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Das grüne Herz

Langsam kommt Avery zu sich, jeder Atemzug fällt ihm schwer. Sein Körper schmerzt, in seinem Kopf dröhnt es, als würde ein Bienenschwarm darin toben. Sie sind sicherlich schuld an dem Honig, der seine Gedanken verklebt und sie so langsam macht. Lieber hätte er den Geschmack des Honigs auf der Zunge, um die schwere metallische Süße des Blutes daraus zu vertreiben. Angewidert verzieht er das Gesicht, eine neuerliche Welle des Schmerzes durchzuckt ihn und er zieht scharf die Luft ein. Der Geruch, der ihm daraufhin in die Nase steigt, bringt ihm zum Würgen. Es stinkt nach Schwefel und verbranntem Haar. Wo verdammt noch mal ist er gelandet, und wie ist er hier hergekommen? Wenn er sich doch nur daran erinnern könnte, wo er davor gewesen ist, doch seine Erinnerungen sind wie weggewischt. Ihm ist klar, dass er die Augen noch immer geschlossen hat, dass er nicht ewig einfach nur dasitzen und abwarten kann, nicht nur, weil es langweilig ist, sondern auch weil es ihn nicht weiter bringt. Dennoch, oder auch genau deswegen, zögert er. Auch ohne sich zu erinnern, weiß Avery, dass manche Dinge sich nie wieder vergessen lassen, wenn man sie einmal gesehen hat. Er könnte einfach hier liegen bleiben, wenn da nicht dieses Gefühl wäre, nicht alleine zu sein. Er spürt Blicke auf der Haut, wie Nadelstiche, die sich immer tiefer bohren. Die feinen Härchen auf seinen Armen richten sich auf, und jeder Muskel in seinem Leib spannt sich an. Gefahr will sein Körper ihm damit sagen und er kann und will diese Warnung nicht ignorieren. Einmal noch holt Avery tief und kontrolliert Luft, sammelt all seine Reserven. Er öffnet die Augen und springt auf die Beine; ohne sich umzusehen, rennt er los. Zuerst kann er nur das Rauschen seines Blutes in seinen Ohren hören. Der Klang seiner eigenen Schritte erinnert ihn an das Schlagen von Trommeln; das wilde Hämmern seines Herzens treibt ihn zu noch größerer Eile an. Wo er ist, kann er immer noch nicht erkennen; um ihn herum ist nichts als Dunkelheit, selbst der Himmel ist nichts weiter als ein dunkles Band, welches sich über ihm spannt. Da hört er es zum ersten Mal, ein Scharren, wie von langen Klauen, die über Stein kratzen. Er versucht es zu ignorieren, versucht die Panik zu unterdrücken, die mit jedem Schritt mehr und mehr von ihm Besitz ergreift. Wie Gift breitet sie sich in ihm aus, macht ihm das Atmen schwer und bringt sein Herz zum Stolpern. Nicht nur sein Herz verliert den Takt, er strauchelt, stolpert und fällt hin. Mit den Händen will er seinen Sturz bremsen, spürt wie etwas sich in seine Haut bohrt, warm und klebrig läuft ihm das Blut über die Finger, als er sich wieder auf die Beine kämpft. Da begeht er einen schweren Fehler; er wirft einen Blick über die Schulter und sieht, was es ist, dass ihn vor sich hertreibt. Eine Kreatur, wie einem Alptrum entstiegen. Mit seinen acht langen Beinen gleicht sie einer Spinne, doch der Leib ist dürr wie ein Ast. Sechs glutrote Augen haben ihren gierigen Blick auf Avery gerichtet. Avery will schreien, seiner Furcht eine Stimme geben, doch er bekommt nur ein ersticktes Wimmern über die Lippen, während das Monster immer näher kommt. Ich will nicht sterben, dieser Gedanke durchzuckt ihn wie ein Blitzschlag. Er hat diesem Biest nichts entgegenzusetzen, also kann er nur versuchen, schneller als sein Verfolger zu sein.

 

Avery ist gerannt, schneller und weiter als je zuvor und doch ist das Monster immer noch hinter ihm. Weder fällt es zurück noch holt es auf, doch es hält auch nicht an. Der Ort, an dem er gelandet ist, scheint sich endlos in die Weite zu ziehen. Hier gibt es nur die Dunkelheit, das Monster und ihn. Wobei es ihn nicht mehr lange geben wird, denn er kann kaum noch atmen. Jeder Schritt fühlt sich an als lasteten Tonnen auf ihn; Schweiß läuft ihm über die Stirn, in seinen Augen lässt seine Sicht verschwimmen. Er ist am Ende seiner Kräfte. Ich will nicht sterben, wieder dieser Gedanke, stärker noch als zuvor, wobei er sich selbst so schwach wie nie zuvor fühlt. „Ich will nicht, dass es so endet. Egal, wer, bitte rette mich“, keucht er hervor, einfach um nicht stumm von dieser Welt zu gehen. Er wendet sich seinem Verfolger zu, um aufrecht zu sterben, fehlt ihm die Kraft, doch auch wenn er in die Knie bricht, so will er seinem Ende entgegensehen. Das Monster weiß, dass es gewonnen hat, die Jagd ist beendet und es kommt nun doch langsam immer näher. Avery kann die borstigen Haare auf dem dürren Leib erkennen, sieht, dass zu den acht Armen auch krumme Beißwerkzeuge gehören, die begierig auf und zu schnappen. In einem Reflex hebt er schützend die Hände vors Gesicht, Blut hat die Haut seiner Handflächen rot gefärbt; von seinem Sturz zuvor steckt noch ein Dorn in seinem Fleisch. Da ist er wieder, der Honig. Jetzt klebt er nicht an seinen Gedanken, sondern an der Zeit selbst, macht sie zäh, sodass dieser kurze Moment selbst der Ewigkeit zu gleichen scheint. Das Monster holt aus, macht sich bereit, ihn zu zerfetzen, es macht einen gewaltigen Satz und … prallt mitten im Sprung gegen eine unsichtbare Mauer. Zum ersten Mal gibt es einen Laut von sich, ein Kreischen, in dem der Hass der Welt zu stecken scheint. Ein schrecklicher Laut, der Avery die Ohren klingeln lässt; er presst sich die Hände darauf, zwecklos. Das Kreischen hallt in ihm wieder, bringt alles in ihm zum Schwingen und lässt ihm die Sinne schwinden. Er gleitet in die Ohnmacht, sie ist das einzig gnädige in dieser Hölle.

 

Ein weiteres Mal erwacht er in der fremden Dunkelheit, seine Wunden brennen und sein Kopf schmerzt. Dieses Mal bleibt der Geruch von Schwefel aus, auch das Gefühl angestarrt zu werden. Avery öffnet vorsichtig die Augen, blinzelt, zuerst, um klarer zu sehen und dann, weil er nicht glauben kann, dass es wirklich etwas zu sehen gibt. Dunkel ist es immer noch, aber es ist nicht länger eine leere Ebene, die vor ihm liegt. Er richtet sich auf, seine Beine fühlen sich an wie Pudding, dennoch macht er einen kleinen Schritt nach vor. In der Ferne erhebt sich ein Hügel und an seinem höchsten Punkt steht ein Haus. Das alleine ist schon ein seltsamer Anblick, aber da ist noch mehr. Um den Hügel herum ist ein breiter Graben; gefüllt ist er nicht mit Wasser, sondern mit silbrigen Nebelschwaden; die Averys Blick gefangen halten. In ihrem unbeschwerten Tanz wirken sie schwerelos und frei, doch wenn er versucht genauer hinzusehen, verlieren sie ihre Leichtigkeit und formen sich zu Gesichtern, in denen nichts als Schmerz zu sehen ist. Er muss den Blick von ihnen nehmen, den mit ihren zum Schrei geöffneten Mündern scheinen sie ihn zu sich zu rufen und er weiß nicht, ob er dem Ruf widerstehen kann. Hat er sich nicht schon einmal fallen lassen, um der Angst zu entkommen? Ja, oder nein? Erinnerung oder Einbildung? Er schüttelt entschieden den Kopf und vertreibt so die Gedanken. Sie sollen nicht in ihm keimen und erblühen! Über den Graben führt eine Brücke, sie scheint direkt vor dem Haus zu enden. Weder ist sie aus Stein noch aus Holz erbaut, auch Pfeiler hat sie nicht. Sie sieht aus wie eine dicke Ranke, hie und da ragen Dornen aus ihr hervor. Wobei sie ihn auch an etwas anderes erinnert, eine Nabelschnur. Ganz wohl ist ihm nicht dabei weiterzugehen, doch eine Umkehr ist ausgeschlossen. Was ihn auf der anderen Seite erwartet, wird er erst sehen, wenn er dort angekommen ist; so ist es immer.

 

Bei der Überquerung der Brücke hat er den Blick fest nach vorgerichtet; er will sich nicht im Anblick des tanzenden Nebels unter ihm verlieren. Die Hände hat er auf die Ohren gepresst, da die Gesichter nicht länger stumm geblieben sind. Immer wieder flüstern sie seinen Namen, wollen ihn zu sich rufen. Hie und da muss er den Dornen ausweichen, die ihm den Weg versperren; wenn er sie dabei mit der Schulter streift, fühlen sie sich überraschend warm an. Kurz nur hält er inne, lehnt sich an einen der Dornen und erlaubt es sich durchzuatmen, dabei das Haus anzusehen, dem er sich immer weiter nähert. Ein kleiner Schimmer umgeben in der einsamen Finsternis. Es wirkt fehl am Platz. Die Wände sind aus großen Glasplatten, welche zum sanft gebogenen Dach hin schräg angeordnet sind und so eine Kuppel bilden. Zwischen den Platten sind Stäbe aus Silber, welche trotz der Dunkelheit zu glimmen scheinen. Auf dem Dach kann er den Umriss einer Verzierung ausmachen; ein geflügeltes Auge. Es sieht aus wie ein Gewächshaus, denkt Avery. Wobei es auch ein gläserner Vogelkäfig sein könnte. Bald wird er es genauer wissen, es ist nicht mehr weit. Dann wird er auch sehen, ob es jemanden gibt, der in diesem Gewächshaus lebt

 

Avery hat es auf die andere Seite geschafft; jetzt, da er die Brücke verlassen hat, wagt er es auch wieder, die Hände von den Ohren zu nehmen. Die Stimmen schweigen, sie haben wohl begriffen, dass er ihren Rufen nicht folgt. Woher nur kommt jetzt dieses Gefühl von Einsamkeit, welches ihn wie ein Mühlstein nach unten zieht? Hätte er sich vielleicht doch fallen lassen sollen? Was, wenn es von hier an nur noch schlimmer wird? Tausend Gedanken wie diese schießen durch seinen Geist, während er auf die Tür des Gewächshauses zu geht. Auch sie ist aus Glas; man hat ein Muster eingeätzt: Dornenranken, in denen sich Vögel verfangen haben, nur ihre Flügel sind noch zu sehen. Schön und filigran, zugleich auch grausam. Seine Hand ruht bereits auf der Türklinke, doch das Bild lässt ihn zögern. Er späht ins Innere, kann das Zucken von Flammen ausmachen. Sein Atem lässt das Glas beschlagen, mit dem Handrücken wischt er darüber, um wieder klarer sehen zu können. Es muss wirklich ein Gewächshaus sein, bei all dem Grün, das er nun sehen kann. Der Boden ist dicht bedeckt mit Pflanzen, nur ein schmaler Pfad ist ausgespart; gepflastert mit weißem Stein, wohin er führt, kann Avery nicht sehen. Dafür sieht er einen opulenten Bogen aus gebogenen Stangen, um die sich Schlingpflanzen gewunden haben. Noch einmal wischt er über das Glas und da sieht er einen Schatten, der sich durch das Grün bewegt. Wie die Nebelgestalten zuvor wirkt er schwerelos, leichter noch als eine Feder im Wind. Ebenso sanft wie der Tanz des Schattens ist auch die Stimme, welche aus dem Gewächshaus dringt. Der Schatten singt! Jetzt presst Avery sich nicht die Hände auf die Ohren, sondern sein Ohr gegen das Glas; er will das Lied hören, den Worten des Schattens lauschen. „Ich sah, wie die Menschheit sich erhob, sah ihn, der ihnen die Hand darbot. Sah die Engel sich an ihre Bestimmung krallen, sah sie steigen und auch fallen. Sah, wie sie sich quälten, eines Weges wegen, den andere für sie wählten. Ich sah ihr Aufbegehren, rief sie auf zu rebellieren, sich zu wehren“, so singt der Schatten und tanz dabei zum Klang seines eigenen Liedes. Langsam wiegt er sich hin und her, streicht dabei sacht über die Pflanzen. „Verbannt in diesen Käfig, so denken sie, ich sei fort. Eines Tages jedoch werde ich mich befreien, mich erneut erheben, dann verlasse ich diesen Ort. Das Blatt wird sich wenden, eine neue Zeit beginnen und die alte enden.“ Die Stimme wird leiser, scheint sich von der Tür zu entfernen und weiter ins Innere des Gewächshauses zu gehen. Bis auf ein leises Summen kann Avery nichts mehr hören, auch wenn er sich noch so dicht ans Glas drückt. Was er dabei nicht bedenkt, ist, dass seine Hand noch immer auf der Türklinke ruht, so kommt es, dass eine unbedachte Bewegung dazu führt, dass er wörtlich mit der Tür ins Haus fällt. Unsanft landet er auf den Knien, die Augen hat er vor Schreck weit aufgerissen. Jetzt hat der Schatten ihn sicher bemerkt, was, wenn er sich auf ihn wirft wie das Spinnenmonster davor? Er will zurückweichen, wieder durch die Tür verschwinden. Avery wirft einen Blick über die Schulter, die Tür ist geschlossen und sie wird sich auch nicht mehr öffnen, denn auf der Innenseite ist keine Schnalle. Dieses Gewächshaus ist also wirklich ein Käfig, in dem er nun zusammen mit dem Schatten gefangen ist. Wer oder was ist dieser Schatten, dass man ihn hier einsperrt? Als Antwort auf diese unausgesprochene Frage erklingt eine weite Liedzeile: „Sie sagten, ich sei das Leid, ich sei der Schmerz. Ich sei die Verdammnis selbst, die Verzweiflung, die befällt der Sünder Herz.“ Das ist genug, wenn es sein muss, wird Avery das Glas in tausend Scherben brechen; er kann und wird hier nicht bleiben. Er steht auf, wendet sich der Tür zu, die Hände hat er zu Fäusten geballt, er holt bereits aus. „Spar dir die Mühe und den Schmerz. Noch ist es nicht an der Zeit.“ Dieses Mal singt sie Stimme nicht, doch Avery weiß, dass sie dem Schatten gehört; er muss sich ihm von hinten genähert haben. „Wer bist du?“, fragt er mit zitternder Stimme, ohne sich umzuwenden. „Hast du denn meinem Lied nicht gelauscht?“ Avery presst die Lippen fest aufeinander, er schweigt lieber, während in seinem Kopf die Gedanken rasen. „Sei unbesorgt, ich erkläre es dir. Komm, folge mir.“ Leises Rascheln folgt den sanften Worten; als es verstummt, wendet Avery sich zögerlich um. Sein Blick wird von dem Bogen aus Kletterpflanzen angezogen; dort steht der Schatten, scheint auf ihn zu warten. „Bist du wie die Monster dort draußen?“, fragt er nun doch an den Schatten gewandt. „Kommt darauf an, wen du danach fragst, so manch einer wird dir sagen, ich sei schlimmer.“ Innerlich zuckt Avery die Schultern. So ist es doch oft, Menschen erklären jemanden zum Monster, prangern ihn an, auch wenn es eine Lüge ist, wird sich immer jemand finden, der ihnen glaubt. Monster lässt es kalt, doch andere treibt es in die Verzweiflung und manch einen in den Tod. Da ist es wieder, dieses seltsame Gefühl des Erinnerns. Es ist verbunden mit Zweifeln und Schmerz, trifft Avery so heftig, dass es ihm die Tränen in die Augen treibt. Er spürt, dass er nichts zu verlieren hat, weil er selbst alles fort geworfen hat. Jetzt ist er bereit, dem Schatten zu folgen, weil es nichts anderes mehr für ihn zu tun gibt. Er macht einen Schritt nach vor, einen weiteren und „Sei bitte vorsichtig, tritt nicht auf die Blumen.“ Sein Blick wandert nach unten; tatsächlich wäre er beinahe auf eine kleine, rote Blume getreten. Sie ist dicht mit dem Teppich aus Gras und Pflanzen verwoben, welcher zu beiden Seiten des Steinpfades den Boden des Gewächshauses bedeckt. Mit mehr bedacht geht Avery weiter, sieht sich dabei zaghaft um. Obwohl er immer noch Furcht im Herzen trägt, kommt er nicht umhin, die wilde Pracht der Pflanzen zu bewundern. Wie es scheint, dürfen sie sich frei im Gewächshaus ausbreiten; sie sind nicht von Töpfen oder Beeten eingeengt, greifen wild ineinander. Kurz darauf steht er auch schon selbst unter dem Bogen; kann sehen, dass zwischen den Ranken viele kleine Blumen blühen. Zum ersten Mal, seit er hier ist, holt er wirklich tief und bewusst Luft, feucht und schwer strömt sie in seine Lungen. Der Duft von Erde, Harz und Blumen kitzelt in seiner Nase und bringt etwas Beruhigendes mit sich. Er entspannt sich etwas, bemerkt erst jetzt, wie angespannt er die ganze Zeit über war. „So ist es besser, findest du nicht, Avery?“ Er kann nur nicken, findet es nicht einmal seltsam, dass der Schatten seinen Namen kennt. „Ich weiß nicht nur, wer du bist, ich weiß auch, warum du hier bist. Auch wenn du selbst es zum Glück vergessen konntest.“ Spricht der Schatten, während er weiter über den Pfad aus weißem Stein geht. Avery schließt weiter zu ihm auf, dabei ist er so vertieft im Anblick des grünen Meeres, dass er beinahe in ihn läuft, als der Schatten anhält. „Heb deinen Blick, nimm dir die Zeit.“ Der Schatten deutet nach oben, Avery legt den Kopf in den Nacken. Über ihnen spannt sich eine gläserne Kuppel; an den Streben, die sie halten, haben sich die Ranken bis ganz nach oben vorgekämpft. Einige von ihnen haben selbst am glatten Glas Halt gefunden. Sie müssen im Zentrum des Gewächshauses angelangt sein. „Als würde man aus den Tiefen der Hölle empor zu den himmlischen Gefilden blicken.“ „Ein schöner Vergleich“, befindet Avery. „Meine Realität und meine Ewigkeit.“ Bei diesen Worten überläuft es Avery eiskalt, er senkt den Blick wieder, macht vor Schreck einen Schritt zurück. Der Schatten ist fort und vor ihm steht eine junge Frau. Ihr Körper ist kaum bedeckt, nur über ihre Brust und Unterleib liegt ein Geflecht aus Ranken und zarten Blüten. Ihr blutrotes Haar fällt ihr in weiten Wellen bis weit über die Hüfte, auf ihrem Haupt sitzt eine kleine Krone aus Dornenzweigen. Avery spürt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt; er senkt den Blick, so wie es sich gehört. Da spürt er eine sachte Berührung an seinen Wangen. „Senke nicht den Blick, hier ist für die Tugend kein Platz.“ Mit sanftem Druck bringt die Fremde ihn dazu, den Kopf zu heben, ihre Blicke treffen sich. „Sag mir, weißt du nun, wo du bist? Wer ich bin?“, fragt sie, er bekommt kein Wort heraus, ist gefangen vom tiefen grün ihrer Augen. „Ah, ich sehe sie, die Erkenntnis. Ja, nicht nur die Blumen gedeihen in diesem Gewächshaus. Hier kann all das sich entfalten, was weder im Himmel noch auf Erden einen Platz zugestanden bekommt. Auch du Avery.“ Bei jedem Wort kommt ihr Gesicht dem seinen näher, bis ihre Stirne sich berühren. Mit der Berührung kommen die Erinnerungen. Avery sieht alles wieder vor sich, erlebt die jahrelangen Qualen im Bruchteil einer Sekunde erneut. Alles hatte mit einem Gerücht begonnen, mit einem, der es verbreitete und einem anderen, der es glaubte. Die Saat ihrer Lügen war auf fruchtbaren Boden getroffen, hatte dort zu keimen begonnen, hatte ihre Wurzeln tief und immer tiefer gegraben. Avery hatte alles versucht, das Gerücht aus der Welt zu schaffen, doch es war zu spät gewesen; es war bereits zur vollen Pracht erblüht. Als das Leben nur noch Qual für ihn bedeutet hatte, hatte er beschlossen, seinen Frieden im Tod zu suchen. Er war hoch hinauf gestiegen, nur um sich in die Tiefe fallen zu lassen, doch wie tief sein Fall gewesen war, begreift er erst jetzt. „Ich bin in der Hölle und du bist …“ „Ich bin die Wurzel allen Übels, genährt durch deine Schmerzen“, singt sie leise und greift nach seinen Händen. „Heraufbeschworen durch deine Ängste, den Zweifeln in deinem Herzen.“ Sie zieht ihn mit sich, sanft, aber bestimmt, bringt sie Avery vom Pfad ab. Es ist gut, dass sie ihn hält, denn er fühlt sich mit einem Mal kraftlos und leer. Er ist dankbar, dass sie kurz darauf zum Stehen kommen, dass sie ihm erlaubt, sich ins Gras sinken zu lassen. Sie setzt sich neben ihn, sieht ihn von der Seite her an, lässt seine Hände aber nicht los. „Ich habe mein Leben genommen, ich bin ein Sünder und darum bin ich hier“, murmelt er und spürt die Tränen in seinen Augen brennen. „Du bist hier, weil du um Hilfe gefleht hast und niemand sonst dich erhören wollte. Weder im Leben noch im Tod.“ Sie lässt seine Rechte los, um eine Hand freizubekommen, mit der sie eine ausholende Geste macht. „Sie alle waren wie du. Im Leben hatten sie weder den Raum noch die Zeit zu erblühen“, sie legt ihm die Hand wieder an die Wange, „Doch hier ist es anders.“ „Auch für mich?“ „Wenn du bereit bist, loszulassen, bin ich bereit, dich zu halten.“ Mehr muss sie nicht sagen, woran sollte er auch noch festhalten? Seit er sich erinnert hat, fühlt es sich an, als löse er sich auf. Er lässt sich ihr entgegen sinken, und sie lässt zu, dass er seinen Kopf in ihren Schoß legt. Ihre Finger streichen durch sein Haar, behutsam ist sie, mit jeder Berührung wird er ruhiger. Seine Atmung wird langsamer, sein Herzschlag ist gleichmäßig, die Augen hält er geschlossen. Und Avery lässt los.

 

Der junge Mann ist fort, hat sich in winzigen Funken aufgelöst. Sie sitzt alleine in der Wiese, betrachtet ruhig den kleinen braunen Samen in ihrer Linken. Mehr ist nicht von ihm geblieben, nachdem sie all das Leid und den Schmerz von seiner Seele gewischt hat. Zusammen mit den anderen Qualen werden sie nun in dem Graben treiben, welcher ihren Käfig umgibt. Irgendwann wird sich wieder eine verlorene Seele bis hier her verirren. Auch sie wird den Weg über die Brücke antreten, unwissend wird sie hier erscheinen, die Erkenntnis wird sie erhalten und vergehen. So viele hat es schon hier her verschlagen, weil die Welt oft zu grausam ist. Sie zum Fall verdammt nur weil man nicht will das sie hocherhobenen Hauptes durchs Leben gehen. Alles, was sie dann noch tun kann, ist sie zu halten, während sie selbst alles loslassen, um endlich frei zu sein. Mit einem leisen Seufzen beginnt sie wie sooft eine kleine Kuhle in die weiche Erde zu graben; sie legt den Samen hinein und bedeckt ihn wieder. „Hab keine Angst, Avery, hier darfst du wachsen und gedeihen. Umgeben von vielen, die sind wie du, bewacht von der Wurzel allen Übels“, flüstert sie. Sie sieht sich in ihrer Zelle um, einst nichts weiter als ein Käfig aus Glas und Stahl, doch nun das grüne Herz der Hölle. Ein Gewächshaus umgeben von ewiger Finsternis und doch gibt es keinen Ort weder im Himmel noch auf Erden, an dem die Blumen wilder und freier blühen als hier.

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.09.2024

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke für das wunderschöne Cover an Fizzy Lemon

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