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Für alle,
die den Sinn des Lebens noch suchen.

Die, die ihn schon gefunden haben.

Und die, die ihn nie mehr finden werden.

 

1. Kapitel

 Ich hieß Jessica Weddington,
bis zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Jetzt, wo du das hier liest, muss es mindestens vier Jahre her sein.
Es war kein Unfall und womöglich sagen Einige, es war Zufall, dass es ausgerechnet mich traf. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es so kommen musste.
Und es hat Vielen die Augen geöffnet.
Vielleicht haben sie, nach alles was passiert ist, angefangen darüber nachzudenken.
Es war nicht immer so leicht, aber was nützt es, das zu sagen, wenn niemand weiß, worum es geht.
Hier ist also meine Geschichte. Vollständig. Manchmal unter Tränen, manchmal mit einem Lächeln auf den Lippen, erzählt. Aber auf jeden Fall, jedes einzelne Wort für sich, wahr!


Ich saß in meinem Zimmer und sah aus dem Fenster. Es war draußen höchsten minus zwei Grad und es schneite kontinuierlich. Ich genoss den Augenblick. Den schönen Ausblick und die Stille. Unbemerkt liefen mir Tränen übers Gesicht. Mitten in die Stille und den wunderschönen Augenblick hinein, klingelte mein Handy.
Ich seufzte und drehte mich zu meinem Bett um, auf das ich mein Handy gelegt hatte und griff danach. der Bildschirm leuchtete auf und in schwarzer Schrift erschien:"Eine neue Mitteilung von Sven".
Er war mein Freund. Ich musste leicht lächeln, als ich die Nachricht las.
Hey Schatz.
Können wir uns in einer Viertelstunde vorm Café treffen?
Ich muss mit dir reden :*

 



Gelegentlich war er einfach nur süß, aber das hätte er selbst nie zugegeben.
Ich rief ihn also an und an seiner Stimme hörte ich, dass er etwas schockiert über meinen Anruf war.
Trotzdem versuchte er, sich nicht anmerken zu lassen.
als wir fünf Minuten telefoniert hatten, ich zugesagt hatte, aber er mir immer noch nicht verraten hatte, warum er sich treffen wollte, legte ich auf und beschloss nicht zu dem Treffen zu gehen.
Wir hatten uns zwar für 18 Uhr verabredet, aber es war ein herrlicher Wintertag und ich war mir sicher, es konnte nichts Gutes verheißen, wenn Sven mir den Grund für unser Treffen nicht nennen wollte.
Ich hatte nicht vor unsere Beziehung aufs Spiel zu setzten und wollte ihm so eine Chance geben, es zu überdenken.
Vielleicht war das der Fehler meines Lebens, denn so fing alles an!
Ich setzte mich auf die Fensterbank und schaltete leise Musik ein.
Es harmonierte alles perfekt miteinander. Die Musik, der lautlos fallende Schnee und die Kälte.
Mir kam eine Frage in den Sinn, die sich womöglich vorher noch nie jemand gestellt hatte.
Warum fällt Schnee eigentlich lautlos? <<
Die Physiker hätten mir diese Frage bestimmt jetzt mit unzähligen Formeln begründet, die nur für sie verständlich sind.
Aber ich war mir sicher, dass mehr dahinter steckte, als nur das.
Und ich war mir ebenfalls sicher, dass es der Sinn meines Lebens war, es herauszufinden.
Aber wo? Wen könnte ich fragen?
Ich musste es zweifelsohne selbst herausfinden, wenn ich es wissen wollte. Ich würde das vermutlich zu meiner Lebensaufgabe machen.

Die Zeit verging und die Frage ging nicht mehr aus meinem Kopf.
Sie hatte sich dort fest verankert und ich konnte nur noch über diese eine Frage nachdenken.
Sie war sehr bedeutend für mein weiteres Leben, doch das konnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen.
Sie war mehr oder weniger der Anfang vom Ende.

 

2. Kapitel

 

Ich hatte unser Treffen schon lange vergessen,
als es an der Tür schellte und es schon wieder Sven war, der meine Ruhe und Harmonie störte.
Meine Mutter öffnete ihm die Tür und wies ihn den Gang entlang zu meinem Zimmer.
Er klopfte kurz an, aber als ich nicht antwortete, kam er einfach herein.
Ich saß immer noch auf der Fensterbank und sah, wie weggetreten, aus dem Fenster.
Ich drehte mich gar nicht erst zu ihm um.
Seine Stimme war kalt, aber intensiv und bis zu diesem Zeitpunkt, hatte ich mich kaum an ihren Klang erinnern können, da sie am Telefon nicht mal halb so schön klang.
Als er langsam auf mich zu kam und leise "Hey" sagte, kamen mir fast die Tränen.
Es war nur dieses eine Wort.
Und bei jedem Anderen hätte ich es bedeutungslos gefunden, aber nicht bei Sven.
Worte von Sven brachten mich oft zum weinen.
Nicht immer beabsichtigt.
Seine Worte trafen mich so kalt und doch so gut gemeint, nie darauf aus mich zu verletzten.
Er stand wenige Minuten später hinter mir und strich mir behutsam über die Haare.
Dann bemerkte er meine Tränen.
Er wischte sie sanft weg und sagte: "Lass uns reden."
"Worüber?" wollte ich fragen, doch stattdessen nickte ich nur und wandte mich ihm zu.
Ich sagte kein Wort und wartete darauf, dass er sprach.
Nach langem Schweigen, das mir unendlich schien, begann er schließlich zu reden.
Er sah mich nicht an. Es war als spräche er mit dem Boden, als er über die vergangenen Wochen und Monate sprach, die wir zusammen verbracht hatten.
Erst zum Schluss, als er sagte: "Ich kann das nicht mehr, Jessi. Ich kann das einfach nicht mehr. Ich mach Schluss" sah er mich an und ich sah, dass er selbst unter seinen Worten litt. Zu meiner Überraschung, weinte er sogar. Ich hatte ihn noch nie zuvor weinen sehen und es kam mir vor, als wäre er auf einmal noch verletzlicher als ich es war.
Schließlich drehte er sich um und verließ, schnell und ohne ein weiteres Wort, die Wohnung.
Ich stand alleine und geschockt in meinem Zimmer, obwohl ich damit gerechnet hatte.
Das Einzige was mich schockte war, dass er mir keinen Grund genannt hatte.
Ich war mir in dem Moment so sicher wie noch nie, dass er nie wieder zurückkommen würde.

3. Kapitel

Ich konnte das Bild nicht vergessen, wie Sven, wahrscheinlich das letze Mal in seinem Leben, diese Wohnung verließ.
Und die Frage über den Schnee kam mir plötzlich wieder in den Sinn.
Ich würde Sven vermissen, aber ich würde es ebenfalls nie verstehen.
Diesen Moment, wie er durch diese Tür gegangen war.
So offensichtlich und vollständig.
Zurückgelassen hatte er nichts, bis auf seine Tränen, die mittlerweile in dem alten Teppichboden festgetrocknet waren.
Meine beste Freundin hätte mir jetzt gesagt, dass alle Männer gleich sind und ich ihn und sowieso alle Männer vergessen sollte.
Aber in der Beziehung unterschieden wir uns wohl. Ich konnte Sven nicht so einfach vergessen und außerdem war ich fest davon überzeugt, dass nicht alle Männer gleich sind und ich eines Tages den Richtigen finde. Aber das war im Moment schwer zu glauben.
Ich regte mich also nicht über Sven auf. Ich weinte nur, aber ich versuchte den Schmerz auszuschalten. Ich setzte mich wieder auf die Fensterbank und lauschte still schweigend der Musik.
Es schneite immer noch und ich hätte mir gewünscht, es hätte nie mehr aufgehört.
Ich konzentrierte mich einzig und allein auf die Frage, warum der Schnee lautlos fällt, aber ich konnte Sven nicht vergessen.
Ich erwischte mich immer wieder dabei, wie ich unbewusst an ihn dachte.
Ich würde jede Pause auf dem Schulhof an ihm vorbeigehen und es trotzdem niemals verstehen. Warum?
Ich hatte so viele Monate mit ihm verbracht, in denen wir glücklich waren und jetzt zerbrach alles von einer auf die andere Sekunde.
Nicht in einem Streit, nicht wegen irgendeiner Auseinandersetzung.
Einfach so, ohne Vorwarnung und ohne Grund.
Das war das Unverständlichste, was mir jemals passiert war.
Und als ich so aus dem Fenster auf die verschneite Straße sah, lief er da entlang und drehte sich noch einmal um.
Er sah hoch zu meinem Fenster und es war, als würde er mich gar nicht bemerken.
Das Feuer, das einmal in seinen Augen geleuchtet hatte war durch seine Tränen erloschen.
Tränen liefen über sein Gesicht und betonten das Blau seiner Augen.
Dann drehte er sich um und ging.
Ich verspürte ein Stechen im Magen und wusste, dass ich dieses Bild ebenfalls nie vergessen würde.
Ich wollte ihm nicht mehr hinterher schauen.
Ich konnte nicht.
Es brach mir das Herz. Ich wandte mich vom Fenster ab.
Weinend, ohne jemals den Grund für diese Trennung zu kennen.
Ohne jegliche Erklärung. Scheinbar alleine auf der Welt.

4. Kapitel

 

Plötzlich stürzte meine Mutter in mein Zimmer und holte mich zurück in die Realität.
Ich erinnerte mich daran, dass ich eben doch nicht alleine auf der Welt war.
Gelegentlich war das wohl auch ein Nachteil.
Aber ich war es längst gewohnt, dass sie immer in den unpassendsten Momenten meines Lebens einfach hereinstürmte.
Ebenfalls war ich bereits damit vertraut, dass sie immer betrunken war.
Auch jetzt.
Jeden Tag, seit dem Tod meines Vaters.
Das war jetzt vier Jahre her.
Sie sprach seitdem auch keinen einzigen Satz mehr mit mir.
Nur noch einzelne Wörter.
Zwischendurch meldete sich das Jugendamt, weil die ja unglücklicherweise anscheinend alles mitbekamen.
Aber ich versicherte ihnen immer, dass alles in Ordnung sei.
Sie wollten ein paar Mal meine Mutter sprechen, aber ich ließ mir immer eine passende Ausrede einfallen.
Bis zu diesem einen Tag.
Ich hatte bis dahin immer für mich und meine Mutter gesorgt.
ich hatte ja keine Geschwister.
Allerdings litten meine Schulnoten erheblich daran, dass ich den ganzen Haushalt schmiss.
Aber an diesem einen Tag stand das Jugendamt vor der Tür.
Ich weiß es noch ganz genau, es war der 11. November.
Es war ja vorhersehbar gewesen, dass sie sich nicht ewig gedulden würden.
Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie eines Tages doch meine Mutter sprechen wollten, aber so bald hatte ich dann doch noch nicht mit ihnen gerechnet.
Sie standen so plötzlich und unangekündigt vor der Tür.
Sie wollten hereinkommen, doch ich sagte meine Mutter sei nicht zuhause.
Sie schienen mir nicht zu glauben.
Das war offensichtlich.
Ich konnte nicht besonders gut lügen. Sicherlich sah man es mir an.
Der eine von ihnen nutzte die Gelegenheit, als ich die Tür kurz einen kleinen Spalt aufmachte, und stellte seinen Fuß dazwischen. Ich wusste, dass ich verloren hatte.
Sie wurden jetzt ungeduldig, da ich nicht aus dem Weg ging.
Sie schubsten mich einfach zur Seite und kamen gewaltsam herein.
Ich schrie sie an, doch das schien sie nicht zu stören.
Sie suchten im ganzen Haus nach meiner Mutter und fanden sie schließlich betrunken in einer Ecke.
Ich spielte mit dem Gedanken die Polizei anzurufen und sie wegen Hausfriedensbruch anzuzeigen, aber wir alle wussten, dass es keinen Zweck gehabt hätte.
Sie packten meine Mutter und erklärten mir, sie müssten sie in eine Entzugsklinik bringen und mich zwangsläufig in ein Kinderheim stecken.
Ich konnte mich nicht dagegen wehren und ich hatte auch längst große Zweifel, dass es das wert war, meine ganze Kraft dafür aufzuwenden.

5. Kapitel

 

Wir kamen nach circa einer halben Stunde am Kinderheim an.
Obwohl ich es total überflüssig fand, sollte ich hier bleiben,
bis meine Mutter clean war.
Ich konnte eigentlich auf mich selbst aufpassen, außerdem wäre sie ja sicher nicht ewig in der Entzugsklinik.
Aber, dass ich das hier alles mitmachen musste, war einzig und allein sie schuld!
Dafür würde ich sie sicher einige Zeit hassen.
In einem Monat war Weihnachten und da wollte ich unbedingt wieder zu Hause sein.
Hier würde ich es sicher nicht lange aushalten.
Es gab nur zwei Personen in meinem Alter.
Ein Mädchen und einen Jungen.
Zuerst nahm ich an, er wäre ihr Freund, aber wie sich herausstellte, war er ihr Bruder.
Er hieß Bryan, hatte blonde Haare und meerblaue Augen, was ich allerdings nur schwer erkennen konnte, da er die ganze Zeit auf den Boden schaute.
Er war sehr schüchtern gegenüber Mädchen, wie ich, im Laufe der Zeit, bemerkte.
Seine Schwester Lucy war das Gegenteil. Sie war sehr aufgeschlossen, hatte schwarze Haare mit lilafarbenen Strähnchen und braune Augen. Sie sahen sich nicht wirklich ähnlich und darum war ich etwas überrascht, dass sie tatsächlich Geschwister waren.
Bryan erschien mir sehr interessant. Ich wollte ihn gerne näher kennenlernen.
Ich brachte meine Sachen auf mein Zimmer, nachdem sich mir etliche Betreuer/innen und Kinder vorgestellt hatten.
Obwohl sie alle sehr gastfreundlich waren, spürte ich, dass ich nicht hier hin gehörte.
Sie waren alle so...anders als ich.
So fröhlich und ich war irgendwie das Gegenteil. Meistens schlecht drauf...
Außer Bryan er war anders. Die Fröhlichkeit der Menschen, um ihn herum, holte ihn, genauso wenig wie mich, ein.
Am Abend, als ich ins Bett ging, dachte ich nochmal über den Tag nach.
Neben meinem Bett stand auf dem Nachttisch ein Foto, auf dem meine Mutter mit meinem Vater und mir zu sehen war.
Ich nahm es in die Hand, drückte es fest an mich und begann leise zu weinen.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hielt ich das Foto immer noch im Arm und hatte auch noch immer Tränen in den Augen.
Ich ging zum Spiegel, meine ganze Mascara war verwischt und ich sah schrecklich aus.
Es klopfte an meiner Zimmertür.
"Wer ist da??" fragte ich leicht genervt.
"Bryan!" hörte ich eine leise Antwort.
Ich kannte ihn zwar nicht richtig, aber er sollte mich nicht so sehen.
Ich versuchte die Mascara abzubekommen, aber, dass sie wasserfest war, machte es nicht gerade leichter.
Bryan fragte: "Kann ich reinkommen??" und da ich keinen anderen Weg sah, sagte ich einfach "Ja!"
Wenige Sekunden später stand er in meinem Zimmer und sah mich schockiert an.
Ich war es bereits gewöhnt, dass andere doofe Kommentare über mich abgaben und rechnete damit, dass er das auch tun würde.
Er ließ es bleiben und fragte, zu meiner Überraschung sehr verständnisvoll: "was ist los?? Alles klar bei dir?"
Zuerst sah ich ihn erstaunt an und sagte nichts, aber nach gefühlten fünf Minuten, brachte ich doch noch ein: "Mir geht's nicht so gut" heraus.
Er fragte nicht nach, was los war. Das enttäuschte mich ein bisschen, obwohl ich eh nicht hätte drüber reden wollen.
Er fragte nur, ob er sich setzen dürfte. Ich nahm ein paar Sachen von meinem Bett und sagte: "Klar!"
Er nickte nur und nahm Platz.
Ich wollte nicht unhöflich sein und setzte mich zu ihm.
"Wie geht's dir?" fragte ich und versuchte währenddessen immer noch die Mascara abzubekommen.
"Naja...!", sagte er "es ist schon okay."
Ich war neugierig, warum er gekommen war, aber wollte irgendwie auch nicht nachfragen.
Das erschien mir so unhöflich und abweisend.
Wir redeten eine Weile über Belangloses.
Auf einmal fragte er etwas, das mich schockte...

"Warum bist du eigentlich hier?? Du siehst so aus, als wenn in deiner Familie alles gut wäre!" Ich wusste, dass er log, als er das sagte. Ich sah aus, als hätte ich Tage lang geheult und als wäre etwas Schreckliches passiert!
"Ähmm...tja, wie man sich so täuschen kann" meinte ich.
Ich atmete tief durch und fügte dann hinzu: "Meine Mutter ist Alkoholikerin und mein Vater ist…tot."
"Das...tut mir leid." sagte Bryan betroffen.
"Brauch es nicht", meinte ich, schon fast wieder unter Tränen "es geht ihm, dort wo er jetzt ist, sicher besser, als zu Lebzeiten." Dann stand ich auf und rieb mit dem Abschminktuch meine Augen so fest, dass sie rot waren und weh taten. Aber die Mascara ging endlich ab.
Ich versuchte zu lächeln, aber es viel mir schwer.
Ich hatte lange nicht mehr gelächelt, denn bei uns zu Hause war das unheimlich schwierig.
Seit mein Vater vor vier Jahren gestorben war, hatte sich alles drastisch verändert.
Meine Mutter und ich sprachen nicht mehr viel miteinander, sie trank nur noch und sie wurde für mich langsam wie eine Fremde.
Sie schnitt sich völlig von der Außenwelt ab, aber das alles verheimlichte ich Bryan.
Ich kannte ihn noch nicht lange und er musste nicht alles wissen.
"Warum bist du eigentlich gekommen?" fragte ich schließlich doch, in die Stille hinein.
"Ich wollte heute Nachmittag in die Stadt und wollte fragen, ob du mitkommst?!" meinte er und sah schon wieder zu Boden.
"Nimm doch deine Schwester mit!" antwortete ich und bemerkte zu spät, dass es einen leicht abweisenden Tonfall hatte und hoffte, dass er es nicht gemerkt hatte.
Allem Anschein nach doch, denn er antwortete:"Sie kann nicht...sie verlässt das Haus nie! Obwohl sie sonst so aufgeschlossen ist, ist sie in der Beziehung anders. Aber es macht nichts! Wenn du nicht willst, bleib ich auch hier. Wir könnten zusammen Karten oder Schach spielen?!". Ich meinte etwas Trauriges in seiner Stimme gehört zu haben.
"Nein, wenn das so ist komme ich gerne mit." sagte ich und hoffte, dass er es als Entschuldigung für eben ansah.
Er lächelte, nickte und verabschiedete sich dann.
Er fragte mich noch, ob ich mit zum Frühstück käme, aber ich versprach nachzukommen.
Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, sah ich ihm hinterher.
Ich lächelte...Das erste Mal, seit langer Zeit!

6. Kapitel

Er war so süß und unbeholfen, immer darauf bedacht, nichts Falsches zu sagen. Er erinnerte mich irgendwie an mich selber und das machte ihn mir so sympathisch. Bryan gab mir irgendwie das Gefühl zurück, dass alles einen Sinn hatte und ich wirklich gemocht wurde.

 

Ich ging zum frühstücken nach unten. Als ich den Raum betrat, starrten mich alle an und schlagartig wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich immer noch rote Augen vom Abschminken hatte und total fertig aussah.

Ich tastete den Raum mit meinen Augen suchend nach Bryan und seiner Schwester ab. Ich fand ihn schließlich auch, aber sie war nicht zugegen. Neben ihm war ein Platz frei und als er bemerkte, dass ich ihn ansah, lächelte er mir kurz zu und deutet mit einem kurzen Blick zum Stuhl an, dass der Platz frei sei und ich mich setzen solle.

Ich ging langsam zum Stuhl und setzte mich, ohne mich darauf zu konzentrieren, dass mich immer noch alle anstarrten.

Als ich endlich anfing zu essen, konzentrierten sich wieder alle auf ihr Frühstück, als wäre nichts gewesen. Bryan und ich aßen still unser Frühstück und sagten kein Wort. Insgesamt sagte niemand etwas.

 

Nach dem Essen ging ich in die Küche, um meinen Teller abzuspülen, als mich meine Betreuerin ansprach, ob alles in Ordnung sei.

Ich antwortete mit einem kurzen aber bestimmten Nicken. Sie versuchte ein Gespräch anzufangen, da sie sich anscheinend wirklich Sorgen machte, aber ich war nicht in Stimmung, um das in der Küche auszudiskutieren.

 

Umso gelegener kam es mir, als Bryan plötzlich neben mir stand und mich darauf ansprach, dass wir in die Stadt wollten. Eigentlich wollten wir ja erst heute Nachmittag dahin fahren, allerdings hatte er anscheinend bemerkt, dass ich kein Interesse an einem "Seelsorge"-Gespräch mit meiner Betreuerin hatte und von daher hatte er die Situation gerettet. Ich grinste meine Betreuerin kurz an, nickte einmal und meinte sarkastisch:“Danke. War nett mit Ihnen zu quatschen, aber ich muss jetzt leider los.“

Dann ging ich, um meine Tasche aus dem Zimmer zu holen und mit Bryan in die Stadt zu fahren.

 

Anfangs kaufte er einige Sachen ein, bei denen ich mich fragte, ob er sie wirklich benötigte.

Ich holte mir schließlich einen Kaffee und dann setzten wir uns in den Park.

Der Schnee begann langsam zu tauen und es war allgemein wärmer geworden. Trotzdem und trotz des heißen Kaffees fror ich.

Ich hätte mir gewünscht, Bryan hätte mich in den Arm genommen. Aber es passierte nichts. Er blieb distanziert und starrte stumm auf den zugefrorenen Teich, so als nähme er mich gar nicht war.

Also trank ich meinen Kaffee und irgendwann brach ich die Stille einfach, indem ich ihm die allesentscheidende Frage stellte:“Warum fällt Schnee lautlos?“

Als hätte ich ihn aus seiner Trance gerissen sah er mich verwirrt an und fragte nur entsetzt:“Wie bitte?!“

Da ich nun etwas verunsichert war, fragte ich vorsichtig nach:“Was denkst du? Warum fällt der Schnee lautlos?“. Er warf mir einen nachdenklichen Blick zu, dann antwortete er:“Vielleicht fällt er gar nicht lautlos“. Dass dieser Satz prägend für mein weiteres Leben war, konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht ahnen. Er regte mich in dem Moment lediglich zum Nachdenken an, womit das Gespräch tot war.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens, fing ich das nächste Gespräch an. Es kostete mich ehrlich gesagt etwas Überwindung, da er bei dem letzten Thema anfänglich sehr verstört reagiert hatte. Ich fragte ihn, warum seine Schwester das Haus nie verließ, aber er fand keine Antwort auf die Frage. Damit das Gespräch nicht wieder verstummte, fragte ich ihn, wieso sie ihm überhaupt nicht ähnlich sah, obwohl sie seine Schwester war.

Er antwortete, als wäre er gedanklich ganz woanders:“Keine Ahnung, wir haben nicht die Augenfarben wahrscheinlich von dem jeweils anderen Elternteil geerbt und Lucys Haare sind gefärbt“. Ich wunderte mich zwar, da sie sicherlich nicht blond war von Natur aus, aber ich sagte nichts. Er klang immerhin bei der vorherigen Frage schon leicht genervt und zudem abwesend, also wollte ich ihn nicht weiter nerven.

 

Nachdem ich meinen leeren Kaffeebecher in einem der hässlichen grünen Park-Mülleimer entsorgt hatte, gingen Bryan und ich wie selbstverständlich zum Bus zurück, um zum Heim zu fahren. Es war inzwischen später Nachmittag, da wir einige Stunden im Park verbracht hatten.

Als wir im Bus saßen, nahm Bryan unerwartet meine Hand. Ich wehrte mich nicht und so hielten wir Händchen bis zu der Haltestelle, an der wir ausstiegen.

Da ließ er meine Hand wieder los, starrte mich eine gefühlte Ewigkeit an und küsste mich schließlich einfach. Seine Lippen waren kalt, aber es fühlte sich schön und irgendwie auch richtig an, sie auf meinen zu spüren. Ebenfalls genoss ich es, wie er mit seiner Zunge nach meiner suchte um sie zärtlich zu umspielen.

Als er von mir abließ, blieb ich trotzdem einen Moment fassungslos vor ihm stehen, bevor ich in der Lage war, etwas zu tun oder zu sagen.

Er fing an zu lachen. Wahrscheinlich weil ich so dumm guckte. Dann nahm er wieder meine Hand und ging stumm mit mir zurück zum Heim. Er brachte mich zu meinem Zimmer. Vor der Zimmertür blieben wir stehen. Er sah mich einen Moment einfach an, dann sagte er ruhig:“Sie ist meine Ex-Freundin“. Ich verstand nicht wirklich, wovon er sprach, deshalb sah ich ihn verwirrt an und fragte:“Wer?“. „Lucy…“ folgte prompt die Antwort auf meine Frage.

Mein Gesichtsausdruck wechselte schlagartig von Verwirrung in Entsetzen.

„Du hattest was mit deiner Schwester?!“ brachte ich verstört hervor. „Nein, nein…Sie ist nicht meine Schwester, sondern lediglich meine Ex-Freundin, oder besser gesagt: Ex-Verlobte“.

Obwohl ich einerseits erleichtert war, dass er keine Beziehung mit seiner Schwester hatte, war ich jetzt nur noch überaus schockiert, dass sie verlobt waren.

Überaus entsetzt war ich aber auch darüber, dass er es mir nicht gesagt und stattdessen einfach mit mir rumgeknutscht hatte. Ich war sehr wütend auf ihn. Er schien es zu bemerken und wartete auf meine Reaktion. Schließlich lächelte er mich an, kam auf mich zu und versuchte, mich erneut zu küssen. Ich hingegen war immer noch wütend und gab ihm daher reflexartig eine Backpfeife, drehte mich dann um und verschwand in mein Zimmer.

 

Immer noch fassungslos ließ ich mich an der Tür herabsinken und zu meiner Verwunderung kamen mir die Tränen. Schließlich fing ich unaufhaltsam an zu weinen. Ich fühlte mich belogen und ausgenutzt und irgendwie auch betrogen. Warum eigentlich? Was hatte ich erwartet? Dass er mich wegen einem Kuss gleich heiraten würde? Er konnte doch machen, was er wollte und mit wem. Wir waren ja schließlich nicht mal zusammen.

 

Nur ganz plötzlich vermisste ich mein Zuhause, meinen Vater, meine alkoholkranke Mutter, mein Zimmer und einfach alles in meiner alten Umgebung. Ich fühlte mich alleine gelassen, vollkommen benutzt und von niemandem geliebt. Und im Prinzip war meine Mutter mehr oder weniger an allem Schuld…

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Tag der Veröffentlichung: 10.01.2012

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