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Auftakt zu mehr

37 Grad heiß oder kalt

 

Der Nachthimmel ist wie ein Tuch aus schwarzer Seide. Sterne funkel wie Diamanten und der Vollmond gleicht einer Silbermünze. Ein schöner Anblick. Er regt zum Träumen an, beflügelt die Fantasie der Menschen. Manche schreiben Geschichten, wieder andere besingen diese ganz besondere Schönheit. Die Nacht lässt sich nicht beherrschen und so wird sie geliebt und gefürchtet zugleich. Man versucht ihr den Schrecken zu nehmen, sei es nun durch den Glauben, den man ihnen in den Gotteshäusern näher bringt ,oder durch Forschung. 

Zwei Wege mit demselben Ziel.

Priester wollen das die Menschen auf die Macht Gottes vertrauen, Forscher wollen das die Menschen begreifen,selbst Macht erlangen, durch Wissen.Wo die einen in Kirchen praktizieren, vortragen, was schon lange in Büchern niedergeschrieben steht, gibt es auch jene, die nach neuen Erkenntnissen streben. Manche tun dies in Laboratorien, andere auf freiem Feld und wieder andere in den Sternwarten. Wo die einen sich von anderen umringen lassen, alten Glauben teilen, werden andere in die Einsamkeit entsannt, um neues Wissen zu sammeln. Um einen dieser Sammler geht es in dieser kurzen Geschichte. Ja kurz, das ist sie, doch nicht, weil es mit ihr endet, viel mehr ist es so, dass es erst mit dieser Geschichte beginnt. Doch dies greift zu weit vor, lasst uns einfach beginnen.

 

Abisol legt seufzend seine Lektüre auf den kleinen Nachttisch, der abgegriffene Ledereinband glänzt im sachten Schein der Gaslaterne. Almanach der Astronomie, ist in das braune Leder geprägt, einst waren die Buchstaben mit Gold hervorgehoben, davon ist nichts mehr zu sehen. Es ging durch viele Hände, hat jedoch nie die Sternwarte verlassen. So wie Abisol selbst seit Jahren nicht mehr, er und auch der Almanach sind Eigentum des Ordens. Er seufzt erneut, tiefer als zuvor und doch lange nicht tief genug. Er ist erst 17 Jahre und fühlt sich bereits wie ein alter Mann, vom Leben gebeugt und von der Langeweile heimgesucht wie andere von der Gicht. 

„Kann das wirklich alles sein?“, fragt er laut in die erdrückende Stille seiner Kammer hinein. Wie immer antwortet niemand, nicht in seiner Kammer, aber auch sonst nirgends, weder in der Sternwarte noch auf diesem verfluchten Berg, auf dem sie sich erhebt. Einsam so steht sie auf dem grauen Stein, umgeben vom Wasser des Schattenmeeres. Geschieden von der Welt, so wie auch Abisol. Ein Entkommen gibt es nicht, denn er muss seine Pflicht erfüllen. Jeder, der zum Orden gehört, muss das, die einen predigen in den heiligen Hallen, wachen über die Schäfchen Gottes, die anderen kämpfen auf den Schlachtfeldern und einige Auserwählte unter ihnen werden in die Warten geschickt, um über den Nachthimmel zu wachen. Abisol war leider kein guter Redner und auch mit dem Schwert nicht zu gebrauchen, darum hat man ihn nach der zweiten Weihe, mit knapp neun Jahren auf ein Schiff verladen und hier herbringen lassen. Er wurde zum Nachfolger Asketes ausgebildet, um im Alter von 13 Jahren sein Erbe anzutreten, ob er nun wollte oder nicht.

„Kein Wunder, dass der alte Kauz sich ins Meer gestürzt hat“, murrt er vor sich hin, als er sich in seine Gewänder hüllt. Mit einem grünen Seidenband fasst er sein dichtes kastanienbraunes Haar zu einem Zopf zusammen, wischt ein paar widerspenstige Strähnen hinter seine Ohren, ehe er nach der Gaslaterne greift.

Wo für die Bauern auf den Feldern die Zeit der Arbeit endet, beginnt sie für ihn. 

Er öffnet die Tür seiner Kammer, tritt hinaus und sieht sich, wie jeden Tag, der ausgetretenen Treppe gegenüber, die zu seinem Schaffensplatz führt. Neben ihr steht eine Ledertasche, in ihr befinden sich seine Arbeitswerkzeuge, sie müssen immer in seiner Nähe sein, falls er irgendwann die Warte übereilt verlassen muss, dürfen sie nicht zurückbleiben. Nicht nur die Messgeräte sind wichtig, auch seine Aufzeichnungen. Pergament, dicht beschrieben, um all die Informationen unterzubringen, die er Nacht für Nacht zusammenträgt, oder um nahe an der Wahrheit zu bleiben, langweilige Aufzeichnungen, die sich in einem Fort nur im Kreis drehen. Aber der Orden will es so und so muss es auch geschehen. Das einzige, was ihm wirklich am Herzen liegt, trägt er ohnehin immer bei sich, sein Astrolabium. Für das ungeübte Auge eines Unwissenden kaum mehr als eine silberne Scheibe voll seltsamer Muster, für einen Kenner, ein Schatz von unschätzbarem Wert.

Abisol setzt einen Fuß auf die Treppe, das Holz knarrt leise, sein Aufstieg beginnt. Es geht weit nach oben, die Wendeltreppe schraubt sich durch den ganzen Berg, in einem beständigen Winkel von 37 Grad, ein spitzer Winkel und noch dazu der Winkel nach dem sich seine Forschungen ausrichten. 37 Grad, der Winkel, der ihn gefangen hält und noch dazu richtig nervt, seine Pflicht und sein Joch, wie er es immer nennt und das ganz ohne zu scherzen. Während er die Treppe nach oben steigt, verflucht er all ihre 137 Stufen, wobei es ja eigentlich 136,9 sind, da aus einer von ihnen ein Stück ausgebrochen ist, das nie jemand reparieren wird. Der Gedanke bringt ihn nun doch zum Lächeln. Nicht weil die Stufe kaputt ist, sondern weil es einen seltsamen Sinn ergibt, wenn man die passende Rechnung dazu kennt. Sie ist ihm in einer der besonders langen Nächte eingefallen, kurz nachdem er sich seine Kleider an der Stufe zerrissen hat. Auch jetzt denkt er daran, das macht den Weg zwar nicht kürzer, aber dafür wenigstens ein bisschen weniger eintönig. Wie sonst soll er sich auch ablenken, an einem Ort, an dem sich noch nicht einmal Vögel verirren? 

 

Er hat es bis nach oben geschafft, wischt sich den Schweiß von der Stirn und danach seine Hände in den groben Stoff seines dunkelgrünen Gewandes. Das Teleskop steht an seinem Platz, ist genau so ausgerichtet, dass es in einem 37 Grad Winkel in den Himmel zeigt. Er muss nur das große Dachfenster der Warte öffnen, ehe er wie immer einfach nur die Sterne anstarrt, die ganze Nacht, Woche für Woche, Jahr um Jahr. Ja, es ist wieder dieser eine Moment, der ihm seine Einsamkeit vor Augen führt. Vielleicht ist es genau darum so schwer, an der Kurbel zu drehen? Darum wird es sicher auch mit jedem mal schwerer und schwerer, bis es ihm einfach nicht mehr gelingen will. Was dann? Nun, ganz einfach, er wird weiter machen, solange bis der Orden wieder einen Jungen hier herschickt, einen Nachfolger bestimmt, der das Erbe der Warte und der Einsamkeit antritt. Irgendwann und dies weis Abisol genau, wird er ein weiteres Mal in die Fußstapfen seines Meisters treten, auch er wird ins Meer gehen, sich von den Wellen verschlingen lassen, um der Einsamkeit zu entkommen. Doch noch ist es nicht so weit, noch kann er die Kraft aufbringen an der Kurbel zu drehen, kann dabei den Blick nach oben richten und zusehen, wie sich langsam die Klappe im Dach öffnet, wie das Auge eines erwachenden Riesen. 

37 Umdrehungen braucht es, ehe es vollständig geöffnet ist, ehe er erneut eine Treppe im 37 Grad Winkel erklimmen muss, mit 37 Stufen. Vor dem Teleskop steht ein mit grünem Samt bezogener Hocker, auf ihm nimmt er Platz, streicht sich noch einmal das Haar aus der Stirn, ehe er mit seinen Beobachtungen beginnt.

 

Die Zeit kriecht dahin wie eine Schnecke über ein Kupferblech, langsam und schmerzhaft, denn der Hocker ist schon seit Generationen nicht mehr bequem. Nur hin und wieder steht Abisol auf, mal um etwas Wasser zu trinken, dann wieder um Wasser zu lassen oder auch um seinen ach so spannenden Aufzeichnungen einen weiteren Absatz hinzuzufügen. Seine Augen sind müde, lassen die feinen Tintenlinien wie Spinnenbeinchen wirken. Heute ist es besonders schlimm, da er tagsüber einfach keinen Schlaf gefunden hat. Auch wenn die Arbeit schleppend ist, so waren seine Gedanken schnell und hektisch, haben sich sogar überschlagen. Nicht, weil er eine Entdeckung gemacht hätte oder etwas Aufregendes passiert wäre. Aufregung gibt es auf der Insel nie, trotz der Schlachten, die an Land toben, kann er von seiner Warte aus nur ab und an die Feuer in der Ferne sehen. Beschäftigt hat ihn nichts, was er gesehen hat, sondern viel mehr etwas, das auf sich warten lässt, das Versorgungsschiff, welches ihn mit Nahrung, Pergament und Tinte versorgt, ist nun schon eine Woche überfällig. Was, wenn der Orden eingesehen hat, dass seine Forschungen, so wie der all jener vor ihm zu nichts führen? Wenn er es ist, der das große Los zieht und einfach zum Sterben hier zurückgelassen wird?

„Was, wenn man mich einfach loswerden will?“, flüstert er und hat den Blick dabei auf die Sterne gerichtet. 

„Was soll man auch groß sehen, wenn man immer nur einen Punkt anstarrt? Immer nur nach verdammten 37 Grad lebt“, wird er lauter und springt auf. Ins Meer zu gehen, weil man genug hat, ist eine Sache, aber einfach zum Verhungern auf einer Insel ausgesetzt zu werden ist ganz was anderes. Das ist …

„Beschissen!“, flucht er laut und deutlich, seine Stimme wird von den Wänden zurückgeworfen und das regt ihn gleich noch mehr auf. Seit Jahren hat er keine andere Stimme mehr gehört, hat seine Worte immer nur an sich selbst oder die Sterne richten können. Er hat es satt! Hat die Schnauze voll, will nur noch weg und genau das kann er nicht, niemals.

„Ich hab nie darum, gebeten, hier herzukommen!“ Wie von selbst ballen seine Hände sich zu Fäusten, er kann nichts gegen die Wut machen, die sich wie Feuer durch sein Inneres frisst, sie kommt zusammen mit Tränen. „Aber mich hat nie jemand gefragt, was ich will!“, mit diesen Worten schlägt er zu, trifft das Teleskop. „Zählt es denn mehr in den Sternen zu lesen als in einem Menschen?“, noch ein Schlag, das Teleskop gerät leicht ins Wanken, zittert etwas. „Bin ich denn nichts wert?“ Schlag Nummer drei und das Teleskop senkt sich. Es fällt zwar nicht von seiner Platte, aber die Halterung, die es in seinen 37 Grad gefangen hält, bricht und es bewegt sich zum allerersten Mal in eine andere Richtung, nach unten. Das ist nicht gut, sehr schlecht sogar, denn das Teleskop, ist groß und schwer und die Wände, die es umschließen, schon lange nicht mehr stabil. Abisol macht einen Schritt zurück, verliert den Halt und polter auf dem Hintern die 37 Stufen nach unten, auch das Teleskop fällt, reißt die Mauern ein. 

Abisol ist wie versteinert, kann nicht anders als stumm dabei zuzusehen, wie die Wände niedergerissen werden. Es dauert nicht lange und Staub erfüllt die Luft, verleitet ihn, sein Schweigen durch lautes Husten zu brechen. 

„Unheiligescheiße“, keucht er hervor und kämpft sich auf die Beine. Seine Augen brennen, er wischt sich den Staub mit dem Ärmel fort, doch es hilft nicht wirklich. Aus heißer Wut wird kaltes Entsetzen, als ihm bewusst wird, was er da angerichtet hat. Das Chaos ist enorm, doch es können unmöglich seine Hiebe alleine gewesen sein, so viel Kraft hat er doch nicht. Wobei der Zahn der Zeit auch schon kräftig an den Halterungen und Bolzen genagt hat. Aber das wird den Orden nicht interessieren, wenn sie davon erfahren, sie werden ihm und nur ihm alleine die Schuld daran geben. Man wird ihn vor Gericht stellen, ihn foltern und hinrichten. Panik fährt ihm wie ein Pfeil ins Herz, er legt die Hand darüber und spürt das kalte Silber seines Astrolabiums, sucht verzweifelt halt an der kleinen Scheibe. Weg, er muss weg. Von der Insel kann er nicht fort, doch er kann immer noch ins Meer gehen. Lieber lässt er sich von den Wellen verschlingen als vom Orden foltern. Da regt sich der Trotz in ihm, er greift nach seinen Aufzeichnungen, Jahre seines Lebens, gebannt auf Pergament, das er zwischen seinen zitternden Fingern zerknüllt. Man wird all das hier wieder aufbauen, wieder einen Jungen entsenden, ihm das gleiche Schicksal aufbürden. 37 Grad, die über ein junges Leben bestimmen, einen geraden Rücken eben in diesen Winkel beugen. Weil der Orden es so will und es sie nicht kümmert, was sie anderen dadurch antun! Aber ihn kümmert es!„Genug ist genug“, knurrt er hervor und lässt das Pergament zu Boden fallen, er greift nach dem Kännchen Öl, das er immer hier oben hat, gießt es über seine Aufzeichnungen. Er könnte es auf der Stelle beenden, alles, auch sein eigenes Leben, doch so will er nicht sterben. Nicht die Flammen sollen ihn verschlingen, sie sollen sich an etwas anderem ergötzen. Er dreht dem Chaos den Rücken zu, nimmt seine Laterne an sich und stößt die Tür auf, der Staub wird aufgewirbelt, begleitet ihn wie eine graue Wolke auf seinem Weg nach unten. Die Treppe nach unten, an seiner Kammer vorbei und auf den Ausgang der Sternwarte zu. Das breite Tor stößt er auf, tritt hinaus in die kalte Nacht. Über die Schulter wirft er noch einen Blick zurück, lässt dem Blick seine Laterne folgen, klirrend zerschellt sie auf dem Steinboden. Für ihn ist es vorbei, mit diesem Gedanken eilt er den Kiesweg zum Strand entlang. Seine Stiefel knirschen bei jedem Schritt, als er über die Steine hastet, schnell und immer schneller ohne einen Blick zurück. Verdammt auch der Kiesweg ist in einem 37 Grad Winkel aufgeschüttet, gut nur das es für ihn nach unten geht. Er will einfach nur fort von der Warte und dem Meer entgegen, dabei kümmert es ihn nicht, dass er immer wieder ins Straucheln gerät, auch nicht das er hinfällt und sich die Kleider zerreißt. Ja, er wirft den Mantel sogar von sich, lächerlich wie lange er ihn überhaupt getragen hat, diesen blöden Fetzen Stoff, der ihn als Astronom des Ordens ausweist, damit man seinen Rang erkennt. Aber wer hätte ihn denn erkennen sollen? In all den Jahren, in denen er nur alleine war, mit sich und der langsam immer heftiger aufkochenden Wut in seinem Herzen! Aber das ist nun vorbei! Für alle Zeit, so wie auch sein Leben bald vorüber ist und egal ob er in die Hölle oder den Himmel kommt, hat der Weg dorthin 37 Grad, dann wird er einfach zu einem Geist und sucht jeden Ordensdiener heim! Ja, diese Vorstellung gefällt ihm, sie lässt ihn sogar laut auflachen. Seine Stimme überschlägt sich dabei und sein Körper macht dabei mit so, dass er die letzten Meter zum Strand über den Hang hinabkugelt. Im weichen Sand bleibt er liegen, lacht den Sternen entgegen so laut, dass er kaum noch atmen kann. 

Aber warum lacht er, während ihm die Tränen über die Wangen laufen? Wie kann er nach all den Jahren endlich frei sein und doch fühlt sein Herz sich an, als hätte man es in einen Schraubstock gespannt? Was ist es, das da an der Kurbel dreht, es mit jedem Schlag noch fester zusammenpresst? Jetzt erst erkennt er, dass sein Lachen sich zu einem Schluchzen gewandelt hat, dass er nicht vor Aufregung zittert, Panik lässt ihn frieren, so heftig, dass seine Zähne aufeinander klappern. 

„Warum?“, schluchzt er hervor, seine Stimme ist brüchig wie Glas. „Warum bin ich immer noch allein?“, richtet er seine Frage an die Sterne, weil er es doch nicht anders kennt. 

„Scheiße, manche von uns wären gern allein.“ hört er da eine Stimme sagen, sie ist dunkel und weich wie Samt. So kann nur der Nachthimmel selbst klingen, bekommt er nun doch endlich Antwort von den Sternen?

„Aber dann taucht ein Typ auf und liegt flennend im Sand.“

Abisol blinzelt gegen den Tränenschleier an. Er muss wohl gestorben sein, anders kann er sich nicht erklären, was da geschieht. Zu der Stimme gesellt sich ein Gesicht, es schwebt dicht über ihm. 

„Bist du ein Dämon?“, krächzt er hervor. 

„Süßer, ich bin, was auch immer ich sein muss, damit du abhaust. Wer weiß, vielleicht bin auch ich der Grund, warum die Hölle heiß ist.“ Das Lachen, das dieser Antwort folgt, ist wie Samt.

„Ist sie denn jetzt kalt?“, die Frage ist einfach so raus, weil da endlich jemand ist, der sie auch hört. Dämon oder Engel, es spielt keine Rolle. Da verwischt das Gesicht, weicht wieder der Nacht und ihren stummen Sternen. Das will Abisol nicht, er will nicht wieder allein mit der Stille sein, das erträgt er nicht mehr. Mit einem Ruck richtet er sich auf, 37 Grad sind sicher auch dabei, aber sie sind nicht länger alles, müssen es auch nie mehr sein. Zu spät bemerkt er, dass das Gesicht nicht einfach verschwunden ist, dass es auch nicht einfach nur so über ihm geschwebt hat. Es hängt an einem ganzen Körper, der nun vor ihm im Sand kniet, nahe genug, um mit ihm zusammenzustoßen. Seine Stirn trifft auf eine Nase, ein samtener Fluch folgt in einer Ausdrucksform schmutzig wie eine Jauchegrube, doch auch das ist ihm egal, weil diese Stimme nicht die Seine ist.

„Soll das ein Angriff sein?“, knurrt es da von oben und er hebt den Blick.

„Nein, also ich … ich wollte … also … ich.“ Abisol bekommt kaum ein Wort heraus, jetzt, da er den anderen vor sich sieht. So nahe war er schon lange niemanden mehr und ganz sicher noch nie zuvor jemanden, der so, ausgesehen hat. Das dunkle Haar ist zerzaust, Sand hat sich auf die dichten Locken gelegt, schimmert im fahlen Licht des Vollmondes, Augen in einem pulsierenden Bernsteinton haben ihren Blick auf ihn gerichtet. Ihm wird heiß und dennoch zittern seine Finger. Es wird noch schlimmer, sein Gegenüber grinst, es hat etwas Wölfisches. Was, wenn seine Stimme nicht wie Samt ist, sondern so weich wie Wolfsfell? Durchzuckt es Abisol. Da erst bemerkt er den blutigen Schnitt an der linken Wange des Anderen, das dunkle Rot, das langsam daraus hervor sickert, erinnert ihn an Rubine. Rubine, wie sie auch am Griff des Messers funkeln, das sich in diesem Augenblick gegen seine Kehle presst. Ein Messer, das ihn anwidert, nicht weil es sein Leben beendet, sondern weil es wieder zeigt, was er nie wieder sehen will, wer kommt denn auch auf die Idee ein Messer zu beiden Seiten im 37 Grad Winkle zu schleifen?

„Ich weiß immer noch nicht, was du bist, aber dein Messer ist dämonisch“, bringt er hervor, der Druck der Klinge verstärkt sich etwas, ritzt ihn in die Haut.

„Es ist scharf und tödlich, darum führe auch ich es. Wobei es an dir echt verschwendet ist.“ „Dann nimm es weg, bitte.“ „Und wie soll ich dir dann zeigen, wie ein Angriff funktioniert?“, das Grinsen seines Gegenübers wird breiter, die Wunde an der Wange öffnet sich dabei weiter, es fließt noch mehr Blut hervor. Wie von selbst heben sich Abisol’s Hände. Die eine legt sich über die Hand, die das Messer umklammert, doch die andere wandert an den Schnitt, sanft wischt er das Blut von der Wange, es ist warm, klebrig und so lebendig. Wieder zitter er, spürt wie Tränen über seine Wangen laufen, auch wenn er dem Tod in die Augen blickt, so ist er doch so unglaublich glücklich. Weil da endlich jemand ist, der seinem Blick begegnet. Wenn er heute stirbt, dann zumindest nicht allein. Und sterben, das wird er ganz sicher, denn auch der andere hat die Hände gehoben, legt sie ihm um den Hals.

„Tut mir echt leid für dich, aber du bist dem falschen Dämon zu nahe gekommen.“ hört er die Samtstimme sagen, dabei wird der Griff fester, er wird nach hinten gedrückt, ganz langsam bis er im weichen Sand liegt und der andere über ihm kniet. Warm ist der Körper, der sich gegen den seinen presst, wieder 37 Grad doch viel weniger schrecklich als sonst. Er ist bereit, es geschehen zu lassen, soll man doch sein Leben beenden, was hat, er denn schon groß, für das es sich lohnt, weiterzumachen? Da ist ein Fauchen zu hören, wie ein wütender Tiger, kurz darauf steht der Himmel in Flammen. Hat der Dämon die Pforte zur Hölle geöffnet? Abisol lässt seinen Kopf weiter nach hinten sinken, oh, es ist die Sternwarte, also hat das Feuer einen Weg bis nach oben gefunden. Gut, so gut sogar, dass er trotz des Druckes auf seine Luftröhre leise auflacht, er lacht auch noch, als der Körper des anderen sich über ihn wirft. Ein Dämon also ist es, der ihn vor der Hölle bewahrt, die er in dieser Nacht selbst heraufbeschworen hat.

Stille senkt sich über den Strand wie ein Leichentuch. Die Explosionen sind verstummt und auch der Regen aus Trümmern hat geendet. Wobei ganz so still ist es nicht, Abisol hört ein leises rhythmisches Klopfen, es ist der Herzschlag des Dämons, der immer noch über ihm liegt. 37 Grad Wärme, die ihn vor der Kälte der Nacht schützen, so wie der Körper, zu dem sie gehören, ihn vor den Einschlägen der Steine bewahrt hat.

„Du hast viel zu erklären“, zischt es neben seinem Ohr, dabei streicht warmer Atem über seine Wange. Kurz darauf sitzt der Andere auch schon wieder aufrecht auf ihm, blickt von oben auf ihn herab. Seine Bernsteinaugen scheinen in Flammen zu stehen.

„Kann ich mich dazu aufsetzten?“ „Nein, aus Erfahrung weiß ich, dass man auch im Liegen sprechen kann. Und nicht nur das.“ Da ist es wieder, das Wolfslächeln und es bringt erneut die Hitze mit sich. „Darf ich zumindest deinen Namen wissen?“ „Damit du ihn in die Nacht schreien kannst?“ „Ich bin Abisol“, versucht er es anders und reckt dem anderen die Hand entgegen, dass Blut an seinen Fingern klebt, kann er dabei nicht ändern. „Nur falls du was brauchst, um es in die Nacht zu schreien.“ kann er es nicht lassen und ist umso erstaunter, als der andere auflacht. „Alexey“, kommt die Antwort, er umfasst sein Handgelenk, beugt sich ihm etwas entgegen. „Wer weiß, Süßer, die Nacht ist noch jung.“ Noch ehe Abisol etwas erwidern kann, leckt Alexey ihm das Blut von den Fingern. "Nach deinen Erklärungen, haben wir noch viel Zeit um laut zu sein." spricht er weiter und sieht ihm dabei tief in die Augen. Abisol hat das Gefühl selbst in Flammen zu stehen, 37 Grad könne also nicht nur spitz, sondern auch richtig heiß sein.

 

Abisol hat sein Leben für Alexey zusammengefasst, viele Worte und doch ist die Geschichte selbst nichtssagend.

„Sterbenslangweilig“, bringt Alexey es ungerührt auf den Punkt. Dann aber lacht er auf, steht auf und reicht Abisol die Hand, er greift danach und lässt sich aufhelfen.

„Du wolltest nicht sterben, wie, auch wenn du davor nie gelebt hast?“ spricht er da weiter, ohne die Hand loszulassen.

„Ein Danach gibt es für mich aber jetzt auch nicht mehr. Der Orden wird …“

„Scheiß auf den Orden, auf deinen und auf meinen! Im Krieg stehen wir auf verschiedenen Seiten, doch egal auf welcher Seite auch immer, für unsere Obrigkeiten sind wir nichts weiter als Werkzeuge!“ Samten, so ist seine Stimme, doch in dieses Samttuch ist ein Messer geschlagen, scharf und wie dazu geschaffen, um Fesseln zu zerschneiden.

„Willst du abwarten, bis sie hier aufschlagen, um dich hinzurichten? Hast du nicht die Schnauze voll?“

Abisol bekommt kein Wort heraus, kann nur nicken.

„Was? Dass du wartest oder du auf sie scheißt?“

„Ich weiß doch nicht, was ich machen soll“, gibt Abisol zu, es ist nicht leicht, aber das ist die Wahrheit nie. Es kann aber leichter werden, wenn man nicht alleine ist, wenn da jemand ist, der zwar auf der anderen Seite steht, aber einen trotzdem an der Hand hält.

„Ganz einfach, mach’s wie ich, werd ein Verräter, wie sie es nennen. Wenn wir ihnen egal sind, warum sollte es uns kümmern, was man von uns erwartet?“

Ja, warum? Was hat den Orden je seine Einsamkeit gekümmert? Er senkt den Blick, sieht die Hand, welche die seine immer noch umschließt. Warm fühlt sie sich an, 37 Grad warm um genau zu sein.

„Abisol, was ist es, das du willst? Einsam in die Sterne schauen oder dich selbst in den Blicken eines anderen wiederfinden?“

Zum ersten Mal ist es jemand anderer, der ihm diese Frage stellt. Nun, da steckt sein Herz nicht länger in einem Schraubstock, dafür aber flattert es, wie ein Vogel in seiner Brust, will dem entgegenfliegen, dessen Blick er begegnet, als er es wagt, den seinen zu heben.

„Was, wenn ich es noch nicht weis?“, fragt er leise. Eine Hand legt sich an seine Wange, wischt behutsam darüber. 

„Dann trockne ich zuerst deine Tränen und dann finden wir es zusammen heraus.“

37 Grad, ist nicht heiß und doch spürt er, wie diese Berührung alleine ausreicht, um ihn zum Glühen zu bringen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.07.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke an Fizzy Lemon für dieses umwerfende Cover

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