nach, denn meine Eltern waren mir wichtiger als die Trennung von ihm. Es hätte ihm wichtig sein müssen, nach meinem Wohlbefinden zu fragen, aber dies hielt er nicht für nötig. Zu Mila und Alea hatte er weiterhin guten Kontakt. Manchmal fühlte ich mich ausgegrenzt, aber weder Alea noch Mila konnten etwas dafür. Sie saßen zwischen zwei Stühlen und so hätte es an ihm oder an mir gelegen, die Wogen zwischen uns zu glätten. Nun befanden wir uns im Abschlussjahr. Das bedeutete: lernen, lernen, lernen. Ich hatte im vergangenen Jahr oft darüber nachgedacht, ob ich die Schule abbrechen sollte und mir einfach einen Job suchen sollte. Doch im tiefsten Inneren wusste ich genau, dass meine Eltern mit solch einer Entscheidung meinerseits nicht glücklich wären. Daher entschied ich mich dazu, die Schule zu beenden. Momentan waren Frühlingsferien. Alea und Mila waren beide mit ihren Familien verreist. Beide hatten mich gefragt, ob ich mitkommen wollte, allerdings entschied ich mich bewusst dagegen. Erstens wollte ich den Beiden ihren Familienurlaub nicht versauen und zweitens tat es mir auch mal wieder ganz gut, einfach nur zuhause zu sein. Nachdem ich wieder in die Schule gegangen war, hatte ich ebenfalls wieder mit dem Zaubern begonnen. Das Grimoire konnte ich mittlerweile auswendig. Vielleicht konnten meine Eltern darauf stolz sein.

 

Ich saß auf der Terrasse, die sich auf der Rückseite unseres Hauses befand und genoss das schöne Wetter. Um diese Uhrzeit lag die Terrasse zwar im Schatten, aber mir machte das nichts aus. Ich mochte zwar warmes Wetter, hielt mich aber lieber im Schatten als in der Sonne auf. In meinem Schoß lag ein Roman, den ich momentan las. Es war nichts Spektakuläres, nur ein kleiner Krimi aus einem Supermarkt. Auf dem Tisch neben mir standen eine warme Tasse Cappuccino und ein kleiner Teller mit einem Brownie. Die Vögel zwitscherten in den Baumkronen des kleinen Waldes. Am Himmel tummelten sich kleine, weiße Schäfchenwolken.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 15.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /