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Prolog: Sternenklar

Von richtig alten Männern sagt man oftmals, sie seien unglaublich konservativ, würden Neuerungen nicht begrüßen und an Altem festhalten. Im Falle des königlichen Astronoms stimmte dieses Vorurteil vollkommen. Seinen weißen, langen, vollen Bart trug er offen und unverhohlen, obwohl ein solcher deutlich gegen die neue, am Hofe gängige Mode ging – aber das war ihm egal. Ihm konnte es auch egal sein, denn im Gegensatz zu den meisten anderen königlichen Dienern musste er nicht ständig am Hof herumstolzieren. Nein, er hatte seinen kleinen, wenngleich feinen Turm auf einem Hügel gleich außerhalb von Weißthron, der Hauptstadt, und eine Hütte am Fuße des Hügels. Ein wenig Bewegung schadet nicht, hatte er sich wohl einer der Astronomen vor ihm gedacht, und seitdem ist die Hütte nicht verschoben worden. Der jetzige Astronom hatte nie viel davon gehalten am Abend einen Hügel hochsteigen zu müssen, aber Tradition war Tradition, daran hielt er sich. Meckern darf man, aber ändern? Bloß nicht.

So saß er also in dem großen Brokatsessel am gewaltigen Teleskop, und starrte in den finsteren Himmel hinein. Für gewöhnlich musste er nur die Bahnen der Himmelsgestirne überprüfen, und schauen wie lange die Jahreszeiten wohl andauern würden. Er machte seine Arbeit gewissenhaft, sah jeden Tag nach um die Berechnungen zu überprüfen. Doch nicht heute. Heute war er nämlich nicht alleine in seinem Turm. Ein wesentlich jüngerer Mann stand neben seinem Sessel, und wartete auf die Worte des Greises. Der junge Mann hatte keine Schmerzen in den Knochen vom Aufstieg zum Turm, ja, er war nicht einmal außer Atem. Die Jugend von heute… kein Anstand mehr. Er könnte ja wenigstens so tun als ob.

Der Blick wurde vom Teleskop abgewandt, und auf das Blatt überführt, welches der Alte in der Hand hielt. Natürlich mit einem leichten Räuspern, das in Husten überging… der junge Mann wünschte ihm nicht einmal eine rasche Besserung. Tse. Als ob er wüsste, dass es am Alter liegt.

„Hmhm.“,

grummelte der Alte, und strich sich gedankenverloren über der langen Bart. Dann sah er prüfend den jungen Mann an und wandte sich wieder dem Teleskop zu. Der Jüngling war sein Schüler. Die letzten Monate hatte er den Alten in dessen Hütte besucht und von ihm das Errechnen der Bahnen gelernt. Hatte sich stundenlang mit Himmelskarten befasst, überraschend schnell dazugelernt und sich oft als fähig erwiesen. Nun war es an der Zeit ihn seiner großen Prüfung zu unterziehen. Der Greis hat ihm alle Unterlagen gegeben die nötig waren, und dann einen Tag Zeit gelassen um die Position von fünfzig Gestirnen vorherzusagen. Ausnahmsweise enttäuschte der Schüler diesmal nicht durch seinen fehlenden Anstand, sondern durch Fehler. Der Stern war nicht dort, wo der Jüngling ihn angegeben hatte.

„Hrrrm.“,

lautete das Fazit, und der nächste Stern wurde überprüft. Wieder falsch. Aber das waren die Bahnen, die schwieriger zu berechnen waren. Es gab auch einige, die konnte der Greis bestimmen ohne überhaupt in die Unterlagen schauen zu müssen. Und so kontrollierte er die. Der Schüler hatte ziemlich genau gerechnet, und das Ergebnis sah sehr gut aus. Ein Blick ins Teleskop…

„Hm?“

Der Stern war nicht dort, sondern daneben. Da, wo er eigentlich überhaupt nicht sein sollte. Erneut ein Blick in die Unterlagen des Schülers. Ausgangsposition, Vektor, Geschwindigkeit, voraussichtliche Bahnneigung… alles richtig. Der Alte brauchte keinen Abakus um eine solch banale Rechnung zu überprüfen. Alles richtig. Und doch…

„Meister?“

„Ja, ja, hetz mich nicht. Reich mir mal den zwölften Sternkatalog.“

Der Schmöker wurde angeschleppt, und landete auf dem Tisch neben dem Alten. Die nötige Stelle wurde aufgeschlagen und die Werte überprüft. Alles richtig. Aber der Stern war nicht dort!

„Gah!“,

rief der alte und setzte nach einer kurzen Pause hinzu:

„Unmöglich.“

„Was habt Ihr?“

„Der Stern, er ist nicht da wo er sein soll. Hast du mein Teleskop verstellt?“

„Nein, ganz bestimmt nicht!“

„Meh.“,

erwiderte der Greis, und überprüfte die anderen Sterne. Alle waren woanders… die Gestirne drehten sich in eine neue, andere Richtung! Unerhört. Nicht einmal die Sterne hatten genug Anstand um mit derlei Späßen zu warten bis der Astronom tot war. Eine Frechheit!

„Ich werde mir das von daheim ansehen. Mein Teleskop dort hast du bestimmt nicht angefasst.“

Soviel dazu. Eigentlich war der Schüler ja ganz fleißig und ordentlich… ein solcher Ausrutscher lag eigentlich nicht in dessen Natur. Ein Blick aus den strengen Augen offenbarte, dass der junge Mann sich gerade zutiefst betreten fühlte. Na, zeigte er doch mal ein wenig Anstand! Gerade wollte er den Schüler entlassen, da stockte der Alte. Der Bart wurde wieder gekrault und die kleine Mütze vom Kopf genommen. Konnte das sein? Hatte…? Unmöglich, völlig unmöglich. Energisch wurde wieder das Sternrohr ergriffen, und der Stern gesucht an dem man es festmachen könnte. Der Nordstern, ein Stern der sich nie verschob. Wenn er auch woanders war, dann stimmte das Teleskop nicht. Falls aber doch, dann…

„Dieser räudige Windhund. Ich hätt‘ es wissen müssen.“

„Wie bitte?“

Der Greis lehnte sich zurück. Der Nordstern ist nicht gewandert. Die anderen Sterne sind es. Das Firmament verschob sich.

„Kleiner, ein Rat für die Zukunft… habe immer die richtigen Freunde. Ich habe einen, den lernte ich vor vielen, vielen Jahren kennen. Ein Kämpfer, sagen manche. Einer der Besten. Ich sage, er ist ein Gelehrter. Er hat mir gesagt, ich soll ihm eine Nachricht zukommen lassen, wenn der Himmel was sehr, sehr seltsames zeigt. Ich habe ihm erklärt, da oben gibt es nichts seltsames, nur ein paar Kometen hin und wieder. Er hat nur gelacht. Jetzt sehe ich, was er gemeint hat…“

„Was denn?“

„Die Sterne, mein Junge. Die Sterne sind gewandert. Auf neuen Pfaden gewandert! Das ist seit den Aufzeichnungen von vor… wie lange? Vierhundert Jahren glaube ich... Ja, seit vierhundert Jahren nicht passiert. Er wusste, dass das kommt. Woher? Und was hat das zu bedeuten?“

„Meister… habe ich bestanden?“

„Du bist gut im Katalogisieren, Junge. Rechnen kannst du auch, aber das werde ab jetzt ich übernehmen, denn wir müssen herausfinden was das alles zu bedeuten hat. Wenn die Sterne ihre Richtung ändern, dann müssen wir schnellstens herausfinden wozu das führt… und anderen Bescheid geben, damit sie herausfinden können woran das liegt.“

„Woran hat es denn damals gelegen?“

„Lernt Ihr jungen Leute das nicht mehr zu Beginn eurer Lehren an der königlichen Akademie? Das weiß doch jeder! Vor vierhundert Jahren… da… da… hm.“

Der Greis brummte etwas unverständliches, lehnte sich zurück und kratzte die faltige Stirn.

„Ich muss es... verdrängt haben. Ist ja auch egal, wir müssen uns um das Hier und Jetzt kümmern. Den Rest erledigt Sal schon. Hol mir eine Brieftaube, ich muss eine Nachricht an ihn schreiben. Und an den Königshof. Die Sterne bewegen sich… ah, das wird nicht gut. Gar nicht gut.“

Die Nordwacht

Vincas mochte die angenehmen Sessel in der Hausbibliothek. Sie waren angenehm genug um darin eine ganze Nacht durch an einem Buch zu sitzen, und das war beileibe nicht jedem Sessel eigen. Valin fand sie weniger bequem, aber wohl kaum nur weil er einen halben Kopf größer als Vincas war… oder? Auf jeden Fall war Valin wesentlich seltener in der Bibliothek als auf dem Übungsplatz. Allein an den Sesseln würde das ja nicht liegen…

Vielleicht lag es auch daran, dass er Vincas endlich ebenbürtig sein wollte. Etwas was ihm in dem gesamten Jahr in dem sie nun bei Sal lebten nicht gelungen ist. Ein Jahr war es nun schon her… ihre Flucht aus Sonnfeld. Aus der Heimat. Man konnte sagen was man wollte, aber niemand erachtete sich wirklich als Bürger des Königreichs. Zumindest nicht an erster Stelle. An erster Stelle stammte man aus einer bestimmten Stadt. Und Diese Stadt hatte man Vincas wie Valin genommen. Die grenzenlose Engstirnigkeit war daran schuld. Und die Auslegung der Gesetze. Gesetze sollten so nicht ausgelegt werden dürfen…

Und vielleicht war das der Grund, aus dem Vincas mehr Zeit in der Bibliothek verbrachte als Valin. Vincas vergrub sich ständig in den Büchern zu Gesetzgebungen in den einzelnen Städten. Wer wo was wie geregelt hatte, das interessierte ihn. Wie man das Desaster der Familienfehde in Sonnfeld hätte überhaupt nicht erst zustande kommen lassen können. Auf der Suche nach formeller Gerechtigkeit verlor Vincas sich in den Dokumenten und merkte nicht wie Valin den Raum betrat.

„Dachte ich mir, dass du wieder hier bist.“,

grüßte er Vincas. Der legte das Stoffband des Buches zwischen die Seiten, und klappte es zu. Durch die hohen Fenster die den halbrunden Raum umschlossen kam genug Sonnenlicht rein um alles gut zu sehen, auch den Titel des Buches, das Vincas noch in der Hand hielt.

„Oh weh. Ein Gesetzbuch von wo? So eine Stadt kenne ich nicht einmal.“

Vincas schüttelte den Kopf und sah zu Valin. Der kam ganz eindeutig vom Übungsplatz. Leicht verschwitzt und die schulterlangen hellbraunen Haare mit einem Stirnreif zurückgehalten stand er in der typischen, leichten Übungskleidung da, ein wenig außer Atem. Aber unversehrt. Er wurde besser… und die Waffenmeister nicht. Sal hatte zwei Waffenmeister vom Orden in sein Landhaus bestellt, um die Beiden zu unterrichten. Ein einfacher Offizier war er also nicht, aber seinen richtigen Rang erfuhren Valin und Vincas nicht egal was sie taten. Niemand äußerte sich dazu, und Sal selbst war oft auf Reisen, vom Orden aus natürlich. Dabei schaffte er es auch noch mehr Brieftauben zu verschicken als die halbe Hauptstadt zusammen.

„Steinbach ist auch keine sonderlich wichtige Stadt. liegt weiter im Osten, ein Umschlagplatz für Holz und Erz. Nichts von großer Bedeutung, wirklich. Aber die haben eine nette Regelung für Großdiebe.“

„Hm?“

„Die hacken solchen die Hand ab. Kleindieben aber nur einen Finger.“

„… grausam.“

„Aber effektiv. Eine der Städte mit den wenigsten gemeldeten und verzeichneten Diebstählen.“

„Nun, ich würde es mir auch zweimal überlegen ob ich eine Kiste voller Holz oder Erz stehle. So etwas ist für gewöhnlich ziemlich schwer, hab ich gehört.“

Vincas packte sich an den Kopf, konnte ein leichtes Grinsen aber trotzdem nicht unterdrücken. Valin nahm nicht gerade viel wirklich ernst - in der Hinsicht wurde er schon fast wie Sal.

„Wenn man das so betrachtet... Aber du bist nicht hier um mir meine logischen Fehlschlüsse zu erklären, oder?“

„Nein, dazu wollte ich erst am Abend kommen, aber Sal hat mich zurück ins Haus beordert. Seit er gestern angekommen ist hat er seine Schreibstube kaum verlassen, und jetzt will er uns sehen - muss was dringendes sein.“

Das war es sicherlich. Sal nahm sich zwar auch mal gerne Zeit um mit ihnen zu plaudern, rief sie aber nur in besonderen Fällen zu sich ins Arbeitszimmer. Einmal sind sie nach einer solchen Besprechung mitten ins Nirgendwo aufgebrochen, mit schnellen Pferden und ohne Ahnung wo sie waren, nur um nach fünf Tagen umzukehren. Auf dem Rückweg haben ihnen Straßenräuber aufgelauert, doch Sal hatte gezeigt dass er nicht umsonst den Doppelklingen angehört. Ein Meister der Zwillingsklingen brauchte wie sie sahen wirklich keinen Schild, und erst recht keine Rüstung. Es war erschreckend wie präzise er mit den Schwertern arbeitete, ohne dabei wirklich aus dem Rhythmus zu kommen. Als er die Schwerter in Bewegung setzte war der Kampf eigentlich schon entschieden… Pfeile trafen ihn in seinen wirbelnden Bewegungen nicht, Klingen glitten an völlig beiläufigen Paraden ab und Sehnen wie Kehlen glitten förmlich in die Bahn seiner Zwillingsschwerter. Nachdem drei der Räuber von Sal in kürzester Zeit getötet wurden und ein weiterer von Valin mithilfe einer Armbrust erschossen wurde nahmen die restlichen Reißaus. Danach versuchten Vincas und Valin immer wieder mal mit Sal persönlich zu trainieren, aber er trainierte nie. Nie.

„Ja, hast Recht. Mal schauen was mein Onkel diesmal für Neuigkeiten mit sich bringt. Vielleicht dürfen wir diesmal ja etwas mehr als einfach nur irgendwohin reiten.“

Mit dem Gedanken an eine mögliche Einführung in den Orden erhob Vincas sich. Valin teilte seine Hoffnung. Sie sind lange genug Lehrlinge gewesen. Unterricht im Kampf haben sie zur Genüge genossen, dazu kamen noch Unterrichte bezüglich Kräutern und Medizin, Politik und die Schemen nach denen die Doppelklingen arbeiteten. Alles in allem hatten die beiden eine grundsolide Ausbildung hinter sich, und konnten anfangen für den Orden zu arbeiten. Den Orden. Die einzigen die noch höheres Ansehen genossen als die Doppelklingen waren die Gardisten des Königs, aber die gehörten auch keinem Söldnerorden an. Das waren loyale, fest verpflichtete und jederzeit bereite Krieger, die dem König direkt unterstanden. Neben den wenigen Söldnerorden gab es noch diverse Gilden und Vereinigungen, aber zu den Doppelklingen zu gehören, das strebten viele an. Valin und Vincas hatten das Privileg einfach so hineinzukommen, und unter Sal ausgebildet zu werden… irgendwann würden sie sich doch beweisen dürfen!

Zu zweit machten sie sich auf den Weg durch das recht leere Anwesen. Sal hatte nur wenige Diener, und die waren hauptsächlich mit der Instandhaltung des Hauses  beauftragt. Das war zwar keine kleine Aufgabe – Sal hatte ein großes Landhaus – aber abgesehen davon mussten sie kaum etwas machen. Die Beiden begegneten auf ihrem Weg zwei Dienern, tauschten aber nicht mehr als ein freundliches Nicken aus.

„Kommt rein.“,

rief Sal, als sie vor der Tür zum Arbeitszimmer ankamen. Er wusste immer wer vor der Tür stand… sagte er könnte das an den Schritten erkennen. Die Beiden taten wie geheißen, und setzten sich dann auf die ihnen zugewiesenen Stühle vor dem massiven Holztisch. Ihnen gegenüber, vor der Fensterfront die mit Samtvorhängen verhangen war saß Sal, zurückgelehnt wie immer, und mit seiner Pfeiffe im Mund. Ein Rauchring wurde zur Begrüßung ausgeschickt, und dann legte Sal das Pergament hin, das er in einer Hand hielt. Es war ein Brief, und dem Siegel nach zu urteilen vom Königshof.

„Neuigkeiten Jungs.“,

fing Sal an, und nahm einen tiefen Zug aus der Pfeiffe. Jungs. So unglaublich alt war Sal auch nicht, er sah noch nicht einmal nach vierzig aus. Vincas konnte allerdings nicht sagen wie alt sein Onkel genau war – älter als sein Vater, aber um wie viel älter, das konnte er nur raten.

„Wir werden an den kältesten, unwirtlichsten und einfach nur miesesten Ort des Königreichs reisen.“

Damit konnte der gut bezahlte Söldner lediglich die Nordwacht meinen. Eine Feste, die den einzigen Pass zu den Nordhöhen bewachte. In den Nordhöhen lebten die – passend betitelten – Nordstämme. Man wusste nicht viel von ihnen, nur dass sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit versuchten ins Königreich einzufallen. Der Pass taute für gewöhnlich nicht länger als zwei Monate auf, doch schon im letzten Jahr ist er über sechs Monate passierbar gewesen. Die Nordlinge hatten das genutzt, und viele Söldner haben da ihr Leben gelassen. Doch die Nordlinge wurden vertrieben… was auch der glücklichen Tatsache zu verdanken war, dass sie untereinander oftmals zerstritten waren.

„Der König möchte nicht erneut so ein Fiasko erleben wie im letzten Jahr, und hat viele Offiziere mit Erfahrung an die Nordwacht bestellt. Darunter auch mich. Laut den königlichen Astronomen wird es keine drei Wochen dauern ehe der Pass passierbar wird… in Anbetracht dessen dass wir gerade mal die ersten Knospen an den Bäumen sehen ziemlich früh, aber naja. Der Gute irrt sich selten. Ihr dürft Euch also freuen - neben kalten Winden und einer noch kälteren Festung wird in nächster Zeit eine Horde von Nordlingen über uns herfallen.“

Wenn das nicht vielversprechend klang. Valin und Vincas tauschten einen Blick, der nicht gerade voller Begeisterung war…

„Die Nordwacht, hm?“

Vincas war mehr als skeptisch ob des auf ihn zukommenden Vergnügens. Valin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grummelte:

„Ein wahrer Traum… zu schade das ich aus diesem nicht schreiend erwachen kann.“

Zur Überraschung aller lächelte Sal nicht, wie er es üblich tat. Der Söldner nahm so gut wie nie etwas ernst, doch nun zeigte sich offen, dass seine Stimmung gedrückt war. Etwas machte ihm zu schaffen, und wenn etwas Sal zu schaffen machte, dann musste es ungeahnte Ausmaße haben.

„Wohl wahr, Valin. Wohl wahr. Nun, als meine Lehrlinge werdet Ihr nicht wie der Rest hin- und hergescheucht werden, aber auch keine allzu ernsten Aufgaben bekommen. Meistens. Hofft wir also einfach darauf, dass wir uns nicht in der ersten Reihe der Verteidigungslinie wiederfinden. Wenn alles so klappt wie ich mir das vorstelle… und Ihr alles richtig macht, dann wird das Ganze schon gut ausgehen.“

Gut ausgehen war eine sehr subjektive Äußerung, vor allem wenn sie aus Sals Mund kam. Es konnte einen verlustfreien Kampf bedeuten, aber auch eine schwere Verletzung die nur fast zum Tode führt. Aus solchen Äußerungen wurde man bei ihm nie schlau. Dann kehrte das Grinsen in Sals Gesicht zurück, und ein letzter Zug aus der Pfeiffe folgte.

„Ah, habe ich eigentlich schon erwähnt dass wir in einer halben Stunde aufbrechen?“

 




- - -



Kalt.

Es war kalt. Am Tag oder in der Nacht, völlig egal. Die Nordfeste war kalt, Punkt. Eigentlich kein Wunder, lag sie doch am nördlichsten Punkt des Königreichs und war außerdem wie eine Burg geradewegs in den Berg geschlagen worden. Immerhin geschickt genug, um vor herabfallenden Felsen geschützt zu sein, wenigstens darüber konnte man sich freuen.

Der Nordpass wusste mit seinem Anblick auch nur die ersten paar Tage zu begeistern. Die Schlucht, die sich zwischen den Bergmassiven hindurchwandte sah fast schon künstlich aus. Ein immer während finsterer Pfad zwischen den Giganten aus Stein und Eis... ein großer Teil davon war bereits passierbar. Hoch im Norden hingegen noch nicht, und das war tatsächlich erfreulich. Doch die Nordmenschen waren unberechenbar, weswegen Vincas und Valin an einem Ausguck Ausschau hielten. Eine langweiligere Tätigkeit konnte man sich schwerlich vorstellen... vor Allem weil in der Feste unterirdische Gänge gegraben waren, direkt unter dem Nordpass. Große, runde Gänge die plötzlich aufhörten. An ihren Enden wurde dünnes Leder gespannt, was an eine gewaltige Trommel erinnerte. Die Wächter meinten, damit könnte man die Nordlinge heranstürmen hören, noch ehe man sie sehen würde. Durch das Beben, das ihre Schritte verursachten... nun, Valin vertraute seinen Augen mehr als vergrabenen Riesentrommeln.

„Hört der Wind jemals auf einem hier in die Knochen zu fahren?“

Vincas hörte sich durch und durch genervt an. Man konnte über ihn sagen was man wollte, aber Geduld war nicht seine große Stärke. Er warf sich die wärmende Kaputze über den Kopf, und wischte eine seiner braun-rötlichen Haarsträhnen aus seinem Gesicht. In Weißthron sind sie noch ordentlich gewesen, aber auf der Nordwacht hatte man kaum warmes Wasser, und die Lehrlinge bekamen davon am wengisten. Kein Wunder dass sie nun nicht ganz so ordentlich aussahen wie dort.

„Nicht am Ausguck.“,

gab Valin wieder. War ja auch die Wahrheit. Seine Haare hatte er wieder mit seinem Stirnband gezügelt, und Vincas dachte daran dass er sich demnächst auch eines besorgen sollte. Aber wichtiger als die ins Gesicht fallenden Haare waren auf jeden Fall die frierenden Beine.

„Pass du mal ein wenig hier auf, ich schaue mal ob ich uns was heißes zu trinken besorgen kann, und vielleicht noch ein- zwei Decken für die Füße. Ich habe vor noch laufen zu können wenn diese Axtschwinger kommen.“

Valin nickte nur als Antwort. Es würde schon reichen wenn er alleine am Ausguck blieb. Zu zweit war man sicher nur postiert weil einer alleine vor lauter Spannung einschlafen könnte. Außerdem hörte sich eine Decke für die Füße nur zu gut an.

 

 

„Hm... verdammt, ich kenne mich hier immer noch nicht aus.“,

grummelte Vincas. Wie die meisten Söldner war er selten in den oberen Stockwerken, und wusse nicht wirklich was sich wo befand. Aber irgendwo müsste es doch was geben, was man holen könnte. Oder zumindest jemanden, den man fragen könnte. Eine eher schäbige Holztür weckte Vincas' Aufmerksamkeit. Solche Türen gab es unten zur Genüge, und das waren die Quartiere. So weit oben wohnte Niemand, aber dennoch klopfe Vincas an.

„Herein.“

Die Stimme gehörte mit Sicherheit keinem stationierten Soldaten. Das war eine Frauenstimme... und die Frau klang alt. Kurz zögerte der junge Söldner, betrat die Kammer dann aber doch. Und war überrascht. Es war kein Quartier, es war eine Art kleine Kapelle. Kerzen brannten, und ein Bild der sich abwendenden Göttin hing an der Wand. In den meisten Kirchen standen Skulpturen, aber die Kapelle sah so heruntergekommen aus, dass Vincas sich fast schon wunderte dass das Bild hier noch immer hing. Eine gebeugte Frau saß auf einer von drei Bänken, und sah das Bildnis an. Wie üblich konnte man das Gesicht der Göttin nur erahnen... obwohl bei den Fähigkeiten des Malers kein gutes Gesicht zu erkennen gewesen wäre selbst wenn er ein Porträt gemalt hätte.

„Grüße dich, Junge. Kommst du, um zur Göttin zu beten?“

„Ich...“

Vincas war sichtlich verlegen. Die Kapelle wurde scheinbar nicht häufig benutzt, und eine Tür an der Seite zeigte offen das Zimmer der alten Frau. Sie lebte hier oben. Falls man das wirklich Leben nennen konnte. Bei den Essen hatte Vincas sie nie gesehen, also bekam sie selbiges wahrscheinlich in ihre Kammer getragen. Bei dem Alter war das verständlich. So viele Treppenstufen machten selbst so manchen Söldnern zu schaffen.

„Ja, ja... natürlich nicht. Keiner kommt mehr, um zu beten. Und wenn, dann wollen sie alle nur rasch einen Segen haben. Man hat die Göttin vergessen.“

„Aber aber! Man hat sie nicht vergessen... es ist nur...“

„Nicht länger in Mode sie anzubeten. Ja, man kennt die Redewendungen, man weiß dass sie die sich abwendende Göttin ist... aber ist das noch Glaube? Früher, als der Glaube in den Menschen noch stark war, da waren die Dinge anders...“

Vincas hatte das Gefühl, dass er einen argen Fehler gemacht hatte indem er die Kammer betreten hatte. Sich Geschichten von 'früher' anzuhören war nicht gerade vielversprechend. Aber vor einem solchen Gespräch konnte man ja auch schlecht flüchten ohne gänzlich unhöflich zu erscheinen. Außerdem schien die Frau schon eine Ewigkeit mit Niemandem gesprochen zu haben...

„Da hätte ein einzelner Mann gereicht, um diese Horden aufzuhalten. Eine Legende. Oder ein paar Helden, auch nicht schlecht.“

„Ein einzelner Mann kann keine Horde wildgewordener Barbaren aufhalten. Und zur Legende wird man durch so eine Narretei auch nicht. Eher zur Warnung an andere Übermütige.“

Die Priesterin ließ ein Kichern vernehmen.

„Ah, Jungchen. Helden und Legenden, das sind Menschen. Männer, denen sich die Göttin zugewandt hat. Sie haben die Macht großes zu tun, und sie im Kampf zu stellen gehört zu den dümmsten Dingen die es gibt. Ein einfacher Soldat könnte versuchen eine Legende im Schlaf zu ermorden, und er würde es nicht schaffen.“

Die Alte hatte tatsächlich zu viel Zeit alleine verbracht. Natürlich kannte man die Geschichten von tapferen Recken, die entgegen jede Vernunft Heldentaten fertigbrachten... aber sich einer Armee stellen?

„Du glaubst mir nicht, das sehe ich. Aber das ist in Ordnung. So wie du nicht an die Göttin und ihr Wirken glaubst, so glaubt sie nicht an das Eure. Sie wendet sich immer mehr ab... und irgendwann wird sie nicht länger zurückblicken. Dann werden wir sehen, was es heißt verlassen zu sein. Wenn die Göttin vergessen ist, wenn Niemand mehr an ihren Lehren festhält, ihren Pfaden folgt, ihre Weisungen hört... dann wird eine bitte Zeit kommen. Eine Zeit, in der wir Helden und Legenden brauchen werden.“

„Ihr solltet nicht so voller Gram sein, Priesterin. Kommt mal herunter zu uns, den Soldaten. Unterhaltet Euch mit uns. Ich kenne jemanden, der wird sich sicher gerne mit Euch unterhalten.“

„So?“

„Ja. Vielleicht habt Ihr ja von ihm gehört... er heißt Sal...“

„Pah! Geh mir weg mit dem. Der glaubt nicht mal an sich selbst...“

Eine so harsche Antwort hatte Vincas nicht erwartet, und auch nicht dass die Priesterin Sal kannte. Wie es aussah war sein Onkel bekannter als Vincas geglaubt hatte. So schnell wie die Priesterin sich aufgeregt hatte, so schnell beruhigte sie sich aber auch wieder, und lächelte sogar ein wenig.

„Ah, der alte Sal... weiß du was? Grüß ihn von mir. Wer weiß, vielleicht erinnert er sich noch an mich. Und du, du hattest immerhin genug Anstand um nicht sofort wegzulaufen als du mich erblickt hast. Das du mich wieder unter die Menschen bringen wolltest sei dir hoch angerechnet. Wart eben, ich habe da was...“,

meinte die Priesterin, und erhob sich mühselig von der Bank, wobei Vincas ihr half. Sie war gebrechlicher als sie aussah... und das wollte schon was heißen. Nachdem die Priesterin sich mit einem Nicken bedankt hatte machte sie sich auf zu ihrer Kammer, kramte dort herum und kehrte zurück, Vincas ein kleines Paket überreichend.

„Hier. Es ist eine Schrift über die Wege der Göttin... wer weiß, vielleicht folgst du ja dem ein oder anderen Pfad, und sie wird sich dir zuwenden, hm?“

Ein Zwinkern begleitete die Worte, ehe die Priesterin sich wieder schwerfällig auf die Bank niederließ.

„So, jetzt reicht es aber mit den Gesprächen. Ich bin müde, und du wolltest sicher auch woanders hin. Dann lauf mal los, Junge... vielleicht kommst du ja noch rechtzeitig.“

Eine Aussage, die Vincas nicht recht einzuordnen wusste. Genau wie die mit seinem Onkel. Sal hatte nie den Eindruck gemacht irgendwie unsicher zu sein... was brachte die Alte dazu zu sagen, er glaube nicht einmal an sich selbst? Fragen über Fragen. Vincas verschob die imaginäre Fragerunde auf später, bedankte sich für das Geschenk und verabschiedete sich. Es wurde Zeit eine Decke zu finden...

 

 

„Schon wieder ein Gesetzestext?“

„Hm... nein, so würde ich das nicht nennen.“

Valin hob eine Augenbraue. Was, kein Gesetzestext? Aber nach ordentlicher Literatur sah das kleine Büchlein auch nicht aus. Geschmückt war es allerdings recht aufwändig. Wo Vincas das überhaupt her hatte...?

„Na, was hast du dir denn dann für ein Büchlein besorgt?“

„Es wurde mir gegeben, und ich habe es genommen. Zur Frage was das ist – es sind 'Die Wege der Göttin'.“

Valin traute seinen Ohren kaum. Vincas ist nie ein religiöser Mensch gewesen... genauso wenig wie jeder andere, den Valin kannte.

„Schlaf lieber... bringt dir mehr.“,

merkte Valin an, und legte sich sein Kissen zurecht. Immerhin hatten sie was die Schlafplätze anging Glück. Nicht nur, dass sie einen eigenen Kamin hatten, sie hatten auch nur zwei Betten stehen. Zwei Doppelbetten wohlgemerkt, aber Sal hatte Niemanden als vierten Mann aufs Zimmer gelassen. Rückwirkend betrachtet hätte er zwei Männer Platz nehmen lassen können – er selbst nahm sein Bett nahezu nie in Beschlag. War ständig in der Feste unterwegs. 'Es gibt immer etwas zu tun'... nun, Valin war froh etwas Schlaf bekommen zu können. Im Gegensatz zu Vincas, wie es aussah.

„Wer weiß...“,

gab der zurück, und blätterte um. Das Buch schien ihn wirklich gepackt zu haben.

„Hm, na wie du meinst. Kannst mir ja morgen was davon erzählen.“

Und gerade als Valin sich in das Reich der Träume begeben wollte riss jemand die Tür auf.

„Heyho, ihr Schnarchnasen!“,

rief der ältere Söldner in die kleine Kammer, den beiden halb verschlafenen Lehrlingen zu, die beide bereits nach ihren Waffen gegriffen hatten.

„Na, immerhin besser als beim ersten mal, als ihr fast aus den Betten gefallen seid.“

Vincas schüttelte den Kopf.

„Onkel, wenn du das zu häufig machst werden wir irgendwann gar nicht mehr aufschrecken wenn die Tür aufgeht.“

„Ah, dazu kommt es schon nicht. Außerdem störe ich Euch diesmal nicht aus purem Vergnügen. Es gibt eine kleine Änderung.“

„Ah... müssen wir jetzt nicht ständig ins finstere Nichts glotzen?“

„Mh, sozusagen. Valin, du wirst weiterhin ins finstere Nichts glotzen, aber du Vincas, du hast eine neue Aufgabe.“

„Wa...? Wieso er?“

Auch wenn Valin und Vincas sich mittlerweile nahestanden wie Brüder, bestürzte Valin die Neuigkeit, dass ausgerechnet Vincas eine neue Aufgabe erhielt. Und Er nicht.

„Na, immer schön locker bleiben. So toll ist die auch nicht... also, morgen kommen drei aus Weißthron an. Besser gesagt, sie kommen nicht einfach nur aus unserer verehrten Hauptstadt, sondern sind vom König persönlich hierhergeschickt worden. Wohl um festzustellen, ob wir hier mehr Verstärkung brauchen... das würde zumindest das erklären, was mit der königlichen Garde veranstaltet wird. Könnte sein, dass wir demnächst ein paar von denen hier oben begrüßen dürfen, und das wäre ein großer Gewinn. Jedenfalls – Vincas, du wirst sie morgen herumführen, ihnen die Anlagen erklären und generell Alles was wir über die Feste wissen. Sie sind keine Idioten und haben sich mit Sicherheit schon über die Nordwacht informiert so gut sie konnten, also besteht deine Aufgabe hauptsächlich daraus ihnen die augenblickliche Lage aufzuzeigen. Truppenmoral, Vorräte und so weiter. Dabei führst du sie natürlich herum und erzählst denen alles was wir – und sie – sonst noch wissen. Wenn du geschickt vorgehst, dann bekommen wir die Verstärkungen.“

Das sollte eine langweilige Aufgabe sein? Ein geschicktes Manöver einfädeln, um Abgesandte des Königs davon zu überzeugen Verstärkungen zu schicken? Valin traute seinen Ohren kaum. Das war nicht mal eine Chance um sich zu bewähren... das war eine Aufgabe, die man nur erfahrenen und erwiesenen Mitgliedern des Ordens zuteil werden lassen würde. Ehe Valin sich aber zu Wort melden konnte machte es Vincas.

„Onkel... das ist eine große Verantwortung. Eine wichtige Aufgabe. Wieso kann Valin mich nicht dabei begleiten? Zu zweit würde das mit Sicherheit besser klappen.“

Sal verfiel in kurzes Schweigen, wobei er ständig von Valin zu Vincas und von Vincas zu Valin schaute. Er wägte ab...

„Zu zweit könnte das einfacher werden, ja. Ich werde mich mal umsehen, ob ich jemanden finde.“,

meinte Sal, und sah Valin mit ernster Miene an. Das konnte er nicht ernst meinen...

„Jemanden für den Ausguck, versteht sich! Hahahaha... Valin, du übernimmst die Aufgabe mit Vincas zusammen. Teilt Euch am besten auf. Na dann, haut Euch hin und schlaft 'ne Runde. Morgen wird ein langer Tag...“

„Ah, Onkel... ich soll dir Grüße ausrichten.“

„Hm? Von wem denn?“

„Von der Priesterin hier. Hab sie heute getroffen, sie kannte dich wohl.“

Sals Miene wurde mit einem Mal todernst.

„Priesterin?“

„Ja. Oben, in der kleinen Kapelle... hab ich durch einen Zufall entdeckt.“

„Vincas... es gibt hier keine Priesterin. Seit knapp einem Jahrhundert nicht mehr.“

Nun war es an Vincas zu schweigen... aber auch nicht lange. Immerhin hatte er einen Beweis dafür, dass er es sich nicht eingebildet hatte.

„Sie hat mir ein Buch gegeben. Hier.“

„Die Wege der Göttin? Gab es früher immer in den Kirchen zu lesen. Mittlerweile sind die meisten zerfallen, und Niemand kümmert sich darum sie neu aufzusetzen. Deines ist nicht sonderlich alt... jemand muss es neu geschrieben haben. Und für ein kleines Buch hat sich da jemand wirklich eine ungeheure Mühe gemacht. Sieh dir die Bilder an... und die Farbgebung. Das ist sicher eine Menge wert.“

„Es ist ein Geschenk, und ich habe nicht vor es zu verkaufen.“

„Wie du meinst. Lass dir das Ganze Zeug da drin nur nicht zu Kopfe steigen. Mag sein das die Göttin manchen Mustern folgt... aber sie ist eine Frau. Und Frauenzimmer sind sehr wankelmütig. Naja, sei es drum... solange du deine Aufgaben angemessen erledigst, kannst du auch in solchen Büchern schmökern. Jetzt macht Euch ans Schlafen. Man sieht sich morgen.“

„Nacht, Onkel.“, „Nacht Sal.“

Damit wandte sich der ältere Söldner ab, und überließ die beiden der Nacht. Er selbst suchte noch in der Nacht die alte Kapelle auf, aber bis auf ein paar alte Wachsreste und eine Holztafel – die wohl mal ein Bild gewesen war – fand er Nichts.


 

Es wurde tatsächlich ein langer Tag. Niemand wusste, wann die drei Abgesandten endlich kommen würden, ja, die Meisten wussten noch nicht einmal davon, dass solche unterwegs waren. Valin und Vincas saßen auf zwei Kisten, die gefüllt waren mit Bolzen. Als improvisierte Höcker wunderbar zu gebrauchen. Von selbigen konnten sie auch gut über die Zinnen schauen, und würden sehen wenn sich jemand nähern sollte. Die Decken, die Vincas beschafft hatte erwiesen sich als vorzüglich zum Warmhalten der Beine.

„Wusstest du das?“

„Was denn jetzt schon wieder..?“

Valin hatte so langsam genug von den Dingen gehört, die in dem Buch standen... aber dass da tatsächlich fundiertes Wissen sein konnte bezweifelte er immer mehr.

„Es gab wesentlich mehr Götter. Die sich abwendende Göttin ist nicht die Einzige.“

Das war tatsächlich etwas, das Valin überraschte. Er hatte noch nie von anderen Göttern gehört. In der Schrift der Göttin hieß es, es gibt auch andere neben ihr? Oder hatte Vincas gerade eben gesagt...

„Wieso 'gab'?“

„Sie wurden umgebracht.“

„Hm. Gut zu wissen, dass die Götter den Krieg genau so sehr lieben wie wir Menschen.“,

lautete die spöttische Antwort. Valin hatte nie wirklich inständig gebetet, und hatte nie jemanden getroffen der behauptet hätte durch die Göttin gerettet worden zu sein... oder überhaupt glücklicher.

„Nein, sie wurden nicht durch Götter umgebracht. Götter können sich nicht töten. Weder sich selbst, noch sich gegenseitig.“

„Ist ja langweilig. Und wer soll sie dann umgebracht haben?“

„Legenden.“

So langsam hatte Valin den Verdacht, dass Vincas sich am Kopf gestoßen haben musste. Er hatte sich seit der Flucht aus Sonnfeld ja ohnehin schon ständig mit Gesetzen, Gesetzgebung und Ausführung von selbigen beschäftigt, aber das war nachvollziehbar. Hätte es ein vernünftiges Gerichtsverfahren gegeben, wären die Menschen nicht schon so tief in diesem Morast aus innerer Verderbnis versunken... dann hätten sie nicht fliehen müssen. Dann hätte es Frieden gegeben. Doch die Religion..? Das war nie Vincas' Gebiet. Und nun meinte er auch noch, dass Geschichten Götter töten konnten.

„Wie kann denn bitte eine Geschichte einen G-“

„Keine Geschichte. Menschen. Legende ist ein... Zustand. Man hat Glück in allen Angelegenheiten, ist im Kampf nahezu unbezwingbar... und kann sogar einen Gott verwunden. Ein einfacher Mensch kann das nicht. Ein Held auch nicht, das ist nur eine... hm... Vorstufe zur Legende.“

„Achso. Na, dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin.“

Wenn man Ironie spüren könnte, hätte sie Vincas gerade einen Faustschlag verpasst.

„Die Göttin kann Menschen zu Legenden machen. Menschen, die ihre Aufmerksamkeit und Anerkennung verdient haben.“

„Großartig... dann kannst du ja hingehen und beten. Ich nutze die Zeit lieber um zu trainieren.“

„Beten ist was für die Menschen die 'nur leben'. Eine andere Kategorie sind Menschen die 'handeln'. Nur durch Taten kann man sich die Aufmerksamkeit der Göttin wirklich sichern.“

„Und warum haben wir dann Priesterinnen?“

„Weil es schwer ist, die Aufmerksamkeit der Göttin auf sich alleine zu ziehen. Wenn man aber als Volk zu ihr betet, dann wendet sie sich nie ganz ab. Solange sie sich nicht abwendet, solange kann sie neue Helden und Legenden auswählen.“

„Meine Güte... glaubst du das alles etwa wirklich?“

„Hm... es klingt verlockend, oder? Eine Legende zu werden, meine ich. Als Auserwählter der Göttin könnte man eine ganze Armee in Schutt und Asche legen. Alleine... naja, vielleicht keine ganze Armee, aber ein paar hundert Barbaren sicherlich.“

„Mh. Die würden einfach an dir vorbeilaufen, oder dich stracks niedertrampeln.“,

gab Valin zurück. Er hatte wirklich keine Lust weiter über Hirngespinste zu diskutieren. Sicher wäre ein so großes Maß an Macht praktisch... aber niemals würde eine Göttin jemandem die Möglichkeit geben sie umzubringen.

„Sind eigentlich alle außer deiner verehrten Gottheit umgebracht worden?“

„Hm... warte...“

Es folgte eine Suche nach irgendeiner Stelle im Buch, weiter am Anfang.

„Ah, hab‘s. Also, wenn das hier noch immer aktuell ist, dann lebt außer der Göttin nur noch der Gott des... Schicksals.“

„Und was macht der?“

„Keine Ahnung. Steht hier nicht bei.“

„Vielleicht kann er einen ja in einen Adler verwandeln. Fliegen, das wäre doch mal was.“

„... du machst dich schon wieder lustig, oder?“

„Klar. Naja, solange du dich nicht alleine der ganzen Horde von Barbaren vorwirfst ist doch alles in Ordnung.“

„Keine Sorge, mache ich nicht. Die Gunst der Göttin bekommt man -“

„He, da kommen sie!“,

rief Valin, als er Silhouetten aus dem entfernten Tannenwald herausreiten sah. Es tat gut, nicht länger was von dieser Göttin hören zu müssen... da waren ja Gerichtsverfahren interessanter. Der Ausguck, der die Straße zur Feste beobachtete hatte den nahenden Besucht natürlich auch schon bemerkt, und das laut bekanntgegeben. Im Hof begannen sich einige zu versammeln, unter ihnen auch der Onkel von Vincas. Die beiden ließen sich noch ein wenig Zeit und blickten von den Zinnen auf die drei Mann starke Reitgesellschaft. Eilig hatten die es nicht gerade...

„He, Val...“

Valin wandte sich zu Vincas um, in der Hoffnung nicht gleich wieder etwas von der Göttin hören zu müssen. Aber statt des Büchleins hielt Vincas ein längliches, dünnes rotes Tuch hoch.

„Mir ist da gestern was eingefallen, als ich gelesen habe, wie man die Gunst der Göttin erlangen kann. Man muss sich von der Masse abheben.“

„Und das willst du mit einem dünnen, roten Schal machen? Pass auf, wenn du dir hier eine Erkältung holst...“

„Nein, nein... hier.“ meinte Vincas, und zerriss das lange Tuch in der Mitte. Die eine Hälfte händigte er Valin, die andere behielt er und band sie sich um den rechten Oberarm.

„Was tust du da...?“

„Na, ich nutze die Fügung des Schicksals. Wie heißt du?“

Nun glaubte Valin seinen Verdacht bestätigt.

„Du hast dir irgendwo mächtig den Kopf angestoßen, denke ich...“

„Nein, nein. Wie heißt du?“

„Valin Bandul.“

„Und ich bin Vincas Rothe. Wenn man unsere Nachnamen nimmt, dann kann man daraus RotheBandul machen. Und das, vereinfacht gibt: Rotband.“

Valin fragte sich, warum ihm das logisch vorkam. Tatsächlich konnte er diese Wort-, nein, Lautspielerei nachvollziehen. Aus Rothe und Bandul Rotband zu machen... hm, warum nicht? Dass es durch das Buch geschehen war vernachlässigte Valin dabei großzügigerweise.

„Rotband also. Nun gut, Vincas... dafür, dass wir durch so vieles durch sind und uns verbrüdert haben, dafür kann ich das anlegen. Für unseren Zusammenhalt, den jetzigen wie den zukünftigen.“

„Ein Hoch auf uns.“,

erwiderte Vincas, und vollendete seinen Knoten zur selben Zeit wie Valin den seinen. Nun stachen die beiden durchaus aus der Masse an Söldnern hervor... immerhin hielten die Anderen sich hauptsächlich mit dunklen und Brauntönen auf, aufgrund der Rüstungen. Manche Söldner, die die nicht von den Doppelklingen kamen, trugen auch Plattenrüstungen und ähnliche Stahlmonster... aber auch sie hatten in der Regel nichts rotes an. Valin verkniff sich die Frage, was das mit der Göttin zu tun hatte. Immerhin, wenn Vincas so begeistert von der ganzen Idee war, dann nur zu, Valin würde ihn nicht am Ausprobieren hindern. Eigentlich war er sogar etwas freudig überrascht, dass Vincas dabei auch an ihn gedacht hatte. Und da soll mal einer sagen, dass Macht nicht geteilt werden will...

 

 

„Die beiden werden Euch die Anlagen zeigen. Valin, Vincas – passt gut auf unsere Gäste auf.“,

meinte Sal, die drei Gestalten zu den Rotbändern führend. Von Nahem konnten die Beiden endlich auch mal einen Blick auf die Abgesandten werfen. Zwei schienen grob im Alter von Sal zu sein, und waren in leichtere Rüstungen gekleidet, mit einem warmen Überwurf. Die beiden waren groß und sahen aus, als hätten sie nicht nur ein paar Kämpfe, sondern auch eine rigorose Ausbildung hinter sich. Die dritte Person unterschied sich von ihnen. Es war eine Frau. Wesentlich jünger als die beiden Schränke, und ohne eine einzige sichtbare Schramme. Das Langschwert das sie an der Seite trug war allerdings wesentlich schöner verarbeitet... eine teure Klinge. Als die drei näher herantraten, und die junge Frau vortrat war klar – sie führte die beiden anderen an. Valin und Vincas warfen sich einen raschen Blick zu. Keine Frage, sie ist nicht durch Können an eine solche Aufgabe gekommen, sondern durch ihren Reichtum, folglich auch Einfluss ihrer Familie. Nichts hatte sich geändert in der Welt...

„Sehr wohl.“,

entgegneten Valin und Vincas, worauf sie sich kurz vor den Neuankömmlingen verneigten.

„Ihr seid möglicherweise müde von eurer Reise. In der großen Halle wird gerade das Essen verteilt. Wollt Ihr Euch vielleicht dazugesellen? Die meisten Männer werden da sein, Ihr werdet also sowohl etwas zu essen bekommen, als auch Euch von unseren Köchen und dem Zustand unserer Soldaten überzeugen können.“

Vincas schien diese Ansprache schon länger vorbereitet zu haben, und führte ganz offensichtlich etwas im Schilde. Nun, offensichtlich war es für Valin, doch selbst er konnte nicht erahnen was Vincas plante. Von den dreien merkte das keiner. Jetzt, da Valin darauf achtete, kam es ihm wirklich so vor als ob die beiden Männer nur Wächter seien. Wahrscheinlich waren das wirklich Gardisten... von der Größe und der Regungslosigkeit der Gesichter her würde das passen. Und die Frau war hier um Entscheidungen zu treffen. Für diese Entscheidung brauchte sie auch nicht lange.

„Ich danke für das zuvorkommende Angebot, wir nehmen es mit Freude an.“,

sprach sie, verbeugte sich aber noch nicht einmal knapp, wie es angebracht wäre. Seltsame Manieren... Vincas tat so als hätte er das gar nicht bemerkt, und nickte erfreut und sprach:

„Dann folgt uns bitte.“

Vincas ging ein wenig vor, Valin ein wenig hinter ihm, und hinter den Beiden die Frau mit ihren Gardisten. Im großen Speisesaal angekommen musst Valin feststellen, dass es sogar etwas voller war als üblich. Kam wahrscheinlich davon, dass Vincas und er um die Mittagszeit immer am Ausguck gesessen hatten... Niemand achtete groß auf die paar eintretenden Figuren, die meisten Söldner waren zu sehr mit Essen beschäftigt. Außerdem kamen und gingen ständig Leute durch die Haupttür. Sie erregten keinerlei Aufmerksamkeit. Valin hielt Ausschau nach möglichst günstigen Sitzgelegenheiten an den fünf langen Tafeln als Vincas ihn antippte.

„Hilf mir mal eben für Aufmerksamkeit zu sorgen.“

Er erntete einen schiefen Blick von Valin, aber achtete nicht groß darauf. Stattdessen rief er durch die ganze Halle:

„He, Allemann, aufgepasst!“

Durch die Unterhaltungen und das Klappern des Bestecks bekamen nicht viele den Ruf mit, und Valin zuckte mit den Schultern. Vincas war kein Narr, er hatte was geplant. Also beschloss Valin ihm zu helfen.

„Haaallo! Hört mal zu!“,

rief er nun auch, und so schafften die Beiden es sich die Aufmerksamkeit der großen Halle zu sichern. Es waren mit Sicherheit knappe dreihundert Söldner da... fast alle die in der Feste stationiert waren. Vincas trat vor, und sprach weiter:

„Ihr alle wisst, warum wir hier sind. Und ich denke, dass die meisten von Euch wissen, wie viele Verluste wir letztes Jahr hier hatten. Der Königshof hat nicht nur mehr Söldner hier hochgeschickt in diesem Jahr, sondern auch diese drei hier!“

Mit einem Fingerzeig hatte er die Aufmerksamkeit der Halle schnell auf die drei Figuren gelenkt.

„Sie sind vom König hierhin geschickt worden, um nachzusehen wie viele Gardisten der König hierher schicken kann. Jawohl, richtig gehört! Seine Majestät will Gardisten zu uns entsenden!“

Valin trat einen Schritt zurück... Vincas lehnte sich ziemlich weit aus dem Fenster mit dieser Rede. Sal hatte doch gemeint, man sollte die Abgesandten vorsichtig überzeugen... und nicht... da begriff er es. Natürlich. Valin durchschaute das Vorhaben und erlaubte sich ein kleines Lächeln. Vincas griff sich in der Zeit einen Krug von einem nahen Tisch, und hob ihn in die Luft.

„Auf seine Majestät den König!“

Ein Ruf, der von den Söldnern aufgenommen und durch die Halle getragen wurde. Sie waren tatsächlich erfreut über die Neuigkeit. Kein Wunder, galten die Gardisten als die diszipliniertesten und elitärsten Krieger im Königreich.

„Auf die Abgesandten des Königs, ein Hurrah!“

Und es war schon etwas Beeindruckendes darin, wie fast dreihundert Kehlen erwachsener Männer in einem Chor Hurrah riefen. So laut, dass man sich fast die Ohren zuhalten musste...

„Wir wussten alle dass der König sich um die Grenze sorgt, aber dass er sich auch genauso um die Männer sorgt die selbige Grenze mit ihren Schwertern, ihren Schilden und ihren Leben verteidigen, das ist eines Applauses würdig. Werte Abgesandte,“

und nun wandte er sich, unter den Augen der ganzen halle zur Frau herum, die Vincas recht perplex anstarrte,

„Sagt uns, wie viele der Gardisten, wie viele dieser dem König so teuren und treuen Krieger hat er vor hierher zu schicken?“

Valin konnte sich sein Grinsen kaum verkneifen. Vincas hatte die Aufgabe meisterlich erfüllt... die ganze Halle wartete völlig still auf die Antwort der Abgesandten, alle sahen zu ihr und das mit erfreuten Gesichtsausdrücken. Nur wenige waren skeptisch oder ungläubig, aber die waren nicht wichtig. Wichtig war der Druck, der nun auf der Frau lastete. Und das auch noch unerwartet. Wie konnte sie die aufgekommenen Hoffnungen einer ganzen Halle voller bis an die Zähne bewaffneten Söldner zunichtemachen? Ihnen sagen, dass der von ihnen gerade gepriesene König keinen einzigen Mann schicken würde?

„Seine... Seine Majestät der König hat mich zu Euch geschickt, um zu sehen wie viele Krieger die Nordwacht noch braucht... ich konnte mir noch kein Bild machen von der Lage hier, und...“

„Ja, das ist die offizielle Fassung. Aber Ihr seid hier unter Freunden! Sagt uns, wie viele werden denn auf jeden Fall losgeschickt? Wir sind ihm doch sicher zwanzig seiner Männer wert, oder?“

Wieder kehrte eine erwartungsvolle Stimmung ein, und die Abgesandte schluckte kaum merklich.

„Ja, zwanzig Männer wird er auf jeden Fall entbehren können.“,

antwortete sie, und Hüte wurden in die Luft geworfen. Ein weiteres

„Auf den König!“

folgte, und wieder rauschten Krüge in die Luft. Die Stimmung hatte sich deutlich verbessert, und irgendwie sah die große steinerne Halle gar nicht mehr so unwirtlich aus. Vincas mit Valin führten die Abgesandten an die mittlere Tafel, wo ihnen bereitwillig Platz gemacht wurde. Den dreien wurde dabei des Öfteren auf die Schultern geklopft. Als sie dann Platz genommen hatten, setzte sich die Frau neben Vincas.

„Söldner, woher wusstet Ihr, dass wir vom König geschickt wurden?“

„Ich gehöre den Doppelklingen an, Verehrteste. Wir wissen eine Menge.“

„Aha. Na, dann wisst Ihr auch wie dreist Eure Handlung gerade gewesen ist, ja?“

Vincas war nicht beschämt, sondern ernst. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas von dem, den Sal aufsetze wenn er ernst wirken wollte. Sal gelang es ausgezeichnet, und Vincas hatte das ganz gut übernommen.

„Werte Abgesandte... wie tief glaubt Ihr, ist die Moral der Männer hier in den letzten Tagen gesunken? Ihr bleibt nicht lange genug hier, um Euch von dem wahren Zustand der Feste überzeugen zu können, von dem was diese Männer noch an Kampfeswillen übrighaben. Und nach einer Schlacht, da wird ihre Moral gänzlich untergehen. Die Nachricht, dass sie auf jeden Fall die Verstärkung durch Gardisten haben werden, dass der König sich um uns hier sorgt, dass wir hier, am Ende des Königreichs noch immer auf seinen Zuspruch und seine besten Männer hoffen können, das hat sie aufgebaut. Sie haben mehr Hoffnung, versteht Ihr?“

„Gardisten sind auch nur Krieger, wenn auch gute. Diese Männer sollten ihre Hoffnungen nicht in zwanzig Kämpfer stecken.“

„Es geht nicht um die Kämpfer. Es geht um den Gedanken. Was sagen Eure Konsultanten denn dazu?“

„Vincas, das sind keine Konsultanten. Sieh sie dir doch mal an... das sind Gardisten ohne Uniform.“

Nun erntete Valin einen Blick der beiden Gardisten, wie auch der Frau.

„Wie...“

„Konsultanten sind für gewöhnlich damit beschäftigt zu beraten, statt jeden zu beäugen und die Gegend nach Bedrohungen abzusuchen.“ „Hm. Ich gebe zu, dergleichen habe ich nicht von dieser Feste hier erwartet.“,

gab die Frau zurück, und seufzte.

„Aber woher hätte ich auch wissen sollen, dass mich gleich Offiziere durch die Hallen begleiten würden?“

„Offiziere..?“

„Stellt Euch jetzt bitte nicht dumm. Ihr lasst Euch Dinge einfallen um Situationen nach Euren Wünschen zu aufzulösen, habt gute Beobachtungsgaben und einen breit gefächerten Wortschatz. Eure Gesichter sind nicht so rau wie die der Vagabunden und Streuner die sich manchmal Söldner nennen, also müsst Ihr obendrein aus guten Verhältnissen kommen. Solche wie Ihr sind kein Massengut, das weiß ich nur zu gut. Ich habe mich nur zuerst von eurem Alter täuschen lassen... das war wohl mein Fehler.“

Valin und Vincas sahen sich an, und begannen dann von Ohr zu Ohr zu grinsen. Offiziere, wie? Gerade als Valin zu einer weiteren Bemerkung ansetzen wollte, packte ihn von hinten eine Hand an der Schulter. Genau wie Vincas.

„Was macht Ihr nur, hm?“

grummelte Sal, sah den Lehrlingen in die Gesichter und schüttelte den Kopf.

„Nein, ernsthaft... zusammen verursacht Ihr mehr Chaos als notwendig. Valin, ich habe eine Aufgabe für dich. Geh in unser Quartier und pack meine Sachen.“

„Aber...“

„Kein aber. Sofort. Vincas, du bleibst bei unseren Gästen. Hier hast du einen Schlüssel, der ist für eine kleine Kammer. Dort könnt Ihr beiden bleiben, solange die Gäste hier sind - sie werden in unserem Quartier wohnen, versteht sich.

Valin brachte nur ein Grummeln hervor, ehe er aufstand und zur Kammer ging. Sal hatte die besagte Kammer gerade etwas zu förmlich betitelt… warum wohl? Eine Frage die gleich von der nächsten verdrängt wurde, nämlich wann es das nächste Mal Essen geben würde. Valin hatte nur Zeit gehabt ein Stück Brot anzustarren.

 

 

 

„Ihr… seid wirklich keine Offiziere?“

„Leider, ja. Wir sind nichts weiter als Lehrlinge. Aber bei den Doppelklingen braucht man nun mal einige Zeit, bis man es nach oben schafft. Wir schlagen schließlich nicht einfach nur Schädel ein.“

„Stimmt, Ihr sorgt für Zusicherungen, obwohl gar keine gemacht werden mussten. Beachtlich, für einen Lehrling.“

Vincas hatte schon des Öfteren gehört das er gut arbeitete, aber noch nie so offen. So erklärte er sich zumindest die aufkommende Verlegenheit, weswegen er nicht antwortete sondern einfach nur dankend den Kopf neigte.

„Aber eines habt Ihr nicht gemerkt, hm?“

„Was denn?“

„Ich habe nur gesagt, dass der König zwanzig Männer entbehren kann. Nicht dass er sie hierher schicken wird.“

Die Gardisten erlaubten sich den Anflug eines Lächelns. Genau des Lächelns, das gerade aus Vincas‘ Gesicht wich.

„Aber keine Sorge… ich werde mit ihm reden und mich dafür einsetzen, dass er ein paar Männer hierher schickt.“

„Mit ihm reden, hm? Nicht ihm schreiben?“

Sie erschrak. Nur kurz, und kaum merklich… aber Vincas bekam das mit. Na, was hatte man denn da..?

„Ich… werde ihm natürlich einen Brief schicken. Aber er wird den Bericht mit Sicherheit auch von mir hören wollen.“

„Interessant. Wisst Ihr, ich habe ein paar Dinge über die Gesetzregelungen gelesen, auch die, die Weißthron betreffen… unsere liebe Hauptstadt. Und zufälligerweise weiß ich auch, dass obwohl die Gardisten unter dem Oberbefehl des Königs stehen, für ihre Einteilungen im Normalfall der Stabsmeister verantwortlich ist. Der König ist also eine Instanz, die in diese Angelegenheit gar nicht einbezogen werden muss.“

Jetzt tauschten die Gardisten etwas überraschte Blicke aus, und nickten anerkennend. Nicht viele wussten was die Gardisten für eine Struktur hatten…

„Nun… er hat uns mit unserer Aufgabe hier beauftragt…“

„Wie sagtet Ihr doch eben noch? Stellt Euch nicht dumm. Eine junge Frau wird entsandt, mit zwei Gardisten wohlgemerkt. Die Frau ist eindeutig vom Hof, und einer hohen Stellung… denn sie verneigt sich nicht, wenn sie dankt. Sie ist geübt im Kampf, und kann eine mühevolle Reise bestreiten. Sonst hätte man ihr mehr Wachen und eine Kutsche gegeben… und sie hätte Probleme damit nach einen schweren Ritt vernünftig zu sitzen. Dazu kommt, dass sie sich mit dem König persönlich unterhält, und nicht mit den Leuten deren Stellung normalerweise für solche Probleme angemessen wäre. Eine Frage bleibt: Warum ist sie ausgerechnet hier? Was ich mir denke: Sie hat nur einen Vorwand, um hierher zu kommen. Eigentlich bereist sie das Land um mehr über die Verhältnisse überall herauszufinden, und sich mit den Situationen an den Grenzen vertraut zu machen.“,

sprach Vincas, und biss ein großes Stück Brot ab. Er fühlte sich gut... schon seit er die Rede gehalten hatte, die die Halle so sehr belebt hatte. Seine Vermutungen waren nun zwar einfach so vor sich her gesprochen, aber aus irgendeinem Grund war sich Vincas ziemlich sicher richtig zu liegen. Als er die Frau ansah, merkte er dass er tatsächlich Recht hatte. Sie war ziemlich überrascht, und die Gardisten sahen ziemlich angespannt aus. Fehlte gerade noch, dass sie über ihn herfielen…

„Und was, wenn die Frau wirklich nur hier ist, um über Verstärkungen zu entscheiden?“,

fragte die Abgesandte, mit einer gehobenen Augenbraue.

„Naja… dann hätte ich mich in dem Punkt wohl geirrt.“,

sprach Vincas seelenruhig, und legte sich ein paar gebratene Kartoffeln, ein halbes Brot und einige Kleinigkeiten auf den Teller. Er selbst hatte keinen großen Hunger, aber Valin hatte nichts gegessen…

„Habt Ihr aber nicht.“,

beschloss die Frau dann endlich zu entgegnen. Vincas drehte sich noch nicht zu ihr herum, sondern packte seinen Teller voll als wäre nichts Besonderes passiert. Als hätte er es nicht gerade eben geschafft mit einer frei aus der Luft herausgegriffenen Vorstellung mitten ins Herz der Wahrheit zu treffen.

„Ihr habt Recht in allen Punkten. Und wenn Ihr tatsächlich nur ein Lehrling seid, dann stimmen die Gerüchte um euren Orden nicht nur, sie untertreiben auch noch. Aber… eines, das habt Ihr nicht herausgefunden. Und zwar wer ich denn eigentlich bin.“

Vincas hatte sich der Frau noch immer nicht zugewandt, aber er war sich in einem ziemlich sicher – sie war ungefähr so alt wie er selbst. Und das was ihm nun im Kopf herumspukte konnte nicht die treffende Vermutung sein, aber er beschloss es darauf ankommen zu lassen. Das Glück liebt die Wagemutigen, und vielleicht würde es ihm ein drittes Mal helfen.

„Ich habe gehört der König habe... ah, vergesst es.“

Kaum waren die Worte gesprochen, schon konnte Vincas förmlich fühlen wie die Gardisten langsam nach ihren Klingen griffen. Sie hatten sie natürlich nicht abgelegt… aber das konnte nur heißen das…! Vincas verschluckte sich an dem Stück Brot das er gerade runterschlucken wollte, und bekam einen Hustenanfall. Die Frau schlug ihm ein paar Mal auf den Rücken, um von ihm dann - Sobald er sich von dem Hustenanfall erholt hatte - einen überraschten Blick zu ernten.

„Nicht. Im. Ernst.“,

sprach der Söldnerlehrling, und erntete ein dünnes Lächeln.

„Bei der Göttin… Ihr seid…!“

„Ja. Ich bin die Prinzessin. Und wenn du weißt was gut für dich ist, Lehrling, dann behältst du das für dich. Jetzt hör auf mich so anzustarren, sonst merkt das noch Jemand.“

 

 

 

„Ah, du bist schon fast fertig.“

Sals Stimme ließ Valin zusammenzucken. Er hatte nicht gehört, wie der Söldneroffizier das Zimmer betreten hatte.

„Ja. Nur noch die…“

„Lass die liegen. Setz dich.“

Das waren keine Bitten, das waren Befehle. Gesprochen mit einer Autorität der man sich einfach nicht widersetzen wollte… und Valin sah auch keinen Grund. Er verstand, dass Sal ihn nicht einfach so alleine in die Kammer geschickt hatte. Nachdem Valin sich auf einem Bett niedergelassen hatte, setzte Sal sich auf den einzigen Hocker im Raum.

„Hör zu, Valin Bandul. Vincas hat angefangen einen Pfad zu beschreiten, von dem er nicht so leicht abkommen wird. Der Göttin gefallen zu wollen ist vieler Männer Anliegen gewesen, aber zu den Zeiten wurde sie noch angebetet. Jetzt sind die Gebete fast verstummt, und ihre Macht schwindet. Sie braucht jemanden, dem sie sich zuwenden kann. Bannerträger, sozusagen. Agitatoren, Idealisten, Kriegsherren. Denn die Macht die die Göttin gibt will auch genutzt werden. Diese Macht will demonstriert werden, denn davon lebt sie. Du musst auf Vincas aufpassen… und zwar sehr gut. Manchmal braucht die Welt einen Schubs in die richtige Richtung, doch der Stoß muss mit Bedacht gesetzt werden.“

„Sal, nimmst du das Alles etwa auch für bare Mü-“

„Es geht nicht um den Glauben, Kleiner. Es geht um eine Frau, die die Bewunderung einer Welt verloren hat. Und glaub mir, eine Frau die nach alter Bewunderung lechzt macht vor sehr wenigem Halt. Eine Göttin vor Nichts.“

Valin wollte Sal fragen, warum er denn nicht selbst mit Vincas redet, warum er so überzeugt von dem Ganzen ist, und ob die Göttin wirklich als eine richtige Person angesehen werden kann… aber seine Frage ging im ohrenbetäubenden Lärm unter. Das war der Lärm der Wachthörner. Der Pass war doch noch vereist…? Aber ein erneuter Stoß in die Hörner donnerte durch die Hallen und Korridore. Kein Zweifel – die Nordstämme griffen an!

Ende einer Ära

All die Männer in der Nordwacht wussten, dass es dazu kommen würde, nur hatte Niemand so früh schon mit dem Angriff gerechnet. War der Pass so früh bereits passierbar? Die Kundschafter behaupteten er sei noch geschlossen. Nun, so konnte man sich irren.

Sal lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln.

„Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet mir einmal die Zeit nicht reicht?“,

murmelte er, und strich Valin durch die dichten, braunen Haare.

„Sal… du verabschiedest dich. Denkst du, du wirst sterben?“

Das war viel zu offensichtlich um ignoriert zu werden, und die Frage war eigentlich überflüssig. Doch manche Dinge mussten angesprochen werden…

„Nein. Ich weiß es. Dass die Nordmänner jetzt schon kommen kann nur eines bedeuten. Und eines führt zum anderen. Ich könnte natürlich fliehen. Ich könnte mich verstecken. Doch das würde die Sache nur aufschieben. Ich hoffe nur, dass mein Freund Recht hatte. Wenn die Sterne richtig stehen, dann müsste die Nordwacht stehen bleiben.“

„Wovon redest du…?“

„Der königliche Astronom. Aber das ist nicht dein Problem. Du musst auf Vincas aufpassen. Nur gemeinsam werdet Ihr das Ganze in Ordnung bringen können, ich habe alles getan was in meiner Macht stand um Euch diese Möglichkeit zu geben. Und nun los, die Männer versammeln sich schon. Schnapp dir deine Klingen und ab mit dir nach unten. Im Falle eines Kampfes hat der Herr der Feste den Oberbefehl. Na los, lauf!“

Es war wieder ein Befehl, und diesmal wollte Valin sich dagegen stellen. Er wollte Sal noch Dinge fragen… aber er konnte nicht. Als hätte er keine Kontrolle über seinen Körper griff er nach seinen Klingen, und ging zur Tür. Ein letzter Blick zurück wurde geworfen, und Sal gesehen, wie er auf den Boden starrte.

 

 

„Wir müssen zu unseren Pferden.“

Beschloss einer der Gardisten, und der andere nickte.

„Nein.“

„Aber…“

„Ich sagte nein. Und solange mein Vater nichts anderes befiehlt, ist mein Wort für Euch Gesetz.“

So beendete die Prinzessin die aufkommende Diskussion, und gönnte sich noch ein Stück frisches Brot. Vincas wusste nicht so Recht was er von der Situation halten sollte. Die Nordstämme griffen an, und er wollte nicht in der letzten Reihe stehen, wenn sie ankamen. Den ersten Angriff würden sie mit Sicherheit abwehren können…

„Vincas, richtig?“

„Ja?“

„Dein Meister hat gesagt du sollst bei uns bleiben?“

„Er ist nicht mein Meister, er ist mein Mentor! Und ja, hat er…“

„Kommt auf das Gleiche raus. Achte seinen Befehl. Die Barbaren werden die Festung nicht stürmen, sondern versuchen an ihr vorbei zu kommen, richtig?“

Einer der Gardisten beantwortete die Frage bevor Vincas auch nur zum Sprechen ansetzen konnte:

„Ja. Das war ihre Taktik in den letzten Jahren. Sie brauchen keine Versorgungslinien, da sie wissen dass wir hier ohnehin mehr zu essen haben, und es sie zu viele Männer kosten würde die Festung einzunehmen.“

„Dann wird es also ein Kampf auf offenem Felde. Wir werden auf die Zinnen steigen, von dort haben wir eine gute Übersicht.“

 

 

„Formation annehmen!“

Rief der Herr der Festung, der auf einem Ross versuchte der Söldner draußen Herr zu werden. Alle hatten unterschiedliche Taktiken und Manöver gelernt, viel Zeit zum gemeinsamen Üben ist ihnen nicht vergönnt gewesen. Vincas stand auf der Mauer, neben einem der Gardisten. Sie ließen ihn nicht mehr neben die Prinzessin, aber das war jetzt auch verständlich.

„Vincas?“

Der Ruf kam von unten, und Vincas wusste wer da rief. Valin schien auf dem Weg nach draußen zu sein, zu der Formation… aber nun ist er stehen geblieben, und sah zu Vincas hoch. Für gewöhnlich würde ihn um diese Zeit die Sonne blenden, doch der Himmel war grau und wolkenverhangen.

„Valin! Komm hoch!“

„Ich muss zum Fel…“

Dann fiel Valin ein, dass Sal gesagt hatte, er müsse auf Vincas aufpassen. Und solange der Herr der Feste keinen anderen Befehl gab, würde er sich an den von Sal halten. So wie er sich verabschiedet hatte konnte Valin das nicht einfach beiseiteschieben. Außerdem musste er Vincas davon berichten. Immerhin war Sal doch sein Onkel!

„Gut, ich komme!“

„Ist dein Freund ein Angsthase?“,

fragte die Prinzessin, und Vincas bedauerte es zutiefst ihren Stand zu kennen. Einer einfachen Abgesandten hätte er gerade eine Antwort verpasst, die sie nicht so schnell verdaut hätte. Ganz gleich wie viele Gardisten um sie herum ständen. Aber eine Prinzessin… DIE Prinzessin…

„Sprecht nicht so von ihm. Er hat alles, seinen Status, seine Familie und sein Erbe aufgegeben, nur um sich für den Frieden einzusetzen. Hat sich einem Duell gestellt, von der wusste dass er es nicht gewinnen konnte… nur für eine Idee. Nennt ihn nicht wieder einen Angsthasen.“

Vincas ist nie gut darin gewesen seinen Zorn oder sonstige Gefühle zu verbergen, und sich so zu beherrschen war für ihn bereits eine große Leistung. Die Prinzessin hielt aber selbst scheinbar nicht viel vom höfischen Protokoll, und ließ ihm diese recht ruhig vorgetragenen Worte unkommentiert durchgehen. Bedeutete sogar ihren Gardisten mit einem Kopfnicken Vincas nicht gleich in seine Schranken zu weisen.

„Vincas… hast du Sal gesehen? Er muss nach mir herausgekommen sein, er…“

„Er steht schon lange dort.“,

merkte Vincas an, und zeigte auf die Linien der Söldner, die sich zu einer Mauer verdichteten. Sie mussten die Nordmänner aufhalten, ehe diese den Ausgang des Passes passieren konnten – sonst würden sie einfach an der Armee vorbei in das Königreich hineinrennen können. Und selbst einer könnte ein Dorf oder eine Stadt in Brand stecken… das Problem an dieser Taktik: Man konnte die Angreifer nicht von der Mauer der Feste aus abschießen. Bestenfalls vom Ausguck aus, aber da passten nur zwei Männer hin… allerdings wurde die Stellung auch genutzt. Bogenschützen mussten sich auch auf dem offenen Feld, hinter den Nahkämpfern aufstellen. Vincas sah die Probleme, die sich dem kleinen Heer aus Söldnern stellten. Zu viele Unterschiede. Wenn man der ganzen ersten Reihe Turmschilde in die Eine, und Piken in die andere Hand drücken würde, dann könnte man eine sichere Frontlinie errichten. So wie sie da standen… sah das nach einem heillosen Durcheinander aus. Valin fiel das auch auf, und er bekam Mitleid mit dem Herrn der Festung der versuchte wenigstens ein gewisses Maß an Ordnung in die Formation zu bringen…

Und dann kamen sie. Erst Schatten, dann Silhouetten, dann konnte man die Männer erkennen. Damals, in Sonnfeld, hatte Sal nicht gelogen. Sie waren tatsächlich größer als die Meisten aus dem Königreich. Was er nicht erwähnt hatte, war dass die Nordlinge sich scheinbar nicht groß um Rüstungen kümmerten. Man konnte keine einzige Plattenrüstung ausmachen. Dafür aber Äxte. Und Hämmer. Meist sogar einfach in Paaren geführt, ohne Schild.

„Bebt… bebt etwa der Boden?“

Die Prinzessin war dadurch scheinbar durchaus verunsichert.

„Ja. Die Nordmänner sind groß und schwer, wenn sie rennen dann erzittert die Erde nun mal. Das machten sich Baumeister zunutze, und haben lange runde Tunnel unter den Pass gegraben, an deren Ende sie Leder trommelartig gespannt haben. So kann man die Horde schon bemerken, bevor man sie sieht. Und jeder Augenblick ist wichtig, wie Ihr seht.“,

beantwortete ein Gardist die Frage, und deutete auf die Schlachtformation. Das Chaos war nun halbwegs beseitigt, aber manche schienen Angst zu bekommen, und sich abdrehen zu wollen. Sie wurden aber sofort zurück auf ihre Plätze geschubst… noch kam es zu keiner Fahnenflucht.

„Was… sie halten inne?“,

fragte Vincas, und schaute auf die Horde. Tatsächlich, die Nordmänner blieben stehen… außerhalb der Reichweite der Bögen, wie es sich herausstellte. Ein einzelner von ihnen löste sich aus der Masse, und kam auf die Armee zu. Er rief etwas, und obwohl die Worte sogar auf die Entfernung laut und deutlich klangen, konnten weder Vincas noch Valin sie verstehen. Im Heer verstand sie scheinbar auch Niemand, denn alle sahen sich nur gegenseitig an, scheinbar ratlos. Dann löste sich eine Figur aus der ersten Reihe, und trat vor. Valin war nicht überrascht zu erkennen, dass es Sal war.

„Ist das nicht euer Mentor?“

„Ist er. Und er hat wohl gewusst, dass das passiert… was auch immer ‚das‘ ist.“

„Wie meinst du das?“

Vincas wandte sich ruckartig zu Valin um, und erhielt seine Antwort…

„Er hat sich verabschiedet. Eben, in der Kammer. Hat gemeint, er könne ohnehin nicht wirklich weglaufen.“

„Das… macht keinen Sinn.“,

meinte Vincas, und schüttelte den Kopf. Dann rief Sal etwas, genauso laut wie der Barbar, und scheinbar auf dessen Sprache. Dann wandte er sich zu dem Heer, und rief:

„Das ist ein Duell. Er fordert mich heraus, und ich nehme an. Niemand soll sich einmischen. Sollte er sterben, werden sie augenblicklich angreifen. Sollte ich sterben, ziehen sie sich vorerst zurück und werden morgen angreifen.“

„Wer ist euer Mentor, dass er die Sprache kennt und von ihnen zum Duell herausgefodert wird?“

„Ein geachteter Mann… und ein Meister mit den Zwillingsklingen. Außerdem mein Onkel…“,

gab Vincas trocken zurück, und erklärte damit das Gespräch für beendet. Aller Augen ruhten auf Sal und dem Barbaren, wie sie aufeinander zuschritten. Sal zog seine Klingen, und der Barbar ließ seine Zwillingsäxte kreisen. Valin und Vincas hatten selten, aber doch ein paar Mal gesehen wie Sal kämpfte. Es war etwas Erschreckendes darin, wie leicht er die Klingen wirbeln ließ, und allen Schlägen, Hieben und Stößen auswich… oder sie parierte. Sogar ohne hinzusehen. Seine Kämpfe waren von Anfang an entschieden, die Widersacher konnten tun was sie wollten, sie fielen. Die Klingen trafen immer ihr Ziel. Aber konnte man eine so gewaltige Axt überhaupt parieren? Konnte man einem Mahlstrom aus zwei solcher Äxte überhaupt lange genug ausweichen? Würde der Hüne den Schmerz von Schnitten überhaupt wahrnehmen? Ja. Auf alle Fragen. Sal bewies, dass er nicht umsonst dem Orden der Doppelklingen angehörte, und dass das Duell tatsächlich eine der Stärken des Ordens war. Eine Drehung jagte die Nächste, ein Wirbel aus Mantel und Stahl, dem man mit den Augen kaum folgen konnte. Bald blutete der Nordmann aus so vielen Wunden, dass man es selbst von den Zinnen aus gut erkennen konnte. Doch ihm stand nicht der Sinn danach, aufzugeben. Seine Äxte schnitten durch die Luft, mit Wucht geführt und voller wilder Stärke suchten sie ihr Ziel.

Und sie fanden es. Kein Schrei war zu hören, als eine Axt Sals Bein erwischte, und er fiel. Mit einer Hand bewahrte Sal sich davor vollständig auf den Boden zu schlagen, mit der anderen parierte er noch einen nachfolgenden Hieb. Der Nordling schien nicht viel von dem ritterlichen Ideal zu halten seinen Gegner wieder auf die Beine kommen zu lassen, und schlug wieder zu. Sal ließ sich fallen, streckte seine Klinge empor… was ihn nicht davor bewahrte, dass die rechte Axt des Barbaren ohne Erbarmen herabfuhr und sein Leben auslöschte. Doch die Klinge des Söldners hatte aber auch nicht die Parade zum Ziel, sondern war auf die Kehle des Feindes gerichtet. Ein letzter Schlag, der den Gegner mit ihm in den Tod befördern sollte... die Klinge, die stets und immer ihr Ziel fand, tat ihrem Herrn einen letzten Dienst und traf. Der Nordling blieb ein paar Augenblicke stehen, dann brach er neben Sal zusammen. Der Himmel erwies den Duellanten die letzte Ehre, und ließ ein Donnergrollen erschallen das tausendfach an den Wänden des Nordpasses wiederhallte.

„Nein.“

Vincas sah mit weit geöffneten Augen auf die Szene, die sich ihm bot… und schüttelte den Kopf. Was vorging verstand er so wenig wie die Meisten, aber eines wusste er mit Bestimmtheit: Sal war für ihn mehr ein Vater gewesen, als sein richtiger Vater es jemals gewesen ist. Auch wenn der Söldner oft auf Reisen war, auch wenn die Gespräche mit ihm selten lang gewesen sind, so ist er doch der Ankerpunkt seines Lebens gewesen. Jemand der immer Rat wusste, der alles erklären konnte, der alles kannte und immer weiterwusste. Nun war er tot. Weg. Auf immer…

„Nein.“

Doch diesmal kam das Wort Vincas nicht leise über die Lippen, sondern voller Ingrimm. Seit sie aus Sonnfeld, seiner Heimat, geflohen waren hatte Vincas nie viel darüber gesprochen, nie Briefe zurück geschrieben, nichts. Er hatte allen Gram tief vergraben, doch nun war es zu viel. Sein Onkel… Sal… getötet von einem Wilden.

„Nein! So nicht!“,

rief Vincas, ältester seiner Generation im Hause Rothe, und löste sich zornerfüllt von der Zinne an der er stand. Die Barbaren würden dafür zahlen. Bluten. ER würde sie dafür bluten lassen. Und die Göttin würde ihm helfen. Doch Vincas war nicht der Einzige, dem Sal etwas bedeutet hatte. Valin verdankte ihm sein Leben… ihm und Vincas. Er hatte ein Leben geschenkt bekommen, und das nicht nur was die Zeit anging die er zu verleben hatte. Dank Sal hatte er eine Aufgabe im Leben bekommen, nachdem sein vorheriges Leben in Sonnfeld zugrunde gegangen ist. Und Sal hatte nie etwas als Gegenleistung verlangt. Nie… bis vor wenigen Minuten. So trat auch Valin zurück, und stellte sich Vincas in den Weg.

„Valin… tritt zur Seite. Ich werde herabsteigen, durch das Tor gehen, an unserer Streitmacht vorbeischreiten und diese Barbaren zerschneiden bis das sie Staub sind. Sie haben Sal getötet, Valin! Deinen Mentor! Meinen Onkel. Lass mich vorbei.“

Vincas unterdrückte seinen Zorn so gut er konnte – Valin war nicht sein Feind, und das wusste er. Aber er wollte vorbei. Er musste.

„Vergiss es.“,

entgegnete Valin ihm, so entschlossen er nur konnte. Sonderlich gut gelang es ihm nicht, aber er wollte Sals Bitte erfüllen. Er musste.  

„Vergiss es, Vincas. Ich habe Sal versprochen dass ich das nicht tun würde. Es war sein letzter Wunsch, und den werde ich nicht ignorieren.“

Die Worte wirkten, und der Ärger wich aus Vincas‘ Gesichtszügen. Zwar nicht vollständig, aber nun dominierte die Verständnislosigkeit seine Miene.

„Seinen letzten Wunsch?“

Valin überlegte wie er es Vincas am besten erklären konnte, dass Sal ausgerechnet Valin erklärt hatte er habe sich um Vincas zu kümmern… und ihn vor den Pfaden der Göttin fernzuhalten. Glücklicherweise wurde er aus der brenzligen Lage befreit.

„Seht doch… sie ziehen sich zurück!“

Die Prinzessin zeigte auf die Streitmacht der Nordlinge, die sich tatsächlich in langsam und ruhig auf dem Rückzug befanden.. Sie hatten sich wohl dafür entschieden erst morgen anzugreifen. Ihren gefallenen Duellanten hatten sie natürlich mitgenommen. Vincas sah ein, dass es sinnlos war sich jetzt noch auf die Feinde stürzen zu wollen und senkte die Schultern. Seine Rage wich der zurückgehaltenen Trauer, und er senkte den Blick. Valin sagte nichts, denn er wusste was gerade in Vincas vorging… also legte er ihm einfach eine Hand auf die Schulter, und beide traten zurück zu den Zinnen. Sie schauten auf die sich zurückziehenden Nordlinge, auf die noch immer in Formation stehenden Söldner und auf Sal. Niemand sah die eine, einsame Träne die Vincas Wangen herunterrollte… aber Valin wusste das sie da war. Und er fühlte sich schuldig…  schuldig, weil er keine vergoss.  

 

 

„Er ist wirklich tot, nicht wahr?“

Es war bereits Nacht, und die beiden Lehrlinge lagen in ihren Betten. Die neue Kammer war bescheidener als die vorherige, kleiner, und hatte keinen Kamin… die Kälte kroch ihnen in die Knochen, und machte die miserable Stimmung nicht gerade besser. Sie hatten den gesamten Rest des Tages nicht mehr miteinander gesprochen, doch irgendwann kann man einfach nicht mehr schweigen.

„Ja…“,

antwortete Valin leise. Die Frage hatte ihn nicht verwundert, er selbst konnte kaum glauben dass Sal tatsächlich tot war. Irgendwo in seinem Inneren rechnete er damit dass der Söldner gleich die Tür aufreißen würde um sie zu überraschen… aber er verstand dass er das nie wieder tun würde. Er würde ihnen nie wieder ihre Fehler auf die Nase binden, er würde sie nie wieder für eine Narretei schelten und ihnen nie wieder aufzeigen wie groß der Unterschied zwischen Schein und Sein war.

„Ich wusste dass wir in einen großen Konflikt ziehen… dass es Tote geben würde. Aber irgendwie... habe ich mir nie IHN unter den Gefallenen vorgestellt.“

„Ich auch nicht. Keiner der Männer in der Feste hätte ihn besiegen können… ‚der geschickte Sal‘ nennen sie ihn nicht umsonst. Nannten…“

„Ja. Und doch hat es am Ende nicht gereicht. Die ganze Geschicklichkeit, die gesamte Erfahrung und alle Weisheit die er hatte haben ihn nicht retten können. Bloß weil dieser Nordling aus puren Muskeln bestand. Rohe Stärke ohne Ende hat gereicht um den größten Mann zu töten den ich kannte.“

„Möge er Ruhe finden…“

„Und Frieden.“

Eine Weile lagen sie da, versunken in ihren Erinnerungen. Die Söldner hatten ein kleines Fest veranstaltet, weil sie so gut davongekommen sind. Nur die Mitglieder der Doppelklingen hatten sich herausgehalten und einen Gedenkabend veranstaltet… sie achteten Sal sehr, aber Vincas und Valin hatten schnell gemerkt dass diese Söldner Sal eigentlich nie wirklich gekannt haben. Die Prinzessin hat sie dann gehen lassen. Sie war nicht so weltfremd wie Vincas es vermutet hatte, und hatte durchaus ein gewisses Maß an Mitgefühl. Auch wenn sie es gut zu verstecken wusste.

„Valin… was meintest du mit Sals letztem Wunsch?“

Die Frage musste ja kommen… Valin hatte genug Zeit gehabt sich auf sie vorzubereiten. Doch er hatte es nicht.

„Er hat gemeint, wir könnten das Ganze nur gemeinsam in Ordnung bringen, und ich soll deswegen auf dich aufpassen.“

„Auf mich aufpassen?“

„Ja. Er glaubte an die Geschichten um die Göttin, und wollte nicht dass du ihren Pfaden folgst.“

„… wieso? Wenn das Buch die Wahrheit berichtet…“

„Ich weiß nicht. Aber er schien ziemlich schlecht von dieser Göttin zu denken. Vielleicht ist ja einer seiner Freunde mal ihren Pfaden gefolgt? Keine Ahnung.“

„Möglich, möglich. Deswegen hast du mich auf der Mauer aufgehalten?“

„Ja. Das mit dem Aufpassen bezog sich auch auf dein Leben, nehme ich an. Und ich wusste nicht was passieren würde wenn du wirklich das Schlachtfeld betreten hättest. Aber dein Tod war fast gewiss.“

Vincas schwieg ein paar Augenblicke, und seufzte dann resignierend.

„Ja, gut möglich. Ich habe mich da zu sehr hineingesteigert. Habe sogar damit gerechnet, dass die Göttin sich mir zuwenden würde.“

Das hatte Valin nicht gewusst, und es gab ihm zu denken. Würde Vincas sein Leben wirklich einem Buch anvertrauen? Dem Versprechen Stärke zu bekommen?

„Tu das bitte nie wieder. Sal hat uns doch gelehrt uns über jeden unserer Schritte im Klaren zu sein… lass dich nicht unüberlegt zu etwas hinreißen. Erst recht nicht, wenn ich mal nicht da bin um dich aufzuhalten.“

„Ich werde es versuchen. Liegt wohl im Blut meines Vaters… aber, Valin, sag… was meinte Sal sollten wir in Ordnung bringen?“

„Irgendwas. Das Ganze. Was auch immer das Ganze sein soll. Du kennst ihn doch, er verrät seinen Plan erst, wenn es schon vorbei ist. Aber er hat noch etwas von einem Astronomen gesagt, und davon dass die Nordwacht verschont werden würde.“

„Wovor? Vor den Nordlingen?“

„Glaub mir, ich konnte aus seinem Gerede genauso wenig schlau werden. Wir werden es wohl sehen wenn es soweit ist.“

„Mhm. Was denkst du sollten wir morgen machen? Ich meine… unser Mentor ist tot. Wir haben keinen Befehlshaber, sozusagen. Aber ich habe nicht vor mich einem der anderen dort unten unterzuordnen. Sie haben nicht…“

„Dasselbe Format. Ja, ich weiß was du meinst. Im Vergleich zu Sal sind sie ein Witz, und noch nicht mal ein lustiger. Ich würde sagen wir kümmern uns vorerst um den Auftrag den er uns gegeben hat.“

„Hm?“

„Die Gesandte begleiten. Vielleicht können wir mit ihr zusammen nach Weißthron reisen. Zu zweit könnte das gefährlich werden.“

„Ich habe es dir noch nicht gesagt, hm?“

„Was?“

„Die Gesandte, das ist die Prinzessin.“

„… ja, klar.“

„Nein, ernsthaft. Lass dir das Ganze mal durch den Kopf gehen. Und das Alter passt auch.“

Nach ein paar Überlegungen musste Valin zugeben, dass an dem Gedanken etwas dran war.

„Hm. Die Prinzessin also? Nun, da haben wir dann unseren Oberbefehlshaber. Sal ist ja ohnehin auf königlichen Befehl hin hierher beordert worden, oder?“

„Ich glaube ja. Hat er das nicht damals erwähnt? Doch, glaube schon.“

„Na also. Wir sollten früh aufstehen, bevor die noch wegreitet. Immerhin wollen die Stämme ja morgen angreifen.“

„Hast Recht. Eine Mütze Schlaf sollten wir uns gönnen… und morgen sehen wir, wie es weitergeht. Gute Nacht, Val.“

„Nacht, Vincas.“

Doch einschlafen konnten beide eine lange Zeit nicht.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.04.2013

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