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TEIL 1. Prolog

Allein meinetwegen sind zwei Menschen tot und ich bin so wütend, ich will etwas zerstören, hören wie Knochen zerbrechen, oder ein riesiger Stein in tausend Stücke zerspringt. Tief in meinem Inneren weiß ich aber, dass der einzige Ausweg meine Schuld zu begleichen, wäre einen Schlussstrich zu setzen und mein Leben zu beende und, sowie ich zu dieser Erkenntnis komme, schlage ich meine Stirn mit aller Gewalt wieder gegen die karge Steinwand.

  Gebrandmarkt stehe ich da, umgeben von nichts, als Wind und Steinen, Steinen und Wind. Letzteres stürmt direkt durch mich, weitet den Riss in meinem Gehirn, der nie wieder weggehen wird, weiter auf. Ich habe längst den Boden unter den Füßen verloren und spüre, wie meine Wunden wachsen und das Gerüst meiner Psyche untergraben, wenn ich nicht schnell etwas unternehme. Wind und Steine. Das eine ist ein weiches Element, das andere ein hartes und doch ist es letztendlich immer in der Lage, das Harte zu pulverisieren. Werden meine Gedanken den Körper, der sie erzeugt, bald zum Einsturz treiben, frage ich mich und fühle meinen Herzschlag, wie er gegen meinen Brustkorb hämmert.

  Der Wind pfeift um die verlassene Finca, die primitive Behausung aus Steinbrocken, in der ich mich verstecke. Wohin ich auch schaue, sehe ich nichts, als schroffe Steine. Steine und Wind. Sie sind die Konstanten, prägen diesen Ort ins Mark und sind mein letzter Bezug zur Realität. Ich drücke mich gegen ihre kantige Oberfläche bis sie tiefe Einschnitte in meiner Haut hinterlassen. Die andauernden Winde passen zum Sturm in meinem Kopf und dem Rasen meines Herzens, wenn ich sehe, wie es rot aus meinen selbst zugefügten Wunden quillt.

   Ich werde langsam wahnsinnig. Seit den Morden, esse ich nicht mehr und an Schlafen ist nicht mehr zu denken, nicht ohne die Bilder der Toten vor mir zu sehen. Der Anblick der Leichen erschütterte jeden, der sie sah, aber es sind meine Hände, an denen ihr Blut klebt. Ich lege mich neben die Wand aus Natursteinen, diesen verfluchten marés, aus denen die gesamte, widerwärtige Insel zu bestehen scheint. Es tobt in meinem Inneren, aber ich höre die Brandung nicht nur in meinem Kopf. Seit Tagen zerschellen riesig hohe Wellen, an den sonst windstillen Küstenabschnitten, und ich frage mich zuweilen, ob dies so ist, weil das, was passierte, so abscheulich ist, dass es das natürliche Gleichgewicht der Insel ins Wanken gebracht hat.

Nur kurz werde ich die Augen schließen, sage ich mir, aber die Winde dröhnen, ziehen die steilen Bergtäler hoch und lassen die Tür der Finca mit einem lauten Schlag zuknallen. So hatte ich mir meine Zeit hier nicht vorgestellt. Steh’ auf, Kind, flüstert mir eine Stimme zu, damit dein Leben weitergehen kann. Aber, um das zu machen, muss ich an den Anfang zurückkehren und alles erneut durchleben.

Kapitel 1. In der Agentur

Ich war gerade 19 geworden und hatte das Abitur in der Gesäßtasche meiner Slimcut-Jeans. Sieben Jahre Gymnasium lagen hinter mir. Damit hatte ich die erste Hürde auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Erwachsenenleben überstanden und das gar nicht mal so schlecht. Ich konnte in die Welt hinaus und sie erstürmen. Das Leben durfte beginnen. Ich hatte es mir verdient. Da ich gut in Englisch und Spanisch war, redete ich mir ein, dass man bereits überall auf mich wartete. Um so überraschter war ich, als mir die Au-pair Agentur, bei der ich mich eine Woche vorher angemeldet hatte, Bescheid gab, dass sie die perfekte Stelle für mich in Aussicht hatte.

   „Besser geht’s nicht”, erklärte die pummelige Dame, mit der tief ausgeschnittenen Bluse, heiser, als ich verspätet in ihrem Büro auftauchte.

   „Sie werden in einer schicken Villa wohnen und lediglich auf drei süße Kinder aufpassen müssen... und das auf…”.

    Ich schluckte. Ich hatte bestürzt mein Gesicht im gegenüberliegenden Spiegel entdeckte und gesehen, dass mir der schwarze Kajal, den ich stets großzügig zum Einsatz kommen ließ, verrutscht war.

   „... auf der Lieblingsinsel aller Deutschen”, fügte die Agenturchefin trällernd hinzu. Sie plante den dramaturgischen Höhepunkt ihrer Unterredung gebührend einzuleiten, „… nämlich… auf Mallorca”.

   Ich war unentschlossen, ob ich begeistert sein sollte oder nicht. Wie immer. Die Ferieninsel war ein Synonym für Massentourismus. Wollte ich wirklich dorthin? Ohne die Aufmerksamkeit der Dame auf mich ziehen zu wollen, spuckte ich auf meinen Zeigefinger und versuchte den schwarzen Kajalfleck zu entfernen, während ich kurz unter den Tisch abtauchte.

  „Echt?”, fragte ich, als ich wieder hervor kam.

  Dann schluckte ich wieder. Das tat ich immer, wenn ich mir unsicher war. Dieser verhasste Augenblick, in dem ich mal wieder gezwungen war eine Entscheidung zu fällen, war gekommen. Das trocknete mir immer die Kehle aus. Die eigentliche Frage war aber eine ganz andere. Wie sollte ich im Irrgarten der Möglichkeiten, die das Leben bot, meinen Weg finden?

   Ich träumte von Delfinreiten in Australien oder einem Volontariat bei einer Zeitung in Bolivien oder irgendeinem anderen, exotischem Land, am Rande der bekannten Weltkarte. Ich hatte mich überall beworben. Vor meinem geistlichen Auge lagen meine Unterlagen über dem ganzen Erdball verstreut. Ich hatte meine Pläne dem Schicksal vor die Tür gelegt. Ich wollte mich ins Leben stürzen; wollte regelrecht vom Leben überwältigt werden. Nun hatten die Mächte entschieden. Also warum sträubte ich mich? Wollte nicht jeder nach Mallorca?

 „Die Familie von Bergenhof sucht jemanden junges, mit Führerschein und Interesse an Kunst. Der Job ist perfekt für Sie”.

  Mit diesen Wörtern schob mir die Agenturchefin einen Stapel Papiere vor die Nase.  

  „Unterschreiben Sie bitte hier”, sagte sie erwartungsvoll.

   Nur mit Schwierigkeiten hob und senkte sich ihr gewaltiger Brustkorb. Ihre Perlenkette zitterte am Rand ihres Dekolletés ungewiss, ob sie in die Schlucht zwischen den Brüsten fallen sollte. Wenn sie rein rutscht, unterzeichne ich, beschloss ich. Das war ein sportlicher Ansatz. Die Bluse der Frau war eng geschnitten und ich kam zur Schlussfolgerung, dass die Dame auch mal einen Klimawechsel vertragen könnte. Vielleicht würde sie dann von den Schokokeksen neben ihr, weg kommen. Noch immer lag die Perlenkette auf der Kippe, als sie zu einem finalen Überzeugungsversuch ansetzte.

    „Die von Bergenhofs wohnen sehr schön, müssen sie wissen. Das Anwesen ist ein Traum. Es gibt eine Haushaltshilfe und einen Poolboy”, seufzte die Dame. „Mädchen, wie Sie, reißen sich die Nägel aus, um so ‘n Job zu landen.” Die Geduld der Agenturchefin war es, die auf der Kippe lag und nicht ihre Kette.

     Ich war dabei ihr zu verkünden, dass ich einen Job als Kinderfrau nicht für das Nonplusultra hielt, als Madame mir ein Foto des Swimmingpools zuschob und plötzlich erschien mir der Gedanke, dort die Tage mit dem wohlhabenden Nachwuchs zu verbringen nicht mehr so schrecklich abwegig. Scheiß auf das Spiel mit der Kette, die ins Dekolleté fällt oder nicht, beschloss ich. Dann wirbelte ich meine langen, schwarzgefärbten Haare in den Nacken und griff nach dem Kugelschreiber um zu unterzeichnen.

     „Julia Haber,” schrieb ich mit Schwung, wobei das „r” wie die Ausläufer einer Welle im Sand verliefen, ohne eine Spur zu hinterlassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2. Ankunft

 Ich hatte von Freiheit geträumt. Nun sucht man überall auf der Insel nach mir. Ich könnte mir die schwarzen Haare vor Wut ausreißen. Tatsächlich habe ich dauernd ganze Büschel von ihnen in den Händen, ohne zu wissen, wie sie dorthin gelangt waren. Schwarz sind meine Haare aber nicht mehr. Eher grau. Ich sitze oft stundenlang und starre durch die zerbrochene Fensterscheibe der Finca auf die blaue Bergkette hinter der ewig langen Bucht, bis sie sich spät am Abend endlich lila färbt. Danach sind meine Finger immer voll mit diesen langen, staubigen Strähnen. Wie Spinnweben sehen sie aus, finde ich, wenn ich die Hände in die Luft halte und mir die Haare in die einbrechende Nacht entgleiten. Aus den Händen entglitten ist mir so einiges. Im Grund war mir alles entglitten und das Muster war schon am Anfang erkennbar gewesen.

 

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Eine Woche waren seit dem Gespräch in der Agentur vergangen und nun lag unter mir die beliebteste Ferieninsel der Deutschen. Das Flugzeug schwebte über der Landbahn und ich sah ein Heer winziger, steinerner Windmühlen, die mich mit offenen Armen willkommen zu heißen schienen.

    Am Flughafen von Palma standen meine Arbeitgeber, wie für die Ewigkeit gebannt, in einer Reihe, um mich zu empfangen. Wolfgang von Bergenhof, breitschultrig und braungebrannt, bildete den äußeren Rand der Gruppe. Neben ihm, seine Hand um ihre Taille gewickelt, um seinen Besitzanspruch zu markieren: seine Frau, Helen. Sie strahlte mich neugierig an und ich ließ meinen Koffer fallen. Schon küsste sie mich auf beide Wangen.

   „¡Hola, hola! Nun, schau nicht so erstaunt! Du bist jetzt in Spanien und da machen wir das so”, sang sie heiter.

   Ihre Stimme war ein Glockenspiel und ein älterer Herr musterte sie. Frau von Bergenhof war noch attraktiv für eine Frau Ende Anfang vierzig, fand ich. Normalerweise galt bei mir jeder über dreißig als nahezu antik. Die freudige Begrüßung hatte mich verlegen gemacht und ich hoffte, dass ich den Anforderungen des Jobs gerecht werden würde.

   Dann deutete Helen mit mütterlichem Stolz auf ihren hellblonden Nachwuchs und verkündete:„Und hier sind die lieben Kleinen”.

   Artig gaben ich und die Kinder uns gegenseitig die Hand.

  „Julia”, stellte ich mich vor.

  „Freut mich”, erwiderte höflich der dreizehnjährige Junge, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Bestimmt liefen ihm in der Schule scharenweise die Mädchen hinterher.

   „Ich bin Julian”.

    Ich zwinkerte ihm zu. War ihm aufgefallen, dass sich unsere Namen ähnelten? Nein, wahrscheinlich nicht, der Junge war mit seinen Gedanken woanders. Typisch pubertär halt, dachte ich, und wendete mich dem nächsten Familienmitglied zu.

    „Du bist dann wohl Magarett”, sagte ich, während ich nach den ausgestreckten Fingern der Tochter, mit dem langen blondem Haar, griff.

    „Hallo”, flüsterte die Elfjährige schüchtern.

    „.. und dann bist du David”, gab ich zu guter Letzt von mir und kniete mich auf den Boden, um das jüngste Mitglied der von Bergenhofs, den vierjährigen Sohn mit der Stupsnase, zu begrüßen. Sofort umarmte er mich mit so herzlich, dass ich lachend auf die Marmorfliesen des Flughafens fiel.

    Zur perfekten Familie gehörte das perfekte Auto. Mit dem Wind in den Haaren brausten wir im offenen Jeep über die Autobahn. Weit über unseren Köpfen hinweg rasten die Wolken in dieselbe Richtung, wie wir. Die Insel im Mittelmeer erstrahlte im stechenden Licht und ein angenehmer Luftzug schien mit ungeahnten Möglichkeiten zu locken. Ich fühlte mich wie ein Vogel, der den Aufwärtswind unter den Flügeln spürt.

    „Zur Rechten liegt S´Arenal, mit seinem 7 km langen, berühmt-berüchtigten Strand”, erklärte Helen.

    „Ja, ich weiß”, fuhr ich aufgeregt dazwischen, „der Ballermann! Aber das ist nur die Übersetzung von Balenario Nummer 6”. Ich lachte munter. „Da steigt immer Party”.

    Wir rasten mit Tempo 140 auf der Autovia del Levante in Richtung Südosten. Ich war gespannt auf mein Abenteuer als Au-pair und schmiss den Kopf zurück, um meine Haare flatterten zu lassen. Das deutsche Ehepaar blickte amüsiert und warf sich gegenseitig ein breites Grinsen zu.

   „Ich sehe, du freust dich darauf zu feiern, Julia?”.

     Wolfgangs rhetorische Frage wurde von einer strengen Mine begleitet, die aber nur aufgesetzt war.

    „Das tu’ ich”, gab ich offen zu, „aber mich interessiert auch die mallorquinische Lebensart”.

    „Na, dann bist du bei uns genau richtig”, gab Herr von Bergenhof zurück. „Dann weißt du auch, dass das auf der Insel gesprochene Mallorqui im Grunde denen, auf den anderen Baleareninseln gesprochenen Dialekten, Menorquinisch (menorquí) und Ibizenkisch (eivissenc), sehr ähnelt.”

   Ich schaute überrascht und Wolfgangs Drei-Tage-Bart konnte kaum sein zufriedenes Schmunzeln verdecken. Außerdem bekam ich weiche Knie. Der Vater, der drei Kinder, auf die ich ein Jahr lang aufpassen würde, war ein gutaussehender Mann. Das musste ich zugeben, obwohl ich normalerweise nicht auf ältere Männer stand.

 

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Das war vor kaum zwei Wochen gewesen. Aber, wenn ich zurück auf meine Ankunft auf Mallorca blicke, ist mir diese Person, die ich damals war, fremd. Ich war zu dem Zeitpunkt anders und das Leben war ein Strom, von dem ich mitgerissen und verändert werden wollte. Weil mein Selbst noch diese flüssige, dehnbare Substanz hatte und unersättlich aufsaugte, was sie umgab.

    Ich mache mir unaussprechliche Vorwürfe und ich bemerke auch, wie sich meine Psyche auf meinen Körper auswirkt. Mein Magen wird von Krämpfen heimgesucht und ich bin todmüde, obwohl ich den ganzen Tag nur im Dunklen rumliege. Mein Bauch spiegelt das, was mir im Kopf vorgeht, als ob es zwei miteinander verflochtene Schaltkreise wären.

    Dann steigt das Verlangen nach einer Zigarette in mir auf und plötzlich brauche ich unbedingt eine. Ich taste im Dunklen den Boden nach einer ab. Ohne Erfolg. Und in dem Moment ist mir, als würde ich riechen, wie jemand einen Glimmstängel angezündet und ich knurre wie ein Tier. Dann haue ich meine Faust mit aller Kraft gegen die Wand aus máres.

Kapitel 3. Villa „Fabulosa”

 

Die Fahrt zum Anwesen der Familie von Bergenhofs hatte eine gute Dreiviertelstunde gedauert. Bald war die Schnellstraße durch eine gut befahrene Landstraße ersetzt worden und der Fahrtwind dementsprechend gedrosselt. Danach war jede Straßenkreuzung durch Kreisverkehr geregelt und mir wurde schon schwindelig von der Fliehkraft in der Mittagshitze.

    Ich bekam auf diese Art aber einen guten ersten Eindruck von der Insel. Die Landschaft schien recht flach. Es gab steinige Felder und ordentliche Reihen von Olivenbäumen. Wir kamen an den kleinen Windmühlen aus klotzigen Steinen vorbei, die ich schon vom Flugzeug aus gesehen hatte. Die Araber hatten sie auf der Insel eingeführt, um Olivenöl zu pressen, Getreide zu mahlen und das Land zu bewässern, aber heutzutage hatte kaum noch eines der Mühlen ein Segel. Gegen die unendliche Blaue des Himmels zeichneten sich ihre kargen Holzarme fast wehmütig ab.

    Wir passierten die Kapernsträucher von Campos, da leuchtete am Horizont eine schimmernde Fata Morgana auf. Dort, wo die Colonia de Sant Jordi am Meer lag, war etwas, das aussah, wie eine verschneite Hügellandschaft entstanden. Herr von Bergenhof verfolgte im Rückspiegel, wie meine Aufmerksamkeit von dem Phänomen in Anspruch genommen wurde und lieferte sofort die wissenschaftlichen Fakten.

    „Dort ist die letzte Saline der Insel. Sie wurde vor 2000 Jahren von den Römern gebaut”, belehrte mich Wolfgang. Dann fügte er hinzu: „Dort werden noch heut’ an die 10.000 Tonnen Salz pro Jahr geerntet. Ganz schön viel, was?”

     Seine grauen Augen blitzten im Rückspiegel.

     „Es wird gewonnen, indem man die Sommerhitze das Meerwasser auf den Salzfeldern, den cuarteradas, verdunsten lässt. Sie nennen das Salz das „Weiße Gold” der Insel”.

     Dass ich jetzt über den Hintergrund der optischen Täuschung informiert worden war, minderte bedauerlicherweise den surrealen Eindruck des Lichtspiels.

     Kurz bevor wir unser Ziel erreichten, kreuzten wir Santanyí. Zu Ocker- und Kalktönen gruppiert, lehnten die Häuser der Stadt aneinander. Viele der Gebäude gehörten Deutschen, gab Wolfgang zum Besten. Die von Bergenhofs fuhren extra um die Hauptkirche, mit ihren gotischen Rosetten. Der Wind rauschte durch die alten Palmen, und ich dachte mir, das ist bestimmt der Wind des Levante.

     „Sind wir bald da?“, wiederholte der kleine David immer wieder, bis die Wörter einen Singsang ergaben. Er war aufgeregt mir seine Spielsachen zu zeigen. Magarett, hingegen, schwitzte und verkündete, dass sie sofort in den Pool wollte, wenn wir endlich da waren. Julian, der Älteste, ließ sich die Luft um die Nase pusten, während er ernsthaft seinen flackernden Handybildschirm studierte.

    „Unsere Villa liegt zwischen der Cala Santanyí und dem Fischerdorf Portopetro”, informierte mich Helen mit ihrer klaren Stimme.

     „Gleich beim Nationalpark Cala Mondrago, um genau zu sein”, fügte Wolfgang hinzu und legte momentan seine Hand auf das Knie seiner Frau. Er war eine Art Wissenschaftler, sagte man mir. Dass entschuldigte, ein wenig seine Angewohnheit immer eine Erklärung liefern zu wollen. Physisch imponierte er mir jedoch tausendmal mehr als intellektuell. Seine Arme waren muskulös und ein goldener Haarflaum bedeckte sie. Ein bisschen graues Haar pfefferte seine Schläfen und seine Augen wechselten die Farbe, wie der Himmel über uns.

     Oh mein Gott, fauchte ich mich an, das muss aufhören! Ich darf mich nicht in meinen Arbeitgeber vergucken. Wolfgang war für mich tabu… und Helen war auch noch sympathisch. So was mach’ ich nicht... no way. Aus. Schluss. Punkt. Ich war irgendwie doch nicht der Rebell, für den ich mich hielt.

     Das Auto bog von der asphaltierten Straße auf einen Dreckpfad ab. Am Ende von diesem war ein eisernes Tor das, nach Eingabe des Codes, aufschwang. Ab jetzt waren wir auf dem Privatbesitz der von Bergenhofs. Eine schmale Einfahrt führte durch einen Olivenhain. Plötzlich lag vor uns der Ausblick über dem Abhang. Zwischen den Baumkronen sah ich das strahlende Meer. Ich kniff die Lider zu.

     Als ich sie wieder aufmachte, sah ich das Haus. Umrahmt vom Blau des Wassers stand ein rustikaler Bauernhof, der durch den Anbau eines modernen Trakts aus Eisenträgern und Glas, zu einem einzigartigen Domizil geworden war. Zur einen Seite war eine Terrasse angelegt. Zur anderen zwinkerte ein schmaler, 8x2 Meter großer Streifen von einem Pool, auf einer Betonplanke über dem Fels. Eine Wand der Villa war komplett durch eine Glasfront ersetzt worden.

     Ein begeistertes „Wow” rutschte mir raus.

     Helen nickte zufrieden. Jetzt waren wir in ihrem Reich und sie übernahm das Steuer.

     „Julia”, schlug sie, in einer Stimme die keine Widerrede zuließ, vor, “nimmst du bitte David und trägst ihn ins Haus”.

     „Logo“, antwortete ich, hob den Kleinen aus dem Kindersitz und setzte ihn auf den Kieselsteinen vor dem Haus ab.

     „Ganz rein, bitte. Julia!“.

     Wir hatten Ende August und ein Esstisch wartete im Schatten einer eleganten Zypresse auf uns. Es war der heißeste Monat des Jahres, aber um die Klippen fegte ein angenehmes Lüftchen. Die Haushaltshilfe Concha servierte kalten andalusischen gaspacho und, in Blätterteig ummantelte Tintenfischringe, calarmares, und ich dachte begeistert, dass wirklich nichts den Genuss von gebratenem Fisch an der frischen Luft übertraf. Erst zum Nachtisch setzten wir uns an eine Stelle mit Ausblick auf die private Cala, wie diese inseltypischen Buchten heißen, und ich bot an Concha zur Hand zu gehen. Wenn man über sie in ihrer Abwesenheit sprach, nannte man sie die muchacha und ich erfuhr, dass sie ursprünglich aus Südamerika kam.

    Zu beiden Seiten des Grundstücks der von Bergenhofs ragten Felswände aus den Wellen, bildeten so einen natürlichen Schutzwall, der den Besitz von den Nachbarn abgrenzte. Die nur knapp 4 Meter breite Cala der Familie hatte aber kaum einen Strand. Am Eingang zur Bucht schwankte dafür eine Motoryacht in den spitzen Wellen. Das Boot war weiß und blau und bildete das i-Tüpfelchen der hauseigenen Kulisse. Ich konnte mein Glück kaum fassen so ein gutes Los gezogen zu haben.

    Die Sonne hatte ihren Zenit überquert, neigte sich langsam dem Nachmittag zu. Sie lag mir im Nacken, machte mich aber nicht träge. Ich wollte mein neues Zuhause erkunden. Am liebsten wäre ich in den, der Bucht in Form angeglichenen, Pool gesprungen. Oder ich wäre auf dem langen Steg so weit hinaus gelaufen wie es ging, um einen Stein ins türkise Wasser zu schmeißen. Nur so. Um zu demonstrieren, dass ich da war. Wolfgang schärfte mir aber ein, dass ich, wegen der heimtückischen Strömungen, nicht einfach so hinunter zur Cala gehen sollte.

     Meine Mutter war vor drei Jahren gestorben. Mein Vater war kurze Zeit danach arbeitslos geworden. Es war eine schwierige Zeit gewesen und, obwohl ich jetzt offiziell erwachsen war, spukte der Schauder dieser Schicksalsschläge immer in meinem Hinterkopf. Diesen drei Menschen in meinem Leben war mein einziges Tattoo gewidmet oder, besser gesagt: meine Eltern und meine jüngere Schwester waren immer bei mir, denn ich trug sie, für alle sichtbar, auf meiner Haut.

     Ich wollte unbedingt einen guten Eindruck auf die von Bergenhofs machen. Durch meine Schwester wusste ich mit Kindern umzugehen, dachte ich, damals zumindest. Kinder mussten einen respektieren. Aber am allerwichtigsten war, dass ich mich selber an meine Anweisungen hielt. Besonders am Anfang. Später würde schon die Zeit kommen das Haus und den dazugehörigen Garten, mit seinen Flaschenpalmen, Kakteen, Bougainvillea und weißen Oleandersträuchern, in Ruhe zu erkunden.

     Ich stürzte den Kindern ins Haus hinterher und hoch in den zweiten Stock der Villa „Fabulosa“, wie ich sie in Gedanken schon nannte. Ich nahm zwei Stufen auf einmal in Angriff und stolperte über Davids Lieblingsstofftier. Bald würde die bilinguale Schule beginnen und dann hätte ich Muße meine Spanischkenntnisse auffrischen und mein neues Umfeld genauer unter die Lupe zu nehmen. Mallorca schien mir freundlich gesinnt, dachte ich noch zu dem Zeitpunkt. Sie hatte ca. 800,000 Einwohner, 53 Gemeinden und ein paar vorgelagerte kleine Inseln. In ihrer Form erinnerte sie mich an eine Bärentatze und bot, landschaftlich betrachtet, Berge, Hügellandschaft, Strände und tausende von Buchten.

     Am Abend hörte ich, wie die Brandung gegen die Cala der von Bergenhofs schlug. Ihr Tosen drang ins Zimmer ein und mein Puls hämmerte vor Begeisterung über mein neues Leben auf Mallorca im Gleichtakt. Und dann vermengte sich der Klang der Wellen mit dem Meeresrauschen und zufrieden fiel ich in meiner ersten Nacht im neuen Zuhause in den Schlaf.

 

Kapitel 4. Die Winde

 

Gestern legten sich plötzlich die Winde und zum ersten Mal seit Tagen war es auf der Finca still. Ich wachte im Morgengrauen auf und dann passierte es. Es war alles seltsam ruhig und ich hielt mir die Ohren zu, um die schreiende Stille auszublenden.

     Inzwischen kenne ich die Namen der einzelnen Winde und kann sie im Schlaf aufsagen. Sie sind Teil der Insel. Auch im Haus, umgeben von über einen Meter breiten Wänden, höre ich sie. Die meiste Zeit verbringe ich im Halbdunkel der Finca. Die Aussicht über den Abhang, auf die Bucht, ängstigt mich. Ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1702-9

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