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„Bin ich nicht gut, Onkel Pepe?“, fragte der Kleine mit seiner fiepsigen Stimme.
„So ein Quatsch, Kleiner! Du bist der netteste kleine Scheißer, den ich kenne.“ Pepe sprach die Wahrheit, er kannte zwar nicht viele kleine Scheißer, woher auch, doch dieser war ihm ans Herz gewachsen. Pepe war sehr vergesslich geworden, die Knochen taten ihm weh, sein Appetit war nicht mehr so gut wie früher und seine Verdauung erst recht nicht. Früher... ja da hatte er jede Menge gekochten Schinken gefuttert und jede Menge Hähnchenbrust – hach, wie lecker! Doch jetzt konnte sein Magen fast nichts mehr bei sich behalten, und alle Zähne taten ihm weh.

„Aber warum ist sie dann weggegangen?“

Ach, das war es! Pepe wand sich innerlich, denn keiner wusste, warum die Mutter von dem kleinen Scheißer abgehauen war. Vielleicht wurde sie überfahren oder sie war plötzlich krank geworden. Alles ziemlich unwahrscheinlich, denn in dieser Gegend fuhren die Autos nicht schnell genug, um jemanden überfahren zu können, sogar ein langsamer Kater wie Pepe konnte gemütlich über die Straße laufen und den Autos eine Stinkepfote zeigen. Natürlich ging er kaum noch hinaus, sondern lag fast nur noch auf der warmen Fensterbank mit der kuscheligen Decke. Die Menschin hatte sie ihm hingelegt. Wo war er? Ach ja, und das mit der Krankheit? War natürlich auch möglich, aber sooo schnell? Wird jemand so schnell krank und wird dann sooo schnell weggebracht? Pepe wusste es nicht.
„Sie ist bestimmt nicht absichtlich weggegangen, Kleiner“, sagte er schließlich, bevor die Müdigkeit ihn übermannte oder besser gesagt überkaterte. Er merkte nur noch, dass der Kleine sich zu ihm gelegt hatte und sich an ihn kuschelte. Das arme mutterlose Eischhörschen...

Eischhörschen... Pepe träumte die Vergangenheit, träumte vom letzten Jahr, als er Squirrel und Cooney kennenlernte, Squirrel, das Eichhörnchen mit Sprachfehler und Tanzfimmel, und Cooney, den Waschbären mit Waschzwang. Man arrangierte sich gut, fraß gemeinsam Katzenfutter, es war lustig und amüsant mit den beiden, und die Menschin mochte sie auch, vor allem den ‚putzigen’ Waschbären... Dann verliebte sich Squirrel. Und wie! Das Mädel war natürlich außergewöhnlich und vor allem ganz anders als Squirrel. Der Tanzkünstler Squirrel schien absolut unfähig, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er hatte keine weich gepolsterte Baumhöhle, und er hatte auch keine Vorräte für den Winter gesammelt und irgendwo versteckt. Alles in allem war er keine gute Partie für ein Eichhörnchenmädchen. Aber das kümmerte Feh nicht. Feh war ein schönes Mädchen von wunderbar roter Farbe und mit einem fantastischen Schwanz ausgestattet. Ein ernsthaftes kleines Ding und bar jeder Koketterie, und sie mochte Squirrel, diesen Künstler unter den Eichhörnchen, sie sah etwas in ihm, was wohl noch keine vor ihr gesehen hatte. Wie auch immer, die beiden richteten sich auf dem Zedernbaum vor Pepes Haus gemütlich ein, und es gab Nachwuchs: Vier kleine Eichhörnchen, drei davon waren schnell erwachsen, sie hauten ab und suchten sich nach Eichhörnchenart ein eigenes Revier. Aber das vierte Junge war ein bisschen sehr klein geraten. Keiner hätte ihm Überlebenschancen zugetraut, aber Feh und Squirrel kümmerten sich Tag und Nacht um den Winzling, und allmählich sah er nicht mehr aus wie ein nacktes Ding mit hervorquellenden Augen, sondern wie ein richtiges Eichhörnchen, allerdings ein sehr winziges Eichhörnchen.

Doch dann verschwand Feh von einem Tag auf den anderen. Alle waren zuerst verwundert, man rechnete damit, dass das Mädel sich verlaufen oder vielmehr versprungen hatte, aber Feh war doch so ein gewissenhaftes Ding, das keinerlei Risiken einging, und als sie nach einer Woche immer noch nicht zurück war, da schlug die Verwunderung in Entsetzen um. Man versuchte, den allein gelassenen Squirrel zu trösten – aber Squirrel war total fertig, er hatte Feh so geliebt, er hatte sein Leben für sie geändert, und es war ihm noch nicht einmal schwer gefallen, das zu tun. Aber was war passiert? Niemand in der Gegend wusste von ihr, niemand hatte sie seit jenem Tag mehr gesehen. Sie war spurlos verschollen, ohne jede Spur.

Without a trace, träumte Pepe, das hatten sie sich gemeinsam immer angeschaut, Pepe, Cooney, Squirrel, Feh und in der Mitte weich und warm gelagert der kleine Scheißer, der Winzling...

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Without a trace... Auch Waschbär Cooney dachte an Feh, er polierte gerade ein Weinglas, als der Kleine sich zu ihm gesellte. Cooney seufzte auf, stellte das Weinglas zur Seite und band sich die Schürze, die er sich von einem kleinen Mädchen aus der Nachbarschaft ‚geliehen’ hatte, ein wenig fester um.

„Onkel Pepe schläft“, berichtete der Kleine mit seiner fiepsigen Stimme.
„Er ist alt und wird es wahrscheinlich nicht mehr lange...“ Cooney verkniff sich die letzen Worte, denn er wollte den Kleinen nicht noch mehr beunruhigen. Der Kleine war ja fürchterlich daneben, seit seine Mutter verschwunden war. Und Squirrel war zwar lieb und nett und vor allem total vernarrt in den Kleinen, aber die Mutter konnte er ihm wohl nicht ersetzen. Er bemühte sich zwar sehr, versuchte den Kleinen an ein Leben draußen zu gewöhnen, und das hieß: Squirrel musste ein Winternest im Baum anlegen, Squirrel musste Nüsse und Eicheln sammeln für den Winter und sie irgendwo verstecken, wo man sie wiederfinden konnte. Squirrel musste alles tun, wozu er eigentlich keine Lust hatte. Cooney empfand größten Respekt für Squirrel, der ja in Wirklichkeit ein Künstler war. Wie er die große Squirrel-Welle getanzt hatte, halsbrecherisch von Ast zu Ast, welch wundervolles Erlebnis...

„Wohin geht Onkel Pepe denn dann?“

Cooney fluchte innerlich. Diese Kinder mussten einen immer nach den unmöglichsten Sachen ausfragen.
„Onkel Pepe weiß“, begann er vorsichtig, „dass man von den Menschen weggebracht wird an einen Ort, an dem man sich sehr wohl fühlt und an dem man dann von allen Qualen erlöst ist.“
„Ehrlich?“ Der Kleine sah erstaunt aus.
„Klar doch, little Brother, er hat es ja selber gesehen. Er kam zu den Menschen, und die hatten schon einen sehr alten Kater. Die Menschen überlegten lange, aber als sie dann sahen, dass der Kater schlimm dran war, da nahmen sie ihn eines Tages und brachten ihn an diesen Ort....“
„Das ist schön“, sagte little Brother andächtig, um dann blitzschnell fortzufahren: „Was meinst du, Uncle cool Cooney, ist meine Mammi auch an diesem Ort?“
„Ich... äääh weiß es nicht“, stotterte Uncle cool Cooney gar nicht so cool wie sein Name es vermuten ließ.
„Aber wo ist sie dann?“, fragte der Kleine beharrlich. „Meinst du, sie hatte mich nicht lieb und ist deswegen abgehauen?“
„No, little Brother!“ Cooney sagte das mit Überzeugung. „Deine Mutter hatte so ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, das war schon nicht mehr schön...“ Er überlegte krampfhaft, was er dem Kleinen noch sagen sollte, fand heraus, dass er ziemlichen Bullshit geredet hatte und sagte dann mit einiger Verzweiflung: „Na, wenn die dich nicht lieb gehabt hat!“

Der Kleine gab sich dem Anschein nach damit zufrieden, verließ Uncle cool Cooney und machte sich auf, um nach draußen zu gehen, und zwar durch die Katzenklappe, die auf die Veranda führte. Es sah schon sehr dunkel draußen aus. Er blickte kurz zurück und sah Onkel Pepe auf der Fensterbank schlummern.
Dann wuselte er sich durch die zweite Katzenklappe, die direkt ins Freie führte und kletterte sofort auf seinen Geburtsbaum, der ganz nah am Haus stand, weswegen (aber das wusste der Kleine natürlich nicht) die Besitzer des Hauses ihn schon öfter verflucht hatten wegen der vielen Nadeln, die immer und ewig von ihm herunterrieselten.

Natürlich war Paps dort. Er hockte trübsinnig in dem ungemütlichen Nest, das er selber gebaut hatte. Paps war überhaupt nicht praktisch veranlagt, deswegen wirkte das Nest auch so chaotisch. Der Kleine schaute sich die Pfoten von Paps an. Sie sahen ziemlich ungepflegt aus, Paps selber sah auch ziemlich ungepflegt aus. Der Kleine erinnerte sich daran, dass Paps früher besser ausgesehen hatte, nicht so struppig und vor allem nicht so verzweifelt. Der Kleine erinnerte sich auch daran, was sie alles versucht hatten, als Mammi verschwunden war.
Sie hatten natürlich jeden gefragt, ob er vielleicht etwas gesehen hatte. Sie hatten Feh beschrieben, haargenau – aber niemand konnte sich an sie erinnern. Seitdem waren viele Tage vergangen, und es war bitter kalt geworden. Die Tage wurden kurz und trübe, die Blätter waren fast vollständig von den Bäumen abgefallen, und es war kalt und ungemütlich in der alten Zeder, vor allem in den Nächten.

Der Kleine legte sich an Paps’ Seite und versuchte sich an seinem Körper zu wärmen, bis jetzt hatte das immer funktioniert, aber heute Nacht wohl nicht, denn kurze Zeit später fingen seine winzigen Zähne vor Kälte an zu klappern.
„Paps!“ Er rüttelte an seinem Vater. „Sollen wir nicht zu Onkel Pepe gehen? Da ist es so schön warm...“
Paps reagierte nicht. Und er fühlte sich auch ziemlich kalt an, wie der Kleine feststellen musste. Oh je, oh je, was war los mit Paps? Und was sollte er tun?
Der Kleine schaute aus dem Nest in die Dunkelheit und wimmerte ängstlich vor sich hin. Er hatte Angst, Paps alleine zu lassen.

Auf einmal hörte er eine tiefe Stimme, die zu ihm sprach: „Was knurr is’n los, knurr Kleiner?“
Die Augen des Kleinen waren natürlich Eichhörnchenaugen, also Augen, die eher im Hellen gut gucken konnten, und deswegen war er jetzt quasi blind. Aber die Stimme kannte er. Sie gehörte einem Streuner, der neu in der Gegend war. Dieser Streuner war nachtschwarz, bis auf einen winzigen weißen Fleck auf seiner Brust, und er wollte mit keinem was zu tun haben. Der Kleine hatte ihn schon öfter vom Baum aus beobachtet. Dieser Kerl war wohl sehr knurrig veranlagt – er führte sogar knurrige Selbstgespräche. Aber konnte man ihm trauen? Kater jagten ja alles mögliche, und so ein Eichhörnchen war eine leichte Beute, vor allem wenn es so kalt wie Paps war. Der Kleine entschloss sich widerstrebend, dem knurrigen schwarzen Kerl zu trauen, was anderes blieb ihm ja nicht übrig, und zur Not würde er ihn beißen...
„Hi Schwarzer“, sagte er forsch, um das Zittern in seiner Stimme zu verbergen.
„Nenn mich einfach Psycho San“, sagte der Schwarze.
„Pssei...was? Weißt du was, ich nenn dich einfach Sanni. Kannst du mir helfen?“
Ein heftiges Rascheln war im Gebüsch unter dem Baum zu hören, dann ein Knurren, und der Kleine bekam ein wenig Angst.
„Psycho San heiße ich! Aber meine Güte, was soll’s... Was ist denn los, Kleiner?“
„Paps ist so kalt! Ich will nicht, dass Paps so kalt ist.“
„Und was schwebt dir so vor, Kleiner?“, knurrte Psycho San.
„Wir müssen ihn ins Haus bringen zu Onkel Pepe.“
„Oha!“, knurrte Psycho San. „Onkel Pepe, ist das dieser alte Knacker, der immer auf der Fensterbank pennt?“
„Onkel Pepe ist kein Knacker, Sanni“, sagte der Kleine entrüstet – er wusste zwar nicht, was mit ‚alter Knacker’ gemeint war, aber Sannis Tonfall hörte sich irgendwie beleidigend an, und auf Onkel Pepe ließ er nix kommen.
„Wie auch immer“, knurrte Psycho San gelassen. „Also, was schwebt dir so vor?“
„Kannst du Paps irgendwie runter tragen... und durch die Klappen zu Onkel Pepe bringen?“

Es war sehr still unter dem Baum. Sanni überlegte anscheinend angestrengt. Hoffentlich überlegte er. Der Kleine hatte echt Angst, dass Sanni einfach abgehauen war. Aber nach einer Weile hörte er Psycho Sans knurrige Stimme sagen: „Also wirklich Kleiner, du hast Sachen drauf! Hmmm, ich könnte ihn mit meinen Zähnen tragen... Blöderweise hab ich überhaupt keine Übung darin. Das ist bei Katzen eher Weiberkram... Ich kann mich zwar erinnern, dass meine Mutter mich mal so trug, aber...“ Psycho San verstummte, und sogar in der Dunkelheit war zu erahnen, dass er nicht weiterreden wollte.
„Bidde, bidde!“, bettelte der Kleine „Versuch es doch einfach! Bidde, bidde!“
„Na gut!“, knurrte Psycho San. Er nahm ein wenig Anlauf und sprang dann wie einer dieser Bären aus dem Fernsehen an dem Baum empor, immer stückweise, bis er die Astgabel mit dem Eichhörnchennest erreicht hatte.
„Hi Sanni!“ Der Kleine hatte all seine Bedenken vergessen und begrüßte den schwarzen Kater freudig.
„Hi Kleiner. Na, dann wollen wir mal!“, sagte Psycho San. Er peilte die Lage, sah ein Eichhörnchen im Nest liegen, das war dann wohl der Paps von dem Kleinen, und er sah nicht gut aus, der Paps. Psycho San zögerte nicht lange, denn jetzt steckte er schon zu tief in der Sache drin. Also packte er den Paps kurzentschlossen mit den Zähnen im Nacken, sprang dann vorsichtig mit ihm aus dem Nest heraus – Paps war erstaunlich leicht zu tragen – hakte sich am Baumstamm ein und hangelte sich Step bei Step mit dem Hinterteil nach unten den Baumstamm herab. Ein wahres Kunststück, wie er dachte, denn die meisten Katzen kamen zwar leicht auf einen Baum hinauf – aber schwerlich hinunter...
Der Rest war einfach. Es ging nur noch geradeaus. Der Kleine lief vor ihm her, Psycho San folgte ihm und war auf einmal inmitten von Wärme und sanftem Licht. Er sprang auf ein großes weich aussehendes Ding und legte den kalten Paps dort ab.

Fortsetzung folgt (Vierteiler...)

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.11.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für PEPE

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