Cover

Prolog




Kennst du das Gefühl, wenn du für andere unsichtbar bist? Du stehst direkt neben ihnen, doch sie nehmen dich nicht wahr. Ein Beispiel: Du bist in der Schule. In der großen Pause bist du mit zwei Freundinnen zusammen, die beide einen Freund haben. Doch du bist Single. Die Beiden unterhalten sich über ihre Beziehungen und du stehst daneben und wirst nicht beachtet. Weil du nicht mitreden kannst. Schon bist du unsichtbar. Doch gegen diese Unsichtbarkeit kannst du was machen, du suchst dir einen Freund. Nun kannst du mitreden und schon bist du nicht mehr unsichtbar.
Doch es gibt eine Unsichtbarkeit, die du nicht besiegen kannst. Die Unsichtbarkeit, wenn du tot bist. Die Seele verlässt den Körper und lebt auf der Erde weiter. Doch eine Seele kann man nun mal nicht sehen.
Um in den Himmel zu kommen, muss mindestens ein Person daran glauben, dass du noch irgendwo auf der Erde bist. Doch wie willst du das anstellen, wenn dich niemand sieht oder spürt?
Du kannst die Person umarmen, doch sie wird es nicht spüren. Du kannst vor ihr stehen, doch sie sieht dich nicht. Du kannst sie anschreien, doch sie hört dich nicht.

Kapitel I



Mein Name ist Paulina Schmidt und ich bin 17 Jahre alt. Seit genau zwei Wochen bin ich nun schon tot. Ein betrunkener Autofahrer war über eine rote Ampel gefahren und hatte nicht gesehen, dass ich gerade über die Straße ging. Er hatte mich voll erwischt und beging anschließend Fahrerflucht. Ich weiß nicht, wie lange ich dort auf der Straße lag, bevor mich jemand gefunden hatte. Es war ungefähr 22 Uhr als der Unfall passierte. Um die Zeit trifft man in unserer Stadt selten Leute auf der Straße.
Ich erinnere mich, dass ich im Krankenwagen saß. Neben mir standen eine Frau und ein Mann, die sich um mich kümmerten. Ich hörte wie der Mann immer wieder sagte, dass ich wahrscheinlich nicht durchkommen würde. Aber die Frau stritt das ab, sie war sich sicher, dass ich den Unfall überleben würde. Der Mann bemerkte, dass ich bei Bewusstsein war und stellte mir einige Fragen. Nachdem er feststellte, dass er keine Antworten von mir bekommen würde, strich er mir über den Kopf und flüsterte: „Es wird alles gut“. Danach verlor ich wieder mein Bewusstsein.

Im Krankenhaus wachte ich wieder auf. Aber diesmal anders als zuvor. Ich war nicht mehr in meinem eigenen Körper. Ich sah, wie mein Körper auf einem Bett lag. Die Ärzte in dem Raum versuchten mich wieder zu beleben. Aber es half alles nichts. Sie würden mich nicht retten können. Das ich hier, außerhalb meines Körpers, im Raum stand war kein gutes Zeichen.
Schließlich gaben die Ärzte auf. „Es ist zu spät“, sagte einer der Ärzte betrübt, „Zeitpunkt des Todes 23.11 Uhr“. Die Menschen in dem Raum blickten sich schweigend an. Wahrscheinlich fragten sie sich, warum ein so junges Mädchen sterben musste.
Eine Schwester meldete sich zu Wort: „Ich gehe ihre Eltern rein holen“. Nein, bitte nicht meine Eltern. Sie würden es nicht ertragen, ihre eigene Tochter tot im Krankenhaus zu sehen. Doch wie hätte ich es verhindern sollen?
Meine Eltern betraten den Raum. An ihrem Gesicht und den roten geschwollenen Augen konnte man erkennen, dass sie geweint hatten. Sie sahen mich dort auf dem Bett liegen und wussten sofort, dass ich tot war. Der Arzt brauchte es ihnen nicht zu sagen. Meinem Vater liefen Tränen über die Wangen. Meine Mutter reagierte gar nicht. Sie starrte mich schweigend und mit leerem Blick an. Mein Vater legte seine Hand auf ihre Schulter. Plötzlich fing meine Mutter an zu schreien. Sie schrie und weinte gleichzeitig. Mein Vater versuchte sie zu beruhigen, doch er schaffte es nicht. Schließlich kam ein Arzt mit einer Spritze und gab ihr ein Beruhigungsmittel.
Der Arzt bat meinen Vater darum, jetzt mit meiner Mutter nach Hause zu gehen, damit sie den Schock erstmal verarbeiten können. Sie würden meine Leiche jetzt ohnehin wegbringen lassen.
Ich wusste nicht was ich nun machen sollte. Niemand hatte mich auf das Leben nach dem Tod vorbereitet. Würde ich jetzt für immer hier bleiben? Würde ich in den Himmel oder in die Hölle kommen? Ich entschied mich dazu erst einmal meinen Eltern zu folgen. Das war besser als hier im Krankenhaus rum zu stehen.

Jetzt, zwei Wochen später, bin ich immer noch bei meinen Eltern zu Hause. Doch bisher ist nichts passiert. Es ist als würde ich normal weiterleben, nur das mich niemand bemerkt. Ich habe immer wieder versucht, Kontakt mit meinen Eltern aufzunehmen. Ich habe sie angesprochen, sie berührt und sogar geschlagen. Aber sie merkten es nicht.
Ich liege gerade auf meinen Bett und überlege. Das kann doch nicht alles sein. Ich kann doch nicht, bis in alle Ewigkeit, hier leben ohne das mich jemand sieht. Das kann einfach nicht sein. Irgendwas mache ich falsch.
Vielleicht bringt es ja was, wenn ich draußen ein bisschen spazieren gehe. Das ist immer noch besser, als hier auf etwas zu warten, was wahrscheinlich nie passiert. Ich verlasse mein Zimmer und gehe die Treppe hinunter. Im Wohnzimmer sitzen meine Eltern und schauen Fernsehen. Das machen die beiden jeden Tag, seit ich tot bin. Sie stehen morgens auf, frühstücken, schauen Fernsehen, essen zu Abend, schauen wieder Fernsehen und gehen dann ins Bett. Ich hoffe die beiden wollen nicht den Rest ihres Lebens so verbringen.
Ich öffne die Haustüre und gehe nach draußen. Es ist wunderbares Wetter, dafür, das erst Juni ist. Die Straßen sind prall gefüllt mit Leuten, die das Leben genießen. Wo soll ich nur hingehen? Meine Freunde besuchen, die mich ebenfalls nicht sehen werden? In die Schule gehen? Ich habe keine
Ahnung.
Doch dann bekomme ich eine Idee. Ich werde die Unfallstelle besuchen. Ich wusste noch genau, wo der Unfall passiert ist, also würde ich die Stelle mühelos finden. Der Weg dauert zwar fast eine halbe Stunde, aber so habe ich wenigstens etwas zu tun.

Kapitel II



Von weitem kann man erkennen, dass an dieser Straße ein Unfall geschehen ist. In der Nähe von dem Zebrastreifen, an dem ich ums Leben kam, stehen auf dem Bürgersteig unzählige Kerzen und Blumen. Inmitten davon steht ein Bild von mir, unter dem mein Name steht. An dem Zaun, der sich dahinter befindet, hängt ein weißes Tuch, auch dem steht „Wir werden dich vermissen, Paulina.“
Einige Menschen bleiben davor stehen und schauen sich die Sachen an. Vor allem mein Bild erweckt viel Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich überlegen die Leute, ob sie mich vielleicht kennen. Doch die meisten Leute gehen einfach vorbei, ohne sich das Bild überhaupt angesehen zu haben. Den meisten Leuten ist es anscheinend egal, wenn jemand aus der eigenen Stadt stirbt. Aber das ist schon okay so. Jeden Tag sterben Menschen und das überall auf der Welt. Mein Tod ist nur einer von vielen. Nichts besonderes. Ich frage mich wo die anderen Menschen sind, die gestorben sind. Bis jetzt ist mir niemand aufgefallen, der schon tot sein könnte. Anscheinend bin nur ich hier auf der Erde weiterhin gefangen. Na toll. Hab ich vielleicht was falsch gemacht, als ich gestorben bin? Vielleicht hätte ich gleich weg rennen müssen, als ich meinen Körper verlassen hatte. Vielleicht durfte ich mir beim sterben nicht zu sehen.
Dann reißt mich etwas aus meinen Gedanken. Ich sehe, wie meine Freundin Sophia sich nähert. Sie sieht sehr deprimiert aus und man konnte sofort erkennen, dass sie sehr viel geweint haben musste. In ihrer Hand trägt sie ein paar Blumen und in der anderen Hand eine Kerze.
Als sie schließlich neben mir stand und sich ebenfalls mein Bild ansah, schossen ihr sofort Tränen in die Augen. Wie gerne würde ich sie in den Arm nehmen und sie trösten, aber leider bin ich ja tot und kann es nicht. Außerdem bin ich auch noch Schuld daran, dass sie so traurig ist.
Sie kniet sich auf den Boden und legt die Blumen zu den anderen hin. Danach stellt sie die Kerze ebenfalls auf den Boden und sucht nach etwas in ihrer Tasche. Nachdem sie schließlich ein Feuerzeug heraus geholt hat, zündet sie die Kerze an und richtet sich wieder auf. Ganz leise und kaum zu hören flüstert sie dann: „Warum musstest du nur gehen?“. Dann dreht sie sich um und geht wieder.
Traurig schaue ich ihr hinterher.
Plötzlich spüre ich, wie jemand nach meiner Hand greift. Ich erschrecke mich und drehe mich sofort um. Dort stand ein kleines Mädchen, höchstens acht Jahre alt. Sie sah mich an. Sie sah mich wirklich an. Nicht fähig etwas zu sagen, starrte ich sie an. Sie hat wunderschöne goldblonde Haare, die ihr bis zum Po reichen. Sie hat sehr feine Gesichtszüge und große, grüne Augen mit sehr langen Wimpern. Was hätte ich dafür gegeben, ihre Augen zu besitzen. Sie trägt eine blaues Kleid mit passenden blauen Schuhen. Um ihren Hals trägt sie eine feine goldene Kette, mit einem Anhänger, der eine Rose darstellen soll. Sie sieht aus wie eine Prinzessin.
Auf einmal fiel mir auf, dass mein Mund offen war. Warum ist mein Mund offen? Das ist ja wohl nicht das erste mal, dass ich ein kleines Mädchen zu Gesicht bekomme.
„Kannst du mich sehen?“, frage ich, immer noch schockiert. Dumme Frage. Sie hat nach meiner Hand gegriffen. Wie hätte sie das anstellen sollen, wenn sie mich nicht sehen würde.
„Ja, natürlich“, antwortet sie amüsiert. Wahrscheinlich denkt sie gerade genau das gleiche, was ich eben gedacht habe.
„Ich muss dir einiges erklären, Paulina, damit du dich hier zurecht findest und weißt was du zu tun hast.“ beginnt sie zu erzählen, „aber dafür sollten wir uns vielleicht irgendwo hinsetzten“.
Ich überlege kurz und sage schließlich: „Wir könnten uns in den Park setzen“.
„Gute Idee“, antwortet sie lächelnd und wir machen uns zusammen auf den Weg zum Park.

Als wir eine Viertelstunde später den Park erreichen, setzen wir uns auf eine Bank und sehen uns schweigend an. Den ganzen Weg hierher haben wir kein Wort geredet. Ich war viel zu aufgeregt, um zu sprechen. Was muss sie mir erklären? Und offensichtlich weiß sie viele Dinge, die ich nicht weiß. In dem zustand konnte ich unmöglich sprechen.
„Wie alt bist du“, frage ich schließlich, um das Gespräch anzufangen.
„Ich bin achtunddreißig Jahre alt“, sagte sie mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Das muss ein Scherz gewesen sein. Neben mir saß ein junges Mädchen, sie konnte niemals schon so alt sein. Schockiert sah ich sie an.
„Ich wusste, dass du so reagieren würdest“, sagt sie lachend, „Ich bin gestorben, als ich sieben Jahre alt war. Ich bin, genau wie du, überfahren worden.“
Ich kann immer noch nichts sagen. Ich bin mit der ganzen Situation viel zu überfordert. Dieses Mädchen ist seit einunddreißig Jahren tot. Seit einunddreißig Jahren geistert sie hier wortwörtlich rum. Ich kann es gar nicht fassen. Ihre Stimme reißt mich wieder aus meinen Gedanken.
„Ich bin hier, um den Verstorbenen zu erklären, wie es weiter geht“.
Dann schweigt sie, während ich sie weiterhin anstarre.
„Wie geht es denn nun weiter?“, frage ich ungeduldig. Wieder dieses Grinsen auf ihrem Gesicht. Ich frage mich, was daran jetzt so lustig gewesen ist.
„Da du in deinem Leben nichts schlimmes angestellt hast, wirst du auf jeden Fall in den Himmel kommen“, beginnt sie, „allerdings musst du den weg dorthin ganz alleine finden“. Na toll, ich muss also den Weg in den Himmel finden. Und wie soll ich das anstellen? Soll ich etwa fliegen lernen, oder was?
„Jetzt hör mir gut zu Paulina, damit du in den Himmel kommst musst du einer Person, die auf der Erde lebt, klar machen, dass du noch da bist. Diese Person muss daran glauben, dass deine Seele noch auf der Erde ist und sie muss es einer weiteren Person erzählt haben. Erst dann kannst du in den Himmel“.
Hab ich gerade richtig gehört? Wie bitte soll ich einer Person beweisen das ich noch da bin?
„Und wie genau soll ich das anstellen“, frage ich empört, „Das ist völlig unmöglich.“
„Du wirst einen Weg finden, da bin ich mir sicher“, sagt sie und verschwindet daraufhin.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, wie das Mädchen eigentlich heißt.

Impressum

Texte: © Text by Alea-Sophie Bachmann
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /