Ich springe am Flughafen von Miami in einen Mietwagen und verliere sofort meine Orientierung. Ich will nach Key West und lande im Nu in der entgegengesetzten Richtung. Erst nach weiteren 90 Minuten bin ich da, wo ich sein will. Endlich brettere ich auf dem U.S. Highway 1, der 3846 Kilometer langen Autobahn, die sich von Maine bis nach Key West erstreckt, in den Süden. Als ich am Turnpike Nr.1, in der Nähe von Homestead, vorbeikomme, halte ich daher an, um mich zu diesem Triumph zu beglückwünschen. Nur zwei Fast-Food-Mitarbeiter, die ihre Pause nutzen, um eine Zigarette an der schwülen Luft zu rauchen, beobachten mich misstrauisch. Außerdem dreht auf dem verwaisten Parkplatz ein einsamer Afroamerikaner auf einem Kinderfahrrad langsam Achterschleifen. Als er mich bemerkt, radelt er prompt zu mir herüber.
„Ich brauche etwas zu essen für meinen kleinen Bruder“, leitet er das Gespräch ein, während seine dunklen Augen stumpf meinem Blick trotzen.
„Gib mir Geld“, fügt er aufsässig hinzu.
Ich schaue ihn, ohne zu blinzeln, an. Offenbar erwartet ich zu viel von jemandem, der nichts zu bieten hat, keine Bildung, keine Hoffnung, keine Zukunft. Seiner Sturheit, für einen Moment überwindend, setzt er ein hohl klingendes "Bitte?" hinten dran. Ausweglosigkeit ist ihm ins Gesicht geschrieben. Er sieht kaum älter als siebzehn aus. In dieser Gegend, südlich der glitzernden Großstadt, gibt es nichts. Fast alle Häuser sind zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben, zu einer Seite liegt menschenfeindliches tropisches Marschland, zur Anderen tobt der Atlantik. Der vorbeirauschende Verkehr auf der Turnpike stellt die einzige Konstante da, ein nicht enden wollender Strom von Fahrzeugen, der die Luft derer verschmutzt, die zu arm sind, um irgendwo anders hin zu ziehen. Ich gebe ihm eine Handvoll Dollar und fahre weiter.
Zu meiner Rechten liegen die Everglades, jene sumpfige flache Landschaft aus kohl-grünen Farbtönen, die auch Grasfluss genannt wird, und zieht sich unter dem monoton grauen Himmel dahin. Sie wird von Alligatoren, Kormoranen, Reihern, Schildkröten und vielen Vogelarten und Fischen bewohnt. Plötzlich löst sich das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Svenja Bary
Bildmaterialien: Svenja Bary
Lektorat: Svenja Bary
Übersetzung: Svenja Bary
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2016
ISBN: 978-3-7396-8456-7
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Clive