Da saß ich, einsam und alleine auf einer Bank am Bahnhof.
Immer wieder ließen mich die eisigen Winde, welche von den
durchrasenden Zügen mitgetragen wurden, frieren. Heute war
der Tag, an dem ich bei meinen Großeltern einziehen sollte,
und immer mehr hatte ich das Gefühl, sie hätten mich sitzen
lassen oder gar vergessen. Drei Stunden wartete ich bereits
auf diesem kleinen Vorstadtbahnhof in England. Der Bahnhof
war recht alt, es gab nur einen Ticketschalter und zwei Gleise,
neben der Bank, auf der ich saß, stand der einzige Mülleimer
auf dem gesamten Gelände. Nach einer Weile wurde mir das
lange Warten leid und ich machte mich zu Fuß auf den Weg,
auch wenn meine Großeltern weit außerhalb wohnten. Ich
verließ den Bahnhof durch den Haupteingang und ging in
Richtung Osten entlang einer Landstraße, nur selten kam ein
Auto vorbei, denn in dieser Region gab es überwiegend arme
Menschen, die sich die Annehmlichkeiten eines eigenen Autos
nicht leisten konnten. Meine Großeltern waren da eine
Ausnahme, sie lebten in einem alten Schloss weit
Landeinwärts, welches von Generation zu Generation
weitergegeben wurde. Unsere Familie - so erzählt man sich -
lebt seit schätzungsweise 400 Jahren dort. Aber auch wenn
wir bereits eine solange Zeit in England lebten, war unsere Abstammung französisch, worauf aber nur noch unser Nachname LaCroix hinwies. Als ich weiter die Straße
entlang ging, kam mir ein alter silberner Mercedes 300 S
Roadster entgegen, der ganze Stolz meines Großvaters. Er
war einer der ersten, die 1951 dieses Auto – von dem es nur
560 Exemplare gab - erworben hatten und er pflegte es wie seine
eigenen Kinder. Langsam näherte er sich mir und bat mich,
einzusteigen. Ich nahm auf dem Beifahrersitz aus rotem Leder
Platz. Mein Großvater war schon alt, er hatte fast keine Haare
mehr und seine Augen wurden auch immer weißer, nichts
desto trotz fühlte ich mich in seiner Gegenwart direkt wohl.
„Tut mir leid dass ich zu spät bin, Ciara, aber der Wagen
wollte nicht anspringen“ entschuldigte er sein
verspätetes Kommen. Ich konnte es ihm nicht übelnehmen,
wenigsten hatte er sich im Gegensatz zu meinen Eltern um
mich kümmern wollen. Wir fuhren auf der Landstraße weiter
Richtung Osten, nach ungefähr zwei Kilometern bog er auf
einen Feldweg ein dem wir entlang eines Flusses bis zu
unserem Schloss folgten. „Da ist es, das Anwesen der Familie
LaCroix, seit nunmehr 400 Jahren“ präsentierte mir mein
Großvater voller Stolz das Schloss, als wir uns ihm näherten.
Es war wie eine Brücke über die gesamte Breite des Flusses
gebaut und befand sich schätzungsweise fünf Meter
über selbigem. Gebaut war es aus edlen weißen Steinen und
musste - so schätzte ich - mindestens vierzig Zimmer
beherbergen, die in dem langgezogenen Hauptteil und dem
majestätisch wirkendem Eingangsgebäude mit mehreren
kleinen und großen Türmen verteilt sein mussten. Mein
Großvater hielt direkt vor der Treppe, die zum Eingang führte,
er stieg aus, rannte geschwind um den Wagen und hielt mir die Fahrzeugtür auf. Gemeinsam stiegen wir die 25 Stufen zum Eingang empor. Kaum waren wir an der Tür angekommen, öffnete eine freundlich wirkende ältere Frau die Tür, meine Großmutter, sie hatte sich kaum verändert seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Immer noch hatte sie schulterlange Haare, die sie offen trug, und auch wenn sie mittlerweile grau waren sah sie damit hervorragend aus. Ihre Eleganz wurde durch ihr blaues Abendkleid aus feinsten Stoffen noch zusätzlich betont.
Zu dritt betraten wir nun die Eingangshalle, meine Großeltern
kannten sie ja bereits, aber für mich war es das erste Mal, dass ich sie betreten konnte und es war ein unbeschreibliches
Gefühl. Ich konnte nicht glauben, geschweige denn mir nur
Vorstellen, dass ich nun hier leben durfte. Der Boden glänzte
aus kostbarem weißen Marmor, die Wände waren von roten
mit Ornamenten verzierten Tapeten verdeckt. Es hingen viele
Bilder - die meisten waren Ölgemälde, welche meine
Vorfahren darstellten - an den Wänden. Am Ende der fast 30
Meter langen Eingangshalle führten zwei Treppen, die
ebenfalls aus Marmor waren und gemeinsam eine Art Bogen
bildeten, in das zweite Stockwerk. Meine Großmutter schlug
vor, mir erstmal die wichtigsten Zimmer des Schlosses zu
zeigen. Gemeinsam gingen wir durch einen steinernen
Torbogen am Ende der Eingangshalle zwischen den beiden
Treppen. Das erste Zimmer war das Wohnzimmer, das
auffälligste in diesem Raum war wohl der Kamin, dessen Feuer den gesamten Raum erwärmte. Vor dem Kamin standen zwei Sessel und ein Sofa, welche ein grünes Streifenmuster besaßen. Über dem Kamin hing ein Schild, welches unser Familienwappen darstellte, ein goldenes Karo, in welchem sich ein Schwert und eine Art Stab vor einem Totenschädel kreuzten, daneben hingen Bilder meiner Großeltern und meiner Eltern vor dem Schloss.
„Wieso wollten meine Eltern hier nicht wohnen?“, brach es aus
mir heraus. „Das soll dir dein Großvater erklären, der weiß es besser als ich“ gab sie mir zur Antwort; in ihrer Stimme konnte ich spüren, dass sie die Frage irgendwie beunruhigte. Auch wenn ich nicht verstand, was sie daran beunruhigend fand, nahm ich die Antwort so an, schließlich würde mir mein Großvater später darauf eine Antwort geben. Sie öffnete eine Tür, die sich schräg gegenüber dem Kamin befand und begleitete mich in das nächste Zimmer. Es war eindeutig das Esszimmer, man brauchte nicht lange um das zu erraten, schließlich befand sich eine Tafel, die fast so groß wie der Raum war, darin. Ich begann, die Stühle, die daran standen, zu zählen, aber bei 40 Stühlen hörte ich wieder auf „Das ist wohl das Esszimmer“, stellte ich fest. „Nein, das ist der Ballsaal“, musste mich meine Großmutter berichtigen, während sie mich aus dem Türrahmen in den Raum schob und die Tür schloss. Erst jetzt fiel mir die wahre Größe dieses Raumes auf. In der Ecke war eine Art Bühne, auf der ein Piano, Tiefentrommeln und eine Harfe ihren Platz fanden. Vor der Bühne offenbarte sich eine Tanzfläche, die groß genug war für hunderte Paare, ich versuchte mir vorzustellen, wie ich hier gemeinsam mit meinen Eltern und meinen Großeltern tanzen würde. Jedoch wusste ich, dass dies niemals geschehen würde. „Nach dem du nun unseren Ballsaal gesehen hast möchtest du vielleicht den Speisesaal sehen?“, machte mich meine Großmutter, die ich in dem Tagtraum mit meiner gesamten Familie hier leben zu können Vergaß, auf sich aufmerksam und ging mit Schritten, die einer Königin würdig waren zum nächsten Saal, denn Zimmer konnte man das, was ich hier bisher gesehen hatte nun wirklich nicht mehr nennen. Eben so elegant wie sie über das Tanzparkett glitt öffnete sie die Tür. „Das ist unser Speisesaal“, beschrieb sie mir das Zimmer. In der Mitte des Raumes stand ein dunkelbrauner Tisch, der allem Anschein nach handgearbeitet war, umringt von 8 Stühlen, 3 an jeder Seite und einer an jedem Kopfende. Ich stellte mir vor, wie meine Großeltern an den beiden Kopfenden saßen und ich auf einem der anderen Stühle. Andernfalls wunderte ich mich auch, wieso so viele Stühle an dem Tisch standen. Als ich zu meiner Großmutter blickte um sie danach zu fragen, schien sie meine Frage bereits zu kennen. Flugs reagierte sie darauf: „Drei Stühle sind für uns, die anderen brauchen wir eigentlich nur, falls wir Besuch aus dem Dorf bekommen.“ Sollte es hier in der Nähe ein Dorf geben? Wenn ja, war es mir noch nicht aufgefallen.
Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand
aus dem meines Wissen nach 5 Kilometer entfernten Dorf
mit dem kleinen Bahnhof, sich die Mühe machen würde, zu Fuß in Richtung Schloss zu gehen, nur um mit meinen Großeltern gemeinsam speisen zu können. „Nicht weit von hier, hinter dem Wald ist ein kleines Dorf, höchsten 20 Einwohner“, schien sie auf meinen Gedankengang zu reagieren. „Viele unserer Bediensteten kommen von dort.“
Über dem Tisch hing an der Wand ein altes Schwert. Von jeher hatten mich die Waffen des Mittelalters fasziniert, und gerade des wegen erkannte ich dieses Schwert schnell wieder. Mein Vater hielt es auf einem Bild im Wohnzimmer in der Hand, er war auf dem Bild noch sehr jung, höchstens 17 Jahre schätzte ich. „Habt ihr mit dem Schwert meinem Vater das Kämpfen beigebracht?“, fragte ich meine Großmutter mit einer begeisterten Stimme. Sie nickte nur, worauf ich mit einem „Könnt ihr mir auch den Schwertkampf beibringen?“, zu reagieren wusste. „Weißt du,“, erwiderte sie , „dass sind so Sachen, die du besser mit Ferdinand besprichst.“ Ferdinand ist mein Großvater, meine Großmutter reagierte auf Rosemarie, auch wenn ich es bevorzugte, die beiden Großvater oder Großmutter zu nennen, sollte dies dennoch
Erwähnung finden. Meine Großmutter schien wenig darüber
erfreut zu sein, das ich ein großes Interesse für die Künste des Mittelalterlichen Schwertkampfes pflegte. Ich konnte meine Blicke kaum von dem Schwert lösen, meine Großmutter
musste mich quasi in das nächste Zimmer zerren. Gut, nächstes Zimmer ist nicht ganz richtig, schließlich landeten wir
wieder in der Eingangshalle. Meine Großmutter wandte sich der Treppe zu. Gemeinsam stiegen wir die Treppenstufen auf und begaben uns in einen langen Gang, auf dessen beiden Seiten sich die Türen wie in einem Hotel reihten.
„Kommen wir nun zu dem wohl wichtigsten Zimmer.“, erregte sie meine Aufmerksamkeit, während sie eine der Türen öffnete. „Dies ist dein Zimmer, Ciara, du hast außerdem ein eigenes Bad!“ Ich begab mich auf direktem Weg ins Bad, da ich die Spannung auf mein Zimmer weiter erhöhen wollte. Und ich war doch positiv überrascht, das Bad war größer als mein Zimmer, das ich bei meinen Eltern gehabt hatte. Die weißen Kacheln, welche die Wand zierten, waren mit Diamanten besetzt, auch der Fußboden zeugte durch seine fast goldene Farbe von unglaublicher Eleganz und erhöhte mein Wohlbefinden erheblich. Sowohl die Toilette als auch die riesige Wanne waren aus Gold gefertigt, oder zumindest mit Blattgold veredelt. Ich drehte mich um und sah ein junges blondes Mädchen, die Augen schienen braun und auch die zarten Gesichtszüge unterstrichen ihre Weiblichkeit. Es bestand kein Zweifel, ich blickte in einen Spiegel, der einen großen Teil der Wand einnahm. Nun wollte ich aber auch endlich mein eigenes Zimmer sehen, also verließ ich wieder das Bad durch die weiße Tür mit goldenem Griff. Nun bot sich mir ein perfekter Blick auf mein Zimmer. Der Boden war aus glänzendem Mahagoni, die Wände wiesen edle Vertäflungen auf. An einer Wand stand mein Bett, um genau zu sein war es ein Himmelbett mit einem Bordeaux farbenen Himmel, ich stürzte mich direkt drauf und musste feststellen dass die Matratze unglaublich weich war. Auf dem Bett liegend erkannte ich, dass die Decke durch ein Relief verziert war. Es stellte das Schloss mit den umliegenden Wäldern da, auch jenes Dorf war darauf zu erkennen. Ich blickte mich weiter in meinem Zimmer um, an einem der Fenster stand ein alter Schreibtisch, an der Wand gegenüber meinem Bett befand sich ein kleiner Kamin. Meiner Großmutter war die Freude, die es ihr bereitete mich glücklich zusehen ins Gesicht geschrieben. Nur von meinem Großvater fehlte seit meiner Ankunft jede Spur. „Wo ist Großvater?“, fragte ich Rosemarie.
„Wahrscheinlich in der Bibliothek!“, entgegnete sie mir.
Mit einem kurzen „Okay“ verließ ich das Zimmer und machte
mich auf die Suche nach der Bibliothek. Ich hätte zwar nicht gedacht, dass ich sie so ganz alleine in diesem riesigen Schloss finden würde, aber dennoch gelang es mir. Wie meine Großmutter es ahnte saß mein Großvater auf einem der Sessel in der Bibliothek und las ein Buch. Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn die Frage, die mir seit den Tagen, die ich in der Klinik verbrachte, auf der Seele brannte.
„Wieso muss ich bei euch leben, und wo sind meine Eltern?“
Er blickte mir grimmig ins Gesicht.
„Nun, wie soll ich sagen, deine Eltern, sie sind gerade nicht in der Lage sich um dich zu kümmern, sie sind auf einer Geschäftsreise in den Staaten. Aber sobald sie wieder zurück sind werden sie sich um dich kümmern!“
Ich spürte, dass etwas daran nicht stimmte. Meine Eltern auf
einer Geschäftsreise? Das konnte gar nicht sein, meine Mutter
arbeitete in einem kleinen Café als Bedienung und mein Vater
war seit einem schweren Arbeitsunfall in Frührente. Er war Mechaniker, als er ein Auto reparieren wollte, raste die Hebebühne nach unten, und er lag noch drunter. Er hatte Glück, dass er diesen Unfall überlebt hatte. Aber ich musste meinem Großvater wohl vorerst Glauben schenken. Und so stellte ich ihm die nächste Frage. „Würdest du mir den Schwertkampf beibringen?“ „Nein, Kleines, dafür bin ich zu alt, aber frag doch Cedric aus dem Dorf, der wird dir mit Freuden Unterricht anbieten.“ Ich stand auf und blickte durch die gigantischen Bücherregale, kein Buch konnte mein Interesse wecken, auch wenn mit Sicherheit hunderte oder gar tausende Bücher hier ihren Platz fanden. Dann schoss mir doch eins in die Augen. „Druidea Noctium – Druiden der Nacht“, ich wusste nicht wieso aber aus irgendeinem Grund wollt ich darin lesen. Ich schmuggelte es an meinem Großvater vorbei und brachte es in mein Zimmer.
Als der Himmel dämmerte legte ich mich aufs Bett und begann
darin zu lesen, an den genauen Text kann ich mich jedoch
nicht mehr erinnern, aber eine Stelle werde ich nie aus meinen
Erinnerungen vertreiben können:
„Die Druiden der Nacht, mächtige Magier aus den Zeiten
der Kreuzzüge. Sie kamen aus den weiten Ländereien Frankreichs nach
England und brachten ihre Macht den Dorfbewohnern
bei. Es heißt, sie hätten ihre Seelen dem Teufel verkauft, so
grausam waren ihre Taten gegenüber jenen, die sich
ihrem Willen nicht fügen wollten. Einst bestand dieser Druiden Kult aus sieben Familien,
doch heute existiert nur noch eine davon, die Familie LaCroix.“
Sollte das etwa bedeuten dass ich eine Nachfahrin eines
Mächtigen Druidenkultes war? Eine Magierin, wenn ja hatte
ich davon noch nichts gemerkt, aber mein Großvater sollte
darüber Bescheid wissen. Andererseits gab es mit Sicherheit
noch mehr Familien, die LaCroix hießen. Ich zerbrach mir darüber noch die halbe Nacht den Kopf, bis ich anfing zu träumen.
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2010
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