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Eine Geschichte von Fall und Aufstieg

Also eines mal vorweg: Ich bin schwer gestört, hab mächtig einen an der Klatsche, bin unrettbar irre. Zumindest sagt man mir das schon seit Jahren, wirklich geglaubt habe ich es nie, doch nun da werde ich einfach so tun als ob, es so zu meinem Vorteil nutzen. Nachdem ich gestorben bin, kann ich wohl selbst entscheiden wie mein neues Leben aussieht und Hölle, gestorben bin ich wirklich oft. Nicht körperlich, nein, ein Zombie bin ich nicht, auch wenn ich mich lange so gefühlt habe, aber innerlich, da hat es mich oft erwischt. Klingt komisch? Ist es auch, aber nicht HAHA komisch, denn zum Lachen, dies versichere ich Ihnen, ist es nicht. Wobei, manchmal da hilft es einfach zu lachen , weil weinen auch nichts bringt. Wenn Menschen sich dazu entschließen einen anderen zu verletzen ,halten Tränen sie nicht davon ab, nein, sie stacheln sie nur zu noch größerer Grausamkeit an und wenn ich eines gelernt habe, dann dass Grausamkeit keine Grenzen kennt. Warum ich all das hier schreibe? Nun vielleicht damit Sie mich verstehen oder auch einfach nur um meine eigenen Gedanken zu ordnen. Wer kann es schon sagen, ich zumindest nicht, bin ja irre, bloß nicht vergessen. Wie wahnsinnig ich wirklich bin, können Sie ja selbst lesen, natürlich, nur wenn Sie auch wollen, den nichts läge mir ferner als anderen etwas aufzuzwingen. Will hier ja keine Opfer erschaffen oder so, wobei, hey, selbst wenn, Opfer gibt es ja nicht, nur Lügner, noch so etwas, das man mir schon seit Jahren erzählt, etwas, das ich dummerweise auch geglaubt habe. Aber nun, da bin ich vom Glauben abgefallen, die Erkenntnis hat sich in mir breit gemacht und ich habe begriffen, dass den Himmel um Gnade anzuflehen, nutzlos ist, also ist es Zeit, die Hölle zu meinem Spielplatz zu machen und dazu muss ich erst mal aufräumen. Dämonen ausräuchern, wenn man so will, und ICH will. Also? Schon genug? Haben Sie schon ein Urteil über meinen Geisteszustand gefällt? Sicher doch, sagen Sie mir nicht ,dass es nicht so ist. Aber ich mache Ihnen da keinen Vorwurf. Zu urteilen ist leicht, wenn man nur das Ergebnis kennt.Es erfordert wirklich Mut, um auch die Ursache zu erforschen. Sind Sie mutig? Sind Sie bereit zu sehen, was es ist, dass einen Engel zum Teufel wandelt? Wenn dem so ist, dann lade ich sie herzlich ein, kommen Sie, sehen Sie selbst und dann urteilen Sie erneut, wenn es Ihnen bliebt. Bestimmen Sie selbst, wer Täter, Opfer oder Lügner ist. Der Vorhang hebt sich, die Vorstellung beginnt. Widersacher, Monster oder Held, was ist es, das Sie erkennen, nachdem der Vorhang fällt?

 

Erster Akt, Auftakt

Ein normales Mädchen geht den Gang der Schule entlang, sie ist neu hier, hat mit diesem Semester angefangen. Für ihre 15 Jahre sieht sie noch recht jung aus, das lange dunkle Haar fällt ihr in leichten Locken über die Schultern, sie hält es mit einer dunkelblauen Spange davon ab ihr vor die grünen Augen zu gleiten. Dunkelblau, so ist auch der Blazer ,den sie trägt, so wie alle hier, er gehört zur Schuluniform. Zusammen mit einer schwarzen Stoffhose für die Jungen und einem dunkelblauen, knielangen Rock für die Mädchen. Schmuck trägt sie nicht, der ist verboten, denn alle Schüler sollen gleich sein, niemand soll aus der Masse hervorstechen. Trotzdem sieht man sie an, nicht weil sie es will, nicht weil etwas an ihr dazu einlädt, nein, einfach, weil sie neu ist. Es macht sie nervös, darum drückt sie ihre schwarze Ledertasche gegen ihre Brust, während sie immer weiter den Gang entlang schreitet, vorbei an den Spinden, an den verschlossenen Klassenzimmern und an den Mitschülern, die sie nicht kennt, obwohl alle sie zu kennen scheinen. Sie weiß nur, wohin sie muss, weil einer der Lehrer ihr einen kleinen gelben Zettel mit der Klassennummer zugesteckt hat, B-12 steht darauf.

Immer wieder gleitet ihr Blick über die Schilder neben den Türen, dabei achtet sie sehr darauf, nicht aus Versehen dem Blick eines anderen zu begegnen, sie will nicht, dass man die Angst in ihren Augen sieht. Es reicht, dass ihr Herz schlägt wie wild, es wirft sich gegen ihre Rippen wie ein wildes Tier, das versucht aus seinem Käfig zu entkommen, die Angst sind seine Klauen, die es ihr dabei tief ins Fleisch gräbt. Panikstörung, so hat es der Psychologe in ihrer letzten Schule genannt, dabei hat er freundlich gelächelt. Ob er auch noch gelächelt hätte, wenn sie ihn hätte sehen lassen, was es ist, das diese Panik in ihr entfacht, weiß sie nicht. Sie wird es nie erfahren, denn sie lässt es niemand sehen. Nicht die dunklen Flecken auf ihren Armen, die alten Verbrennungen an ihrem Rücken oder die Schnitte an den Innenseiten ihrer Oberschenkel. Nur einmal hat sie diesen Fehler gemacht, versucht zu sprechen, ihre Geschichte zu erzählen, zugehört hat man ihr, doch geglaubt hat man ihr nicht. Du verletzt dich nur selbst, um Aufmerksamkeit zu bekommen, aber es reicht dir nicht, jetzt versuchst du auch noch einem anderen die Schuld daran zu geben. Du bist krank, wahnsinnig und lügst, wann auch immer du den Mund öffnest, 39 Worte mehr hat es nicht gebraucht, um sich ein Urteil über sie zu bilden. Danach ist alles nur noch schlimmer geworden, also hat sie gelernt zu schweigen, die Zähne zusammenzubeißen und alles stumm zu ertragen. Ihr Stiefvater ist ein Heiliger, er kümmert sich um ein Kind, das nicht das seine ist, den ungewollten Spross einer Säuferin, wie kann sie es da auch wagen ihn in den Dreck zu ziehen? Damals, mit zehn Jahren, hat sie noch daran geglaubt, dass jemand kommt, um sie aus dieser Hölle zu befreien, doch jetzt ist sie älter, klüger und umsichtiger. An dieser Schule wird sie sich neu erfinden, nicht länger das Lügenmädchen sein, oder die Tochter der Säuferin, sie wird ganz einfach…„Engelchen, ich rede mit dir“ reißt eine Stimme sie aus ihren Gedanken, erinnert sie wieder daran, wo sie ist und dass sie doch etwas sucht, B-12. „Entschuldigung“, murmelt sie, ihre Stimme zu mehr als einem Flüstern zu heben gelingt ihr schon lange nicht mehr. „Kein Ding, wobei du mich zumindest ansehen könntest.“ Das sagt diese Stimme so einfach, freundlich klingt sie dabei, tief, doch nicht so tief wie die ihres Stiefvaters, dennoch zu tief, um zu einem Mädchen zu gehören. Was soll sie jetzt tun? Alleine der Gedanke daran jemand anderem gegenüberzustehen, ganz direkt, lässt ihre Fingerspitzen kribbeln, so kündigt sich die Panik an, erst das Kribbeln, dann die Kälte. „Komm schon, ich beiße nicht, auch wenn du zum Anbeißen aussiehst“, lockt die Stimme weiter, da schiebt sich auch schon eine Hand in ihr Sichtfeld, in einem Reflex weicht sie der Bewegung aus, macht einen Schritt zur Seite, da spürt sie auch schon die Wand im Rücken. „Verzeihung.“ Eine Entschuldigung so wie immer, auch wenn sie schon lange nicht mehr auf Vergebung hofft. Da spürt sie etwas Warmes an ihrem Kinn, die Hand, sie ist immer noch da, zwingt sie nun mit sanftem Druck den Blick zu heben, während in ihrem Inneren die Panik tobt. Sie beißt sich auf die Wange, tut alles, um nicht zu zeigen, wie sehr sie diese Berührung erschreckt. So wie immer, wenn die Panik kommt, versucht sie sich abzulenken, zwingt sich zu Ruhe und konzentriert sich auf alles, was um sie herum ist, viel ist da aber nicht. Nur sanft gelb gestrichene Wände und ein glatter, minzgrüner Linoleumboden. Dann ist es auch schon zu spät, ihr Blick begegnet einem Anderen. Vor ihr steht ein Junge, das Haar ist eine wuschelige kastanienbraune Mähne, an den Spitzen ist es etwas heller, sicher ist er viel in der Sonne, darum hat seine Haut auch eine sanfte Bräune, sie lässt seine sturmgrauen Augen funkeln. Sein Parfüm kitzelt etwas in ihrer Nase, ein klarer Männerduft, dezent. Er lächelt ihr entgegen, seine vollen Lippen schimmern sanft und als das Lächeln sich verbreitet entblößt er perlweiße Zähne. Vor ihr da steht ein Traumprinz, wie aus einem Märchen und doch ist nicht er es, der ihr Herz rasen lässt, sondern die Panik, die durch seinen Anblick und seine Berührung nur noch weiter angefacht wird. „Wenn du willst, dass ich dir verzeihe, nenn mir deinen Namen.“ spricht er weiter, sein warmer Atem schlägt ihr entgegen, er riecht klar und frisch, ein bisschen nach Erdbeere. Nicht nach faulen Zähnen und Schnaps so wie sonst, wenn ihr jemand so nahe ist. „Na was ist?“ Er lässt nicht locker, nur seine Hand bewegt sich, wandert von ihrem Kinn zu ihrer Wange, an seinem Handgelenk schimmert ein goldenes Armband. Schulregeln gelten wohl nicht für Traumprinzen, sie halten sie nicht ein, so wie sie auch keinen Abstand halten. Aber wenn sie ihm gibt, wonach er verlangt, dann geht er sicher, solange sie sich nicht wehrt, geht es schnell vorüber. „Selenya“, flüstert sie darum hervor. Seine Antwort ist ein leises Lachen und tatsächlich zieht er sich zurück. „Engelchen passt besser“, befindet er, fährt sich durchs Haar, sodass das Armband erneut aufblitzt, es lässt ihren Blick nicht los. „Ich bin Kian, bedeutet König, darum darf ich auch das hier tragen.“ Er hält ihr das Armband vor die Nase, lacht dann aber wieder auf. „Schau nicht so ernst, war ein Witz, es zeigt nur, dass ich eine Erdnussallergie habe. Ich seh schon, wir werden viel Spaß miteinander haben.“

 

Zwischenspiel

Wie gefällt es Ihnen bisher? Ist dies nicht der Beginn einer wunderschönen Liebesgeschichte? Ein gut aussehender Traumprinz, der sich gütiger Weise einer Außenseiterin annimmt. Noch lässt Panik ihr Herz rasen, doch wer weiß, vielleicht erobert er es ja für sich, steht ihr zur Seite und beschützt sie von nun an vor all dem Bösen, welches sie immerzu umgibt. Seine Liebe lässt ihre Wunden heilen und zusammen spazieren sie im Sonnenuntergang einer besseren Zukunft entgegen. Hollywood Potenzial, ein echter Kassenschlager, aber die Realität endet nicht mit einer Abblende, bei der alle noch mal in die Kamera lächeln. Die Realität ist ungerecht, Karma nur die Hoffnung der Verlorenen und Verdammten, ja, die Realität ist ein Arschloch. Sorry, mir sind die emotionalen Weichzeichner ausgegangen, noch etwas worüber Sie gerne urteilen dürfen, jetzt, später, immer oder auch nie, wie es Ihnen beliebt. Na,was ist? Hat Sie der Mut verlassen oder begeben sie sich weiter auf die Spuren der Vergangenheit?

 

Zweiter Akt

Zeit ist relativ, darum verfliegt sie für die einen, während sie für die anderen zäh ist wie Teer. Mit Spaß verhält es sich so ähnlich, was die einen amüsiert ist für die anderen die reinste Qual. Während Kian laut und offen lacht, beißt Selenya die Zähne zusammen und zwingt sich selbst zum Schweigen. Angefangen hat es mit kleinen Sticheleien, hie und da eine Anzüglichkeit, eine flüchtige Berührung unterm Rock oder auch ein Schlag auf den Hintern, flirten nennt er es, seine Freunde sehen es ebenso und die anderen Mädchen, nun, die sehen nur ,dass ihr Traumprinz nur noch Augen für die Neue hat. Man hat bereits über Selenya geurteilt. Die Jungen lachen, weil sie ein leichtes Mädchen ist und die Mädchen tuscheln, weil sie in ihr eine Schlampe sehen. Doch niemand spricht mit Selenya, selbst wenn sie mitten unter ihnen ist, so ist sie isoliert. Darauf ist Kian seit dem ersten Tag sehr erpicht, noch mehr, seit er ihr Geheimnis entdeckt hat, die Spuren auf ihrer Haut, die ein anderer dort hinterlassen hat, ja, sie immer noch dort hinterlässt. „Stell dich nicht so an, Engelchen, du bist ja schon Profi darin.“ Das hat er gesagt, als er die alten und neuen Wunden gesehen hat. Damals, als er sie zum ersten Mal nach der Schule abgefangen und in den Geräteraum geschleift hat. Er hat sie dazu gezwungen sich auszuziehen, sie hat gezögert, da hat er grob an ihrem Haar gerissen, sie auf die Knie gezwungen, ihr ins Gesicht geschlagen und sie angespuckt. Schmerz, wie immer und wie immer hat sie einfach getan, was man von ihr verlangt, um der Tortur zu entkommen. Aber ein Entkommen gibt es nicht, weder für sie, noch für andere, die ihr Schicksal teilen. Was soll sie auch tun, es jemand erzählen, den Fehler von damals wiederholen, nur um wieder als Lügnerin gebrandmarkt zu werden? Nein, das kann sie nicht, noch einmal erträgt sie es nicht, wenn alle sie anstarren und über sie lachen, sich das Maul zerreißen und sie in den Dreck treten. Da ist es besser, wenn sie nur zwei Peiniger hat und nicht gleich eine ganze Horde. Daran denkt sie immer wieder ,auch jetzt wo wieder Spielstunde ist, so nennt Kian die Zeit, die er mit ihr verbringt. Er zerrt sie wieder auf den Schuppen zu, hat sie dafür an der Hand genommen so dass es für jeden Beobachter aussieht, als würde sie ihm freiwillig folgen. Aber man muss dem anderen nicht mit Gewalt drohen, um ihn zu lenken, das Wissen, dass man ohnehin nicht entkommen kann, reicht aus, um machtlos zu sein. Panik, sie wallt in ihr auf, jeder Schritt zum Schuppen fühlt sich an als laufe sie barfuß über Glasscherben, ihr Herz, es rast und pumpt Eis durch ihre Adern, ihr ist kalt, so entsetzlich kalt und doch unterdrückt sie das Zittern, er mag es nicht, wenn sie zittert. Vier Wände aus groben Holz gezimmert, ein Dach aus altem Wellblech, mit einem Boden aus festgetretener Erde, so sieht ihre Zelle aus, ihre neue persönliche Hölle und Kian ist der Kerkermeister. Niemand verirrt sich hier her, niemand, der Kian stört oder sie rettet, es ist seine Domäne, das weiß er auch, grinst selbstzufrieden, als er die Tür öffnet, dabei funkelt sein Armband spöttisch in der Sonne. Es ist seltsam, wenn Selenya daran denkt, dass sie sein Spielball ist, während eine Erdnuss ausreichen würde, um ihn zu Fall zu bringen. Warum nur kann er nicht gegen mich allergisch sein, denkt sie als er sie in den dunklen Schuppen schiebt und die Tür hinter ihnen verschließt. Kaum ist die Tür geschlossen, stößt er sie grob von sich, sie landet auf dem harten Boden, Steinchen graben sich in ihre Knie, sie sind schon ganz rot und wund, Verletzungen, die alle sehen und doch denken sie, dass sie freiwillig vor ihm kniet. „Du weißt, was jetzt kommt, Engelchen, sei brav und gib mir was ich will.“, sagt er, verschränkt dabei die Arme vor der Brust. Ja, sie weiß, was er will, hat es schon oft genug getan und doch ist es ihr immer noch peinlich. Langsam streift die den Blazer ab, lässt ihn zu Boden gleiten, mit tauben Fingern öffnet sie die Knöpfe ihrer Bluse, legt sie darauf, damit sie nicht schmutzig wird, sonst schlägt ihre Mutter sie wieder, schickt sie ohne Essen auf ihr Zimmer, wo kurz darauf ihr Stiefvater erscheint, um sie richtig zu bestrafen. „Lass mich nicht warten.“ ,grollt Kian, es dauert ihm zu lange, Geduld ist eine Tugend und Tugenden besitzt er nicht. Selenya öffnet den Reißverschluss an ihrem Rock, zieht auch ihn noch aus, sodass sie nur in Unterwäsche vor ihm im Dreck sitzt. Er grinst zufrieden, begutachtet sie, sucht nach neuen Zeichen auf ihrer Haut, das macht er immer. „Womit diesmal?“, fragt er und deutet auf eine breite rote Strieme, die sich über ihr Brustbein zieht, dort ist auch ein Kratzer, er ist nicht tief, hat kaum geblutet, doch nun, da juckt er. So wie auch seine Blicke auf ihrer Haut zu jucken scheinen. Wie gerne würde sie sich doch kratzen, sich so die Haut von den Knochen schälen, um so all den Berührungen zu entkommen, die dieser Begutachtung folgen werden.„Gürtel“, bringt sie mühsam hervor, er schnalzt nur mit der Zunge. „Und das?“, diesmal meint er einen Schnitt, er läuft gerade über den rechten Rippenbogen. „Glasflasche.“ So geht er nach und nach alle neuen Zeichen durch, er fragt, sie muss antworten. Heute dauert es nicht so lange, ihr Stiefvater war zu betrunken, um sich lange damit aufzuhalten, ist gleich zum guten Part übergesprungen, wie er es immer nennt. Und deine Mutter?“ Seine übliche Abschlussfrage, weil auch er zum guten Part kommen will. „War betrunken und hat geschlafen.“ Ihre übliche Antwort, sein Startschuss. Doch etwas ist heute anders, er kommt nicht sofort auf sie zu, sondern holt etwas aus seiner Hosentasche, sein Handy, noch ehe sie weiß, wie ihr geschieht, macht er ein Foto damit, der Blitz ist hell, bringt sie zum Blinzeln und als sie wieder klar sieht, sieht sie sich selbst. Sonst vermeidet sie den Blick in den Spiegel, doch nun ist es ausgerechnet er, der sie dazu zwingt, zu sehen, wovor all die anderen immer die Augen verschlossen haben. Kein schöner Anblick, doch auch keine Seltenheit, sie weiß, dass es vielen so ergeht wie ihr. Menschen, die aus dem Licht gedrängt werden, die man dazu verdammt in den Schatten zu hausen, Löcher in der Menge, Lücken im Gedränge. Verstoßen aus der Welt, ganz auf sich gestellt. „Siehst du Engelchen, womit ich mich hier herumschlagen muss? Wer will so etwas schon sehen.“ Er packt sein Handy wieder weg, spuckt angewidert auf den Boden, winzige Tröpfchen treffen sie an der Wange. „Aber ich werds schon richten“, schiebt er nach und öffnet seine Hose. Ja, das wird er, so wie sie es immer richten. Nach dem guten Part wird er neue Zeichen auf ihr hinterlassen. Als würden er und ihr Stiefvater Botschaften austauschen. Ihre Haut ist das Papier, ihr Blut die Tinte und die Grausamkeit der Beiden sind die Federn. So schreiben Sie eine Geschichte, Selenyas Geschichte und die vieler anderer, denen es genau so ergeht. Kein Happy End, denkt sie als Kian ihr grob ins Haar fasst, ihre Beine auseinander drückt, um sich zu nehmen, was sie ihm nicht geben will. Und während er ihr einen Kuss auf die Lippen zwingt, formt sich ein weiterer Gedanke: Nicht für dich, der König muss fallen!

 

Zwischenspiel

Hallo, ich wollte mich nur erkundigen wie es Ihnen so geht? Wie ist es so, wenn sich der Traumprinz als Alptraum entpuppt? Unerwartet? Vorhersehbar? Keine Sorge, es ist bald zu Ende, der Vorhang wird fallen. Ob er dies alleine tut oder den König unter sich begräbt, werden Sie noch früh genug erfahren. Dann ist es auch für Sie an der Zeit zu urteilen. Auch wenn ich mich wiederhole, Widersacher, Monster oder Held, was ist es, das Sie erkennen, nachdem der Vorhang fällt?

 

Dritter Akt

Wie jeden Morgen legt Selenya ihre Uniform an, überprüft den Sitz ihrer Bluse, achtet darauf, die Zeichen ihrer Peiniger zu verbergen. Sie zieht ihren Rock an, stopft die Bluse hinein und richtet den Gürtel, den sie wieder einmal enger schnallen muss. Die Kniestrümpfe zieht sie über und bindet sich danach die Schuhe, alles ist wie immer und doch ganz anders. So ist es schon, seit Kian ihr das Foto gezeigt hat, eine Woche ist es nun schon her. Eine Woche, in der sie nicht nach Hause gegangen ist, vermisst gemeldet hat man sie nicht, sicher, weil niemand da ist, der auf sie wartet. Sie hat in der Stadtbücherei geschlafen, die ist rund um die Uhr geöffnet. Auf der Toilette macht sie sich frisch, wäscht sich Hände und Gesicht, dabei hat sie den Blick fest auf ihr Spiegelbild gerichtet. Sie sieht sich selbst und doch auch noch viele andere. Sie hat auch geübt zu sprechen, mit der Dame in der Drogerie um die Ecke, sie hat nach Lotionen, Parfüm und Lipgloss gefragt, nach etwas, das zu ihr passt. Immerhin ist das Semester heute vorüber, ein, wie sie es findet, besonderer Anlass. Kian sieht es auch so, hat sogar angekündigt, dass er sich etwas ganz Besonderes hat einfallen lassen, nur für sein Engelchen. Da will sie ihn ja nicht enttäuschen. Fündig geworden ist sie nicht beim Make-up, sondern in einem anderen der vielen, hellerleuchteten Gänge. Sie hat etwas gefunden, das ihre Wunden weniger jucken lässt und auch ihren rissigen Lippen einen rosigen Glanz verleiht, ja, wenn sie sich jetzt so sieht, erkennt sie sich kaum selbst. Es gelingt ihr sogar zu lächeln. Noch einmal tupft sie sich etwas von der Tinktur auf die Bisswunden am Hals, wirft das Haar nach hinten und oh, was ist das, ein leises Kichern entsteigt ihrer Kehle. Ein Laut, den sie schon beinahe vergessen hat. Ja, das ist gut, so ist sie bereit für diesen besonderen Tag. Sie dreht sich herum, wirft ihrem Spiegelbild eine Kusshand zu und macht sich auf, das Fest soll ja nicht ohne sie beginnen, immerhin hat der König selbst dazu geladen.

Besonders ist es wirklich, auch wenn er sie nur wieder in den Schuppen führt. Heute, da bleibt die Panik aus, auch ihre Finger sind nicht taub als sie sich vor ihm ausziehen muss, sie lässt ihre Kleider einfach fallen, ungeachtet des Dreckes auf dem Boden, wer soll sie jetzt auch noch dafür strafen? Kian inspiziert sie wieder, nur findet er diesmal nichts Neues, wie denn auch, der Letzte, der auf ihre Haut geschrieben hat, war er. Er sagt nichts dazu, zieht nur die Brauen zusammen. Etwas, das sie bemerkt, weil sie ihm direkt ins Gesicht blickt. Er öffnet die Hose, zwingt ihre Beine auseinander, sein Spiel beginnt, aber heute spielt er nicht alleine. „Du duftest gut“, stöhnt er in ihr Ohr, sein heißer Atem widert sie an. Seine Hände hat er in ihr Haar gekrallt, seine Zunge wandert über ihren Nacken, er gräbt die Zähne in die weiche Haut, stöhnt dabei genießerisch auf. „Es gefällt dir.“ Mit diesen Worten dringt er in sie , so viel leichter als sonst, auch dafür ist die Lotion gut, seine Lippen pressen sich auf die ihren als er zustößt, ihm gefällt es sicher, darum beißt er ihr auch in die Lippen, leckt das salzige Blut ab welches aus der Wunde sickert. Ekstatisch, das ist er, seine Bewegungen werden schneller, sein Atem geht stoßweise dann erstarrt er. „Hab ich dir den Atem geraubt?“, fragt Selenya lakonisch ,schiebt ihn von sich, er kann nichts sagen, fasst sich nur an den Hals und ringt nach Luft. Langsam kommt sie auf die Beine, sieht von oben auf ihn herab, nun ist sie es, die ihn studiert, den Schweiß auf seiner Stirn, seine schreckgeweiteten Augen und das goldene Armband, welches allein zeigt, dass auch ein König nicht unbesiegbar ist. Ohne Eile legt sie ihre Kleider wieder an, überprüft deren Sitzt so wie sie es immer tut, dabei lächelt sie. Kians Finger krallen sich in den Boden, graben tiefe Furchen hinein, er versucht nach ihrem Bein zu greifen, doch sie macht einen Schritt über ihn hinweg. „Du musst dich nicht länger damit herumschlagen.“ Mit diesen Worten öffnet sie die Tür, lässt das Licht hinein. „Von nun an schlage ich zurück“, setzt sie hinzu und tritt hinaus ins Freie. Über die Schulter wirft sie einen Blick zurück, sieht wie der König sich windet. Zu Fall gebracht durch Erdnussöl, mehr braucht es nicht. Sie lacht leise vor sich hin, schließt die Türe hinter sich. Das Licht gehört endlich ihr und er ist es, der in den Schatten treibt, bis die Dunkelheit ihn für immer verschlingt. Nie wieder wird er andere in die Finsternis treiben, sein Bann ist gebrochen. Das Engelchen ist gefallen, hat sich als Teufel aufs neue erhoben. Nie wieder wird sie den Himmel um Beistand anflehen, sie selbst wird die Hölle beherrschen, zu der andere ihr Leben gemacht haben.

 

Epilog

Gratulation, Sie haben es geschafft. Sie können stolz auf sich sein, der Mut hat sie nicht verlassen. Der Vorhang ist gefallen, der König mit ihm, begraben unter der Last seiner eigenen Taten, dafür hat sich eine andere erhoben. Erinnerungen wie Tinte so schwarz, Wunden wie Rosen so rot, der König starb den Erdnusstod. Doch nun, da sind Sie gefragt. Der Henker war sein Engelchen, doch Sie dürfen die Richter sein. Fällen Sie ihr Urteil, folgen Sie ihrem Herzen, ihrem Verstand, ja wenn es ihnen hilft ihrem kleinen Zeh. Jeder für sich ist es, der sein Urteil fällt, nehmen Sie sich Zeit, denn nur Sie bestimmen, wer Selenya für Sie ist: Widersacher, Monster oder Held? Was sehen Sie in ihr, in den Momenten, nachdem der Vorhang fällt? Sie kennen den Anfang, den Verlauf und die Wende, darum beurteilen Sie eine Geschichte nie nur nach dem Ende. Vergessen Sie nie: niemand wird als Mörder geboren, oft sind sie im Inneren zerbrochen und verloren.


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Tag der Veröffentlichung: 10.04.2023

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