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Arend lag auf dem Sofa und sah in den strahlend blauen Himmel. Die Sonne war vom Sofa aus nicht zu sehen, sie schien aber auf die Wand links vom Fenster und verbreitete so im ganzen Zimmer eine strahlende Helligkeit. Die alte Wanduhr hatte gerade einmal geschlagen; es war halb drei.

Ausgeruht war er nicht. Er hatte in der Nacht einige Stunden wegen seiner Rückenschmerzen wach gelegen. Nach einem Spaziergang am Vormittag waren die Schmerzen fast vollständig verschwunden, und so hatte er sich zum Mittagsschlaf auf das Sofa gelegt, statt ins Bett zu gehen. Wenn er Mittags richtig ins Bett ging, kam er sich vor, als sei er ernsthaft krank. Aber er lag auf dem Sofa nicht so bequem wie im Bett, und nun hatte der Mittagsschlaf seine Rückenschmerzen wieder stärker werden lassen.

Er stand auf und ging zum Fenster. Die Sonne munterte ihn auf. Durch den blauen Himmel und den kräftigen Sonnenschein schien es ein warmer Tag zu sein, aber von seinem Spaziergang am Vormittag wusste er, dass ein kalter Ostwind herrschte und die Temperaturen noch eher winterlich waren. Es lag allerdings auch schon deutlich etwas von Vorfrühling in der Luft.

Er goss sich aus der Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein und setzte sich dann wieder auf das Sofa. Vor ihm lagen die beiden Bücher, die er heute zurückbringen wollte; ein Maigret-Krimi und „Bürger Tom Paine” von Howard Fast. Letzteres hatte er nur zur Hälfte gelesen. Der Typ des Tom Paine, ein englischer Revolutionär im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, war ihm fremd und nicht sehr sympathisch, und das soziale Elend in der damaligen Zeit hatte ihn zu sehr deprimiert. Im Grunde las er gerne historische Romane, und andere Romane von Howard Fast hatten ihm gut gefallen, aber dieses Buch hatte er nach der Hälfte weggelegt und erst einmal den Maigret gelesen, und nun wollte er es auch nicht wieder anfangen.

Er trank langsam seinen Kaffee, packte dann die Bücher in seine Umhängetasche und zog seine Winterschuhe und seinen Mantel an. Trotz des Sonnenscheins band er sich einen Schal um und setzte seine Mütze auf. Missmutig nahm er seinen Stock; die letzten Tage hatte er ihn nicht gebraucht, heute aber waren die Rückenschmerzen wieder zu stark, um ohne Stock zu gehen.

Mühsam ging er die Treppen hinunter. An der Haustür traf er Frau Siebrandt aus dem ersten Stock. Sie begrüßte ihn mit einem „Tach, Herr Peters” und hielt ihm die Haustür auf. Er erwiderte ihren Gruß und nickte ihr, nachdem er das Haus verlassen hatte, noch einmal zu. Eine kurze Begegnung nur, und doch hob sie seine Stimmung.

Langsam und mit eher kleinen Schritten ging er zum Bus. Er konzentrierte sich auf seinen Atem: Vier Schritte einatmen, vier Schritte ausatmen, vier Schritte einatmen, ... . Der Rhythmus war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen, und dennoch erforderte es immer noch ein wenig Konzentration, ihn einzuhalten, um nicht außer Atem zu geraten.

Von vorne blies ihm der kalte Ostwind ins Gesicht, schräg von hinten wärmte ihn die Sonne. Vögel zwitscherten, und einige Sträucher hatten schon so dicke Knospen, dass sie nicht mehr nur braun und kahl wirkten, sondern von einem zarten Grün überzogen waren. Zwei kleine Kinder aus einem der Nachbarhäuser winkten ihm fröhlich. Er lächelte ihnen zu und hob den Stock zum Gruß leicht an. So sehr es ihn auch ärgerte, dass er immer öfter den Stock benötigte, hatte er doch den Eindruck, dass er ihm auch etwas Würdevolles verlieh. Das genoss er, und es versöhnte ihn ein wenig mit dem Stock.

Seine Rückenschmerzen ließen schon auf dem kurzen Weg zum Bus deutlich nach, seine Stimmung hellte sich mit jedem Schritt auf. Im Bus überlegte er sich, dass er vielleicht noch nach den Einkäufen und der Stadtbücherei in einem Café mit Blick auf den Hafen eine Tasse Kaffee trinken könnte.

Er stieg nahe der Fußgängerzone aus dem Bus und erledigte zunächst seine Besorgungen. Viel einzukaufen hatte er nicht; Batterien für seine Hörgeräte, Briefumschläge und Briefmarken, ein kleines Brot. Beim Bäcker kaufte er außerdem noch ein Mandelhörnchen, für den Fall, dass er doch nicht mehr ins Café gehen würde, andernfalls für morgen. Die Fußgängerzone war belebt, der Vorfrühling schien die Stimmung der meisten Passanten zu heben. Vor einer Woche noch waren die Menschen schweigend und mit schnellen Schritten vom Bus in die Stadt, von einem Laden zum anderen, von der Stadt zum Bus geeilt. Jetzt schlenderten sie langsam durch die Fußgängerzone, sahen sich Schaufenster an, redeten, lachten. Kinder tobten herum, einige Menschen saßen sogar schon auf den Bänken.

Er ging zwischen ihnen, sah den Kindern beim Toben zu, schnappte Gesprächsfetzen der Erwachsenen auf und genoss die Sonne, die zwar nur an wenigen Stellen zwischen den hohen Häusern hindurch zu sehen war, die aber von den Fassaden der Häuser reflektiert wurde und so die Fußgängerzone in ein helles Licht tauchte. Er erinnerte sich daran, wie er als Kind manchmal vor Glück gerannt und gesprungen war. Es war seltsam, wie nahe ihm manchmal seine Kindheit und Jugendzeit waren, gerade in den letzten Jahren. Manchmal kam es ihm so vor, als ob sich nun, am Ende seines Lebens, sein Leben zu einem Ring schloss.

Er war nicht in der Stimmung, diese Gedanken zu vertiefen. Er schlenkerte verspielt mit seinem Stock, versuchte, an gar nichts denken und einfach nur das, was um ihn herum geschah, auf sich wirken zu lassen, während er langsam zur Holstenbrücke ging.

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Es war voll in der Stadtbücherei. Er hängte seinen Mantel in der Garderobe auf, stellte seinen Stock und seine Tasche ab und reihte sich dann in die Schlange der Leute ein, die ihre Bücher zurückgeben wollten. Vor ihm stand ein Junge, der ein großes Buch mit dem Titel „Das Universum” auf den Tisch gelegt hatte und versonnen das Foto einer Galaxie betrachtete, das den ganzen Einband ausfüllte. Auch Arend betrachte das Bild eine Weile und dachte daran, dass er sich auch mal wieder ein Buch oder eine Zeitschrift zu diesem Thema ausleihen könnte. Die neuesten Erkenntnisse aus dem Bereich der Astronomie hatten ihn immer interessiert, aber in letzter Zeit hatte er nur noch wenig dazu gelesen, war nur noch aus dem Fernsehen und Radio vage auf dem Laufenden.

Eine eigenartige Faszination ging von dem Bild aus. Eine Anhäufung von Millionen oder Milliarden einzelner Sterne, jeweils Lichtjahre von ihrem nächsten Nachbarstern entfernt, und doch war die Galaxie auch als Ganzes ein Gebilde mit einer unübersehbaren Dynamik. Welche gewaltige Gravitation musste vom Zentrum der Galaxie ausgehen, dass sie noch die entferntesten Sterne in den Spiralarmen zur Rotation um das Zentrum zwingt.

Als die Schlange ein Stück aufgerückt war, legte der Junge ein weiteres Buch, das er bisher in der Hand gehalten hatte, auf die Galaxie. Es trug den Titel „Stern ohne Himmel”. Arend zuckte zusammen. Er kannte das Buch. Schlagartig war die Galaxie aus seinen Gedanken verschwunden, schlagartig erschien ihm Davids Gesicht vor Augen, hörte er Davids Stimme. Er schnitt den Gedanken jäh ab. Nicht jetzt. Der Nachmittag hatte so schön begonnen; er wollte jetzt auf keinen Fall in seinen Erinnerungen versinken.

Er spürte, dass es schon zu spät war, die Erinnerungen beiseite zu schieben. Davids Konturen wurden deutlicher, sein typisches Lächeln, überlegen und immer etwas spöttisch; sein hageres, kantiges Gesicht. Arend nahm einen tiefen Atemzug und sah wieder auf das Buch. Als er es irgendwann in den sechziger Jahren gelesen hatte, hatte er sich den jüdischen Jungen aus dem Buch unwillkürlich so vorgestellt, wie David auf einem Kinderfoto aussah. Arend sah das Foto vor sich, das David als 15-jährigen am Strand zeigte. Es stand auf dem Sekretär gegenüber vom Fenster in Ingrids und Davids Wohnung.

Er versuchte, sich von den Erinnerungen loszureißen, in die Gegenwart zurückzukehren. Er sah die Schublade der alten Kommode vor sich, in der das Album mit den wenigen Fotos aus ihrer gemeinsamen Zeit lag. Das Kinderfoto von David hatte er erst Jahrzehnte später, erst nach Ingrids Tod aus ihrem Nachlass erhalten und in das Album eingeklebt. Er hatte das Fotoalbum schon lange nicht mehr hervorgeholt.

Die Schlange rückte wieder zwei Schritte auf. Die Frau, die vor dem Jungen stand, wurde nun abgefertigt. Arend sah den Jungen an, der den Blick weiterhin auf seine Bücher gerichtet hatte und keine Notiz von ihm nahm. Arend atmete mehrfach tief ein und aus. Die Erinnerung an David hatte ihn vollkommen unvorbereitet erwischt; daran war nun nichts mehr zu ändern. Aber er fühlte sich ausgeglichen und gut gelaunt. Der sonnige Vorfrühlingstag hielt ihn fest genug in der Gegenwart, dass er versuchen konnte, sachlich und ruhig an die Zeit des Faschismus zu denken und seine persönlichen Erinnerungen nicht in den Vordergrund zu stellen.

Er legte die Hand auf das Buch und fragte den Jungen: „Wie findest du es?”

Der Junge sah ihn verwundert an und musterte ihn mit ruhigem, ernstem Blick. Zögernd sagte er: „Es ist sehr ... .” Er suchte das richtige Wort und sagte schließlich „traurig”, machte aber den Eindruck, als träfe dieses Wort noch nicht ganz seine Empfindungen.

Arend betrachtete wieder das Buch und sagte schließlich: „Es ist nicht leicht in Worte zu fassen.”

„Was?” fragte der Junge.

„Was damals geschehen ist.” antwortete Arend nachdenklich: „Oder eigentlich eher, wie man es empfunden hat. - Und wie man es heute empfindet, wenn man wieder mit den alten Erinnerungen konfrontiert wird.”

Er wollte noch mehr sagen. Die Gedanken strömten ungeordnet auf ihn ein. Er sah den Jungen nachdenklich an, formulierte innerlich seine Gedanken, aber er schwieg.

Nachdem der Junge seine Bücher abgegeben hatte, blieb er stehen und wartete auf Arend. Arend nahm das mit einer Mischung aus Freude und Unsicherheit zur Kenntnis. Nachdem er ebenfalls seine Bücher abgegeben hatte, blickte er dem Jungen in die Augen, deutete durch ein leichte Kopfbewegung in Richtung Büchersaal und ging dann langsam selbst dorthin. Der Junge begleitete ihn schweigend. Als sie einen Lesetisch erreichten, blieb Arend unschlüssig stehen und sah zu dem Jungen hin. Sie spürten offenbar beide, dass sie ihr Gespräch noch nicht beendet hatten, aber sie wussten beide nicht, wie sie es fortsetzen sollten. Der Junge wirkte unsicher. Er sah Arend an, vermied aber einen direkten Blickkontakt.

„Was haben Sie damals ...?” fragte er plötzlich: „Ich meine, waren Sie ...?” Er bekam einen roten Kopf und beendete die Fragen nicht. Arend war klar, dass es für den Jungen eine heikle Situation war. Er konnte nicht wissen, wie Arend diese Zeit erlebt hatte. Nach ihrem kurzen Dialog stellte er sich Arends Schicksal vielleicht weit schlimmer vor, als es gewesen war.

Aber auch für Arend war es eine heikle Situation, denn noch immer, noch mehr als 50 Jahre nach Kriegsende, fiel es ihm schwer, nicht in düstere Gedanken abzurutschen, wenn er über diese Zeit sprach. Er setzte sich an den Lesetisch und sah den Jungen an. Die rote Farbe verschwand schnell wieder aus dem Gesicht des Jungen, der ernste Blick des Jungen strahlte, trotz seiner Unsicherheit, eine angenehme Ruhe und große Neugier aus und gab Arend Mut, zumindest über die emotional weniger beladenen Zeiten zu sprechen:

„Ich war im Krieg zunächst in Dänemark, erst in Århus im Exil, nachher auf dem Land untergetaucht.”

Er vermied das Wort 'Widerstand'; auf seine eigenen Taten bezogen war ihm das Wort viel zu heroisch. Bis Anfang 1940 hatte er sich wohl gefühlt in Dänemark, aber nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht ... ; diese Zeit hätte er am liebsten aus seinem Leben gestrichen.

„Nachher war ich in Schweden im Exil.”

Er schüttelte nachdenklich den Kopf und betrachtete die Reaktion des Jungen. Die Augen des Jungen weiteten sich, ansonsten aber zeigte er keinerlei Reaktion, sondern sah Arend weiterhin ernst und regungslos an. Das Gefühl, dass der Junge noch unsicherer war als er selbst, nahm Arend ein wenig von seiner eigenen Unsicherheit. Er hatte das Gespräch nun begonnen, hatte den Jungen neugierig gemacht, und musste nun durchhalten. Schließlich hatte er auch was zu sagen, Gedanken und Erfahrungen aus 82 Jahren Leben. Er war ein wandelndes Geschichtsbuch, und darauf war er stolz.

„Setz dich doch.” sagte er. Der Junge setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Er bewegte einmal kurz die Lippen, so als wollte er etwas sagen, schwieg dann aber doch.

Arend selbst zögerte. Auch wenn er den Jungen offenbar neugierig gemacht hatte, konnte er ihm ja nicht so mal eben seine ganze Biographie vortragen. Und selbst wenn er es gekonnt hätte, wollte er das überhaupt? Er war hergekommen, um seine Bücher abzugeben und neue auszuleihen. Er hatte noch in ein Café gehen und das schöne Wetter genießen wollen. All das erschien ihm plötzlich sehr fern.

Die Rückkehr aus Schweden im Juli 1945 war wie ein seltsamer Bruch in der Realität seines Lebens. Lange Zeit war für ihn im Grunde immer nur eins von beidem real gewesen: Meist lebte er in der Gegenwart, und dann reichte die Realität nur bis 1945 zurück; alles davor war wie ein Traum, ein Leben in einer ganz anderen Welt. Wenn er aber plötzlich in die Zeit vor Juli 45 zurückgeworfen wurde, dann verschwand die Zeit danach aus seinem Bewusstsein. Erst in den letzten Jahren dachte er häufiger wieder an seine Kindheit und Jugend, begannen sich die 20-iger Jahre und die Zeit in Århus mit der Nachkriegszeit zu verbinden. Die ersten Jahre der Nazizeit und die Zeit nach der Besetzung Dänemarks aber waren noch immer Abschnitte seines Lebens, die ihm wie eine andere Realität erschienen.

Seiner Schwester Ingrid war es immer ähnlich ergangen. Wenn sie bei seinen Besuchen in Tel Aviv in Gesprächen in die Zeit vor 45 eingetaucht waren, dann gab es für beide die Gegenwart nicht mehr, dann gab es Israel nicht, dann gab es nur noch die Zeit bis Kriegsende, oder allenfalls bis Anfang 46, als Ingrid nach Haifa ausgewandert war; nicht nur die Nazizeit, auch die Zeit davor, aber nicht die Zeit danach. Es war wie eine Zeitreise, und sie hatten beide manchmal viele Stunden gebraucht, um in die Gegenwart zurückzukehren.

Er musste es jetzt stoppen, er musste die Gegenwart festhalten, bevor er ganz in der Zeit vor 45 abtauchte. Kurz entschlossen riss er sich aus seinen Gedanken und fragte den Jungen: „Warum hast du gerade dieses Buch gelesen?”

Der Junge schien weniger überrascht über die plötzliche Wende des Gesprächs, als Arend erwartet hatte. Ihm wurde bewusst, dass sie im Grunde auch noch gar nicht richtig miteinander gesprochen hatten. Bis auf wenige Sätze hatte bislang alles in seinen Gedanken stattgefunden, und der Junge war ganz sicher nicht in die Zeit vor 45 abgetaucht, weil für ihn diese Zeit nur Geschichte war, eine Zeit, die er selbst ja nicht erlebt hatte.

„Ein Freund von mir hat es mir empfohlen.” antwortete der Junge.

„Interessiert du dich für die Zeit des Nationalsozialismus?”

„Ich weiß nicht viel darüber.” Der Junge dachte eine Weile nach und fügte dann hinzu: „Ich denke nur immer, wenn ich so ein Buch lese, wie haben die Leute so etwas machen können?” Er schwieg einen Moment und sagte dann: „Ich würde gerne mehr verstehen; warum es den Faschismus gegeben hat, warum so viele da mitgemacht haben und so wenige sich dagegen gewehrt haben.”

„Warum sich wenige gewehrt haben, kann ich dir sagen: Sie hatten einfach Angst. Es gab überall Spitzel, man musste immer Angst haben, verpfiffen zu werden. Schon auf kleinen Verdacht hin wurde man verhaftet und von der Gestapo gefoltert. Man kam leicht in den Knast oder ins KZ und schwer wieder raus.

Aber warum so viele Menschen selbst Nazis geworden sind oder sie zumindest unterstützt haben, das ist viel schwerer zu verstehen. Ich habe es zwar selbst miterlebt und viel darüber nachgedacht, auch darüber, warum auch jetzt noch so viele Menschen ausländerfeindlich sind, Flüchtlinge abschieben wollen, warum sie so voll von Vorurteilen sind, und warum ihnen das Leben und Wohlergehen von Fremden so wenig bedeutet. Aber wirklich verstanden habe ich es nie.”

„Und Sie selbst, bevor Sie nach Dänemark gegangen sind, was haben Sie da gemacht?” fragte der Junge zögernd.

Arend hätte mit der Antwort einen ganzen Abend füllen können. Aber dies war weder der passende Ort und Zeitpunkt dazu, noch war es wohl das, was der Junge von ihm wollte. Im Übrigen war es viel schwerer für ihn, über diese Zeit zu sprechen als über die ersten zwei Jahre in Dänemark. Er wollte versuchen, es möglichst sachlich in wenige Sätze zusammenzufassen:

„Ich war immer eher ein Theoretiker, bin auch in keiner Partei oder so gewesen. Deswegen habe ich mich eher still zurückgezogen. Ich war viel mit meiner Schwester und ihrem Mann, David, zusammen. David war Kommunist, und außerdem war er Jude. Er hat bei einigen Widerstandsaktionen der Kommunisten mitgemacht, aber ich habe nicht viel darüber erfahren. Aus Sicherheitsgründen hat er nicht einmal meiner Schwester gesagt, was sie alles gemacht haben. Gleichzeitig hatte er viel an der KPD auszusetzen. Ich glaube, Diskussionen über politische Theorie hat er viel mehr mit Ingrid und mir geführt als mit seinen Genossen. Wir haben damals so unsere eigenen Vorstellungen vom Kommunismus entwickelt.

Ich selbst habe viel gelesen und diskutiert, habe mich damals im Großen und Ganzen auch mehr mit Naturwissenschaften und etwas mit Philosophie als mit praktischer Politik beschäftigt. Die politische Realität war so düster, dass ich sie häufig eher verdrängt habe.”

Er zögerte, dachte nach. Viel war es nicht, was er den Nazis entgegengesetzt hatte. Er hatte sich über die Nazis und die vielen Mitläufer aufgeregt, hatte, schon 1933, mit Ingrid und David zusammen Ideen für die Zeit nach dem Nationalsozialismus diskutiert, aber er hatte fast alle Gespräche nur mit Leuten geführt, die ohnehin gegen die Nazis gewesen waren. Ansonsten hatte er sich an wenigen Aktionen praktischer Solidarität mit Juden oder mit den Familien verhafteter Kommunisten beteiligt.

Er hatte sich immer ziemlich hilflos gefühlt, immer Angst davor gehabt, selbst in die Fänge der Gestapo zu geraten, und hatte schon sehr früh mit dem Gedanken gespielt, nach Dänemark zu gehen und das verhasste Nazi-Deutschland einfach hinter sich zurückzulassen.

„Naja, ein Held war ich nicht.” sagte er: „Ich war eher einer von denen, die sich nicht sonderlich gewehrt haben.”

Der Junge wurde rot und sagte: „Ich habe Sie nicht verletzen wollen.”

„Womit hast du mich verletzt?” fragte Arend überrascht.

„Ich meine, mit der Frage, warum sich so wenige gewehrt haben.”

„Die Frage fand ich ganz berechtigt.” sagte Arend: „Es ist nur einfach so, ich hatte immer Angst vor der Gestapo. Weiter als bis zur Gestapo habe ich vorsichtshalber gar nicht viel gedacht, wenn ich mich mal an irgend etwas beteiligt habe. Ich war eben kein Widerstandskämpfer.”

Er sagte den letzten Satz mit deutlicher Wehmut in der Stimme. Tief in seinem Innern war ihm bewusst, dass das auch nicht ganz den Tatsachen entsprach.

„Aber Sie waren Antifaschist.” sagte der Junge.

Arend fühlte sich zutiefst geschmeichelt. Er grinste darüber, dass ihm eine solche Feststellung eines wildfremden Jungen soviel bedeutete, aber die Selbstironie minderte nicht die Wirkung dieses Komplimentes. Antifaschist, wie lange hatte ihn niemand mehr als Antifaschisten bezeichnet?

Er strahlte wie ein Kind. Der Junge sah ihn aufmerksam an. In seinen ernsten Blick mischte sich ein unsicheres, schüchternes Lächeln. Arend spürte, wie er wieder in die ausgelassene Stimmung geriet, in der er sich bei seinem Spaziergang durch die Fußgängerzone befunden hatte. Wenn er in der Zeitung etwas über die Aktionen jugendlicher Antifaschisten gelesen hatte, hatte er immer Sympathien gehabt, aber den gewaltigen Altersunterschied zwischen sich und diesen Jugendlichen wie einen unüberwindlichen Graben empfunden. Nun schien es ihm fast, als habe der Junge mit diesem einen, kurzen Satz eine Brücke über den Graben geschlagen.

Der Junge interessierte ihn. Vielleicht war es reiner Zufall, dass er ihm so geschmeichelt hatte, wahrscheinlich ahnte er nicht einmal, welche Wirkung seine kurze Bemerkung auf Arend hatte. Und dennoch wollte ihn Arend nun nicht einfach gehen lassen als einen Jungen, von dem er nichts anderes wusste, als welche zwei Bücher er zuletzt gelesen hatte.

„Ich heiße übrigens Arend Peters”. sagte er: „Wie heißt du?”

„Malte.” sagte der Junge schüchtern: „Malte Schmidt.”

„Du hast gesagt, ein Freund hätte dir dieses Buch empfohlen. Bist du in irgendeiner antifaschistischen Gruppe?”

„Ach nein, das sind nur drei Freunde, mit denen ich manchmal über so was rede.”

„Aber es interessiert dich?”

„Ja.”

Arend überlegte, wie er das Gespräch mit Malte in Gang halten konnte, ohne aufdringlich zu wirken. Als erstes mussten sie den Ort wechseln; schließlich saßen sie in einem Lesesaal, und Arend hatte bereits den ungeduldigen Blick eines Mannes wahrgenommen, der an einem Tisch wenige Meter entfernt saß und in einem Buch las.

„Willst du noch neue Bücher ausleihen?” fragte Arend. Malte nickte.

„Ich eigentlich auch.” sagte Arend: „Wenn du magst, treffen wir uns in einer Viertelstunde vorne an der Ausleihstelle, und dann lade ich dich noch in ein Café ein.”

Er bemühte sich, diese Einladung eher beiläufig erscheinen zu lassen, und beobachtete genau Maltes Reaktion. Malte schien weniger überrascht von der Einladung, als Arend erwartet hatte, vielleicht hatte er sogar damit gerechnet. Jedenfalls lächelte er ein wenig, riskierte sogar einen direkten Blickkontakt und sagte kurz: „Ja, gerne.”

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Das Buch über das Universum hatte in Arend die Lust geweckt, sich mal wieder mit diesem Thema zu beschäftigen. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich einfach das Buch ausleihen sollte, das Malte gerade zurückgegeben hatte. Er wäre sich aber Malte gegenüber blöde vorgekommen, wenn der sehen würde, dass er ihn praktisch als Vorbild dafür nähme, was er sich auslieh. So stöberte er eine Weile in der Abteilung der populärwissenschaftlichen Bücher und hatte sich gerade für eines über die allgemeine Relativitätstheorie entschieden, als Malte neben ihm erschien. Arend zeigte ihm kurz sein Buch und sagte: „Ich gucke noch mal bei den Krimis.”

Fast gleichzeitig kamen sie zur Ausleihstelle, Arend mit dem Buch über die Relativitätstheorie und einem Sjöwall-Wahlöö-Krimi, Malte mit einem Buch über Vulkanismus und Erdbeben und einem Buch aus der Reihe „Der kleine Vampir”. Während Arend an der Ausleihstelle wartete, bis die Frau vor ihm abgefertigt war, deutete er auf seine Bücher und sagte: „Ich habe schon zweimal versucht, die allgemeine Relativitätstheorie zu verstehen, aber das ist schon lange her. Damals habe ich sie letztlich nicht verstanden, aber inzwischen habe ich öfter mal im Fernsehen was darüber gesehen; vielleicht begreife ich es ja diesmal besser.”

„Ich habe darüber auch schon was im Fernsehen gesehen.” sagte Malte: „Ich fand das eigentlich ganz gut erklärt, wieso die Zeit langsamer abläuft, wenn man sich schnell bewegt, weil die Lichtgeschwindigkeit begrenzt ist. Aber ganz verstanden habe ich es, glaube ich, auch nicht, zumindest könnte ich das jetzt selbst nicht erklären.”

„Das ging vermutlich um die spezielle Relativitätstheorie.” entgegnete Arend: „Die ist auch nicht ganz einfach, aber die habe ich im Prinzip ganz gut verstanden, auch mal die Kernaussagen mathematisch nachvollzogen. Die allgemeine Relativitätstheorie beschäftigt sich mit der Gravitation, sie erklärt die Gravitation durch eine Krümmung des Raumes. Das hast du vielleicht auch mal im Fernsehen gesehen, da wird immer ein schönes Modell mit Kugeln, die auf einem Gummituch rollen, benutzt. Aber bei dem Übergang von diesem Modell zum Raum bleiben immer dieselben Fragen unbeantwortet.”

Er unterbrach sich selbst, weil sie mittlerweile beide an der Ausleihstelle fertig waren und zusammen zur Garderobe gegangen waren. Nachdem sie schweigend ihre Bücher verstaut und sich angezogen hatten, sagte Arend: „Eigentlich wollte ich in ein Café mit Blick aufs Wasser gehen, in der Nähe des Institutes für Meereskunde, aber das ist zu Fuß vielleicht etwas weit. Vielleicht sollten wir uns lieber ein Café in der Fußgängerzone suchen.”

Malte nickte schweigend. Er holte sein Fahrrad, das er vor der Bücherei abgestellt hatte. Es war ein ziemlich altes, einfaches Fahrrad, ohne Gangschaltung oder irgendwelche Extras. Es schien Arend aber gut gepflegt zu sein.

Auf dem ersten Stück des Weges merkte Arend an Maltes unregelmäßigen Schritten, dass sich Malte bemühte, sich genau neben ihm zu halten und seiner Geschwindigkeit anzupassen. Wahrscheinlich war er ein deutlich schnelleres Tempo gewöhnt. Nach kurzer Zeit aber hatte er offenbar Arends Tempo getroffen und ging mit gleichmäßigen, langsamen Schritten neben Arend her.

„Du interessierst dich auch für Naturwissenschaften?” nahm Arend das Gespräch wieder auf.

„Ja.”

„Ich habe Physik studiert, in den fünfziger Jahren. Eigentlich war ich da schon über das Alter hinaus, in dem man normalerweise studiert, aber es hat mich interessiert, und ich hatte die Gelegenheit dazu. Ich habe damals sowieso in Hamburg an der Hochschule gearbeitet.”

„Als was haben Sie an der Hochschule gearbeitet?”

„Ich war Optiker, und dort habe ich im technischen Labor gearbeitet; Instrumente betreut und repariert, teilweise Versuche aufgebaut usw.. Das war eigentlich eine ganz interessante Arbeit, auch nicht nur Optik, sondern verschiedenste, technische Instrumente, und ich hatte dort eine gute Möglichkeit, nebenbei selbst zu studieren. Das war eine schöne Zeit.”

„Kann man mit Realschulabschluss Optiker werden?”

„Ich glaube schon, aber ich weiß es gar nicht genau. Ich hatte damals Abitur, und außerdem ist das schon über 60 Jahre her, dass ich die Ausbildung begonnen habe. - Überlegst du, ob du auch Optiker werden willst?”

„Naja, irgendwas mit Physik würde mir schon gefallen. Aber ich weiß es noch überhaupt nicht.”

„Und Abitur willst du nicht machen?”

Malte senkte den Blick und sagte kurz: „Das wird nicht gehen.”

Arend hatte den Eindruck, einen wunden Punkt getroffen zu haben, an dem er besser nicht weiter fragte.

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Die Sonne stand schon tiefer, es war mittlerweile halb fünf. Eine leichte Bewölkung war aufgekommen, die die Sonne verschleierte. Der Wind wehte kalt vom Hafen her in die Stadt, die Vorfrühlingsstimmung war der Kälte gewichen. Die Stimmung passte nun auch besser zu einem gemütlichen Café am Alten Markt als zu einem Café mit Blick auf den Hafen, insofern hatten sie die richtige Entscheidung getroffen.

Arend warf gelegentlich einen Blick zu Malte hinüber, der locker neben ihm her schlenderte, das Fahrrad nur mit einer Hand schob und bei jedem Schritt ein wenig seine Bewegungen zu zügeln schien, um nicht zu schnell zu gehen. Sein Blick war jetzt weniger ernst, vielmehr ließ er ihn neugierig schweifen.

Arend dachte darüber nach, warum er Malte eigentlich in ein Café einlud. Es war eine vollkommen unvorhergesehene Situation, ein kurzes, aber tiefgehendes Gespräch, ein spontanes Interesse für einen fremden Jungen, der ihm sehr geschmeichelt hatte, aber von dem er nicht mehr wusste, als dass sie zwei Interessen teilten. War das ein Grund, ihn zum Kaffee einzuladen? Im Grunde war es nicht seine Art, spontan wildfremde Leute einzuladen, und schon gar nicht wildfremde Kinder. Ihm wurde klar, dass mehr dahinter steckte. Es war der erste vorfrühlingshafte Tag des Jahres, er hatte eine ungeheure Lebenskraft in sich gespürt, fast so etwas wie jugendliche Frische. Zugleich aber war ihm sein Alter sehr bewusst, seine schon ein wenig angeschlagene Gesundheit und die Tatsache, dass dies durchaus schon sein letzter Frühling sein konnte. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr wurde ihm klar, dass er noch einmal einen jungen Menschen kennen wollte, noch einmal bei einem anderen Menschen miterleben, wie es ist, am Anfang des Lebens zu stehen. Seit Jahren schon hatte er überhaupt keinen Kontakt mehr zu jungen Menschen.

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Sie kamen am Alten Markt an. Arend machte sich klar, dass sie seit zehn Minuten keinen Satz mehr gewechselt hatten. Aber Malte ging noch neben ihm, und er machte auch nicht den Eindruck, als fühlte er sich unwohl dabei, einen fremden, alten Mann ins Café zu begleiten. Er hatte die Einladung ja auch nicht widerstrebend angenommen, sondern ohne zu zögern und mit den Worten „Ja gerne”. Das gab Arend Sicherheit darin, nun an der Einladung auch festzuhalten.

Er blickte sich auf dem Alten Markt um und wies mit dem Kopf in die Richtung eines Cafés, in dem er gelegentlich einkehrte, bevor er nach Einkäufen in der Stadt nach Hause fuhr. Malte begleitete ihn schweigend. Arend suchte einen Tisch in einer ruhigen Ecke und zog seinen Mantel aus. Malte stand unsicher neben ihm; Arend hatte den Eindruck, dass Malte überlegte, ob er ihm aus dem Mantel helfen sollte. Er war erleichtert darüber, dass Malte auf diese Höflichkeitsgeste schließlich doch verzichtete, gab ihm aber seinen Stock, Mantel und Schal mit, um sie an der Garderobe abzustellen bzw. aufzuhängen.

„Was möchtest du trinken?” fragte Arend, nachdem Malte sich gesetzt hatte.

„Einen Kakao.” sagte Malte.

„Und Kuchen?”

Malte schüttelte den Kopf. Arend bestellte je ein Kännchen Kakao und Kaffee und sah ihn dann eine Weile schweigend an. Malte war ein schmächtiger Junge. Er hatte mittelblonde, kurze, aber nicht zu kurze Haare; möglicherweise leicht gewellt, vielleicht aber auch einfach nur ungekämmt. Er hatte ein hageres Gesicht, blasse Haut, große, blaugraue Augen, die gleichzeitig ernst, fast etwas melancholisch, aber auch interessiert und lebendig wirkten. Seine Nase war für ein Kind ungewöhnlich ausgeprägt, sie war schmal und gar nicht mal übermäßig groß, aber das Nasenbein zog sich weit nach oben hin. Abgesehen von der Nase wirkte sein Gesicht noch recht kindlich. Nach seinem Gesicht hätte Arend ihn auf etwa 14 Jahre geschätzt, nach seiner Größe und dem schmächtigen Körperbau eher auf zwölf. Nach seinen Bewegungen und seiner Stimme zu urteilen stand er zumindest noch sehr am Anfang der Pubertät. Malte machte auf Arend einen eher unauffälligen Eindruck, und seine schlichte, fast ärmlich wirkende Kleidung unterstrich diesen Eindruck noch.

Nachdem sie ihren Kaffee und Kakao bekommen hatten, nahm Arend das Gespräch wieder auf: „Wie alt bist du eigentlich?”

„Ich bin gerade 14 geworden, vorherige Woche.”

„Na, dann herzlichen Glückwunsch nachträglich.”

Malte lächelte verlegen und murmelte ein kurzes „Danke”.

„Und in welcher Klasse bist du?”

„In der achten Klasse, in Gaarden.”

„Gehst du gerne zur Schule?”

„Naja, manche Fächer mag ich gerne. - Und außerdem ... .” Er unterbrach sich, senkte unsicher den Blick und betrachtete seinen Kakao. Nach einer Weile fuhr er fort, ohne den Blick von seiner Tasse zu heben:

„Naja, wenn ich immer zu Hause wäre, das würde nur Streit geben.”

Diese Bemerkung weckte Arends Neugier, aber Maltes Unsicherheit hinderte Arend daran, nachzufragen. Sie schwiegen eine Weile, bis Malte schließlich wieder zu ihm hinsah und sagte:

„Aber manchmal geht mir die Schule auch etwas auf den Nerv.”

„Aber Physik gefällt dir auch in der Schule?”

„Ja, Physik, Mathe und Erdkunde mag ich am liebsten. - Biologie eigentlich auch, aber da haben wir einen blöden Lehrer, und das ist außerdem ein bisschen so ein Paukfach. - Und Sport mag ich auch ziemlich gerne.”

„Bis auf Sport sind das dieselben Fächer, die ich auch am liebsten mochte. Bei mir kam noch Chemie dazu. Aber Sport habe ich gehasst. Das war mit soviel Kult verbunden, so eine Mischung aus Deutschtümelei und männlichen Tugenden. Außerdem war es ein Fach, in dem man eigentlich überhaupt nichts gelernt hat, in dem es letztlich nicht einmal darum ging, körperlich fit zu sein, sondern wo es vorallem darauf ankam, besser zu sein als andere. Es war im Grunde ein ständiger Wettkampf, egal ob in Ballspielen, im Turnen oder im Laufen, man musste sich ständig mit anderen messen. Und dabei lag meine Schulzeit noch vor der Nazizeit, in der Nazizeit wurde das noch viel schlimmer.

Bist du denn gut in Sport?”

„Naja, große Leistungen habe ich da auch nicht. Ich bin nicht sehr schnell im Laufen, kann nicht sonderlich weit oder hoch springen, und ich gehöre auch zu den Schwächsten in unserer Klasse. Aber das finde ich nicht so schlimm, ich bin ja nun mal nur so ein Hemd. Dafür bin ich gut im Turnen, und Handball, Basketball und Volleyball mag ich zumindest ziemlich gerne.”

Arend erinnerte sich mit Grauen an den Sportunterricht in seiner Schulzeit: „Turnen habe ich am meisten gehasst, vor allem Reckturnen. Eine Rolle vorwärts am Reck z.B. war der reinste Horror für mich; mich kopfüber fallen zu lassen, das konnte ich überhaupt nicht.

Ich war immer mehr ein Kopfmensch. Geistig habe ich mir viel zugetraut und mich selbst immer wieder gefordert, und dadurch habe ich meine Grenzen immer weiter ausgedehnt, während ich sportlich nichts gemacht habe, lediglich Spaziergänge, Radtouren usw., aber nie richtigen Sport. Ich hatte auch immer eine Abneigung dagegen, irgendwelche Bewegungsabläufe auszuprobieren, wenn sie nicht im normalen Alltagsleben vorkommen. Ich hatte nie eine große Körperbeherrschung und auch kein Bedürfnis, sie zu vergrößern. Ich habe es auch nie gebraucht, habe mich schon als Schüler fast nur mit geistigen Dingen beschäftigt. Beim Wehrdienst hätte ich Sportlichkeit brauchen können, aber der Wehrdienst war sowieso eine entsetzliche Zeit für mich, mitten in der Nazizeit.

Erst im Alter habe ich angefangen, etwas Gymnastik für meinen Rücken zu machen. Das ist das Einzige, was ich systematisch für meinen Körper tue. Anfangs habe ich das sehr ungern und auch ziemlich unregelmäßig gemacht. Ich muss allerdings zugeben, dass ich daran auf Dauer sogar einen gewissen Reiz gefunden habe. Ich merke, dass mir das gut tut, dass ich meinen Rücken dadurch bewusster wahrnehme.”

Malte dachte eine Weile nach, bevor er sagte: „Zu Anfang war das bei mir auch gar nicht so freiwillig. Ich war immer kleiner und schwächer als meine Mitschüler, und in der Grundschule gab es zwei Jungen, die mich oft geschlagen haben, manchmal richtig verfolgt. Vor denen hatte ich soviel Angst, dass ich mich manchmal kaum zur Schule getraut habe. Mein Vater hat mich dann überredet, Judo zu lernen. Ich wollte das erst überhaupt nicht, aber da habe ich viel gelernt. Nach einigen Monaten hatte ich weniger Angst vor diesen beiden Jungen, weil ich gelernt hatte, wie man sich wehren kann, auch wenn man schwächer ist. Das war dann gar nicht nötig, denn die haben mich dann gar nicht mehr geschlagen. Ich war einfach etwas mutiger geworden, und das reichte, damit die mich in Ruhe gelassen haben.

Aber ich habe im Judo nicht nur gelernt, mich zu wehren, - darin war ich im Grunde auch beim Judo gar nicht gut, und das hat mir auch keinen großen Spaß gemacht, - sondern ich habe vorallem einfach meinen Körper kennengelernt. Man lernt da z.B. auch, zu fallen, ohne sich weh zu tun. Das gefiel mir besser, und das ist natürlich auch beim Turnen gut. Dadurch habe ich keine Angst am Reck, denn ich glaube, wenn ich vom Reck fallen würde, würde ich mich wahrscheinlich trotzdem nicht verletzen.”

„Aber macht dir das denn Spaß, z.B. eine Rolle am Reck oder ein Purzelbaum oder so etwas?”

„Ja, ich mag das wirklich gerne. Sich schnell zu bewegen, mit viel Schwung, und dann den Schwung aufzufangen und auszunutzen, z.B., um sich um sich selbst zu drehen oder von den Füßen auf die Hände und dann wieder auf die Füße zu kommen, das macht einfach Spaß. Mir macht es auch Spaß, was Neues auszuprobieren, eine Weile zu üben und es dann irgendwann hinzukriegen.”

„Mir wird sofort schwindelig, wenn ich mich um mich selbst drehe.” sagte Arend: „Mir ist als Kind auch in jedem Karussell schwindelig geworden. Für mich war gerade Turnen immer ein solcher Horror, dass ich es nur abgewehrt habe.”

Er dachte an einen Sonntag Nachmittag mit David und Ingrid im Frühsommer 1933, kurz nach seinem 18. Geburtstag. David hatte einen Ball mitgenommen. Er freute sich wie ein Kind auf eine Partie Fußball. Arend dagegen hätte viel lieber den ganzen Nachmittag in der warmen Junisonne gesessen und diskutiert. Aber er wollte kein Spielverderber sein. Ingrid und er spielten gegen David auf ein Tor, das sie mit Stöcken markiert hatten. David schoss ein Tor nach dem anderen. Mit Leichtigkeit nahm er Arend immer wieder den Ball ab; Arend konnte der Bewegung seiner Füße kaum folgen. Arend erinnerte sich, wie Ingrid ihm den Ball zuspielte und er ihn sich umständlich zurecht legte, um aufs Tor zu schießen. Plötzlich huschte David an ihm vorbei, und ehe Arend ganz begriff, dass David ihm den Ball abgenommen hatte, schoss David schon wieder ein Tor.

„Du stehst da wie eine Salzsäule.” rief David lachend. Arend zuckte mit den Schultern. „Sport ist was für Nazis.” Es lag ihm auf der Zunge, David mit dieser Bemerkung zu provozieren, aber er verkniff es sich. David hätte sich nur lustig darüber gemacht. Er war selbst Mitglied in einem Arbeitersportverein, von dessen Mitgliedern die meisten vor einem halben Jahr noch Sozialdemokraten oder Kommunisten gewesen waren. Arend aber verband mit Sport nur Deutschtum und Herrenrasse.

Er riss sich aus seinen Gedanken los; schon wieder Erinnerungen an David. Wahrscheinlich spukte David noch von der Stadtbücherei her in seinem Kopf herum.

Er erzählte Malte von diesen gelegentlichen, sonntäglichen Fußballspielen.

„Hat es Ihnen als Kind denn keinen Spaß gemacht, sich zu bewegen und herum zu toben?” fragte Malte.

„Ich weiß es nicht genau, ich habe zumindest keine Erinnerung daran, dass es mir sonderlich viel Spaß gemacht hat. Ich habe viel nachgedacht, gelesen, Geige gespielt. Ich hatte auch eine rege Fantasie, habe stundenlang in Traumwelten gelebt. Aber es waren immer alles geistige Dinge. Mein Körper war für mich im Grunde immer nur ein Instrument, etwas, worin der Geist sitzt, solange man lebt, und was danach seine Funktion verliert.”

„Aber solange Sie leben, ist Ihr Körper doch ein Teil von Ihnen. Wenn ich tobe, turne oder so, macht mir das einfach Spaß, das ist einfach Leben. Nachdenken und lesen mag ich auch gerne, aber das Alleine ist doch kein Leben.”

„Es ist ja auch nicht so, dass ich mich nie bewegt hätte. Ich habe Spaziergänge, manchmal richtige Wanderungen, und auch viele Radtouren gemacht. Und bis heute gehe ich auch manchmal schwimmen. Aber wahrscheinlich erlebe ich die Welt anders als du. Auch bei Spaziergängen und Radtouren ist es mehr das Betrachten der Natur, was mich reizt, Gerüche, Geräusche, eben jede Art von Wahrnehmung. Mein Körper ist im Grunde auch dann nur der Sitz meines Geistes, er trägt mich eben durch die Welt, und er nimmt die Welt für mich wahr. Ich war zwar immer zufrieden mit meinem Körper, war gesund, sah auch nicht schlecht aus; aber das eigentliche Ich war immer nur mein Geist. Nur dem habe ich was abverlangt, nur der war mir wirklich wichtig.

Der Körper ist eben vergänglich, der Geist vielleicht nicht. Ich weiß nicht, vielleicht stirbt mit dem Tod auch der Geist, aber ich kann hoffen, dass mein Geist, oder zumindest ein Teil davon, nach meinem Tod in irgendeiner Form erhalten bleibt. Wenn ich mich mehr mit meinem Körper identifizierte, würde ich in jedem Fall vergänglicher.

Auch im Leben schon erscheint mir der Körper irgendwie eng, begrenzt. Der Geist dagegen ist Freiheit, Weite, vielleicht über den Tod hinaus. Die geistige Welt empfinde ich als etwas großartiges. Verglichen mit den großen Fragen der Philosophie und Naturwissenschaften erscheint mir alles Körperliche belanglos.”

„Haben Sie das als Jugendlicher auch schon so gesehen?”

„Ja, vielleicht sogar noch radikaler als heute.”

Malte sah eine Weile nachdenklich in die Gegend.

„Heißt das, dass Sie alles Körperliche ablehnen, weil der Körper irgendwann stirbt?”

„Nein, das sicher nicht. Zum Einen lehne ich körperliche Dinge nicht ab, sie hatten nur schon immer wenig Bedeutung für mich verglichen mit geistigen Dingen. Zum Anderen war das keine bewusste Entscheidung, ich war einfach so veranlagt, vielleicht schon von Geburt an.

Ich denke, es ist eher umgekehrt, dass ich meine philosophischen Vorstellungen an meinem eigenen Wesen entwickelt und orientiert habe. Wenn ich ein anderes Verhältnis zu meinem Körper hätte, hätte ich sicher auch etwas andere philosophische Ideen und Vorstellungen entwickelt. In allen meinen Vorstellungen gibt es eine starke Trennung zwischen geistiger und materieller Welt, und die entscheidende Welt war für mich dabei immer die geistige. Ein Mensch, für den der eigene Körper eine größere Rolle spielt, der seinen eigenen Geist und Körper vielleicht stärker, als ich das tue, als Einheit sieht, wird vielleicht von der ganzen Welt ein Bild entwickeln, in dem Materielles und Geistiges weit weniger getrennt ist als für mich.”

„Meinen Sie, dass ein sportlicher Mensch nicht an eine unsterbliche Seele glauben kann?”

„Nein, das wollte ich damit nicht sagen. Ein Christ, für den der eigene Körper eine große Rolle spielt, wird allerdings vielleicht mehr das Gefühl haben, mit dem Tod einen Teil seiner Persönlichkeit zu verlieren, als einer, der sehr auf geistige Dinge ausgerichtet ist.

Ich selbst bin kein Christ, ich habe überhaupt keinen Glauben, lediglich einige Spekulationen und Hoffnungen bzgl. einer Weiterexistenz nach dem Tod. Mir selbst fällt es leicht, dabei von einer rein geistigen Welt auszugehen. Wie ist das bei dir?”

„Ich weiß es nicht, ich glaube nicht an Gott, aber ich halte es für möglich, dass es einen Gott gibt. Als mein Vater gestorben ist, habe ich geglaubt, dass er nun im Himmel ist. Aber ob nur seine Seele oder alles von ihm im Himmel ist, da habe ich nie drüber nachgedacht. In meinen Gedanken war er so, wie er war, im Himmel, also mit seinem Körper.

Aber damals war ich noch klein, gerade mit der zweiten Klasse fertig, da habe ich einfach das geglaubt, was ich in der Schule im Religionsunterricht gelernt habe. Jetzt weiß ich es einfach nicht. Ich denke auch nicht viel an den Tod, ich habe nur Angst vorm Tod.”

„Du bist ja auch noch sehr jung. Je älter man wird, desto mehr denkt man an den Tod. Und auch wenn man nie religiös war, fängt man doch irgendwann an, sich Vorstellungen davon zu machen, was nach dem Tod ist. Man kann seine Angst vor dem Tod so ein wenig überwinden.

Ich denke, dass es aber auch ganz objektiv gewisse Indizien dafür gibt, dass es noch etwas jenseits der naturwissenschaftlich erkennbaren Welt gibt, dass das menschliche Bewusstsein mehr ist als physikalische Prozesse im Gehirn, und dass somit zumindest die Möglichkeit besteht, dass es auch eine, wie auch immer geartete, Weiterexistenz nach dem Tod gibt.

Ich selbst habe auch als junger Mensch, sogar schon als Kind, häufig über den Tod nachgedacht. Ich hatte zwar auch Angst vorm Tod, aber für mich stand der Tod immer in enger Verbindung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Was der Sinn des Lebens ist, und was mit dem Menschen nach seinem Tod geschieht, das ist für mich im Grunde dieselbe Frage, nur aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, denn der Sinn des Lebens kann meiner Meinung nach nur etwas sein, was über das Leben hinaus reicht.”

„Und was denken Sie, was der Sinn des Lebens ist?”

„Wie gesagt, die Frage nach dem Sinn des Lebens und die Frage, ob es jenseits des menschlichen Lebens noch etwas gibt, und wenn ja, was, sind für mich im Grunde identisch. Da ich keine religiösen Vorstellungen habe, nichts weiß, was ich nicht in diesem Leben erfahren habe, kenne ich demnach auch nicht den Sinn des Lebens. Letztlich bleibt dem Menschen nichts anderes übrig, als seinem Leben selbst einen Sinn zu geben. Sollte es einen Gott geben, der den Menschen geschaffen hat, und der dem menschlichen Leben einen Sinn gegeben hat, so wird es auch seinen Sinn haben, warum der Mensch, zumindest zu Lebzeiten, den Sinn seines Lebens nicht erfährt. Ich könnte mir sogar vorstellen, warum der Mensch den Sinn des Lebens nicht erfährt, denn wenn er den Sinn kennen würde, würde er sein Leben vollkommen danach ausrichten, er hätte im Leben kein anderes Ziel, als den Sinn des Lebens zu erfüllen. Vielleicht besteht der Sinn aber gerade in der Suche, im Ausprobieren verschiedener Lebenswege.

Wenn man dir den Auftrag geben würde, zu untersuchen, ob es auf dem Mars Wasser gibt, und dir dafür 30 Jahre Zeit und unbegrenzte Forschungsmittel zur Verfügung stellen würde, dann würdest du zielgerichtet dieser Frage nachgehen, würdest dein ganzes Leben danach ausrichten, diese eine Frage zu klären. Du würdest zwar sehr viel Physik lernen, weil du ungeheure Kenntnisse brauchst, um überhaupt zu wissen, wie du deine Forschungsmittel einsetzen kannst, und wie du die Ergebnisse deiner Untersuchungen zu interpretieren hast. Aber du würdest die Physik in ganz anderen Fragen wahrscheinlich nicht voran bringen. Wenn man dir dagegen einfach nur die Forschungsmittel zur Verfügung stellen, aber keine Frage stellen und keinen Auftrag geben würde, würdest du vielleicht vollkommen neue Erkenntnisse in der Physik oder Astronomie erlangen.”

„Aber der Sinn des Lebens könnte ja auch ein ganz anderer sein, z.B., Gutes zu tun, anderen Menschen zu helfen.”

„Ja, sicher. Es kann sogar sein, dass das Leben überhaupt keinen Sinn hat. Wenn nach dem Tod nichts von uns erhalten bleibt, wüsste ich nicht, wie das Leben vor dem Tod einen Sinn haben könnte. Es ist schon merkwürdig mit der Frage nach dem Sinn des Lebens: Ich weiß sicher, dass ich zu Lebzeiten keine sichere Antwort auf diese Frage bekommen werde, und dennoch beschäftige ich mich immer wieder mal mit dieser Frage, und ich denke, dass es für jeden Menschen gut ist, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Auch wenn ich nicht weiß, ob es einen Sinn des Lebens gibt, der über das Leben hinaus reicht, so denke ich doch, dass diese Frage notwendig ist, um seinem Leben für die Zeit des Lebens selbst einen Sinn zu geben.

Ich habe immer einen großen Wissensdurst gehabt, immer alles in Frage gestellt, viel Zeit meines Lebens mit Nachdenken verbracht. Da liegt es nahe, die Suche nach Erkenntnis zum Sinn meines Lebens zu machen. Andere Menschen leben intensiver mit anderen Menschen zusammen, sind hilfsbereit, haben vielleicht vielmehr Freude daran, zu sehen, dass sie einem anderen Menschen etwas Gutes getan haben, als daran, etwas verstanden zu haben, worüber sie lange nachgedacht haben. Solche Menschen werden den Sinn ihres Lebens vermutlich eher darin finden, Gutes zu tun.

In jedem Fall halte ich es aber für wichtig, sich Gedanken über den Sinn des Lebens zu machen. Ich denke, wenn man seinem Leben einen Sinn gegeben hat, wie auch immer der aussieht, kann man im Alter mit einer gewissen Zufriedenheit zurückblicken und kann dem Tod mutig entgegen sehen.”

„Aber falls es kein Leben nach dem Tod gibt und das Leben keinen Sinn hat, dann hat man sich doch immer was vorgemacht.”

„Das ist richtig. Das ist auch der Grund, weswegen ich trotz allem noch eine gewisse Angst vorm Tod habe. Es ist weniger der Tod an sich, der mir Angst macht, als eben diese Möglichkeit, dass alles sinnlos ist, weil am Ende des Lebens nur das Nichts steht.

Ich kenne Menschen, die überzeugt davon sind, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, dass es generell nichts jenseits der naturwissenschaftlich erkennbaren Welt gibt, und dass es demnach auch keinen Sinn des Lebens gibt, und sie scheinen damit leben zu können. Es gab mal einen griechischen Philosophen, der gesagt hat: ‚Man braucht keine Angst vorm Tod zu haben, denn solange man existiert, ist der Tod nicht da, und sobald er da ist, existiert man nicht mehr.' Vorausgesetzt, es gibt kein Leben nach dem Tod, hat er vollkommen Recht. Wenn es nur um die Angst vorm Tod ginge, müsste einem diese Feststellung jegliche Angst nehmen. Aber für mich ist gerade die Vorstellung, dass nach dem Tod überhaupt nichts mehr kommt, der größte Horror. Da ist es auch kein Trost, dass ich es nicht mehr feststellen würde, wenn nach dem Tod nichts mehr von mir übrig bliebe.”

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Sie schwiegen einige Minuten und dachten nach. Es war mittlerweile nach sechs Uhr. Malte würde sicher bald nach Hause müssen. Arend war klar, dass bis auf wenige Sätze fast nur er geredet hatte. Die Richtung, die er dem Gespräch gegeben hatte, war für ein Kind vielleicht auch eher deprimierend. Er hatte Malte von der Nazizeit erzählen wollen; statt dessen hatte er sich von seinen Gedanken treiben lassen. Er sah Malte an, der nachdenklich in seine mittlerweile leere Kakaotasse starrte. Er wirkte sehr ernst, aber nicht deprimiert. Das gab Arend Mut, zum Abschluss des Gespräches noch auf eine Sache einzugehen, die Malte angesprochen hatte, und über die er zunächst einfach hinweggegangen war:

„Woran ist dein Vater gestorben?”

Malte sah von seiner Tasse auf. Die Frage schien ihn weder sonderlich zu überraschen noch aus seinen Gedanken herauszureißen. Vielleicht hatte er gerade über den Tod seines Vaters nachgedacht.

„Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.”

„Hast du sehr an ihm gehangen?”

Malte nickte schweigend. Arend zögerte, weiter zu fragen, entschloss sich dann aber, ein Thema anzuschneiden, von dem er vermutete, dass es ein wunder Punkt in Maltes Leben war:

„Mit deiner Mutter verstehst du dich nicht so gut?”

Malte sah ihn überrascht an: „Woher wissen Sie das?”

„Du hast vorhin mal kurz erwähnt, dass es nur Streit geben würde, wenn du öfter zu Hause wärest.”

Malte saß eine Weile mit gesenktem Blick da und sagte dann so leise, dass Arend trotz seiner Hörgeräte Mühe hatte, ihn zu verstehen:

„Ja, seit Papa tot ist, kriege ich immer alles ab. Manchmal fühle ich mich gar nicht mehr richtig zu Hause dort.”

Er schwieg einen Moment und fuhr dann mit festerer Stimme fort: „Meine Eltern haben sich immer gestritten, schon als ich noch ganz klein war. Mein Vater hat immer zu mir gehalten, während meine Mutter Thomas und Heike vorgezogen hat; Katrin ist mit beiden gut klar gekommen, und Paul haben sie auch beide geliebt. Jetzt kriege ich immer einen auf den Deckel. Thomas darf alles und kriegt alles, zumindest, wenn überhaupt Geld da ist, und zu mir sagt meine Mutter immer nur: ‚Du bis wie dein Vater.'”

„Und was meint sie damit? Worin bist du deinem Vater ähnlich?”

„Ach, mein Vater war einfach so ein bisschen anders als andere Väter, ein bisschen flippig; er hat immer viel gemacht, einfach, weil es ihm Spaß gemacht hat. Aber beruflich war nicht so viel, er hat nicht viel verdient, und zum Schluss war er arbeitslos. Er war Elektriker, aber ich glaube, ohne abgeschlossene Ausbildung, und er wäre wohl lieber Musiker geworden, hat auch in einer Band gespielt. Er war total lieb, hat viel mit uns gespielt, uns Sachen gebaut und so. Aber meine Mutter hätte glaube ich lieber einen Mann gehabt, der ein bisschen mehr Geld nach Hause bringt und, wie soll ich sagen, irgendwie ruhiger und normaler ist.

Naja, manchmal hat er auch zu viel getrunken. Auch, als er den Unfall hatte, war er wohl nicht ganz nüchtern.”

„Und bist du ihm ähnlich?”

„Ich glaube schon. Ich bin vielleicht auch so ein bisschen anders; dass ich immer mal was ausprobiere, was andere nicht machen, Sachen mache, zu denen ich Lust habe, und dass es mir eher egal ist, was die anderen davon halten. Mein Vater wollte einfach mehr vom Leben als Arbeit und Familie, und das kann ich gut verstehen, da bin ich ihm sicher ähnlich. Ich habe meinen Vater auch immer bewundert, ich wollte immer mal so werden wie er. - Naja, inzwischen weiß ich von ein paar Dingen, die nicht so gut waren, der Alkohol zum Beispiel, und dass er viele Schulden gemacht hat, die wir wahrscheinlich nie abzahlen können. Aber trotzdem war er ein toller Vater, auch wenn er zu wenig verdient hat. Es ist einfach nicht fair, wie meine Mutter über ihn redet.”

„Und deine Mutter ist anders?”

„Ich glaube, ganz früher war sie gar nicht so anders als er. Ich kann mich an einen Streit zwischen ihnen erinnern, wo mein Vater gesagt hat, dass sie das meiste, was sie nun an ihm auszusetzen hatte, früher ganz toll gefunden hätte, und das hat sie nicht abgestritten, sondern nur gesagt, dass sie früher ja auch noch keine fünf Kinder gehabt hätten. Naja, und jetzt managt sie alles nur noch, den Haushalt und ihr Leben, und nörgelt rum, wenn jemand mehr vom Leben erwartet als das Leben zu managen.”

„Und deine Geschwister, wie kommst du mit denen klar, und wie kommen die mit deiner Mutter klar?”

„Mit Paul ist es total schön, wir halten immer zusammen. Paul ist mein jüngster Bruder, der ist jetzt sieben. Mit Katrin und Heike verstehe ich mich auch ziemlich gut, Katrin versucht auch manchmal ein bisschen zu schlichten, wenn es Streit gibt. Die hat zwar ganz andere Interessen als ich und versteht mich oft nicht so richtig, aber sie nimmt mich manchmal in Schutz und sagt meiner Mutter, dass sie mich einfach mal so akzeptieren soll, wie ich nun mal bin. Und sie kann es auch nicht ab, wenn meine Mutter über meinen Vater lästert.

Nur mit Thomas ist es schwieriger, weil meine Mutter ihn einfach vorzieht, vorallem mir gegenüber, und er das auch ausnutzt. Er hat z.B. im Herbst neue Turnschuhe gekriegt, richtig gute Markenturnschuhe, und ich brauchte auch neue, weil ich aus meinen herausgewachsen war. Ich sollte dann aber seine alten Turnschuhe auftragen. Das fände ich normalerweise auch ganz OK, aber die passten mir gar nicht richtig, weil er viel breitere Füße hat als ich. Ich habe vorgeschlagen, lieber für uns beide billige Turnschuhe neu zu kaufen statt teure Markenturnschuhe für ihn, aber da hat er gejammert, dass alle in seiner Klasse bessere Turnschuhe als er hätten, und meine Mutter hat entschieden, dass mir seine alten schon passen würden und ich mich nicht anstellen soll. Aber ich sehe nicht ein, dass ich Turnschuhe trage, in denen ich beim Laufen hin und her rutsche. Mir sind fast alle Schuhe zu weit, weil ich ziemlich schmale Füße habe, aber diese Turnschuhe waren zudem eben auch schon von Thomas ausgelatscht. Gerade bei Turnschuhen ist es wichtig, dass sie halbwegs fest am Fuß sitzen. Das Ergebnis ist, dass ich jetzt im Sportunterricht und nachmittags beim Spitukiju immer barfuß laufe; da bin ich dann auch stur.”

Er schwieg einen Moment, bevor er fortsetzte: „Das macht mir ehrlich gesagt auch gar nichts aus; Turnen kann man sowieso am besten barfuß, und bei Basketball oder so hat es zumindest keinen großen Vorteil, Schuhe zu tragen.

Naja, im nächsten Sommer wird das mit Sandalen wahrscheinlich genau dasselbe Theater geben. Dann gehe ich eben, wenn es warm ist, nur noch barfuß. Aber das wird meiner Mutter sicher auch nicht gefallen.”

Er zuckte resigniert mit den Schultern. Arend konnte ihm seinen Ärger gut nachempfinden.

„Das ist tatsächlich ziemlich eigenartig, dass sich deine Mutter weigert, dir Turnschuhe zu kaufen. So teuer sind einfache Turnschuhe ja wirklich nicht.” sagte Arend.

Malte stimmte ihm zunächst grummelnd zu, fasste sich dann aber schnell wieder und entgegnete in viel ruhigerem Tonfall: „Naja, sie weiß auch gar nicht, dass ich Thomas alte Turnschuhe nicht trage, sondern in der Schule in den Müll geschmissen habe. Wenn ich sie nach einigen Tagen noch mal in ruhigerer Stimmung auf die Turnschuhe angesprochen hätte, hätte sie mir wahrscheinlich Geld für Neue gegeben. Aber ich habe sie nicht noch mal darauf angesprochen, ich habe keine Lust, um Klamotten betteln zu müssen, wenn meine Geschwister ihre Sachen auch so kriegen. - Und ich habe auch ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass ich diese alten Turnschuhe gleich weggeschmissen habe. Im Übrigen ist es mir inzwischen sowieso egal. Eigentlich brauche ich auch gar keine Turnschuhe.”

Er schwieg eine Weile, bevor er fortsetzte: „Meine Geschwister haben alle weniger Probleme mit meiner Mutter. Heike und Thomas kommen richtig gut mit ihr aus, da gibt es lediglich manchmal Streit, wenn die etwas haben wollen, wofür einfach kein Geld da ist. Das Geld reicht bei uns einfach hinten und vorne nicht; im Grunde geht es auch zwischen mir und meiner Mutter bei vielen Streits ein bisschen auch um Geldfragen. Katrin hat sich schon ziemlich abgenabelt, die jobt viel als Babysitterin o.ä. und ist damit auch ein bisschen unabhängiger. Und Paul leidet, glaube ich, manchmal etwas darunter, wenn meine Mutter und ich uns streiten, aber er selbst kommt eigentlich gut mit ihr aus.”

„Du bist genau das mittlere Kind?”

„Nein, ich bin der zweitälteste; nur Katrin ist gut zwei Jahre älter als ich. Nach mir kommt Thomas, dann Heike und dann Paul.”

„Und trotzdem musst du Thomas Schuhe auftragen?”

„Er ist inzwischen ein bisschen größer und viel breiter und schwerer als ich, und etwas größere Füße hat er eben auch. Er isst auch viel mehr als ich. Es kommt sogar manchmal vor, dass Leute ihn für meinen älteren Bruder halten, aber er ist 15 Monate jünger als ich.”

Arend sah auf seine Uhr; es war fünf nach halb sieben. Es hätte ihn gereizt, das Gespräch noch fortzusetzen, aber für Malte war es sicher Zeit, nach Hause zu fahren.

„Wann musst du zu Hause sein?” fragte er.

„Naja, ich sollte so langsam losfahren.”

Malte sah lustlos auf die Straße hinaus.

„Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann mal wieder.” sagte Arend. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich zufällig wieder in der Stadtbücherei treffen würden, nicht sehr groß, aber er hatte Hemmungen, Malte eine Verabredung vorzuschlagen. Bei einem etwa gleichaltrigen Menschen hätte er das ohne Zögern getan, aber der Altersunterschied von bald 69 Jahren machte ihn unsicher.

Malte nickte schweigend. Vielleicht ging es ihm genauso. Während Arend die Rechnung bezahlte, Malte ihre Sachen holte und sie sich anzogen, rekapitulierte Arend in Gedanken das lange Gespräch. Sie hatten im wörtlichsten Sinn des Wortes über Gott und die Welt geredet, und in keinem Teil des Gespräches hatte er den Eindruck gehabt, dass es Malte langweilte. Zuletzt war Malte noch sehr aus sich heraus gekommen, hatte erstaunlich offen über seine familiären Probleme gesprochen und damit deutlich gemacht, dass auch für ihn dieses Gespräch von Bedeutung war. Arend machte sich klar, dass er es vielleicht sehr bereuen würde, wenn sie jetzt einfach auseinandergehen würden und dann kaum eine Chance mehr hätten, sich jemals wiederzusehen.

Beim Verlassen des Cafés sagte er: „Wir müssen es nicht auf den Zufall ankommen lassen, ob wir uns wiedersehen. Wenn du magst, kannst du mal zum Kaffee bei mir vorbeikommen.”

„Ja, gerne.” sagte Malte ohne jedes Zögern. Arend kramte einen Kalender und Kugelschreiber aus seiner Tasche hervor und schrieb Malte seine Adresse und Telefonnummer auf. Dann ließ er sich seinerseits Maltes Telefonnummer und Adresse geben.

„Sollen wir uns verabreden, oder soll ich einfach so kommen?” fragte Malte.

„Vielleicht besser verabreden, denn es ist ja doch ein ganz schön langer Weg für dich. Wie wäre es Freitag nächster Woche, so gegen halb vier?”

Malte nickte und holte sein Fahrrad. Er setzte sich aufs Fahrrad und sah Arend unsicher an.

„Also, dann bis nächsten Freitag.” sagte Arend. Malte nickte, murmelte ein kurzes „Tschüs” und verschwand in der Dämmerung.

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Arend war aufgeregt wie ein Kind, als er am Freitag mittag um kurz vor drei vom Mittagsschlaf aufstand. Er hatte am Vormittag Kuchen und für Malte Milch und Kakao gekauft, hatte seine Wohnung aufgeräumt und sich bemüht, sein Wohnzimmer möglichst gastlich erscheinen zu lassen. Bei sonnigem Wetter wirkte es schon allein dadurch gastlich, dass die Sonne den größten Teil des Tages durch die großen Fenster hereinschien und das Zimmer in ein helles Licht tauchte, aber an einem regnerischen Tag wie diesem musste er sich etwas bemühen, das Zimmer gemütlich erscheinen zu lassen. Er hatte schon seit Monaten niemanden mehr zu Besuch bei sich gehabt, und er hatte, als er morgens angefangen hatte, die Wohnung aufzuräumen, wieder einmal gespürt, wie unsicher er darin war, Besuch zu empfangen. Sein ganzes Leben lang hatte er lieber Leute besucht als Leute zu sich einzuladen, und im Alter hatte sich diese Unsicherheit, andere Menschen in sein kleines Reich eindringen zu lassen, noch verstärkt. Außer einer jungen Frau aus dem Nachbarhaus, die einmal wöchentlich bei ihm putzte, kam selten jemand in seine Wohnung, und er erinnerte sich noch gut daran, dass es ihn vor drei Jahren einige Überwindung gekostet hatte, seine Privatsphäre für eine Putzhilfe zu öffnen.

Bei diesem Besuch nun kam hinzu, dass Malte ein sehr ungewöhnlicher Gast war. Er war kein Freund, aber dennoch hatten sie ein recht tiefgehendes Gespräch gehabt und hatten anscheinend beide starke Sympathie für einander empfunden. Er war ein Mensch aus einer ganz anderen Generation, ein Kind, zwei Drittel eines Jahrhunderts jünger als Arend, - ein Mensch aus einem anderen Zeitalter. Arend hatte sich auch längst darauf eingestellt, dass Malte möglicherweise gar nicht kommen würde, und er wusste nicht, ob er eher enttäuscht oder eher erleichtert darüber sein würde.

Er setzte sich mit einer Tasse Kaffee auf das Sofa und versuchte, die Zeitung zu lesen. Er konnte sich nicht darauf konzentrieren, sah alle zwei Minuten zur Wanduhr, ob es schon Zeit wäre, Kaffee zu machen, blickte zwischendurch lange aus dem Fenster in den wolkenverhangenen Himmel. Um viertel nach drei setzte er den Kaffee auf und deckte den Tisch. Die Thermoskanne war zwar noch halb voll, aber es erschien ihm gastlicher, frischen Kaffee zu machen. Er selbst empfand immer ein großes Gefühl von Geborgenheit, wenn er bei Besuchen von dem Geruch frischen Kaffees empfangen wurde; dieser Duft gehörte zu einem Besuch zum Kaffee einfach dazu. Schon vor seinem Mittagsschlaf hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie er eigentlich Maltes Kakao zubereiten sollte. Es war Jahrzehnte her, dass er das letzte Mal Kakao gekocht hatte, und er wusste nicht mehr, wieviel Kakao und wieviel Zucker er nehmen sollte. Nun entschied er sich spontan, nur den Kaffee und Kuchen vorzubereiten und den Kakao erst nach Maltes Wünschen zu machen.

Um fünf vor halb vier klingelte es. Arend betätigte den Summer, öffnete seine Wohnungstür und wartete im Flur auf Malte. Er war überrascht, wie schnell Malte die vier Stockwerke herauf gelaufen kam. Erst nach dem letzten Treppenabsatz verlangsamte er seine Schritte und kam eher zögernd in Arends Wohnung. Er trug eine Regenjacke und Regenhose, von denen das Wasser auf seine Schuhe und auf den Flur tropfte. Auch sein Gesicht und der vordere Teil seiner Haare waren nass. Er lächelte unsicher, sagte leise „Hallo” und blieb regungslos im Flur stehen. Arend erwiderte die Begrüßung. Maltes offensichtliche Unsicherheit verminderte seine eigene Unsicherheit deutlich.

„Ich kann deine Regenklamotten im Badezimmer aufhängen.” sagte er und holte zwei Bügel. Malte zog seine nassen Schuhe, in die das Wasser von der Regenhose gelaufen war, die ebenso nassen Socken, die Regenklamotten und den Parka, den er unter der Regenjacke getragen hatte, aus und gab Arend die Regenklamotten.

„Die Socken sollte ich vielleicht auch lieber zum Trocknen aufhängen.” sagte Arend. Malte gab sie ihm schweigend und folgte Arend zögernd bis zur Badezimmertür.

Arend brachte ihm ein Handtuch mit, als er aus dem Badezimmer kam, und sagte: „Ich gebe dir noch etwas Zeitungspapier, das du in deine Schuhe stopfen kannst, um sie zu trocken.”

Während Malte sich das Gesicht und die Haare abtrocknete, verschwand Arend im Wohnzimmer, um alte Zeitungen zu holen. Als er zurückkam, stand Malte noch immer an derselben Stelle und sah ihn unsicher an.

„Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände mache.” sagte er, als Arend ihm die Zeitungen gab.

„Ach, das sind doch keine Umstände.” sagte Arend lachend: „Es regnet heute nun mal den ganzen Tag.”

Malte zerknüllte die einzelnen Zeitungsblätter und stopfte sie, eins nach dem anderen, sorgfältig in seine Schuhe. Dann wischte er mit einem letzten Blatt die Schuhe von außen ab, stellte sie unter die Garderobe und sammelte die unbenutzten Zeitungsblätter auf. Als er fertig war und wieder zu Arend hinkam, wirkte er etwas weniger unsicher. Vielleicht hatte er einfach nur einen Moment Ruhe gebraucht, um sich zu sammeln. Arend legte seinen Arm auf Maltes Schultern und führte ihn ins Wohnzimmer.

„Hausschuhe in deiner Größe habe ich sicher nicht.” sagte Arend: „Aber soll ich dir ein Paar trockene Socken geben?”

Malte schüttelte den Kopf: „Ich gehe ich zu Hause auch immer barfuß. Meine Mutter mag es nicht, wenn ich auf Strümpfen herumlaufe. Sie ist der Meinung, dass sie dadurch schneller kaputt gehen.”

„Hast du denn keine Hausschuhe?”

„Früher habe ich zu Hause immer Sandalen getragen. Aber ich bin aus meinen Sandalen herausgewachsen, und nach dem Theater mit den Turnschuhen habe ich keine Lust, meine Mutter auf neue Sandalen anzusprechen.”

„Und von selbst kommt sie nicht auf die Idee, dir Geld für neue Sandalen zu geben?”

„Thomas hat im letzten Sommerschlussverkauf neue Sandalen gekriegt, und seitdem stehen seine alten für mich im Schuhbord. Aber die passen mir genauso wenig wie seine Turnschuhe.”

Arend sah ihn nachdenklich an. Die Geschichte mit den Turnschuhen und Sandalen war sicher nur die Spitze des Eisbergs in einem Konflikt zwischen Malte, seiner Mutter und seinem Bruder, über den er vielleicht später einmal mehr erfahren würde.

Die Wohnung war gut geheizt, sodass er es auch nicht für notwendig hielt, dass Malte Schuhe oder Strümpfe anhatte.

„Ich habe Kuchen gekauft.” sagte er: „Möchtest du einen Kakao dazu trinken?”

Malte nickte.

„Ich habe, ehrlich gesagt, lange keinen Kakao mehr gemacht.” sagte Arend: „Vielleicht kannst du mir eben sagen, wie du ihn am liebsten trinkst.”

„Ich kann ihn auch selbst machen.” sagte Malte. Arend nickte. Auch ihm schien dies die einfachste Lösung zu sein, wenn auch sicher nicht die gastfreundlichste. Er führte Malte in die Küche, gab ihm einen Topf und alle Zutaten, stellte sich dann ans Fenster und sah Malte zu. Malte machte den Kakao offensichtlich routiniert. Er nahm etwas mehr Kakao und sehr viel weniger Zucker, als Arend es vermutlich getan hätte, und brachte den Kakao unter ständigem Rühren zum Kochen. Dabei sah er immer wieder mit einem schüchternen Lächeln zu Arend hin, das Arend schweigend erwiderte. Als der Kakao kurz aufgekocht war, fragte Malte Arend nach einer Kanne. Arend musste erst einmal eine Kanne suchen, fand aber recht schnell eine alte Kaffeekanne, die er schon seit Jahren nicht mehr benutzt hatte. Malte goss den Kakao vorsichtig in die Kanne, füllte dann Wasser in den leeren Topf und stellte ihn in die Spüle. Arend führte ihn zurück ins Wohnzimmer, setzte sich selbst in einen der Sessel und überließ Malte den Platz auf dem Sofa.

Malte aß langsam den Kuchen, den ihm Arend gegeben hatte, und sah kaum von seinem Teller auf. Das Schweigen begann allmählich beklemmend zu werden. Zum Glück hatte Arend sich schon mittags überlegt, wie er ein Gespräch beginnen wollte, wenn es nicht von selbst in Gang käme, und so fragte er Malte:

„Hast du die Bücher, die du dir vorherige Woche ausgeliehen hast, schon durchgelesen?”

Maltes Körperhaltung entspannte sich. Er richtete sich von seinem Teller auf, sah Arend an, nickte und sagte schließlich: „Das Buch über Erdbeben und Vulkanismus habe ich fast fertig gelesen. Das andere, den kleinen Vampir, lese ich immer abends den Anderen beim ins Bett gehen vor. Da sind wir noch nicht so weit, weil wir vorher noch einen anderen Band davon zu Ende gelesen haben.”

„Liest immer du deinen Geschwistern abends was vor? Macht das nicht deine Mutter?”

„Nein, das mache fast immer ich. Wir haben so eine Arbeitsteilung: Meine Mutter hat um viertel nach acht Feierabend, danach kümmern Katrin und ich uns um die beiden Kleinen, und meine Aufgabe ist es, sie ins Bett zu bringen. Katrin ist auch oft abends gar nicht da, und vorlesen mag sie sowieso nicht so gerne; wenn sie zu Hause ist, sitzt sie manchmal auch dabei und hört zu, aber sie geht dann noch nicht ins Bett. Nur wenn ich mal abends nicht da bin, bringen Katrin oder meine Mutter die Kleinen ins Bett, aber das kommt eigentlich nur gelegentlich am Wochenende oder in den Ferien mal vor.”

„Na, du gehst doch sicher auch noch nicht um viertel nach acht ins Bett.”

„Nein, nicht sofort, aber die Kleinen auch nicht. Die dürfen dann noch ein bisschen spielen, aber um halb neun oder viertel vor neun gehen wir dann ins Bett; sonst ist meine Mutter sauer. Ich putze mir immer als erster die Zähne und ziehe mir einen Schlafanzug an, und solange müssen Heike und Paul ihre Spielsachen aufräumen. Wenn ich im Badezimmer fertig bin, schicke ich Heike und Paul zum Zähne putzen und Schlafanzug anziehen und räume Pauls Sachen zu Ende auf, wenn er noch nicht fertig geworden ist, und dann Heikes Sachen; die hat dann meistens noch gar nicht angefangen, ihre Sachen wegzuräumen. Und dann drängele ich die beiden, dass sie langsam fertig werden, oder manchmal macht Thomas das auch schon, weil der nach den beiden Kleinen mit Zähne putzen dran ist, und danach lese ich ihnen allen was vor. Heike und Paul sitzen dann immer mit in meinem Bett, Thomas hört von seinem Bett aus zu, aber manchmal kommt er auch erst später dazu, oder er hört gar nicht mit zu. Und Katrin kommt eben auch manchmal noch rüber.”

Er goss sich noch einen Kakao ein und erzählte dann weiter: „Um kurz vor halb zehn bringe ich dann Paul und Heike ins Bett und gehe dann auch selbst ins Bett, und um halb zehn kommt meine Mutter immer noch mal zum gute Nacht sagen und um zu gucken, ob alles in Ordnung ist. Deswegen muss auch immer alles aufgeräumt sein.”

„Und wenn nicht alles in Ordnung ist?”

„Dann schimpft sie rum, und wenn die Kleinen nicht richtig aufgeräumt haben, dann fängt sie an, aufzuräumen; dann schmeißt sie alles in irgendwelche Kisten und schimpft dabei, und dabei geht jedesmal irgend etwas kaputt. Und dann gibt es nur Tränen und Ärger, und alle kommen wieder aus den Betten, und vor halb elf schläft dann niemand von uns. Deswegen räume ich auch immer Heikes Sachen weg. Eigentlich soll sie das natürlich selbst machen, aber sie trödelt dabei immer so endlos rum, dass sie nie fertig wird, und ich will in jedem Fall vermeiden, dass meine Mutter aufräumt.”

„Und Thomas, räumt der seine Sache selbst auf?”

„Ja, der macht das mittlerweile ganz gut selbst. Und außerdem schimpft meine Mutter bei uns Größeren zwar auch, wenn wir nicht aufgeräumt haben, aber sie fängt dann nicht selbst an, unsere Sachen aufzuräumen, und richtig Theater gibt es immer erst, wenn sie aufräumt.”

„Und du gehst also immer schon zusammen mit deinen kleinen Geschwistern ins Bett?”

„Ja, fast immer. Ich dürfte dann zwar schon noch eine Weile aufbleiben, aber im Wohnzimmer will meine Mutter dann ihre Ruhe haben, und in unserem Zimmer ist nicht so viel Platz. Thomas bleibt manchmal noch eine Weile auf und sitzt auf dem Boden und liest Comics oder hört Musik oder baut irgendwas, aber ich gehe dann lieber schon ins Bett; da habe ich meine Ruhe, dann gibt es auch keinen Streit mit Thomas. Ich lese dann meist noch eine Weile. Ich lese dann nicht das Buch, das ich gerade vorlese, sondern was anderes, z.B. jetzt gerade das Erdbebenbuch.”

„Schlaft ihr alle in einem Zimmer zusammen?”

„Nein, Katrin und Heike haben ein Zimmer, und Thomas, Paul und ich habe eins. Und meine Mutter schläft im Wohnzimmer.”

Sie schwiegen eine Weile und aßen ihren Kuchen weiter. Schließlich sagte Arend: „Das klingt so, als ob nur du dich um deine beiden kleinen Geschwister kümmerst, Katrin und Thomas überhaupt nicht.”

„Das ist nur abends immer so, tagsüber kümmert sich Katrin auch oft mit um die beiden Kleinen, bei den Hausaufgaben zum Beispiel; das mache ich mehr mit Paul und sie mehr mit Heike, aber wir kümmern uns da beide um beide. Und abends hilft Katrin manchmal auch, z.B., wenn es irgendwelchen Stress gibt oder Heike zu sehr rumtrödelt. Katrin kann sich da besser durchsetzen als ich. Wir haben das ein bisschen aufgeteilt, wer was im Haushalt tun muss. Die Kleinen müssen noch wenig machen, aber wir Größeren haben alle unsere Aufgaben. Ich bringe eben die Kleinen ins Bett, und ich bin für das Putzen des Badezimmers und unseres Zimmers zuständig, Katrin ist für das Putzen der Küche und ihres Zimmers zuständig, und Thomas für den Flur. Und Katrin, Thomas und ich müssen jeweils einmal pro Woche den Abwasch eines ganzes Tages machen, und die Kleinen sollen dabei immer etwas helfen. Alles andere macht meine Mutter.”

„Und das klappt ganz gut so?”

„Ja, im Grunde schon. Mit Katrin geht das sehr gut, wir helfen uns auch schon mal gegenseitig, oder sie macht für mich den Abwasch oder ich für sie, wenn das gerade besser passt. Mit Thomas ist es manchmal nervig. Er hat starkes Asthma, deswegen muss er sowieso ein bisschen weniger machen als Katrin und ich. Aber Katrin meint immer, dass seine Asthmaanfälle vorallem dann kommen, wenn er mit Abwaschen dran ist oder der Flur sauber gemacht werden muss, und dann bleibt das oft an uns hängen. - Oder besser gesagt, an mir, denn Katrin macht das jetzt nicht mehr für Thomas, seit sie meint, dass er eine Abwaschallergie hat, wie sie das nennt.”

„Und findest du das okay, dass du dann mehr machen musst als die anderen?”

Malte lächelte: „Nö, aber ich finde das auch nicht so wichtig. Ich denke auch manchmal, wenn ich etwas mehr im Haushalt mache, akzeptiert mich meine Mutter vielleicht auch etwas mehr; - dass sie dann nicht immer Thomas vorzieht.”

„Und ist das so?”

„Bisher nicht, nein.”

Sie schwiegen eine Weile, bis Malte sagte: „Wenn ich Heike und Paul ins Bett bringe oder mit denen spiele oder mich sonst wie um sie kümmere, das empfinde ich auch nicht als Arbeit. Ich mag die total gerne, vorallem Paul, aber Heike auch. Ich spiele auch gerne mal mit Paul und mit Freunden von ihm. Die haben soviel Fantasie beim Spielen; das macht oft soviel Spaß mit denen, dass ich mir dann selbst noch wie ein kleines Kind vorkomme. Mit Heike spiele ich seltener, ihre Freundinnen sind mir auch zu sehr Mädchen.

Und dann toben wir auch viel, oder besser gesagt, die toben auf mir rum, Heike und Paul und auch oft noch Freunde von beiden, da dann auch Heikes Freundinnen.”

„Was meinst du damit, dass sie auf dir rumtoben?”

„Naja, die jagen mich und fangen mich dann und zerren mich zu Boden, und dann kitzeln sie mich durch. Manchmal, wenn die Freunde zu Besuch haben, oder im Sommer draußen auf dem Spielplatz oder im Park, sitzen dann fünf, sechs Kinder auf mir und halten meine Arme und Beine fest und kitzeln mich gleichzeitig im Gesicht und unter den Achseln und an den Fußsohlen, eben überall, wo man kitzelig ist.”

„Das klingt ja nicht so, als ob man das sehr schön finden könnte.” meinte Arend grinsend.

„Ach doch, das ist total witzig. Ich bin im Grunde auch gar nicht so kitzelig, eigentlich nur im Gesicht so richtig. Ich sage es dann auch, wenn es mir zu viel wird, vorallem, wenn sie mich zuviel im Gesicht kitzeln. Das Kitzeln ist eigentlich ja total lieb gemeint, das ist im Grunde so ähnlich, als wenn sie mit mir schmusen, nur ein bisschen lebhafter.”

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„Magst du noch einen Kuchen?” fragte Arend nach einer kleinen Pause. Malte schüttelte den Kopf. Arend stellte die Teller zusammen und wollte sie gerade in die Küche bringen, aber Malte kam ihm zuvor, stand auf und sagte: „Ich kann das auch eben wegbringen.”

Er räumte das gesamte Kaffeegeschirr ab und brachte es in die Küche. Als er sich anschließend wieder auf das Sofa gesetzt hatte, fragte er: „Haben Sie das Buch über die Relativitätstheorie schon durchgelesen?”

Arend schüttelte etwas mißmutig den Kopf und sagte schließlich: „Ich habe es aufgegeben. Ich habe angefangen es zu lesen, aber ich habe genauso wenig verstanden wie beim letzten Mal.”

Er dachte eine Weile nach und sagte: „Nein, in Wahrheit noch weniger. Ich verstehe solche Dinge nicht mehr so gut wie früher. Das, was ich richtig gut verstanden habe in der Physik oder Mathematik, ist noch vollkommen da, aber neue Dinge verstehe ich nicht mehr so gut wie früher. Ich ermüde viel schneller als früher, wenn ich mich mit Dingen beschäftige, die mich geistig sehr fordern, und ich brauche viel länger, um einem mir unbekannten Gedankengang wirklich folgen zu können.”

„Es ist unangenehm, das zu merken, was?” fragte Malte vorsichtig.

Arend nickte: „Ja, das ist unangenehm.”

Er dachte einen Moment nach und fuhr dann fort: „Es ist, denke ich, nichts Bedrohliches, nicht Altzheimer oder so was, - hoffe ich zumindest. Es fällt mir ja auch nur an so Punkten auf, die wirklich nicht einfach zu verstehen sind, wie eben die allgemeine Relativitätstheorie oder auch manchmal andere Forschungsergebnisse aus der Physik, oder seltener auch aus der Biologie oder Medizin. Aber Leben war für mich immer gleichbedeutend mit geistiger Entwicklung, und jetzt, - jetzt kann ich nur noch von dem zehren, was ich habe.”

„Aber Sie wissen doch sicher auch wahnsinnig viel, und Sie können noch richtig reden und ... .”

„Na, das will ich hoffen.” unterbrach Arend ihn lachend.

Malte wurde rot: „Ich meine, also, wenn Sie mit mir reden, dann merke ich gar nicht, dass Sie so alt sind. Also, mit meiner Oma und meinem Opa kann ich viel weniger reden, und dabei sind die erst letztes oder vorletztes Jahr 60 geworden. Die sind noch ziemlich fit, ich habe mit meinem Opa im letzten Sommer z.B. auch noch Fußball gespielt. Aber wenn ich mit ihnen rede, habe ich immer den Eindruck, so richtig interessiert sie das, was ich erzähle, eigentlich nicht. Und wenn sie selbst was erzählen, dann ist es immer so in der Art, wer gerade welche Krankheit hat, oder wer gestorben ist, oder was es wo im Sonderangebot gibt, oder wer sich gerade scheiden lässt; vorallem bei meiner Oma, mein Opa redet eigentlich überhaupt nicht viel. Manchmal kriege ich bei meiner Oma auch gar nicht so mit, ob sie nun gerade von ihren Nachbarn oder von der englischen Königin redet. Irgendwie ist das immer alles langweilig, was sie erzählt. Meine Mutter hört da immer nur geduldig zu, macht nur ab und zu mal irgend eine bissige Bemerkung, und wenn wir abends wieder zu Hause sind, ist sie meist völlig abgenervt. Naja, und mein Opa interessiert sich, glaube ich, nur für Fußball so richtig, zumindest weiß ich sonst nichts, was ihn wirklich interessiert. Er redet auch manchmal über Politik, aber meine Mutter meint immer, er hat keine Ahnung von Politik, und ich glaube, das stimmt auch.”

„Das ist, denke ich, auch gar nicht so sehr eine Frage des Alters.” sagte Arend: „Gut, manche Themen sind sicher eine Frage des Alters, jüngere Leute würden eher über ihre Kinder reden als darüber, wer gerade gestorben ist, und vielleicht eher über Boris Becker oder irgendwelche Musikgruppen als über das britische Königshaus. Aber ich habe in meinem Leben in allen Altersstufen immer wieder Leute kennengelernt, die in allen Gesprächen immer an der Oberfläche geblieben sind, die nie richtig was von sich selbst und ihren Gedanken erzählt haben, und die ich nur langweilig fand.”

Er dachte eine Weile nach und sagte: „Weißt du, mein Problem ist ein anderes. Ich habe keine Angst davor, dass sich mein Horizont einschränkt, dass ich irgendwann anfange, mir abends im Fernsehen die volkstümliche Hitparade anzusehen oder das Goldene Blatt zu lesen. Es ist nur dieses Gefühl, dass ich geistig den Gipfel nicht nur erreicht, sondern schon überschritten habe. Körperlich habe ich das längst, aber das spielt für mich keine so große Rolle, das habe ich immer mit dem Altwerden verbunden. Aber dass ich geistig den Gipfel deutlich überschritten habe, das ist mir erst in den letzten Jahren so ganz klar geworden. Und ich habe es immer wieder verdrängt, sodass ich es durch dieses Buch wieder ganz neu erfahren habe.

Ich habe schon länger nichts Wissenschaftliches mehr gelesen, außer im Spiegel oder anderen Zeitschriften, die nicht so anspruchsvoll sind. Und

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: (c) Alex Wittler
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2012
ISBN: 978-3-86479-404-9

Alle Rechte vorbehalten

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