Unsere gestohlene Stadt
Eine schreckliche Klimakatastrophe sorgte dafür, dass die verbliebenen Landmassen unter Sand begraben wurden und der Rest der Welt im Meer versank. Die Regierungssysteme sind zusammengebrochen. Dubiose Konzerne und kriminelle Clans haben sich über die Zeit als wahre Machthaber etabliert, die in Zusammenarbeit die Bevölkerung vor allem mit sauberem, lebensnotwendigem Trinkwasser an sich binden.
Die Clans setzen hochprofessionelle Vollstrecker ein, um ihren Schuldnern das letzte Hab und Gut zu nehmen oder andere, besonders gefährliche Sachen zu erledigen.
Ben Wolff ist einer dieser Vollstrecker. In der Dürre Frankfurts erhält er von seinen Bossen den Auftrag, einen gestohlenen Familienring an Benjamin Brookshields - dem Geschäftsführer eines lokalen Trinkwasser-Konzerns - zu überbringen, als Zeichen der Freundschaft. Doch bald ändert sich seine ursprüngliche Mission in einen handfesten Mordauftrag. Dies sieht er als Chance, seinen Status als Laufbursche endlich loszuwerden, während er sich mehr oder weniger unfreiwillig drei jungen Menschen - Yamina, Can und Paul - anschließt. Diese haben das Ziel, die Stadt wieder denen zu geben, die hier geboren wurden.
Und mit zunehmender Zeit beginnt der Konflikt auszuarten, zumal Benjamin Brookshields' dekadenter Sohn bald zu Bens größten Gefahr wird...
Ein Roman von Philipp Mischak
Alle Rechte ausdrücklich vorbehalten.
Das Coverbild wurde in freundlicher Unterstützung von Zoheir Grich (artstation.com/zogri) entworfen und für das Buch zur Verfügung gestellt.
Kapitel 1: Dürre
Es war passiert! Niemand hätte es je für möglich gehalten, dass diese Katastrophe eine derartige Tragweite haben würde. Aber dennoch: Sie - die NGO's, Weltverbesserer, Alternativen und Gutbürger - blieben standhaft mit ihren riesigen Plakaten und Demonstrationen. Die Regierungen der neuen Welt und Europas hatten sie konsequent ignoriert, die Asiaten es als einziger rechtzeitig erkannt und für die Australier und Afrikaner war es ohnehin zu spät gewesen. Sie waren schließlich die ersten Opfer der Hitzewelle und der Überschwemmung veranlasst durch den drastischen, urplötzlichen und unvorhergesehenen Klimawandel. Immer wieder meinten die Minister, dass diese maximal zwei, drei Grad Celsius bis zum Jahr 2300 kaum was ändern würden. Auch waren sie der Meinung, die Menschheit könne nichts dagegen unternehmen. Jegliche Bemühungen waren tatsächlich umsonst. Die Mäuler jener Politiker blieben weit offen, als sich ziemlich genau zwischen 2300 und 2305 zeigte, dass in nur fünf Jahren die Temperatur um acht Grad weltweit anstieg. Die Polareiskappen schmolzen dahin, ebenso wie jeder verbliebene Gletscher und die meisten Schneemassen in den kalten Regionen. Die ohnehin subtropischen und tropischen Gegenden wurden gänzlich lebensfeindlich, Australien versank komplett im Wasser, ebenso wie große Teile Amerikas, Asiens, Europas und Afrikas. In den Vereinigten Staaten reichte das Wasser bis Washington D.C., während in Asien vor allem Japan, China, Indien und die Staaten dazwischen betroffen waren. Afrika sank buchstäblich an jeder Ecke ein, was aber im Endeffekt sowieso keinen großen Unterschied mehr machte, weil ein Lebewesen an den dort herrschenden Temperaturen ohnehin alsbald gestorben wäre. Und auch Europa erfuhr durch das Hochwasser eine Verkleinerung der Landmasse. Diese verbliebenen Landflächen wurden in trostlose Wüsten verwandelt, wo die Sonne von sechs Uhr in der Früh bis acht am Abend schien und in der es nachts zu krassen Kälteeinbrüchen kam. Das letzte Bisschen natürliche Eis oder Schnee fand man nur mehr in der Himalaya-Gegend, in den Anden und vereinzelt in den Alpen und Rocky Mountains. Wobei man von einem Wunder sprechen konnte, wenn man - was das anbelangt - am Matterhorn-Gipfel fündig wurde. Meist suchte man selbst dort vergeblich nach irgendwas Kaltem. Die asiatischen Staaten jedoch, die ein großartiges Bündnis gegründet hatten und somit die letzten funktionierenden Regierungen darstellten, nutzten ihr Gebirge geschickt für Landwirtschaft.
Völkerwanderungen, Hunger, Konflikte, unfruchtbar gewordene Böden, Wirtschaftskrisen, Trinkwasserknappheit... Selbst die Tierwelt war von dem Massensterben betroffen. Nur die resistentesten Tierarten schafften es, während die Menschen es eher ihrem grandiosen Überlebensinstinkt und ihrer großen Intelligenz zu verdanken hatten, dass sie noch halbwegs vernünftig leben konnten. Außerhalb von Asien existierten Staatengebilde nur mehr formell und auf dem Papier. Funktionierende Regierungen schwanden. Kriminelle Organisationen hatten gemeinsam mit den Unternehmen deren Ordnungsfunktion übernommen.
Und in all dieser Dramatik lag er –Ben Wolff – lässig mit überkreuzten Beinen und selbstgerollter Zigarette hinterm Ohr am Sandstrand an der Küste Frankfurts, die inzwischen zur wichtigsten Hafenstadt Europas und zum Kapitol Deutschlands mutiert war, nachdem ein Sandsturm halb Berlin begraben hatte. Der eigentlich ganz attraktive Mitt-Dreißiger hatte seine dunkelbraunen, festen Haare stets nach hinten gekämmt und trug meistens einen markanten Undercut, zusätzlich zum Drei-Tage-Bart. Die grauen, gelangweilt wirkenden Augen sahen auf das weite Meer raus, wo sich in der Ferne einige Containerschiffe der Durland AG und mögliche Piraten herumtrieben - er sinnierte kurzzeitig, wer davon die größeren Verbrecher waren, kam allerdings zu keinem eindeutigen Ergebnis. Allerhand Plastik und Müll wurde durch die sanften Wellen an den Strand gespült, und die kurzen, wiederkehrenden Sommerbrisen fand Ben recht angenehm, ja wahrlich wohltuend.
Wenn ich ständigen Wind kaufen könnte... Ich würd' wahrscheinlich meine ganzen acht Kanister hergeben. Oder die Silberkette. Oder vielleicht doch meine Münzsammlung?
Dachte jemand noch in Geld? Nein, ganz und gar nicht. Geld war maximal als Schätzwert relevant. Diese längst der Inflation zum Opfer gefallenen Scheine konnte man praktisch nur mehr zum Feuermachen in der Nacht sinnvoll verwenden. Kunst, Schmuck, Gold, Silber, Wasserkanister, Strom, Benzin... Das waren die wesentlichen Güter dieser Zeit. Und wurde um jene Güter aktiv Krieg geführt? Noch nicht. Man braucht ein einheitliches Heer, um eine effektive Schlacht gegen ein anderes Land oder einen Staatenbund zu führen. Es reichte zunächst, dass sich die verschiedenen Länder in internen Schlagabtauschen selbst zugrunde richteten. Es würde eine Ewigkeit dauern, alle Clans zu einer richtigen Armee zusammenzufügen, um dann in ein anderes, rohstoffreicheres Land einzumarschieren. Nur die Festung Asien hatte diese Probleme nicht.
"Schuldenberge? Ständige Angst? Abhängigkeit? Geben Sie sich nicht auf! Welfire Incorporated bietet die sichersten Arbeitsplätze in ganz München an!", kam es lautstark aus einem der riesigen Sendemasten in zirka hundert Meter Entfernung. Eine weibliche, angenehme Stimme sprach diesen kurzen Satz runter. Klägliche Werbung, die Ben auch jeden Abend im Fernseher sehen konnte. Ja, Fernsehen und Radio - nur das fand man in Haushalten. Kein Internet, keine Printmedien oder sonstiges. Es schien so, als würden die Menschen diese zwei Dinge am einfachsten bedienen können, selbst wenn die Programme fast nur derartige, hohle Phrasen sendeten. Nur in dem funktionierenden Asien blieb das Internet erhalten. Und wenn einer auf den Werbespruch von Welfire Inc. hereinfiel... Nach München würde man von hier aus sowieso nur über die Eisenbahn kommen. Die ganze Welt wurde durch ein gigantischen Schiffs- und Zugnetzwerk miteinander verbunden. Die Sandmassen machten Reisen zwischen Städten mit gewöhnlichen Gefährten fast unmöglich. Über die letzten funktionstüchtigen Fluggeräte verfügte wieder lediglich Asien.
Den Trenchcoat und die lange, grüne Stoffhose für die kalte Nacht hatte er in seine lederne Umhängetasche gepackt - er würde diese Klamotten später noch brauchen. Zurzeit trug er ein aufgekrempeltes, weißes Hemd, beige Schuhe und hellblaue Shorts, um der Hitze irgendwie zu trotzen. Er befand sich mit seinem Geländemotorrad eigentlich auf der Durchreise, aber er hatte an diesem Strand eine Pause eingelegt und öffnete nun eine Plastikflasche mit glasklarem Wasser der Marke „Brookshields".
Die Kapitalgesellschaft Brookshields Limited.: Die hatten ihren Hauptsitz wegen ihrer Vertreibung aus den USA hier nach Frankfurt verlegt, und zufällig arbeitete Ben Wolff als ein sogenannter „Vollstrecker" für eine von insgesamt sechs Mafia-Clans, die den Konzern und dessen dicklichen, alten Geschäftsführer Benjamin Brookshields mit Vermögenswerten wie Strom, Arbeitskräften unterstützten beziehungsweise in ihre Schuld brachten. Und wie die Organisationen an dieses Vermögen gelangten? In erster Linie durch Gewinnbeteiligung an den Unternehmen, Diebstahl, Erpressung... Aber zum größten Teil durch Ausbeutung der Bevölkerung, was in Form von einer Art Darlehen an wehrlose Bürger oder Gruppen geschah. So konnte sich ein Haushalt drei Kanister Trinkwasser, Nahrung oder Fernsehzugang „leihen", musste dafür aber gleich- oder höherwertige Objekte wie Golduhren oder Diamanten binnen einer gewissen Frist zurückleisten. Wenn das nicht so passierte, musste man damit rechnen, getötet oder in die Zwangsarbeit geschickt zu werden. Das hing stark davon ab, wie man sich aufführte.
Ben Wolff hatte den Job, als Vollstrecker eben diese Schulden einzutreiben, wenn nötig mit vorgehaltener Waffe. Das war ein überaus gefährlicher, aber heiß begehrter Beruf in dieser Zeit. Solche Leute wurden von ihren Auftraggebern gut bezahlt, mussten jedoch entsprechend qualifiziert sein. Das war der Grund, weshalb es tatsächlich nur etwa eine Handvoll in dem zerrissenen Frankfurt am Main gab. Diese Herrschaften waren meist erfahrene, überaus loyale, wenn auch teils völlig wahnsinnig gewordene Krieger mit langjähriger Kampfausbildung auf unterschiedlichsten Gebieten. Kaltblütig, charismatisch, gnadenlos – so hatte ein solcher Vollstrecker zu sein, und das traf auch auf Ben zu. Weil die Gefahr bestand, dass sich diese Herrschaften gegenseitig angreifen oder gar töten würden, entschied man sich, sie in der Regel alleine agieren zu lassen.
Einige Meter hinter Ben vergnügte sich eine Gruppe dummer Jugendlicher, die irgendeinen Fusel tranken und sich großartig vorkamen, weil sie zum zweiten Mal in ihrem Leben eine Crackpfeife rauchten.
„Hey Mann, das is' voll das gute Zeug!", hörte Ben eines dieser Bälger kreischen. „Ich könnt' das'n ganzen Tag rauch'n! Gib noch was her!"
„Oh ja! Wirklich der Hammer! Das macht so geil!", schrie ein anderer von denen und reichte die Pfeife weiter.
„Alter! Das mit dem Autodiebstahl ist jetzt nur noch ein Kinderspiel! Ich bin echt nicht mehr nervös! Für die Freiheit!", brüllte ein Dritter.
„Für die Freiheit!", ertönte es noch einmal im Einklang.
Für die Freiheit... Der inoffizielle Leitspruch der Staatsverweigerer – ein schlecht organisiertes, fast erbärmliches Kollektiv aus Spinnern, die es irgendwie geschafft hatten, eine große Anhängerschaft vor allem unter Jugendlichen zu gewinnen. Doch da es ja ohnehin keinen wirklichen Staat mehr gab, war das eine unnütze Besinnung und Ideologie. Der Staat tat schließlich nichts. Es gab zwar noch vereinzelt Politiker oder Abgeordnete, die sogar hin und wieder in Versammlungen tagten, aber nicht den Hauch einer Bedeutung hatten. Es fehlte die staatliche Zwangsgewalt. In schweren Zeiten kann man die Menschen oftmals zu hirnrissigen Anschauungen radikalisieren, und junge Leute sind sowieso leichter zu begeistern.
Dann passierte es, dass einer dieser Staatsverweigerer die leere Whisky-Flasche über den Felsbrocken warf, hinter dem Ben gemütlich döste und bereits im Einschlafen begriffen war. Die Flasche, die wortwörtlich aus heiterem Himmel geflogen kam, aber erfasste sein linkes, ausgestrecktes Bein, was ihm gar nicht gefiel. Ohne, dass es einer dieser selbsternannten Rebellen bemerkte, richtete sich Ben hinter dem ihn versteckenden Felsbrocken auf und näherte sich anschließend der tanzenden und feiernden Gruppe an. Jetzt bemerkten sie Ben, nahmen ihn aber in ihrem Hochmut vorerst nicht besonders ernst, sondern belächelten ihn eher.
"Schau', wer da kommt!" Ein Rotschopf zeigte mit seinem Zeigefinger auf den herannahenden, muskulösen Mann.
"Pf, was'n das für einer?", meinte ein anderer Junge abfällig und sah dann wieder desinteressiert weg.
Erst als Ben vor diesem Burschen und potenziellen Werfer stand und ihm direkt mit voller Wucht auf die Nase schlug, sodass dieser stark blutend umfiel und mit dem unschönen Hinterkopf im Sand landete, stoppten sie erschrocken ihren Tanz und richteten alle blitzartig ihre Blicke auf den breitschultrigen, großgewachsenen Vollstrecker. Dieser hatte die Arme demonstrativ verschränkt.
„Tom!", schrie der Rotschopf. „Nein!"
„Hey, Sie! Das... Das war'n Versehen! Tom hat die Flasche nicht geworfen, ich schwör's!", sagte der scheinbare Anführer der Bande und half dem blutenden Verletzten, der offenbar Tom hieß, auf.
„Wer's von euch war, spielt keine Rolle. Habt ihr gedacht, ich würd' euch weiterfeiern lassen, wenn ihr mich abschießt?", gab Ben mit seiner rauchigen, dunklen und eigentlich akzentfreien Stimme zurück. „Wie lustig..." Sein gefühlsloser Blick blieb.
Er beschwor innere Unruhe bei den Jugendlichen herauf. Da half auch all das Crack nichts, von dem sie sich offenbar wundersame Wirkungen erhofft hatten. Wie schnell so ein vermeintlich guter Rausch doch in einen wahren Horrortrip ausarten kann...
Ich hasse Kinder... Und besonders welche von der Sorte. Hätte ich eine Kindheit gehabt, wäre ich nie so gewesen wie die...
„Sie... Sie kö... können aber doch nicht einfach einen von uns niederschlagen!" Ein sehr freizügig angezogenes, aber hübsches Mädchen meldete sich zu Wort. „Ich hab' die Flasche geschmissen! Nicht er! Klären Sie das doch mit mir!"
Ein mutiges Mädchen. Aber kein schlaues.
„Oh, du also..." Ben hielt kurz inne und starrte sie bösartig an.
Seine neutrale Miene von vorher transformierte in eine wahrlich diabolische. Jeder, der ihn kannte wusste, wie schnell er sein eigentlich rationales Gemüt ändern konnte. Es schien, als hätten unsichtbare Nägel an den Füßen die Jugendlichen dingfest gemacht - ein Ausdruck kindlicher Furcht und eine Menge Angstschweiß in ihren Gesichtern verdeutlichten das. Schließlich bewegte sich Bens rechte Hand schon langsam in Richtung Pistolenhalfter, wo sich der griffbereite Revolver befand. Er erfasste ihn. Das stählerne Prachtstück füllte bereits seine Handfläche.
Dann - überraschenderweise - begann er zu lächeln. Es kam anders. Die Hand entfernte sich wieder rasant. „Du und deine Freunde, ihr seid nicht mal eine Kugel wert. Arschlöcher."
Die Gruppe atmete erleichtert aus. Er aber sah kurz nachdenkend zum Himmel hinauf. Dabei verlor er sich in seinen Gedanken.
Oder doch? Ach was... Das ist ein einfaches Kind, das keinen Plan von der Welt hat. Und wenn sie bei den Staatsverweigerern bleibt, wird sie sowieso früher oder später sterben. Elendig sterben. Schlimmer als die Kommunisten, dieses Gesocks von der Straße... Oder die Nazis in Westend. Was wollen die erreichen? Die Stadt übernehmen? Niemals. Solche Kinder können das nicht. Es wird nie funktionieren.
Er wandte sich von dem Haufen ab, sammelte seine Siebensachen zusammen und bewegte sich zu seinem einige Meter weiter an einem anderen Felsen lehnenden Motorrad, auf das er sich dann setzte. Der Vollstrecker holte die Zigarette von seinem Ohr, steckte sie sich in den Mund, hielt sie mit den Zähnen fest, zündete sie an, startete den lauten, unangenehmen Motor und fuhr schleunigst los, indes ihm die jugendlichen Leute immer noch verblüfft nachstarrten.
Kapitel 2: Der Rat
Während sich Ben Wolff auf den Weg ins Zentrum Frankfurts, das einer Ruine glich, machte, versammelten sich seine Bosse in einem noblen Herrenhaus am Stadtrand dieser Metropole. Diese deutsche Stadt... Das Goethe-Haus, das Städel-Museum, der Palmengarten... All diese Plätze wurden von den Sandstürmen entweder vergraben oder nützten sich mit der Zeit so ab, dass sie in sich zusammenfielen. Das geschah auch mit vielen der Wolkenkratzer und den ganzen Plattenbauten. An ihre Stelle traten teilweise lieblos zusammengebaute Wohnkomplexe, die entweder nur zur Hälfte fertiggestellt oder dreckig wie sonst was waren. Außerdem setzten die Menschen bedingt durch die brutale Armut vermehrt auf Holzhäuser oder fertigten sich hausähnliche Unterkünfte aus rostigen Metallplatten irgendwelcher nutzlos gewordenen Autos oder Technikgeräten an. Ab Gallus im Westen begann die Bucht, der Atlantik quasi. Viele Landmassen bildeten dutzende Kanäle, die ins Herz Europas reichten. An manchen Tagen hatte man das Glück, dass ein frischer, kühlender Wind direkt vom Atlantik durch die ganze Stadt wehte, aber das war selten der Fall. Den Main, der durchs Stadtzentrum „floss", konnte man über die Jahre mit großer Mühe und viel Sand und Leitungen zuschütten, aber dennoch änderte das nichts an der Tatsache, dass die halbe Stadt trotzdem unter Wasser stand. Am Platz der alten Goethe-Universität hatte sich eine Oase gebildet, die Friedberger Landstraße entwickelte sich zu einer Art Fluss und der gesamte Frankfurter Stadtwald war nun eine Wüste, in der es nur vereinzelt ein paar tote Bäume oder in Küstennähe Palmen gab.
Und nun fuhr Ben durch die elenden Straßen und Seitengassen, um seinem Auftragsziel näher zu kommen: Einem alten Pärchen eine bedeutsame Cognac-Flasche wegzunehmen, weil sie mit ihren gebrechlichen Körpern nicht mehr für Brookshields schuften und ihre Schulden nicht andersartig zurückzahlen können. Und noch eine andere, wertvollere Sache mussten sie rausrücken.
Am fahrenden Motorrad sah er die deprimierten, müden Menschen am Straßenrand sitzen oder auf den Sandhügeln liegen, teilweise leblos. Da eine Nutte, die gerade ihren Freier vergnügte, hier ein Junkie, der es sich in einem längst aufgegebenen Geländewagen mit eingeschlagenen Scheiben gemütlich machte, nur um seinen goldenen Schuss zu kriegen.
„Ich hass' euch alle! Ihr seid der Grund! Ihr... seid der Grund!", hörte Ben im Vorbeifahren den Drogensüchtigen aus dem Auto rausbrüllen.
Dann waren da noch zwei Schlägereien am Straßenrand, unaufhörliche Wortgefechte zwischen den Balkonen der riesigen Wohngebäude und andere lallende, kotzende Säufer.
„Sachen hast du geklaut, du Bastard!", schrie eine alte Frau aus dem Fenster zu ihrem Nachbarn, der ebenfalls aus dem Fenster des Wohnblocks der gegenüberliegenden Straßenseite starrte. "Dreckiges Schwein, du!"
„Du Schlampe, hörst du? Ich hab' nie was gestohlen!" Das war der simple Gegenschlag des dunkelhäutigen Mannes mit weißem Tank-Top und Sonnenbrille.
Alltag für Ben, wenn er durch eine Stadt fuhr. Ein unangenehmer Lärm ertönte, weil das Dach eines Wohnblocks einstürzte, was aber von den Lauten einer Schießerei in einer Seitengasse übertrumpft wurde. Und diese ständige Gluthitze... Sie schien die Gemüter noch mehr zu erzürnen. Die Welt war ein einziges Chaos geworden. Aber die Anarchie, die in Frankfurt am Main herrschte, war noch immer nichts im Vergleich zu den Zuständen in den Staaten, die man fast als permanente Kriegszone betrachten konnte. So miserabel die Zeiten hier waren, nichts übertraf Amerika. Das war der Grund, warum keiner neidisch darauf war, dort zu leben. Eigentlich war es in Deutschland ja noch angenehm im Verhältnis.
Trotzdem hatten die Bosse es besser. Das besagte Herrenhaus am Stadtrand sah unauffällig, ja beinahe schon verlassen und verkommen aus, um ja kein unnötiges Aufsehen zu erregen. So leer das uralte Eigenheim wirkte, so stark wurde es dennoch von breitschultrigen Kerlen überwacht – jeden Tag, rund um die Uhr. Immerhin lebte Arno Klien hier, einer der lokalen Clanchefs, der mit fünf anderen jenes Bündnis bildete, das Brookshields Ltd. kontrollierte. Der alte, vergreiste Arno hat in diesem Zuhause einen eigenen Besprechungsraum mit einem runden, hölzernen, edlen Tisch eingerichtet, um nahezu jeden dritten Tag mit seinen Partnern das Geschäft zu besprechen. Von außen wirkte das Herrenhaus baufällig und dreckig, doch innen war es an sich äußert nobel. Perserteppiche, teure Standuhren, Kronleuchter, rote Wandtapeten, Barockmöbel, echte Gemälde namhafter Künstler... Er musste seinen Gästen etwas bieten.
„Willkommen, meine Freunde..." Arno Klien eröffnete das heutige Gespräch am runden Tisch, als die fünf verschiedenen Anführer eintrafen und sich auf ihre Sitze setzten. „Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag."
Der brillentragende, schlecht gehende, im Bademantel gekleidete Arno selbst führte die deutschstämmige organisierte Kriminalität in ganz Frankfurt - seiner Heimat - an. Jeder deutsche Dealer, Zuhälter, Schläger oder Taschendieb arbeitete direkt oder indirekt für ihn. Gegenüber von Arno saß Momo Al-Hadad, der Rauschebart-Träger und dickliche Araber, der die Prostitution und die islamistischen Fanatiker in seiner Hand hatte. Rechts von ihm fand man Sebastian „Seb" Kint, der eine berüchtigte Motorrad-Gang leitete, die vor allem furchtlose Kampfmaschinen für Personenschutz zur Verfügung stellten. Seine Lederjacken, seine langen, ungewaschenen Haare, sein Spinnennetz-Tattoo auf dem Hals und der üble Schnauzer ließen ihn uncharmant wirken. Ganz anders als der, der links von Momo saß – Tonino Esposito, „Der Prinz". Der jedes Mal gut gekleidete, frisch rasierte, italienische Schönling mit den markanten Augenbrauen und Seidenanzügen achtete stets auf seine Wortwahl, genau wie darauf, dass das von ihm nahezu monopolisierte Drogengeschäft korrekt ablief. Der glatzköpfige, breite Russe Juri Koskow mit dem viereckigen Gesicht, dem beigen Rollkragenpullover und den blauen, scharfen Augen befand sich meistens zwischen Arno und Seb. Seine Russen-Mafia befehligte die Abwicklung des Handels verbotener Waffen und Munition. Und die letzte im Bunde, die ältere Dame japanischer Herkunft Yuma Aido, und ihre unbarmherzigen, anzugtragenden Krieger waren primär für das illegale Glücksspiel verantwortlich. Sie saß mit ihrem roten Kleid und dem vielen, kostbaren Schmuck zwischen dem Prinzen und Arno, die ihr starkes Parfum gut wahrnehmen konnten.
„Wunderschönen guten Tag, Patron Arno", begrüßte ihn der Prinz und richtete seine mittellangen, schwarzen Haare zurecht.
„Angenehm", meinte Juri Koskow mit seiner von Natur aus dunklen Stimme. Den russischen Akzent hörte man nur mehr kaum aus seinen Sätzen raus, was daran lag, dass er – wie die anderen Bosse – durch sein langes Dasein in Deutschland die Sprache mittlerweile gemeistert hatte.
„Freut mich, euch wiederzusehen, Freunde", meinte Momo Al-Hadad und nickte mit dem Kopf, nachdem er sich einige Male durch den langen, hässlichen Bart gefahren war. Man hätte fast meinen können, dass eine Insektenzivilisation in diesem ihr Zuhause gefunden hätte.
„Servus ihr", kam es von Seb. „Hoff', ihr seid gut beisammen." Jeder mit Ohren ausgestattete Mensch konnte den Kettenraucher in ihm erkennen.
„Hoffentlich war Ihr Tag auch gut, Patron Arno." Die elegante Dame mit der vielen Schminke im Gesicht nutzte immer eine möglichst angenehme Stimmlage. „Wie sieht's denn aus zurzeit? Ich hoffe, das Bündnis hat sich bezahlt gemacht."
„Das hat es, meine Dame", sagte der Prinz. „Frankfurt ist so eine schöne Stadt... Die ganzen Penner auf den Straßen kommen durch die Reflexion der glutheißen Sonne in ihren selbstgebauten Hütten aus Metallmüll ums Leben. Die Hitze killt einen hier buchstäblich. Ich will gar nicht wissen, was die Leute ohne Brookshields und seinem Wasser tun würden..."
Der Russe, der zuvor in den vielen Bücherregalen an den Wänden ein Buch seines Lieblingsautors Dostojewski entdeckt hatte, sprach dazwischen: „Und was Brookshields vor allem ohne uns tun würde. Der kriegt seine Arbeiter und seine ganzen Sicherheitskräfte nur durch uns. Als würde da irgendjemand freiwillig schuften." Der Buchliebhaber Juri war intelligenter, als er aussah. Sie alle waren keine Dummen. Sonst wären sie nicht die gewesen, die am runden Tisch saßen.
„Und wir bestimmen, was er tut. Wir haben die faktische Macht inne", stellte Arno fest, indes er seine Brille mit dem Zutun seiner Nase wieder in die Ursprungsposition beförderte. „Seine Fabriken am Stadtrand sind wichtig, sei es für Strom, Öl, Metall und, und, und... Aber ihr habt Recht, die Wasserreinigungs- und Vertriebsanlage im Zentrum ist wohl das Kerngeschäft. Nur sein Unternehmen füllt trinkbares, sauberes Wasser in Kanister oder Plastikflaschen. Es ist ein Monopol. Das ist wirklich das neue Geld geworden, seitdem man Euro-Scheine praktisch zum Heizen oder Arsch-Abwischen verwenden kann."
„Deshalb ist's Ihnen so wichtig, dass wir diesen alten Mann irgendwie am Leben halten, ne?", fragte Seb. „Meine Leute bewachen den Tag und Nacht. Dafür versorgt sein Drecksschuppen da im Osten uns mit ein paar alten, beschissenen Motorrädern... Das soll alles sein? Ich lass' mich nicht verarschen! Arno, das ist nicht genug für mich! Mehr soll er mir geben, das Schwein!"
„Was denn konkret, wenn ich fragen darf?", fragte Arno. „Heutzutage bezahlt man mit Gütern, und schließlich seid ihr ja auch auf diese Maschinen angewiesen, oder?" Der Deutsche nahm den Rocker fest ins Visier, musterte ihn genau. Dieser wirkte zunächst unbeeindruckt mit seiner unschönen Miene, sah dann aber unterwürfig weg. Arno war hier deutlich der Überlegene - jener Stratege, der die verfeindeten Clans zum ersten Mal zu einem Bündnis zusammenschweißen konnte.
„Das stimmt." Momo, der Seb nicht einmal ansatzweise ausstehen konnte, mischte sich frech ein. „Ihr müsst auch von A nach B nach C nach D kommen, weil ihr euch für den Fußmarsch zu stolz seid, vallah." Ein fieses, provokantes Grinsen von seiner Seite, das Seb rot im Gesicht werden ließ.
„Komm' mir nicht mit deinem vallah, du Dreckskanake! Verzieh' dich in dein Land zurück, ich hass' dich he!" Seb stand wütend auf und pochte auf den Tisch. „Deine Ansagen kannst du dir in den Arsch schieben, Bastard!"
„Inshallah, halt' dein Maul, du Hund!", kam von Momo zurück. Auch er sprang auf. Der altertümliche Boden knarrte laut wegen seines enormen Gewichtes. Erst jetzt wurde einem auch seine unglaubliche Körpergröße bewusst.
„Ruhe!", schrie der alte Arno mit seiner lautesten Stimme, die doch auf wundersame Weise sehr dominant klang und die beiden Streithähne tatsächlich zur Ruhe bringen konnte. Sie setzten sich wieder und atmeten einige Male kräftig durch. Ihre wütenden, jeweils auf den Mann gegenüber gerichteten Blicke aber schwanden nicht.
Nun musste auch Yuma etwas vorlegen. „Arno... Ich bin sonst nicht gerne der gleichen Meinung wie Seb, aber seine Sorgen sind berechtigt. Wie lange sollen wir diesen Brookshields noch mit unseren Hölzern aus Asien beschenken? Oder mit unseren fleißigen, loyalen Arbeitern, die sich für ihn bis zum Umfallen abplagen? Ich weiß mit seinem Erdöl, das er mir im Gegenzug gibt, nicht viel anzufangen. Das ist nicht mein Business normalerweise. Ich hab' andere Geschäftszweige zu klären."
„Aber Freunde..." Der deutsche Clanchef räusperte sich. „Ihr vergesst wieder, dass wir - wie gesagt - mit Brookshields als unsre Marionette das Sagen in der Stadt haben, oder? Sein Unternehmen ist hier neben unseren Machenschaften das Einzige, das große Gewinne abwirft! Klar, dass wir mit Dealereien, Waffengeschäften oder lügenden Huren auch unsere Umsätze machen, aber sein Output ist qualitativ am hochwertigsten von allen! Ein halbtoter Junkie, der um sechs in der Früh das elfte Bier geschluckt hat, kann eben nicht das Gleiche wie ein Industrieller bieten, richtig? Alles, was der Fettwanz an Profit macht, wandert automatisch in unsere Taschen!" Der Mann musste kurz unterbrechen, um Luft zum Sprechen zu schnappen. „Er kriegt fast nichts davon ab, außer seinem materiellen Reichtum, damit er weiterhin brav und artig ist! Mit dem Amerikaner haben wir echt einen guten Fang gelandet. Die anderen Witzbolde sind doch jedes Mal untergegangen, aber er macht es schlau. Er ist ein richtiger Geschäftsmann, der seine Sklaven unter Kontrolle halten und die größte Effizienz herausholen kann!"
„Wohl gemerkt, nicht zuletzt auch durch unsere Hilfe", musste der Prinz hinzufügen.
„Ja, das ist wahr. Und was wollt ihr jetzt? Wollt ihr immer mehr haben? Das sollt ihr kriegen! Brookshields ist der Schlüssel zu allem! Wir müssen nur ein wenig Geduld haben", redete Arno fertig. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde Jesus zu seinen Jüngern sprechen. Bergpredigt. Die Bosse hatten ein gewisses Mindestmaß an Respekt vor dem erfahrenen Arno. Selbst die unkultivierten Leibwächter rührten sich nicht mal einen Millimeter. Diese Ehrfurcht war verständlich. Arno hatte es vom halb-verhungerten Straßenkind zum Anführer der deutschen Kriminalität Frankfurts geschafft.
„Du musst aber auch verstehen, Arno, dass meine Gelassenheit langsam vorbei ist, ne?", meinte Seb, als er gerade an seinen rissigen Nägeln kaute. „Wann kommen die richtig großen Sachen, die du uns versprochen hast? Was ist denn mit meiner eigenen Kampfschule in Kassel? Oder dem Sarggeschäft in Münster?"
„Benjamin Brookshields wird dir die Materialien und nötigen Männer zur Verfügung stellen, glaub' mir das."
„Will ich hoffen, he. Und wann?"
„Bald, Seb! Bald!"
Seb wandte seinen Blick von Arno ab und starrte kurz verloren auf das Bild, das über dem noblen Kamin in dem Raum hing. Olympia - ein echter Manet. Nicht, dass er viel von Kunst verstand, aber das Gemälde mit der nackten, verschwommenen Dame in der Mitte kannte sogar er. Das verdeutlichte ihm, wie viel Reichtum Arno die Zusammenarbeit mit Benjamin Brookshields eingebracht hatte.
Nach dieser kleinen Streitdiskussion am runden Tisch kehrte kurzzeitig Ruhe ein. Es war aber nur eine Frage der Zeit, bis diese wieder durchbrochen werden würde. Es fiel dem gewitzten und eigentlich klugen - dennoch wenig sympathisch wirkenden - Russen Juri noch ein anderes, brisantes Thema ein, das er für geeignet hielt, unverzüglich besprochen zu werden.
„Ach, Arno... Übrigens... Was ist mit diesem Laufburschen von Ihnen? Und dem Familienring?", wollte der Russe wissen.
„Oh, der. Einer meiner besten Männer. Ben Wolff ist der geborene Soldat. Er führt seine Aufträge stets sorgfältig und unbarmherzig aus. Ich zweifle nicht an ihm und seiner Stärke. Der Bursche würde vom Altschauerberg bis nach Smolensk fahren, nur um ein Staubkorn zu überbringen. Sie sollten sich keinen Kopf machen." Dass er ihn unter anderem hochgezogen hatte, erwähnte er bewusst nicht. Auch versuchte er zu verschleiern, wie nahe ihm Benjamin Brookshields eigentlich stand. Sie durften es auf keinen Fall erfahren.
Juri kratzte sich am Hinterkopf, wirkte nachdenklich und leicht unsicher. „Das mag schon sein. Ich will nur keine unnötigen Sorgen haben. Was bringt uns das eigentlich, wenn wir den Familienring an Brookshields zurückgeben?"
Der Prinz ergriff für den deutschen Arno das Wort: „Das ist offenkundig, Russe. Das ist ein Beweis, dass der Idiot uns vertrauen kann. Wenn wir ihm den vermeintlich verlorenen Ring zurückgeben, wird er uns lieben."
„Und uns dadurch noch reicher machen, hab' ich Recht?", führte Yuma den Satz des Italieners zu Ende.
Erneut äußerte sich Juri bedenklich: „Ich weiß nicht, ob das so klug ist... Der Familienring ist uralt und viel wert. Wir könnten ihn an die Schmuck-Händler in Osteuropa verscherbeln und viel daran verdienen. Stattdessen geben wir ihn diesem alten Trottel zurück. Aber wenn Arno und der Prinz sagen, dass es nützlich ist für uns... Ich vertrau' euch. Fürs Erste."
„Das können Sie, Juri, das können Sie... Wir wissen glücklicherweise, welcher Haushalt in Frankfurt zurzeit den Ring in seinem Besitz hat, und Ben Wolff ist gerade auf dem Weg zu ihnen. Ein altes Ehepaar bewahrt ihn in dem Glauben auf, es sei ihrer... Dabei hat ihn der Vater der Frau vor langer Zeit geklaut, als er mal für Brookshields als Buchhalter angestellt war. Wie schade... Geschäft bleibt aber nun mal Geschäft."
„Die werden bittere Tränen weinen, die Zwei." Der Prinz lachte schelmisch über das bevorstehende Leid der Ringbesitzer.
„Tz, Kinderkram", kommentierte das Seb abfällig.
Kapitel 3: Das Ehepaar und die Gaffer
Ben Wolff führte seine Aufträge immer präzise und nahezu mit Perfektion aus. Oft ging er dabei über Leichen, zerstörte Träume oder vernichtete Hoffnungen. Und wenn es ums Schuldeneintreiben ging – das war sein Metier, sein Fachgebiet, in dem er jedes Mal aufs Neue aufblühte. Es schien ihm aber - der Professionalität zu trotz - wenig zu gefallen, in den Ruin getriebene Personen um deren letzte verbliebene Habseligkeiten zu erleichtern und damit den finanziellen Interessen seiner Auftraggeber zu dienen. Schon garantiert über hunderte Male hatten ihn diese armen Leute angefleht, er möge doch Mitleid mit ihnen und ihren Hinterbliebenen haben. Am Beginn noch hatte er seine Zweifel, war teilweise sogar kurzfristig in Selbstmitleid versunken, aber über die Jahre hinweg hatte er sich das abtrainieren können, dieses nervige Reuegefühl und Erbarmen. Das waren zwar ritterliche, noble Eigenschaften, die aber in der hoffnungslosen und kargen Welt dieses elenden Zeitalters nichts mehr zu suchen hatten. Sie waren unnütz geworden. Keiner konnte mit ihnen was anfangen. Man wurde nur belächelt, verspottet oder verlor sein Leben, weil man ernstlich daran glaubte, es gäbe etwas wie Aufrichtigkeit. Selbst diese um Gnade winselnden Schuldner, die während der Pfändung ihrer Sachen weinten und kuriose Geschichten erzählten, um die Eintreiber irgendwie in ihrem Handeln zu stoppen, waren keine besseren Menschen. Auch sie hätten für ihr eigenes Überleben ihre Liebsten geopfert, die Heuchler, so sehr sie es auch abstreiten mochten.
Nun denn, das Missionsziel war eindeutig: Neben den einzutreibenden Schulden musste der Familienring Brookshields zurück zu seinem wahren Eigentümer. Ein altes Ehepaar mit dem Namen Leymayer hatte ihn in seinen Besitz gebracht. Durch den Diebstahl des Vaters der Mutter, wie es Clanchef Arno in seiner Sitzung erläutert hatte. Nur wussten Mathilde und Bernd Leymayer das nicht. Immer wieder hatte Max Altbruck – Mathildes Erzeuger - beteuert, wie lange er schon der Familie an sich gehöre, dieser Lügner. Aber was hätten sie tun können? Niemand außer Brookshields und Max wusste, wem er wirklich zustand. Und jetzt mussten sie mit den Konsequenzen dieser aufgetischten Unwahrheit leben. Die Folgen sollten verheerend für die verwahrlosten, alten Städter werden, zumal sie in einer heruntergekommenen Wohnung im Osten nahe Mainkai am getrockneten, ehemaligen Fluss lebten und nur mit der Aufnahme neuer Darlehen über die Runden kamen.
Es war Nacht geworden. Die Sonne war untergegangen und die üble Kälte setzte langsam ein. Wunderschöner Sternenhimmel, wie jedes Mal. Deshalb holte Ben seinen Trenchcoat und seine lange Hose aus der Umhängetasche, nachdem er vor dem riesigen Wohnblock, in dem die Leymayers lebten, Halt mit seinem Motorrad machte. Im Anschluss steckte er seine Pistole unter den Mantel, lehnte das Gefährt an die Wand und ging geradewegs auf das Stiegenhaus des Gebäudes zu. Dort saßen und standen einige Junkies, die der Verwegenheit Bens wegen sofort vom Platz wichen, anders als die zwei Araber vor der Haupteingangstür. Sie gehörten sehr evident einem örtlichen Clan an, dem Aussehen nach zu urteilen wahrscheinlich dem von Momo.
„Was suchst du hier?", fragte der Dickere von beiden, der makellos gezupfte Augenbraun hatte, um wohl seine wenig schöne, übrige Physis zu kaschieren. „Das ist wieder einer von denen! Waren schon zwölf die Woche hier!"
„Lass' mich durch." War die Antwort des Vollstreckers, der seinen Termin oben wahrzunehmen hatte. „Du solltest mich lieber nicht länger aufhalten."
Momo gibt sich auch kaum mehr Mühe bei der Auswahl seiner Leute. Erbärmlich. Wie soll ich den ernst nehmen?
Der andere Araber – vermutlich um die achtzehn Jahre, dünn wie ein Stift, dafür groß wie eine Art Giraffe – stellte sich protestierend vor Ben hin.
„Du solltest wissen, wir lassen hier keine Fremden rein, pic!" Der Dünne versuchte, den muskelbepackten Ben mit seinen zwei Händen wegzuschubsen, was aber grandios fehlschlug. Wie dumm er doch war.
Er versuchte erneut, mit seiner schwindend geringen Körperkraft den sichtlich überlegenen Ben am Eintritt aufzuhalten. Jedes Mal bewegte sich der Vollstrecker keinen Zentimeter nach hinten. Ein herabwertendes Grinsen zauberte sich mit jedem weiteren erfolglosen Versuch auf Bens Gesicht, bis dieser irgendwann doch die Geduld verlor.
„Willst du's weiterprobieren? Du könntest nicht mal ein Scheunentor öffnen, also zisch' ab." Bens Stimme wurde lauter. Der Bursche nervte ihn langsam.
„Nein!", entgegnete ihm der dünne Mann mutig.
„Dann wirst du es bereuen."
Ben holte mit dem angewinkelten rechten Arm aus und erfasste das dreckige Gesicht des Arabers mit seinem Ellbogen. Der Junge wurde durch den heftigen Schlag förmlich nach hinten katapultiert, sodass sein fliegender Körper die gläserne Eingangstür durchbrach. Tausende Scherben flogen zu Boden und auf das Gesicht des liegenden, offenbar bewusstlosen Burschen. Der Dicke suchte das Weite und auch die stinkenden Junkies liefen davon. Ben ließ dies alles unberührt und er marschierte – nachdem er über den Körper seines Kontrahenten gestiegen war - weiter die Treppen des Stiegenhauses rauf. Es war keineswegs so, dass er solche Situationen nicht schon tausende Male erlebt hatte. Das war Routine.
Laut seinen Informationen lebten die Leymayers im elften Stock, was sich auch als wahr herausstellte, als er vor der besagten Tür ankam. LEYMAYER stand dort lieblos am Namensschild an der Holztür, die ohnehin bereits einige Kratzer und Löcher aufzuweisen hatte. Vermutlich war Ben nicht der erste Vollstrecker, der hier gewesen ist. Ans Anklopfen dachte der Mann erst gar nicht, nahm stattdessen etwas Anlauf und trat die hölzerne Wohnungstür mit einem brutalen Kick auf.
Mathilde Leymayer schrie auf, als sie den Fremden erblickte. Sie war gerade dabei, mit ihrem Mann Bernd das manipulative Abendprogramm des von Brookshields aufgekauften Senders Ageloin1 zu sehen. Hinter der Eingangstür angekommen war man sofort im Wohnzimmer. Die Zwei-Zimmer-Wohnung mit ihren wenigen Quadratmetern war winzig, hässlich und mit viel Schimmel an den Wänden und einigen Rissen am Boden bestückt. Jenes Wohnzimmer war zeitgleich das Schlafzimmer der Beiden, und außer dem modernen Fernsehapparat und dem Ring hatten sie offenkundig nichts Wertvolles hier.
Bernd Leymayer erschrak ebenso wie seine Gattin, als er den unerwünschten Gast erkannte. Todesangst machte sich in ihnen breit. Sie fingen an, heftig zu zittern. Der krumm gehende, glatzköpfige Hemdenträger ergriff die Initiative und kniete sich unmittelbar vor dem Eindringling nieder. Bald darauf machte es ihm seine Frau gleich. Tränen kamen über beide Gesichter. Sie wussten anscheinend, was für eine unangenehme Aufgabe Ben zuteilwurde. Nun hofften sie auf Barmherzigkeit.
„Ich bitte Sie, mein Herr, bitte... Nehmen Sie, was Sie finden! Den Fernseher, die Stühle, die Teller, das Besteck... Bedienen Sie sich! Aber verschonen Sie unser Leben, ich flehe Sie an!", schluchzte er lautstark herunter und führte seine Hände wie bei einem Gebet zusammen. "Wir wissen, wer Sie sind..."
Mathilde hingegen winselte lediglich und brachte zunächst kein einziges vernünftiges Wort heraus.
„Ach...", stieß Ben unbewegt aus und rollte seine Augen. „Ihr habt erst kürzlich bei Brookshields eine Wasserleitung zu euch für eine Stunde am Tag bestellt. Noch dazu trinkbares Wasser, nicht diesen salzigen Dreck aus der Hafengegend. Das kostet normalerweise viel, ne? Nur haben seine Buchhalter bei euch noch keine Zahlungen dafür registriert... Wenn ihr nichts gegenleisten wollt, muss ich euch wohl dazu bringen, richtig?"
Eindruck schinden, irgendwas Brauchbares finden, Ring nehmen. Das ist der Auftrag. Jedes Mal derselbe Scheiß. Es frustrierte Ben langsam, immer die Arbeit anderer zu erledigen.
Der Vollstrecker ging eine Runde im Wohnzimmer herum und durchsuchte dabei die Schubladen und Schränke. Der Boden knarrte durch seine Schritte laut. Ein paar alte Münzen, Gabeln aus Messing, gefälschte Markenkleidung, ein kaputter Ventilator und lauter Müll, der eigentlich zum Wegschmeißen bestimmt war. Die unbrauchbaren Sachen warf er einfach gegen die Wand, als er diese Wohnung rücksichtslos durchstöberte. Die knienden Eheleute sahen sich das Spektakel, das hier vor ihren Augen stattfand, kommentarlos an. Sie waren machtlos. Mathilde hatte ihren Kopf aufgebend gesenkt, während Bernd seinen nur enttäuscht schüttelte. Was hätten sie auch tun sollen? Sich zur Wehr setzen? Gegen einen dieser Vollstrecker? Unzählige haben das probiert - es blieb meist beim Versuch. Das Vorhaben glich einem Selbstmord.
„Einen Haufen Scheißdreck habt ihr da!", knurrte Ben, als er immer noch nichts fand. „Ich muss mir bald was überlegen!" Eine kaputte, metallene Armbanduhr warf er direkt in die Ecke des Zimmers, sodass sie in ihre Einzelteile zersprang. Dasselbe widerfuhr einer wahrscheinlich gefälschten Parfum-Glasflasche der Marke Creed.
„Ich... ich hab' da was!", stotterte Bernd. „Da hinten, im linken Schrank, ganz unten links ist hinter den Büchern eine Flasche Cognac versteckt! Deswegen... sind Sie ja hier, ni... nicht? Wir haben den Männern damals diese Flasche versprochen..."
Ein zufriedener Lacher seitens des Exekutors, ehe er sein lächelndes Gesicht zu dem Mann drehte. „Ha, endlich verrätst du es mir! Danach habe ich gesucht!"
Kooperativ...
Ben machte sich ans Werk, räumte den genannten Schrank aus und fand schließlich die Cognac-Flasche. Hennessy von 2212. Das war viel Wert am Markt. Damit konnte man sich in einigen Regionen Deutschlands ein Jahr lang ständige Wasserversorgung kaufen. Der gierige Brookshields stand auf exklusive Alkoholika. Eine eigene Sammlung schmückte einen Flur in seinem Domizil.
„Sehr schön." Der Vollzieher hielt das kostbare Teil in der rechten Hand. „Mal sehen, ob ihr mich nicht bescheißt." Er öffnete die Flasche und nahm einen winzigen Schluck. Sofort verzog er das Gesicht des scheinbaren Ekels wegen und spuckte den Inhalt direkt wieder aus. „Pah! Ihr habt die umgefüllt! Ihr Schweine, wo ist der echte Cognac?" Geschrei. „Sagt es mir! Sofort!"
„Da... Das ist der echte!", versuchte sich Bernd zu verteidigen. Aber er hat nicht mit dem plötzlichen Einschreiten seiner Frau gerechnet.
„Nein! Der echte ist unter dem Teppich vor der Balkontür! Es ist dort ein Loch im Boden!", schrie sie mit ihrer schwachen Stimme.
„Mathilde!" Ein trauriger Blick ihres Ehemanns in ihre Richtung. „Wieso sagst du ihm das? Das ist alles, was wir haben!" Eine Träne lief seine linke, runde Wange runter. Resigniert hockte er da.
Wortlos ging Ben zu dem grünen Teppich, riss ihn weg, sah das kleine, viereckige Loch im Boden und nahm dort die Plastikflasche heraus, in der offenbar der originale Inhalt drinnen war. Danach schüttete er den Fusel in der Glasflasche demonstrativ auf den Boden aus und füllte sie anschließend mit dem echten Cognac voll. Noch immer weinte Bernd salzige Tränen.
„Netter Trick", sagte Ben. „Mathilde heißt du, oder?" Er sah der alten Dame in ihre unschuldigen, braunen, nassen Augen. „Du warst ehrlich zu mir. Das schätze ich sehr. Ich brauch' nur mehr deinen Ring an der linken Hand."
Ihr Mund ging weit auf, als sie das hörte und zu ihrem linken Ringfinger schaute - der gestohlene Familienring.
„A... Aber das... können Sie mir nicht antun, mein Herr!", jammerte sie. „Das ist ein Familienstück! Es ist... alles, was mich noch an meinen toten Vater erinnert! Er hat ihn mir vermacht! Er wollte, dass ich ihn für immer an mir trage! Bitte! Alles, nur nicht das!" Das Weinen wurde schlimmer und schlimmer. Bernd sagte gar nichts mehr, sondern schluchzte nur noch.
Ein Schwarz-Weiß-Porträt von Max Altbruck, ihrem Vater, hing an der Wand. Ben sah es sich genau an. Ein adretter, lächelnder Herr am Bild, der seine junge Tochter Mathilde im Arm hielt.
War mein Vater ein Lügner? Hat Arno zu mir je die Unwahrheit gesagt? Ich kann mich nicht dran erinnern... Er hat mir beigebracht, dass Lügner ohne Ehre sind und keinen Respekt verdienen.
„Es tut mir ja Leid, dass ich dir das sagen muss, alte Frau... Aber dein Vater hat dich belogen. Der Ring gehört nicht deiner Familie. Das ist der Ring von wem anders. Max Altbruck war ein ehrloser Dieb und weiter nichts. Ein Nichtsnutz. Ein Arschloch sondergleichen." Das Bild nahm Ben und beförderte es mit einem geschickten Wurf in den nächsten Mülleimer. Das zeigte Wirkung bei ihr, was man an einem erschrockenen Atemzug ihrerseits merkte.
„Das kann nicht sein!"
„Tja, es ist aber so."
Ben bewegte sich langsam und bedrohlich auf sie zu, nahm ihre linke Hand und zog den goldenen Ring mit dem Familienemblem gewaltsam von ihrem Finger. Sie wehrte sich nicht, schloss aber ihre von Tränen durchnässten Augen.
„Danke für eure Zusammenarbeit", meinte Ben frech und steckte den Ring und die Cognac-Flasche in die breite Innentasche seines edlen Mantels. „Diese Lüge von dir, Bernd, die gefällt mir trotzdem nicht." Er sah auf den uralten Glatzkopf hinab.
„Entschuldigen Sie... Ich hätt' Sie nicht... anlügen dürfen! Aber es ging... um alles, was wir noch haben!", rechtfertigte er sich stotternd.
Ganz unbeeindruckt zückte Ben aber die Pistole aus seinem Trenchcoat und zielte auf den Schädel von Bernd.
„Willst du etwa sterben, alter Mann?", fragte Ben. Seine Pupillen weiteten sich gefährlich. Auch winkelte er den Mund nach unten. Für gewöhnlich kein gutes Zeichen, wenn der sonst emotionslos erscheinende Vollzieher es mit der Wut zu tun bekam.
„Nei.... Nein....", wimmerte der Bedrohte.
Ben hielt die Waffe an seinen Kopf. Der sich kalt anfühlende, eiserne Lauf der Pistole berührte seine Stirn. Das ging eine Minute so.
Sinnlos.
Dann aber bewegte er sie überraschenderweise wieder weg und steckte sie zurück in seine Jacke. Er wollte dem Herrn scheinbar nur Angst einjagen. „Ich hab' keine Lust drauf. Aber lügt mich nie wieder an, haben wir uns? Ich hasse das, wenn man mich für dumm verkauft."
„Machen wir... machen wir", schwor Mathilde.
„Passt schon. Beim nächsten Mal bin ich vielleicht nicht so gut drauf wie heute und knall' dir wirklich deinen scheiß Schädel weg. Dann mach' ich keine Anstalten mehr! Das soll dir gefälligst bewusst sein!"
"Ja, ja!"
Kurzes Intervall der Ruhe. Ben packte seine Sachen zusammen und war im Begriff, aufzubrechen. Er hatte das, was er wollte. Sein Auftrag war eigentlich ausgeführt. Auf einmal aber ertönte ein Husten aus der Richtung der Wohnungstür.
Was zur...
Sofort bewegten sich Bens aufmerksame, kalte Augen dorthin. Drei Gestalten hatten das Geschehen zuvor offenbar durch die eingetretene Tür beobachtet. Als sie bemerkten, dass Ben sie gesehen hatte, flohen sie wie Beutetiere. Es waren ganz offensichtlich Jugendliche oder zumindest junge Erwachsene, die ihre neugierigen Blicke nicht vom Ereignis haben abwenden können. Ohne großartig zu zögern ließ Ben das Ehepaar hinter sich und nahm die Verfolgung auf.
Kapitel 4: Bürger der Stadt
Ausdauer hatte Ben Wolff zur Genüge. Es sollte reichen, um einige Drecksbälger einzuholen und dann zur Rede zu stellen. Das war zumindest sein Gedanke, seine Hoffnung. Mit was er nicht gerechnet hatte war die Tatsache, dass die Gaffer offenbar schneller als erwartet waren. Quer durchs brüchige Treppenhaus liefen sie, die drei, und er ihnen hinterher wie ein Wildtier, das seine Beute jagt. Es waren zwei Burschen und ein Mädchen. Kurz vor dem Stiegenhaus warf einer der drei Kinder während dem Rennen einen vorhin vom Boden aufgehobenen Ziegel, der von der baufälligen Decke gefallen war, nach hinten auf den Verfolger. Der Ziegel lies ihn tatsächlich kurz stolpern. Das hasste der Vollstrecker. Ausgetrickst von blödsinnigen, wesentlich jüngeren Menschen, die sich für schlauer hielten. Nach einigen Sekunden rappelte er sich wieder auf und lief die vielen Treppen herunter. In den paar Augenblicken, wo er am Boden lag, waren sie schon längst einige Stockwerke weiter unten. Es geschah grundsätzlich nicht oft, dass Ben während seiner Exekutions-Arbeit derartig dreist beobachtet wurde. Die meisten trauten sich das gar nicht. Es war ja nicht mal so, als wäre es nie vorgekommen, dass ein Exekutor wie Ben etwaige Starrer auf skrupelloseste Weise aus dem Weg räumte. Denn meistens handelte es sich bei unerwünschten Zusehern um Spione rivalisierender Clans oder Ähnliches. Das war der einzige Grund, warum sich Ben überhaupt erst die Mühe machte, die Verfolgung aufzunehmen. Zu viele böse Absichten wären in Frage gekommen.
Er rannte förmlich die Stufen hinab, bis er wieder an die durch ihn zerstörte Haupteingangstüre des Wohngebäudes gelangte und diese schließlich durchtrat. Der von ihm verprügelte Araber von vorher lag noch immer bewusstlos da, aber das kümmerte ihn nicht im Ansatz. Im Freien angekommen sah er sich zunächst um und erfasste die drei Flüchtigen am Beginn einer Gasse. Eine kleinere Masse heruntergekommener Menschen hatte sich willkürlich hier im Vorhof versammelt; die kamen anscheinend gerade von einer Feierlichkeit und tranken und tanzten hier weiter. Das Erkennen in der Nacht war generell alles andere als leicht, aber die Leute machten es noch schwerer. Er sammelte seine restliche Energie, sprintete los, schubste die herumstreunenden, singenden Nachtschwärmer zur Seite und rannte seinen Opfern hinterher, nachdem er sie als die Fliehenden identifiziert hatte. Gegen die Höchstgeschwindigkeit des Vollstreckers hatten die Jugendlichen keine Chance, zumal sie bereits völlig aus der Puste waren. Sie liefen eine verkommene, enge Seitengasse entlang, hechelten und atmeten schon schwer.
Der Jäger packte schließlich nach einiger Zeit die Langsamste von ihnen, ein junges Mädchen mit dunkler Hautfarbe. Ja, klein und dunkelhäutig war sie, mit markanten Locken und dünner Statur versehen. Wie es aussah hatte sie afrikanische Vorfahren. Und dennoch, sie war wirklich hübsch. Ein makelloses, liebliches, unschuldiges Gesicht. Auch die feuchten Augen von ihr, die im Gegensatz zu denen von Ben voller Leben und Hoffnung waren, überraschten ihn... Nun aber hielt er sie von hinten fest. Ihre Bemühungen, sich zu wehren, waren vergebens. Der Mann war ihr hoch überlegen, wenn es um Körperkraft ging.
„Yamina!", rief der Junge vorne, der abrupt seine Flucht stoppte und zu seiner Freundin zurückrannte. „Lassen Sie sie los!", schrie er Ben wild an.
„Geben Sie Ihre Finger weg!", drohte der andere Bursche.
Die zwei jungen Männer liefen zu der Dame, die scheinbar Yamina hieß, zurück und versuchten gemeinsam, Ben von ihr wegzudrücken. Dieser aber ließ sich das nicht gefallen, gab seine Hände von Yamina weg und verpasste dem einen Helfer eine Ohrfeige, die diesen zum Umfallen brachte. Dem anderen trat er mit voller Wucht ins Schienbein, was für das Opfer in schmerzvollem Geschrei endete. Das Mädchen hingegen stand einfach nur zitternd und ersichtlich angsterfüllt da. Das ganze Geschehen wurde von einem mit dem Rücken an einer Hauswand sitzenden Obdachlosen beobachtet, der aber keine wirkliche Regung zeigte - vermutlich war er bereits tot, obwohl seine Augen vollkommen geöffnet waren.
„Da hab' ich euch... Bleibt stehen und sagt mir, wer zum Teufel ihr seid!", befahl Ben ihnen. „Oder ich brech' euch eure Knochen! Wer hat euch geschickt?"
Das kann nur einer vom Bündnis sein. Oder ein neuer Clan. Wer sonst?, theorisierte Ben in Gedanken.
„Niemand!", meinte das eine Milchgesicht, das am sandigen Boden lag und sich jetzt langsam wieder aufrichtete. „Das ist die Wahrheit. Wir sind von keiner Gang!"
Ben aber reagierte nur mit einem abfälligen Seufzer. „Ein Gaffer und ein Lügner gleichzeitig, das trifft sich ja gut, hm?" Jetzt erst fiel ihm der eklige Geruch dieser Seitengasse auf. Es roch nach Tod, Verwesung, Pisse und Tierkadavern. Wenn man sich hier näher umsah, konnte man einige der genannten Dinge auch in so mancher Ecke erkennen.
„Es stimmt!", sagte der andere Junge, der wie ein Araber oder Türke aussah. Schwarze, aufgestellte Haare, auf beiden Seiten scharf abrasiert, Ansätze eines Bartes, dunkelbraune Augen, dickere Augenbrauen, ziemlich groß und breit, allerdings nicht annähernd so wie Ben. „Wir verfolgen Sie schon länger... Ein paar Meter wären's noch gewesen und wir hätten auf unsere Mopeds steigen können."
Tatsächlich standen in zirka zwanzig Meter Entfernung neben einigen Müllsäcken zwei schwarze, verrostete Mopeds, die der Rasselbande offenkundig als Fluchtmittel dienten. Aus der vollen Mülltonne daneben ragte der Leichnam einer Frau mittleren Alters raus. Ihrer Optik nach zu urteilen befand sie sich schon länger als zwei Wochen dort drinnen.
Ben lachte kurz. „Ah, die zwei Drahtesel meinst du? Mit denen habt ihr es geschafft, mehr als zwanzig Meter zu fahren? Mein Respekt, ehrlich. Hätt' nicht geglaubt, dass sowas möglich ist. Und du bist was? Iraner? Tschetschene? Araber, oder wie?"
„Ich heiße Can. Meine Eltern waren türkischer Abstammung."
„Can also... Sie waren türkischer Abstammung? Wie das? Du willst mir doch nicht sagen, dass deine armen Eltern tot sind, ne?" Es schien, als würde Ben - der selbst als Vollwaise aufgewachsen war - sich über diesen traurigen Umstand lustig machen.
„Und wie sie das sind." Can ließ sich davon nicht provozieren und behielt seinen selbstbewussten Blick und seine aufrechte Haltung, der inneren Furcht zu trotz. Die Hände steckte er lässig in seine schwarze Lederjacke ein. Seine hautenge Jean war aufgekrempelt, sodass man seine Fußknöchel über den weißen Sneakers gut sehen konnte. Scheinbar war das zurzeit in Mode.
„Wie sind sie denn gestorben? Hab' ich sie etwa vor Ewigkeiten umgelegt und du willst jetzt einen auf Rächer machen? Ha! Das wär' mal was! Das wär' richtig ehrwürdig!" Ben grinste.
Bloß die Fassade aufrecht erhalten...
„So ist es aber nicht. Ich würd' das wissen. Es war aber einer von euch. Von euch Vollstreckern."
„Mhm, interessante Sache... Vielleicht kenn' ich den Typen, der's war. Gibt ja nicht so viele von uns. Wobei eigentlich... Eher unwahrscheinlich. Arno lässt alle paar Jahre eine Säuberung seiner Männer durchführen. Ich bin der Einzige, der all diese Säuberungen überlebt hat."
„Sie sagen das so, als wär' das was Besonderes. Der Scheißberuf hat schon genug Schlimmes angerichtet. Sie sind ein Mörder, nicht mehr."
Du kennst mich nicht. Du weißt nichts von mir.
Lautes Gelächter kam von Ben zurück. Das Milchgesicht aber, das nun wieder gerade stehen konnte, näherte sich dem Vollstrecker langsamen Schrittes an. Das nutzte er, um mit seinem Verfolger einen Dialog zu starten.
„Ich bitte Sie... Sie müssen uns verstehen... Wir werden Ihnen sagen, wer wir sind und was wir wollen. Aber Sie dürfen uns nichts tun", kam aus dessen Mund.
Plötzlich ertönte das Geräusch zweier Pistolenschüsse. Irgendwo am anderen Ende der Gasse wurde anscheinend um sich geschossen. Der junge Mann und seine Begleiter zuckten kurz zusammen, Ben blieb unbewegt. Sowas passierte ständig.
„Lass' dich nicht so leicht von ein paar Schüssen ablenken! Und du bist wer? Siehst aus, als würd' dich ein Wind zerreißen können... Wie viel wiegst du? Sechzig Kilo?", antwortete der Vollstrecker.
„Ich bin Paul..."
Paul - jetzt hatte man alle Namen beisammen. Dieser schmächtige Paul war bleich im Gesicht, um einiges kleiner als Can, hatte braune, kurze Haare, eine volle Lippe, blaue Augen, eine winzige Nase und dünne Brauen. Auch wenn sein Gesicht ein spitzes Kinn und hohe Wangenknochen aufzuweisen hatte, wäre es unrichtig gewesen, ihn als absoluten Schönling zu bezeichnen. Es fehlte ihm an äußerlicher Dominanz, an Männlichkeit. Zu zärtlich sah er aus. Auch sein Kleidungsstil ließ zu wünschen übrig, wenn man den grünen, löchrigen Parka, die weite, graue Stoffhose und die braunen Plateauschuhe betrachtete. Und doch war seine Stimme die klarste und lauteste von allen. Er hatte auf wundersame Weise etwas Besonderes an sich. Das merkte Ben. Etwas schlummerte in ihm... Seinem mangelhaften Aussehen zu trotz schien Paul Charisma zu haben. Das erkannte man unter anderem daran, mit welchen bewundernden Augen Yamina und Can ihn ansahen, als er bloß zu sprechen begann. Ben erinnerte er an Arno, als dieser noch jünger war. Und selbst der Klang seiner Stimme war wie verzaubernd. Zumindest – das konnte sich Ben gut vorstellen – war Paul dazu in der Lage, breite Massen an Gleichaltrigen auf seine Seite zu ziehen.
Könnte Arnos echter Sohn sein. Wenn ich nur je so gewesen wäre.
„Gib's zu, sechzig Kilo, oder? Alles drüber wäre Beschiss."
„Einundsechzig. Auf einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter. Nicht umwerfend... aber ich komm' ganz gut zurecht damit."
„Mich lässt das kalt."
„Kein Wunder bei Ihrer Statur..."
„Ich hoff' für dich, dass das nicht beleidigend gemeint war. Sonst reiß' ich dir nämlich deinen Kopf ab. Und das vor den Augen deiner Freunde."
„Oh, es war nicht... so gemeint. Das... versprech' ich hoch und heilig." Wieder die Angst Pauls.
„Gut so... Aber reden wir doch Tacheles – warum habt ihr mich beobachtet? Was sollte die Scheiße dort in der Wohnung? Meine Geschäfte gehen euch nichts an." Bens Stimme wurde bedrohlicher. Die Störenfriede sahen gerade nicht besonders tapfer aus: Yamina zitterte leicht, auf Cans Stirn bildeten sich Perlen des Angstschweißes... Nur Paul gab sich Mühe, die Furcht nach außen hin zu verbergen, mehr oder weniger erfolgreich.
„Wir sind..." Paul hielt kurz inne. Die nächsten Sätze musste er unbedingt selbstsicher sagen. „... eine Gruppe von jungen Menschen. Bürger dieser Stadt. Frankfurt am Main... Jeder weiß, man hat hier nur zwei Optionen im Leben: Man schließt sich den Gangs an oder lässt sich von diesem stinkreichen Schwein, der im Turm sitzt, versklaven. Benjamin Brookshields... Ein Amerikaner. Und auch die Gangs kommen von irgendwo her. Asien, Palästina, Italien... Ich wüsst' gar nicht, wo ich anfangen soll! Frankfurt gehört nicht mehr seinen wahren Einwohnern. Sie haben sie uns weggenommen, die Stadt. Alle meinen, sie könnten sie unterwerfen. Aber wir nicht. Wir wurden hier geboren, genau wie unsere Familien auch. Diese furchtbare Zeit muss endlich ein Ende finden. Wir müssen wieder einen frei gewählten Bürgermeister einsetzen. Die Zustände sind katastrophal! Brookshields und die Clans errichten hier eine Herrschaft, die auf Mord und Sklaverei aufgebaut ist!"
„Ah...", stieß Ben unbeeindruckt aus. „Bist du fertig?"
„Bi... Bitte?" Paul sah verdutzt aus.
„Ob das alles ist, was du zu sagen hast, Jüngelchen."
„Ich versteh' nicht ganz..."
„Du hast soeben eine Analyse der Stadt erstellt... Akzeptier's doch einfach. Was wollt ihr drei Gestalten denn ändern? Ich mein', wie alt seid ihr überhaupt? Achtzehn? Neunzehn?"
„Zwanzig sind wir. Und wir sind nicht alleine. Wir sind viel mehr!"
„Pf, dann seid ihr trotzdem nichts weiter als ahnungslose Idioten, die sich halt zusammengetan haben in der Hoffnung, irgendwas im System zu bewegen! Aber das könnt ihr vergessen! Ich hab' erst kürzlich ein paar Jugendliche von den Staatsverweigerern getroffen... Ein schändlicher, unorganisierter Haufen Dreck ist das. Das ist bei euch sicher nicht anders. Und ihr wollt die Rebellen spielen? Hört einfach auf damit. Es wird nur in eurem Tod enden. Niemand kann das System besiegen... Nicht mal ich..."
Ihr werdet scheitern.
„Das wird nicht in unserem Tod enden!", rief das Mädchen. Ihre Stimme war recht weich und angenehm. „Sie kennen uns nicht! Wir sind entschlossen und stark!"
„Das haben schon viele von sich behauptet... Bis Arno mit seinen Männern vor deren Türen gestanden ist." Ben musste schmunzeln. Er fand es lustig, daran zu denken, wie viele bereits den Helden gespielt haben und dann kläglich zu Boden gingen.
„Wir sind aber nicht so wie die!", musste Can einwerfen. „Deswegen haben wir Sie auch beobachtet! Um zu sehen, wie die Leute von Arno und Konsorten arbeiten! Welche faulen Tricks sie verwenden!"
Der Vollstrecker schüttelte den Kopf. „Und was bringt euch das, dieses Wissen?" Er packte eine Zigarette aus und begann, sie genüsslich zu rauchen.
„Damit können wir... uns... einen Überblick verschaffen über..." Can dachte nach. „Einen Überblick über...", stotterte er runter.
„Lächerlich, dir fällt nichts ein, hab' ich Recht? Dir gehen die Worte aus!"
Paul ergriff das Wort. „Wenn wir euch Typen studieren, fällt es uns in Zukunft wahrscheinlich leichter, euch umzubringen!"
„Haha!" Ben fiel vor lauter Gelächter sogar der Glimmstängel aus dem Maul und landete am Beton. „Ihr seid Komiker! ‚Umbringen', was für ein guter Scherz! Bist ja richtig lustig! Ihr Witzfiguren wollt einen von uns töten?"
„Das ist nicht zum Lachen! Wir haben Sie schon verfolgt, wo Sie in das Wohnhaus reingegangen sind!", sagte Yamina.
„Oh, und den Araber-Jungen, den ich windelweich geprügelt habe, den habt ihr da einfach liegen lassen wie einen räudigen Köter?", wollte Ben wissen.
„Mit Absicht. Er gehört zu Momo Al-Hadads Leuten."
„Mpf, was auch immer... Und wollt ihr mir noch irgendwas mitteilen?"
Paul wollte dem Vollzieher unbedingt noch etwas sagen: „Sie könnten sich uns anschließen. Sie wären eine große Hilfe. Mit Leuten wie Ihnen könnten wir das Mafia-Netzwerk und den Brookshields-Konzern endlich ausschalten!"
„Aha, meinst du?"
„Ja. Das ist mein voller Ernst."
„Kommt schon, geht weiter spielen. Setzt euch auf eure geklauten Mopeds und haut ab von hier. Den Blödsinn, den ihr da faselt, glaubt ihr doch wohl selber nicht. Macht, dass ihr wegkommt..." Damit beendete Ben die Debatte und kehrte den Dreien den Rücken zu. Er ging von ihnen weg.
Wenn's hundert Männer wie mich gäbe, wäre die Welt ein friedlicher Ort.
„Hey!", rief ihm Paul nach. „Sie finden uns in der alten, verlassenen Lagerhalle von Solberg & Webb im Osten!"
Der Junge kennt meinen Beruf und verrät mir - ausgerechnet mir - seinen Standort? Merkwürdig...
Paul erhielt von Ben jedoch keine Antwort. Die drei Freunde sahen sich gegenseitig verdutzt in die Augen, sprangen aber danach auf ihre Mopeds. Can fuhr allein, während Yamina sich auf den Hintersitz von Pauls Gefährt setzte und seinen Bauch umklammerte. Sie starteten die Maschinen und fuhren die Seitengasse raus auf eine größere Straße. Und wenn man den unangenehmen, brummenden Laut ihrer Motoren hörte, konnte man Ben Recht geben – es war wahrlich ein Wunder, dass sie mit ihren Drahteseln über zwanzig Meter kamen.
Kapitel 5: Brookshields und Söhne
Die größte von allen Fabriken in der Stadt war das. Tausende Quadratmeter Fläche, dutzende Stockwerke, riesige Hallen, gigantische Maschinen, meterlange Fließbänder, hunderte schuftende Kräfte... Von außen mit grauen, unästhetischen Blechplatten bestückt und viele rauchende Schornsteine auf dem flachen Dach des Bauwerkes. Direkt über dem Haupteingangstor war mit grünen, blinkenden Großbuchstaben die Aufschrift „BROOKSHIELDS LTD." angebracht, sodass auch jeder Vorbeigehende sehen konnte, wem diese Anlage gehörte. Das Interessante war ja, dass sich dieser riesige Kasten nicht irgendwo in der Peripherie, sondern unmittelbar im Zentrum der Stadt befand – nämlich am selben Platz, wo einst das stadteigene Shopping-Center stand. Dieses war wegen der Nicht-Benutzung über die Jahre hinweg so baufällig geworden, dass es Brookshields selbst mit seinen eigenen finanziellen Mitteln hatte abreißen lassen und stattdessen den Bau für seine Fabrikanlage dort in Auftrag gab. Die Immissionen und die Verpestung der Umwelt waren ihm völlig gleich. Vor allem in dieser Zeit gab es keine staatlichen Kontrollen oder Genehmigungen mehr. Den Konzernen boten sich viel mehr Expansionsmöglichkeiten, zumal sie nicht mehr auf eine etwaige behördliche Bewilligung oder Konzession hoffen mussten wie es damals stets der Fall gewesen war.
Der Main-Tower war dank den Restaurationsarbeiten eines gewissen Manfred Ballmann – ein Geschäftsmann in der Lebensmittelbranche – einer der wenigen Wolkenkratzer, der noch stand. Ballmann war lange vor Brookshields Präsenz in Frankfurt aktiv gewesen und hatte das Trinkwasser- und Ressourcengeschäft für sich allein monopolisieren und jeden Konkurrenten gnadenlos ausschalten können. Aber er war eines Tages verdrängt worden, und irgendwann nahm schließlich der Amerikaner seinen Platz ein. So war das eben. Der natürliche Machtwechsel. Derjenige, der das Lebensmittel-Business beherrschte, glich einem König ohne Vasallen. Allerdings waren das ihrem Wesen nach lediglich Scheinkönige. Ohne die kriminellen Vereinigungen des Frankfurter Untergrunds, die ihnen alles zur Verfügung stellten, was sie brauchten, waren sie nichts - und das wussten die Clans auch. Nur verstanden die wenigsten Unternehmer, welch wenig Macht sie de facto hatten. Sie genossen ihren unendlichen Reichtum, ihre vermeintlich hohe Position und ihren teilweise grandiosen Ruf unter der Bevölkerung. Einer war dekadenter als der andere. Blind, gelangweilt und verdorben vegetierten sie vor sich hin, stampften gefühlsmäßig in etwa wie ein Elefant durchs Leben. Auch konnte man den Vergleich mit dem Elefanten auch auf deren Bäuche anwenden, zumal jeder von ihnen überaus dicklich war.
Ballmann war auch so. Er hatte die letzten Etagen dieses Turms zu einem luxuriösen Domizil ausbauen lassen, und nun wohnte Benjamin Brookshields mit seinem Sohn dort. Die wahnsinnig gewordene Mutter hatte er jedoch eingesperrt. Paranoide Schizophrenie war es, vermuteten einige der Gutachter, die er angestellt hatte. Zum Mediziner konnte man sich nur mehr in wenigen, eher reicheren Städten ausbilden lassen, meist im Ausland. Offiziell beurkundete Ärzte waren das lange nicht. All diese Leute hatte sich Benjamin hergeholt. Aber es brachte seiner nun körperlich geschädigten, buckeligen Gattin nichts. Sie hatte bald schon nicht mehr gewusst, was sie tat. Laut Benjamin waren es die Stimmen in ihrem Schädel, die sie irre machten. Das gipfelte darin, dass sie angeblich den ersten gemeinsamen Sohn – Franklin Bernard Brookshields hieß er – vor etwa dreißig Jahren eigenhändig im Affekt umgebracht hatte. Daraufhin hatte Benjamin sie in einen Käfig im Keller des Towers eingeschlossen, wo sie auf ihren Tod warten musste. In der Zwischenzeit hatte Benjamin aber - laut eigener Aussage - seinen jetzigen Sohn und potenziellen Nachfolger mit einer jungen Prostituierten gezeugt, die kurz nach der Geburt von einem Tag auf den anderen „spurlos" verschwand. Dieses Kind zog er mit seinem hohen Alter selbstständig auf. Großstadtmythen kursierten diesbezüglich viele. Generell munkelte man in der Bevölkerung, dass der alte Mann noch mindestens zehn weitere Bastarde in der Stadt hatte, die er allerdings mit Arno Kliens Hilfe aufspüren und zum Teil ermorden ließ. Angeblich ließ er sie einige Jahre leben, um zu testen, wie geeignet sie waren. Ihm war aber keiner gut genug, sein großes Erbe anzutreten. Bis auf den Jetzigen.
Der aktuelle, lebende Sohn hieß Blake Nathaniel Brookshields und war ihm wesentlich lieber als der dümmliche Franklin und die anderen, über deren tragische Tode er fast froh war. Blake Nathaniel – ein großgewachsener, zweiundzwanzigjähriger, stattlicher Mann mit viel Charisma und Intelligenz. Die braunen, lockigen, langen Haare erinnerten an einen Prinzen, seine grünen Augen leuchteten förmlich und seine reine Haut und sein kantiges, braungebranntes Gesicht brachten die Damen vor Verliebtheit zum Umfallen. Die muskulöse Brust, die breiten Arme, das spitze Kinn, die große Nase, die breiten Lippen und die glattrasierte Haut verliehen ihm Dominanz. Meistens trug er ein dunkelblaues Sakko, ein weißes Hemd darunter, eine beige Stoffhose und braune Lederschuhe. Und jedes Mal, wenn er an jemandem vorbeimarschierte, konnte dieser das intensive Parfum des jungen Mannes vernehmen, wenn er nicht von der Reflexion seiner Patek-Philippe-Uhr geblendet wurde.
Just in dem Moment marschierte der vergreiste und dicke Benjamin mit Blake durch diese zentral gelegene Fabrik seines Konzerns. Beim Anblick des alten, mit vielen Falten und einer bemerkenswerten Halbglatze gezierten Mannes hätte man dessen boshaftes Inneres nie erkennen können. Er sah so harmlos aus, so unscheinbar... Auch seine überraschend geringe Körpergröße, seine krumme Haltung und seine Arthrosen-Hände ließen niemals auf einen bitteren Kern schließen.
Sie besichtigten wieder einmal die Haupthalle, wo sie gerade an einer großen Wasserreinigungsanlage vorbeigingen. Der mit grünem Anzug und rot-gesprenkelter Fliege gekleidete Benjamin gab mit seinem Gehstock den Weg an und Blake folgte ihm mit den Händen lässig in den Hosentaschen. Hin und wieder bespuckte Blake im Vorbeigehen die Arbeiter an den Maschinen und Knöpfen mit dem Wissen, dass diese sich nicht wehren könnten. Der Clanchef Seb hatte viele seiner besten Männer als Sicherheitsdienst für die Ordnungserhaltung innerhalb der Anlage herbestellt.
„Blake...", meinte Benjamin mit seiner weichen Stimmfarbe, als sie vor einer gewaltigen Wasserabfüllungsmaschine abrupt Halt machten. „Du musst diese Arbeit schätzen lernen. Du musst richtig kalkulieren können. Sonst wirst du keinen Erfolg haben."
Man hörte aus seinen Sätzen heraus, dass er kein Muttersprachler war, wenngleich seine Grammatik nahezu perfekt zu sein schien. Seit seinen späten Zwanzigern lebte Benjamin in Deutschland, aber ganz konnte man den amerikanischen Akzent nicht aus ihm entfernen. Blake hingegen wurde rein mit der deutschen Sprache erzogen, sprach demnach kaum ein Wort Englisch. War jedoch nicht nötig in seiner Situation.
„Was meinst du mit kalkulieren, Vater?", fragte Blake desinteressiert klingend zurück. Er schien sich zu langweilen. Diese Ausflüge in die Fabrik machte der Vater mit seinem Sohn öfters. „Willst du mir wieder irgendwas Wirtschaftliches erklären? Wie das mit dem Outsourcing letztens? Oder Offshoring? Oder den Leverage-Effekt?"
Wie ich diese ganzen Bezeichnungen schon satt habe... Ich kenn' die alle auswendig. Wenn der mir damit nochmal anfängt, köpfe ich ihn, dachte Blake.
„Siehst du diesen Arbeiter da vorne?" Benjamin zeigte mit dem Gehstock auf einen humpelnden, ungepflegten Mann, der einige Meter vor ihnen mit großer Mühe einen befüllten Wasserkanister zum Lagerplatz tragen wollte, dabei aber immer wieder hinfiel und laut hustete. Es war offenkundig, dass dieser schwitzende Kerl starkes Fieber hatte und schwer krank war.
Ein abfälliger Seufzer von Blake. „Der? Mit dem hässlichen Bart, den es gerade auf die Schnauze gehauen hat? Pf, der ist ja krank, oder? Der kann nicht gesund sein. Den würden draußen die Ratten fressen. Und der Geruch von dem geht bis hier her!" Blakes Stimme war allgemein etwas höher, und er gab sich große Mühe darin, sich möglichst überheblich anzuhören. Hier in der lauten Fabrik musste man jedoch fast schreien, um überhaupt verstanden zu werden.
„Das stimmt. Ordner!" Der Unternehmer winkte einen breiten Aufpasser her und deutete diesem per Handzeichen an, den hinkenden Arbeiter aus der Fabrik zu entfernen, was dieser auch im Anschluss tat.
„Lässt du ihn rauswerfen, Vater?"
Wäre wohl das Beste...
„Ja. Ich brauch' keine kranken Arbeiter. Und jetzt eine Frage an dich, Blake..."
„Welche denn?"
„Was wird mit ihm nun passieren?"
„Huh... Dumme Frage." Blake tat zunächst so, als wüsste er die passende Antwort. „Er wird rausgehauen, so einfach ist das! Hast du ja gerade selbst gesagt!" Der Sohn sagte das, während der herbeigerufene Ordner den armen Mann gewaltsam mit einem Prügel niederschlug und in Richtung der Ausgangstür abführte.
„Ja, und weiter? Was wird noch passieren?", hakte der Vater nach.
„Was weiß ich... Der wird auf der Straße landen. Vielleicht nimmt ihn irgendeiner von diesen Mafia-Typen auf, mit denen du so gut bist..."
„Nein. Das wird nicht geschehen."
„Was macht dich da so sicher, Vater?"
„Das meine ich mit kalkulieren. Was wird denn logischerweise mit ihm passieren?"
Nun fauchte Blake etwas. „Ach, du mit deinen scheiß Fragen jedes Mal! Bin ich Hellseher? Das kann ja kein Mensch wissen!"
„Oh, doch. Ich sag's dir, Junge. Er wird sterben. S-t-e-r-b-e-n. Buchstabier's nochmal in deinen Gedanken. Schreib's dir hinter die Ohren, merk's dir unbedingt. Wenn wir jemanden rauswerfen, stirbt derjenige. Ich will, dass du dir über die Konsequenzen dieses Handelns bewusst wirst. Das ist nämlich das, was uns auszeichnet. Wir sorgen dafür, dass diese Menschen leben. Das macht uns so wichtig für die. Glaubst du, Arno oder seine Verbündeten würden diese Kreatur jemals aufnehmen? Nein... Die brauchen nur starrköpfige, unkultivierte Riegel, aber nicht solchen Abschaum. Wenn du mal jemanden raushaust, sei dir im Klaren, dass er vermutlich schnell tot sein wird. Dann kann man ihn schwer zurückholen."
„Komm' mir nicht mit diesem Schwanzlutscher Arno Klien... Dein sogenannter Bruder..." Blake verstand nie, warum sein Vater so viel auf den deutschstämmigen Clanchef setzte. „Ich hab' den schon immer gehasst. Warum musst du den jedes Wochenende in unsern Tower einladen? Was bringt dir der Typ bloß?"
Benjamin lächelte und schloss kurz seine müden, grauen Augen, um die sich über die Jahre dauerhafte Ringe gebildet hatten. „Arno Klien ist mein Geschäftspartner und Freund. Wir kennen uns seit vielen Jahren. Er ist ein großer Mann. Er ist wie ein Bruder für mich." Der Herr öffnete die Augen wieder.
„Warum nur? Ich kapier's nicht... Ich werd's nie kapieren..."
„Die Gangs in Frankfurt haben sich all die Jahre über nur gegenseitig abgeschlachtet, bis Arno aufgetaucht ist und sie alle zusammengebracht hat. Er ist wie Barbarossa, verstehst du? Er ist ein Genie. Als Straßenjunge wäre er fast verhungert, dann wurde er Taschendieb, dann Schläger, dann Auftragsmörder und stieg stets weiter in der Hierarchie auf... Er intrigierte und mordete sich zum Anführer und verwirklichte sein Ziel, das er sich schon als Kind gesetzt hatte: die Clans zu einigen. Das hat er geschafft. Und jetzt helfen wir uns gegenseitig."
Erzähl' mir nichts vom Pferd! Mit seinem Sohnemann hatte Benjamin einen Nachkommen mit einer irrsinnigen Auffassungsgabe gezeugt.
„Ich glaub' eher, dass dich der alte Kerl ausnützt." Blake schien die wahre Sachlage mehr zu begreifen als der Geschäftsführer selbst. „Wie viel musst du ihm denn abdrücken? Die Hälfte?" Sonderlich großen Respekt vor dem Vater zeigte er nicht.
Benjamin zögerte kurz, als hätte man ihn bei etwas ertappt. Eine halbwegs passende Antwort fand er trotzdem recht bald. „Er ist kein Halsabschneider. Wir sind Geschäftspartner. Das wirst du auch mal verstehen."
„Oh, und wann kann ich frühestens damit rechnen?"
„Deine Zeit wird kommen, vertrau' mir. Mein toter Sohn Franklin hätte dieses Erbe nie antreten können. Du aber kannst das, da bin ich mir sicher."
„Danke, Vater... Eine Sache noch." Blake sah kurz zur Decke und richtete danach seinen Blick wieder auf seinen Vater. „Wenn wir schon dabei sind: Mein Halbbruder... Wie ist er genau gestorben?"
„Damit kommst du mir gerade jetzt? Seine kranke Mutter. Diese Nacht werde ich nie vergessen. Es ist laut. Ich wach' auf. Ich geh' ins Wohnzimmer, von wo ich lauter teuflische Schreie höre. Ich komm' dort rein und sehe, wie sie lachend einen Hammer in der Hand hält, während sein lebloser, blutverschmierter Körper am Boden liegt. Dann grinst sie mich an... Ich hatte noch nie so viel Angst in meinem Leben. Aber was solls's... Franklin war ein Trottel, ein Nichtsnutz, ein depressiver, pessimistischer Taugenichts. Zum Glück ist er tot."
Ja, einen Bruder hätte ich wirklich nie gebraucht. Da hast du ausnahmsweise Recht, alter Mann.
Der Sohn zeigte nicht den Ansatz einer Gemütsbewegung. Kein verzogenes Gesicht, kein Ausdruck des Ekels, keine Blässe, keine Spur eines Schocks. Nicht einen Hauch Menschlichkeit. Er nickte nur wortlos. Ein wahrer Psychopath.
„Aber das werd' ich dir mal genauer erzählen... Gehen wir weiter."
„Okay, Vater."
Kapitel 6: Das Bündnis tagt
Ein besonders heißer Sonntagmorgen. Selbst wenn die Wochentage inzwischen irrelevant waren – vor allem in Brookshields' Betrieb -, war es trotzdem noch irgendwie Gang und Gebe, zumindest sonntags alles ruhiger anzugehen. Hätte es noch Statistiker gegeben, dann wären diese mit Sicherheit zu dem Schluss gekommen, dass am letzten Tag der Woche tendenziell weniger gemordet oder geschuftet wurde. Eigenartig. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Es schien, als hätten sie ihre alten Gepflogenheiten beibehalten, dem Wandel der Zeit, des Klimas und den übrigen üblen Umständen zu trotz. So war es, dass Ben Wolff am Wochenabschluss für gewöhnlich seltener Aufträge bekam, Brookshields' Sklaven früher nach Hause gehen konnten und auch das Bündnis der Bosse nie an einem Sonntag zusammengetrommelt wurde. Das mochten sie auch nicht. Tonino der Prinz verbrachte diesen „Ruhetag" immer damit, sich von zig wunderschönen Damen in seinem pompösen Haus am Strand massieren, verwöhnen und türkischen Kaffee bringen zu lassen. Und selbst der unkultivierte Motorrad-Junkie Seb sah sich im Heimkino im Keller seines Hauptquartiers alte Schwarzenegger-Filme an. Es beruhigte ihn, wenn vor seinen Augen dutzende starben, und schließlich war ihm das mutwillige Abschlachten realer Opfer irgendwann zu mühsam geworden. Was ihn aber so gar nicht beruhigte war die Tatsache, früh aufzustehen. Das hasste er wie die Pest und Momo Al-Hadad. Nein, die Pest und seinen Erzfeind mochte er sogar lieber. Und an diesem Sonntag musste er gezwungenermaßen sehr bald – total verkatert - aus dem Bett kommen. Warum?
Der Clanchef Arno Klien hatte ein Notfalltreffen einberufen. Allerdings nicht von sich aus. Yuma die Asiatin und Juri Koskow hatten ihn dazu gedrängt. Es ging um Ben Wolffs Auftrag. Der Russe hatte Bens Ziehvater mit Anrufen terrorisiert, genauso wie Yuma. Sie meinten beide, es würde ihnen ganz und gar nicht passen, dass der Ring einfach so an den alten Brookshields überbracht werde. Die Entscheidung sollte unbedingt rückgängig gemacht werden. Juri pflegte gute Kontakte zu osteuropäischen Schmuck-Händlern und war deshalb scharf auf den Ring. Yuma sah in Benjamin keinen wirklichen wirtschaftlichen Nutzen für sie. Und sie argumentierten ferner, dass die anderen Mitglieder des Bündnisses ihre Meinung dazu äußern sollten, weil es so schien, als ob nicht alle ganz dafür waren. Am Ende der Notsitzung sollte deshalb demokratisch abgestimmt werden.
Natürlich war der Gastgeber und Bewohner des Hauses Arno Klien der erste, der mit Morgenmantel und seinem schwarzen Kaffee am runden Tisch saß und auf die anderen wartete. Zuerst traf der Prinz ein, der der glühenden Hitze wegen sogar sein Sakko ausziehen musste – was er sonst nie tat – und nur mit einem Poloshirt der Marke Fred Perry präsent war. Er schüttelte seinem Freund Arno Klien die Hand zur Begrüßung. Das schätzte Arno an dem Prinzen sehr, zumal der der einzige von den sechs war, der das tat. Unter Garantie konnte man sagen, dass Tonino der Prinz derjenige im Bunde war, der Arno am meisten respektierte. Nach einigen Minuten trafen Yuma und Juri zugleich ein, als hätten sie sich vorher bereits verabredet. Dann folgte der erzürnt wirkende Momo Al-Hadad und als Letzter trottete Seb mit Augenringen ein. Seine Alkoholfahne vom Vortag roch man kilometerweit. Sie alle nahmen an ihren gewöhnlichen Sitzen Platz.
„Morgen, Freunde." Arno stand der Höflichkeit halber kurz auf und setzte sich nach dem Satz wieder. „Ich habe dieses Treffen einberufen, um mit euch über etwas sehr Wichtiges zu reden."
„Was soll der Dreck eigentlich?" Seb hämmerte mit der geballten, rechten Faust wütend auf den Tisch. „Das scheiß Aufstehen, he! Was is'n so wichtig?"
„Würd' ich auch gern wissen, alter Mann", warf Momo ein. „Das is' noch nie vorgekommen, dass Sie uns da am Sonntag einladen."
Seb führte seinen hasserfüllten Blick zu seinem Rivalen. „Halt' die Fresse, Araber. Wahrscheinlich war's eh deine Idee, ne? Hast du zu wenig Anteil gekriegt? Musst jetzt wieder betteln gehen bei uns?"
„Tz, glaubst du das?", antwortete dieser.
Yuma schüttelte den Kopf. „Ruhig, ruhig... Es geht wirklich um etwas Wichtiges. Juri und ich haben die Sitzung angeregt, nicht Momo. Auch wenn du's nicht glauben magst."
Der Prinz zog seine Brauen zusammen und nahm den Russen und die Dame fest ins Visier. „Und warum bitte macht ihr das? Was bringt euch dazu? Wir haben uns doch erst Freitag getroffen!"
„Der Ring", meinte Juri mit aufrechter Sitzhaltung und hochgezogenem Kinn. „Er darf nicht an Brookshields verschenkt werden. Auf keinen Fall. Mir ist das erst über die zwei Tage so richtig bewusst geworden."
„Oh mein Gott...", stieß Seb aus. „Ihr Schweine... Und ich dachte schon, es wär' echt dringend! Und jetzt kommt ihr mir mit diesem verfluchten Familienring, was wir eh erst letztens abgehandelt haben?" Sein Mundwinkel ging nach unten, während er vor Zorn rot wurde.
„Was soll die Scheiße, Arno?", fragte Momo nach. Auch er stand nicht gerne in aller Früh wegen vermeintlichen Bagatellangelegenheiten auf.
„Ich bitte euch...", kam von dem grauhaarigen Herrn zurück. „Wir müssen dieses Thema besprechen. Ich verspreche euch, ich werde es in so kurzer Zeit wie möglich beenden."
Seb seufzte, griff in seine Hosentasche und holte dreist einen Zigarillo raus, den er sich dann in den Mund steckte und schlussendlich anzündete. Rauchen während der Sitzung im Herrenhaus – ein Tabu, eine Todsünde. Es war wohl mehr der Protest von seiner Seite, dass er nun hier sitzen musste in einer seiner Meinung nach unnötigen Tagung. Anstand hatte der Anführer der Motorrad-Gang nie, aber selbst an diese einfache Regel hielt sogar er sich stets – bis jetzt.
Arno stand auf, zeigte erzürnt die Zähne, nahm die Kaffeetasse in seine rechte Hand und drückte so fest, dass sie zerbrach. Die Kraft aus seiner Zeit, wo er noch ein simpler Schläger war, blieb offenbar erhalten. „Sebastian Kint!", brüllte er den vollen Namen des Rockerpräsidenten aus. Der sonst sehr höfliche Arno explodierte förmlich. „Aus damit!"
Seb schreckte auf, weitete die Pupillen seiner dunkelbraunen Augen und dämpfte den Zigarillo sofort auf dem Boden – wohl gemerkt, nicht auf dem Tisch – aus. Danach schluckte er einmal und sagte nichts mehr. So laut hatte er ihn noch nie schreien gehört. Das verdeutlichte aber, dass der alte Mann einen gewissen Ruf selbst unter den Höchsten der Kriminellen genoss. Arno setzte sich wieder nieder.
„Patron Klien...", sprach der Prinz vorsichtig. „Um was geht es jetzt genau? Was soll mit dem Ring sein? Ihr Laufjunge hat ja den Auftrag bekommen, ihn zu finden und zu Brookshields zu bringen, nicht? Was ist das Problematische dran?"
„Hören Sie...", setzte Arno das Gespräch fort. „Patron Juri und Madame Yuma sind der Auffassung, der Schmuck gehöre nicht zurückgebracht."
„Und warum denkt ihr das? Es wurde ja so entschieden?", der Italiener wandte sich an die Zwei.
Juri ergriff das Wort: „Er muss weiterverkauft werden. Es wäre viel zu schade, ihn diesem alten Trottel zu schenken, nur als Zeichen der Freundschaft. Wir sind keine Freunde von ihm. Das darf er nicht denken. Wir sind seine Existenzgrundlage."
„Das habe ich auch schon bemängelt...", kommentierte Yuma. „Außerdem find' ich nicht, dass das irgendeinen Sinn hat. Als würde er dadurch auf einmal mehr produzieren oder verkaufen... Im Gegenteil: Es ist nicht mal so unwahrscheinlich, dass er dann glaubt, wir würden ihm in den Arsch kriechen und ihn eh nie fallen lassen. Wie Juri sagte, er soll sich sicher sein, dass er nichts ohne uns ist und wir ihm jederzeit den Hahn abdrehen können, wenn es uns zu blöd wird. Und ich halte von seinem Business absolut gar nichts. Reicher macht er mich nicht unbedingt."
„Das ist alles?", sagte der Prinz. „Das mag schon so sein... Aber denkt doch mal: Der Ring würde uns nicht schaden. Und ich stimme dir, Yuma, nicht zu, dass er dann auf blöde Gedanken kommt. Dafür ist er zu schlau. Der weiß, wie sehr er von uns abhängt."
„Eben", stimmte dem Arno kopfnickend zu. „Warum also sollten wir Ben Wolff zurückziehen? Vorgestern erst hat er mir bestätigt, dass er den Ring gekriegt hat. Heute Nachmittag würde er ihn Brookshields übergeben."
„Moment... Soll das der Grund sein, warum wir so früh hier sind?", fragte Seb vorsichtig nach. Seine Stimme war ruhiger als vorher. Arno hatte ihn anscheinend ziemlich eingeschüchtert.
„Ja", kam es vom Befragten zurück.
„Wenn wir schon mal dabei sind..." Momo nutzte den Moment, um das Thema zu erweitern. „Warum sollen wir Brookshields imponieren? Warum sollen wir überhaupt mit Brookshields geschäftlich zu tun haben? Ich versteh' das alles seit Tag Eins nicht. Was finden Sie an dem so besonders oder so... unentbehrlich? Er gehört aus dem Weg geräumt. Ich seh' in ihm nichts als ein Hindernis."
„Genau! Das ist es!" Vor lauter Freude klatschte Juri lächelnd auf den Tisch. „Wir bringen das Schwein um und teilen uns seinen Betrieb auf! Wir stecken ihm ja sowieso schon seit so vielen Jahren lauter Habseligkeiten und Reichtümer in den Arsch! Das ist das, was uns wirtschaftlich schadet! Und diese Probleme hätten wir nicht, wenn es ihn nicht gäbe, oder? Da müssen Sie mir doch zustimmen, Patron Klien..."
„Nein, nein, nein... Undenkbar. Den Ring nicht liefern – okay, lass' ich mir noch einreden." Arno konnte das nicht verstehen und zeigte sich auch dementsprechend verwirrt. „Aber ihn umbringen lassen? Das geht nicht! Was denkt ihr denn, wer ihr seid? Dass ihr das ohne irgendwas übernehmen könnt, das Unternehmen?"
Yuma nahm einen Schluck von dem bereits im Voraus hergerichteten Wasserglas vor ihr. Es war zu heiß im Zimmer. „Und wie wir das können. Denken Sie, die Arbeit von ihm wär' so schwer?"
„Ich denke das nicht, ich weiß es! Ihr habt euch mit Betriebswirtschaft doch nie auseinandergesetzt! Eure Bilanzen regeln eure Buchhalter, doch selbst wenn man die alle zusammentun würde, könnten die nicht dieses Riesending leiten! Dazu braucht man Erfahrung und viel Wissen! Das hat Benjamin Brookshields im Gegensatz zu uns allen! Als würde ich mein vollstes Vertrauen in irgendeinen Narren setzen! Nein! So ist es nicht! Er tut sein Bestes! Keiner ist so gut wie er! Aber wenn ihr mir nicht glauben wollt... Na dann baut euch ja mal selber so ein Business völlig alleine auf und haltet es über so viele Jahre! Dieser Kraken ist viel zu groß geworden, und nur sein Schöpfer Benjamin hat die Kontrolle darüber, weil er jede Ecke und Kante davon kennt!"
Damit traf er sie alle an ihrem wunden Punkt. Selbstverständlich waren die übrigen Bosse kluge Menschen, geborene Anführer und kalkulierende Strategen. Jedoch hatten sie eines gemeinsam – sie hatten enorme Starthilfe bekommen. Juris Vater war schon Clanchef, Tonino wurde ebenso als Sohn eines Dons geboren, Yuma war die Schwester eines asiatischen Bosses, Momo war seit seinem Lebtag Erstgeborener einer arabischen Großfamilie und selbst Seb wurde von dem Leiter einer Motorrad-Gang aufgenommen und hochgezogen. Sie alle mussten ihren künftigen Posten nur eines Tages übernehmen oder erben. Das war bei Arno und Benjamin anders. Arno wurde als Kind einer Diebin und eines Bettlers – die beide bald starben - groß und musste sich Stufe für Stufe in der lokalen, verbrecherischen Organisation hochkämpfen. Er hatte es erfolgreich geschafft, sich gegen alle Konkurrenten zu bewähren und ging letztlich als Sieger hervor. Und Benjamin hatte eine ähnliche Vergangenheit. Sein Geburtsbett war gleichzeitig jenes Bett, auf dem sich seine Prostituierten-Mutter täglich mit ihren Kunden vergnügte. Seinen Vater hatte er nie kennengelernt und die amerikanische Mutter starb an Syphilis, als ihr Sohn gerade mal acht Jahre alt gewesen war. Der talentierte Geschäftsmann häufte sich mit dem Verkauf von zunächst gestohlenen Alltagsgegenständen ein kleines Vermögen an, bis er mit achtzehn sein eigenes Unternehmen in Amerika aufbauen konnte, das alsbald recht gut lief. Damals war es noch der Erwerb und Verkauf von Wohnhäusern. Dann wurde er mit Mitte Zwanzig aus dem Geschäft gedrängt und fasste in Deutschland Fuß, wo er auf Arno traf. Ja, die zwei beinahe Gleichaltrigen kannten sich sehr gut. Das war eine Sache, die niemand von den Bossen wusste. Deswegen lag Arno Benjamin und dessen Leben so am Herzen. Der aufbrausende Gangster Arno und der blühende Unternehmer Benjamin unterstützten sich seit jeher gegenseitig und halfen sich, in ihren Kreisen aufzusteigen. Brookshields durfte nicht sterben. Das konnte der alte Mann nicht zulassen.
„Ich gebe Arno Recht, ihn zu töten wäre blanker Wahnsinn! Es ist viel besser für uns, Brookshields effektiv als Handlanger zu verwenden! Auch für die Bevölkerung! Die wissen ja nicht, wie sehr wir dahinterstecken! Die denken, es gäbe Brookshields oder die Gangs. Die haben keinen Tau davon, dass wir zusammenarbeiten!", sprach Tonino und verdeutlichte damit, dass er wieder einmal als einziger zu dem Deutschen hielt.
„Du willst dich doch nur bei Patron Klien einschleimen, du dreckige Ratte!", beschimpfte ihn Momo.
Seb stimmte dem zu. „Ja, jedes Mal derselbe Mist mit dir!"
„Ihr versteht's nicht... Ihr wollt es einfach nicht kapieren, oder? Ihr seid echt so dumm?", murmelte der Alte sichtlich verzweifelt. „Seht ihr die Chancen nicht, die wir mit ihm haben? Seit Jahren schon ist er der Grund dafür, warum wir überhaupt kommandieren! Es passt so, dass er das Ding leitet! Würden wir das tun, kämen wir nur in Streitigkeiten! Und durch unsere Führung würde der Konzern nie mehr so große Gewinne abwerfen wie er es jetzt tut!" Verständnislos griff er sich ins Gesicht. Man konnte sogar die Traurigkeit erkennen. Es mangelte ihm an vernünftigen, überzeugenden Argumenten für den Verbleib seines Freundes im Diesseits.
Yuma rollte mit den Augen. „Bei allem Respekt, Patron Klien... Aber ich seh' keinen Grund, ihn am Leben zu lassen. Er ist bloß ein Hindernis. Sie reden immer von absoluter Macht durch ihn und so weiter... Die gleichen Sätze jede verdammte Tagung... Ich kann's nicht mehr hören! Seien wir uns mal ehrlich: Welchen Unterschied macht es in der Machtfrage, außer dass wir ohne ihn vielleicht sogar mehr davon haben?"
„Ist so. Ich glaub' eher, unser Patron Arno mag den fetten Typen einfach zu gerne. Merkt man allein daran, wie er über ihn spricht." Momo führte seine beiden Hände zusammen und starrte den Alten direkt an. Keiner der Bosse wusste von der engen Freundschaft der beiden, aber sie ahnten es. „Sind Sie vielleicht schwul?" Sarkastischer Unterton. Momo hasste Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle, Juden, Schwarze und alles, was anders war als er und seine Sippschaft. Als stolzer Antisemit, Polygamist, Homophober, Rassist und vorgeblich religiöser Fanatiker hatte er kaum was übrig für Andersdenkende.
„Nein... Nein! Patron Klien ist meines Wissens nach asexuell. Ihn interessiert niemand auf dieser Ebene", verteidigte der Prinz seinen Helden wieder. Das stimmte. Der Mann hatte wirklich nie eine Dame oder einen Herrn nackt gesehen oder sehen wollen. Ein Vorteil, wie er selbst meinte.
„Was für ein Unsinn...", sagte Momo. „Wenn er nicht will, dann scheiß' ich eben auf's Bündnis und kill' ihn eigenständig. Unser Gastgeber ist so stur. So stur, so stur, so stur! Das geht mir schon seit längerem auf die Nerven!"
„Da geb' ich dir einmal Recht, Araber", stimmte Seb zu. „Mich kotzt diese ganze Verbrüderung auch langsam an."
Stille kehrte ein. Eine unangenehme Stimmung machte sich im Raum breit. Arno vergrub sein faltiges Gesicht in seinen Händen, während ihn alle anderen ununterbrochen ansahen. Sie wollten eine Reaktion von ihm, eine Entscheidung. Er hingegen konnte es nicht wahrhaben, dass sie seinen Freund tot sehen wollten. Es wäre ein so schöner Sonntag für ihn geworden, jedoch artete er mit dieser Stunde in einen einzigen Trauertag aus. Was sollte er tun? Seinen langjährigen Freund schützen und damit das riskieren, was ihn am meisten bedeutete? Sein ganzes Leben hatte Arno dafür gekämpft, dass die Gangs in Frieden miteinander in einem Bündnis arbeiteten, und nun würde er das durch diese eine Streitfrage gefährden. Das Leben eines Freundes oder der Erhalt eines erfüllten Lebensziels? Nein, nicht eines Lebenszieles, sondern des Lebenszieles. Sein Lebenswerk. Diese Fragen schossen ihm durch den Kopf, als er hier saß und beinahe weinte. Aber er war ein Meisterdenker. Er musste die richtigen Entscheidungen treffen und die vernünftigste Strategie über seine Emotionen stellen. Das war seine Devise - stets rational bleiben, egal was kommt.
Er legte die Hände nieder und erhob langsam das Haupt. „Wir stimmen ab. Bei Gleichstand entscheidet der Zufall."
„Machen wir's so... Ist das Schlaueste.", kommentierte das Tonino.
Arno redete weiter. „Wer für den Tod von Benjamin Brookshields und den Verkauf des Ringes ist, möge die Hand heben."
Das Ergebnis war merkwürdig. Momo, Juri und Yuma stimmten - recht vorhersehbar - für den Tod, aber nicht Seb. Er hob seine Hand nicht. Das stiftete Verwirrung unter den Anwesenden.
„Was zeigst du nicht auf, Seb?", fragte Yuma ihn.
„Weiß nicht... Wenn ich so überleg'... Der alte Typ schlägt sonst immer die richtigen Wege ein... Er ist halt wirklich nicht dumm." War die Antwort von ihm. Während diesem Satz hatte er den Kopf nachdenkend gesenkt.
Arno fuhr fort. „Nun... Drei zu drei. Wir müssen sowieso eine Münze werfen."
Er holte schnell eine alte Euro-Münze – ein richtiges Souvenir aus besseren Zeiten – aus dem edlen Holzschrank hinten und ging damit zum Tisch. Der Münzkopf zeigte den antiken Priester Laokoon, der seine Zeitgenossen vor dem trojanischen Pferd warnte und dafür von ihnen getötet wurde. Was für ein Zufall.
„Kopf Tod, Zahl Leben."
Der Alte warf sie in die Höhe und fing sie dann in ihrem Fall mit der rechten Hand auf. Im Anschluss klatschte er sie auf den linken, äußeren Unterarm, wie man es üblicherweise beim Münzenwerfen tat. Bevor er wissen würde, welche Seite nach oben sah, flüsterte er irgendwas Unverständliches zu sich selbst. Das konnte man nur als eine Art Gebet interpretieren, in dem er vom vermeintlichen Schöpfer verlangte, dass es nicht Kopf werden würde. Und das Ergebnis ließ ihn erschaudern. Eine Schnappatmung und ein erschreckter Blick, als er sah, dass der Euro die Kopfseite zeigte. Jeder andere hatte es ebenfalls gesehen. Perplex wirkend setzte er sich hin.
„Es ist wohl... Kopf. Ich... Ich werde... jemanden zum Mord beauftragen.. Vergesst die Bringschuld..."
„Nicht irgendjemanden, sondern Ihren Laufburschen Ben Wolff", verlangte Juri.
„Wieso... ausgerechnet er?"
Juri seufzte. „Es ist naheliegend, ihn zu schicken, wenn er sowieso für die Sache mit dem Ring bestellt war. Außerdem wollen wir, dass das geheim bleibt. Es soll wie ein Unfall oder ein Suizid aussehen. Wir denken, dass ihr Vollstrecker den Mund halten kann. Sie haben ihn doch hoffentlich unter Kontrolle."
„Ja. Dann... soll es so sein", brachte Arno mit gebrochener Stimme heraus.
Kapitel 7: Vater-Sohn-Gespräch
Noch immer war es Sonntag. Am späteren Nachmittag sollte sich Ben alleine mit Arno in dessen Herrenhaus treffen, da ihm der Patron persönlich kurz nach dem Entscheid des Bündnisses die Nachricht übermittelt hatte, dass er sich sofort bei ihm einzufinden habe. Er war bereits dabei gewesen, mit dem Ring zu Brookshields aufzubrechen, als ihm das über sein Klapphandy mitgeteilt wurde. Ja, nur wenige funktionierende Mobiltelefone – wahre Antiquitäten - gab es noch, und Arno stattete seine engsten Handlanger jeweils damit aus. Das bedeutete in der Regel aber nichts Gutes, wenn Ben persönlich und nicht bloß über einen Anruf seine Aufträge entgegennehmen musste. Meistens waren das dann größere Hürden, die zu bezwingen waren, wie beispielsweise das Eintreiben von Verbindlichkeiten eines reicheren, mächtigeren Schuldners oder Ähnliches. Er wusste nie wirklich, was auf ihn zukommen würde.
Selbstbewusst und mit aufrechtem Gang stolzierte Ben durch die bewachte Eingangstür des Herrenhauses. Die Wachen kannten ihn und ließen ihn ohne Kontrolle passieren. Der Vollstrecker marschierte über die Treppe im Foyer in den ersten Stock rauf, wo er dann an der Tür klopfte, die zu dem Besprechungsraum des Bündnisses führte.
„Herein!", hörte Ben Arno drinnen rufen.
Er trat ein, schloss die Tür hinter sich und fand den ihm bekannten runden Tisch wieder, nur ohne Bosse oder etwaige Leibwächter. Nur Arno stand am anderen Ende des edel eingerichteten Salons und blickte aus dem Fenster, die Hände derweil in die Taschen seiner beigen Stoffhose gesteckt. Er hatte einen blauen, dünnen Wollpullover über seinem violett-weiß-gestreiften Hemd an und sah eher einem Deutschprofessor ähnlich als einem der führenden Bosse dieser Stadt. Als einer der wenigen, die eine Klimaanlage hatten, war es ihm nicht zu allzu heiß mit der dicken Kleidung.
„Du hast mich gerufen?" Ben wunderte sich über den Grund des Treffens. „Hat das irgendwas mit dem Ring zu tun? Soll ich ihm Onkel Benjamin doch nicht geben?"
Da Arno den kleinen Ben im Alter von zehn Jahren als Ziehsohn aufgenommen hatte, kannte er selbstverständlich auch Benjamin Brookshields sehr gut, den er immer als eine Art Onkel betrachtete. Und das war nicht mal so abwegig. Benjamin und Arno hatten seit jeher eine sehr brüderliche Beziehung zueinander. Dieselben Schmerzen, die sie hatten erleiden müssen, dieselben steinigen Wege, die sie beschritten hatten, dieselben Höllen, durch die sie gegangen waren... Beide am Ende an der Spitze von etwas Großem; wie zwei Ströme, die durch verschiedene Kanäle flossen, aber letztlich im selben Meer mündeten.
„Was sollte das, Ben?", fragte Arno seinen Ziehsohn in einem recht autoritären Ton. „Hast du eine Erklärung dafür?"
Wenn er diese Stimme macht... Oh nein... Was ist es diesmal?
„Erklärung für was?", wollte der Angeschwärzte wissen.
Nun drehte Arno seinen Kopf zu ihm und starrte ihn durch die viereckige Brille scharf an. „Den Jungen, den du durch die Glastür gestoßen hast... Das war einer von Momo Al-Hadads Männern."
Ich wusste es... Ich wusste es so...
„Stimmt. Erwischt. Was verlangst du jetzt von mir? Dass ich mich entschuldige?"
„Ja."
„Er war mir im Weg, hat mich beschimpft und mir gedroht." Er sprach schnell. Wie ein Kind, das beim Stehlen erwischt wurde und dafür vom Erzieher gemaßregelt wird. „Du predigst ja die ganze Zeit, wie skrupellos ich nach außen hin sein muss und wie wenig ich mir sowas gefallen lassen darf! Mehr als zwanzig Jahre lang hast du mir das so eingetrichtert! Und dass der Idiot einer von ihnen war... Meine Güte, das ist halt Pech gewesen!" Bens Temperament stieg. Er mochte es nicht gerne, sich für etwas zu entschuldigen.
„Trotzdem hast du nicht einen von unseren Verbündeten niederzuschlagen, egal, wie sehr er dich provoziert hat! Denkst du, ich erfahr' solche Geschichten nicht? Es ist immerhin nicht so, dass sowas noch nie passiert ist! Vorletzte Woche hast du einen von Sebs Bikern bespuckt! Und im Monat davor hast du Yumas Personenschützer als ‚dreckiges Schlitzauge' beschimpft! Ah, und ganz zu schweigen von dem Schwarzen, der zu Tonino gehört... Den hast du ‚Nigger' genannt! Was denkst du dir nur dabei, wenn du das tust?"
Reg' dich ab, alter Mann. Du warst auch mal so wie ich. Ein Hund warst du... Ein Hund deines früheren Chefs, bevor du ihn irgendwann erstochen hast. Du müsstest wissen, wie wertlos man sich fühlt. Diese Scheißaufträge, diese Unterwürfigkeit... Ich hab' die Schnauze langsam voll davon!
„Das hatte alles seine Gründe... Ich will nicht mit dir darüber streiten!"
„Ich auch nicht. Aber ich will, dass du damit aufhörst. Du gefährdest die Beziehungen zwischen den Clans."
„Und wenn schon..."
Gefährlicher Satz, den er besser hätte lassen sollen. Arno war das zu viel des Guten. Er drehte nun seinen ganzen Körper zu seinem Ziehsohn, schritt bedrohlich zu ihm heran und verpasste ihm dann eine belehrende Ohrfeige. Bens linke Wange färbte sich rot und man sah deutlich den Abdruck von Arnos Handfläche. Aber natürlich wehrte er sich nicht dagegen oder schlug zurück. Nein, selbst wenn er ihm körperlich hoch überlegen war, durfte er das nicht. Diesem Mann verdankte er sein Leben. Er hatte dem über den Tod seiner echten Eltern weinenden Jungen damals ein neues Zuhause gegeben, ihm alles geschenkt und ihn zu einem seiner besten Männer ausgebildet. Ben hatte seine Mutter und seinen Vater seiner Zeit durch ein einstürzendes Gebäude verloren. Das zierliche Kind war alleine reichere Leute bestehlen gewesen, während das baufällige Reihenhaus, in dem sie ihr trostloses Dasein gefristet hatten, in sich zusammenfiel und sie mitsamt ihren wenigen Habseligkeiten begrub. Der aufstrebende Arno hatte sich zu dem Zeitpunkt zufällig in der Nähe befunden und sah den erschütterten Jungen. Der über den Tod seiner Eltern schluchzende Junge hatte mit dem Gedanken gespielt, sich umzubringen, jedoch gab ihm der erwachsene Mann neuen Mut.
„Okay, okay, okay! Es tut mir Leid. Es kommt nicht mehr vor...", kam es leise aus Ben heraus. Man hörte heraus, dass es ihm tatsächlich Leid tat.
„Reiß' dich in Zukunft zusammen. Ich will solche Beschwerden nicht mehr hören. Und ewig dafür rechtfertigen kann ich mich vor den anderen auch nicht."
„Ja..." Der Ziehsohn schnaufte. „War das alles? Kann ich Onkel Benjamin jetzt den Ring geben, wie besprochen?"
Arno schluckte. „Nein. Das kannst du nicht."
„In Ordnung. Dann tu' ich es eben nicht. Willst du den Ring zurück? Ich hab' ihn hier..." Er griff kurz in seine rechte Hosentasche, wühlte dort herum und holte das goldene Stück schließlich heraus. Er war wunderschön. Man konnte fast behaupten, dass der Ring vor Prächtigkeit funkelte. „Willst du ihn?", fragte er neutral. In Anwesenheit von Arno war Ben ein komplett anderer Mensch. Das lag wohl daran, dass er hier seine Fassade fallen lassen konnte, ohne irgendwas Schlimmes zu befürchten. Obwohl er die Heuchler dieser Welt jedes Mal kritisierte, war er im Grunde selbst einer von ihnen.
„Lass' das für's Erste. Es geht nicht nur um das."
Nun sah der Vollstrecker wirklich verdutzt aus. „Was willst du noch?"
„Du musst..." Man merkte deutlich, dass sich der Clanchef schwer damit tat, den Rest des Satzes auszusprechen. Schließlich wusste er auch, wie viel ihm sein Onkel bedeutete. „Benjamin umbringen."
Schweigen. Der Mund von Ben blieb offen, als er das hörte. Er konnte es nicht glauben, nicht wahrhaben, was sein alter Herr da gerade faselte. Wirres Zeug, vermeintlich.
War das... sein Ernst? Ein Scherz, oder? Es kann nur einer sein!
„Ich... ich versteh' nicht... ganz?"
Arnos Blick blickte trauriger drein. „Er muss sterben, hörst du?"
„Das... kann doch nicht wahr sein! Du willst deinen Bruder umbringen? Und noch dazu soll ich das für dich machen?" Blankes Entsetzen machte sich in Ben breit. Er begann, schneller zu atmen und sein Herz pochte rapide. „Das... das ist... Wahnsinn!" Das typische Gefühl, das jeder kennt, wenn man eine Schreckensnachricht erhält.
„Fang' dich jetzt mal! Meinst du, ich würde dich anlügen? Oder blöde Späße machen?" Arno wurde lauter im Ton.
„Wieso in... aller Welt willst du ihn töten? Warum?" Bens kalte Augen wurden ganz langsam größer und zeigten etwas wie starke Betroffenheit. Langsam kam die Phase der Realisierung.
„Ich hab' das nicht entschieden! Ich wollte es nicht! Was glaubst du denn? Aber das Bündnis hat es so gewollt! Komm' mir ja nicht damit, dass es wer anders machen sollte! Sie wollten dich als seinen Mörder haben! Du musst es wie einen Selbstmord aussehen lassen! Keiner darf davon erfahren, dass es geplant war! Niemals! Nicht mal Blake!"
„..."
Wieder sagte sein adoptiertes Kind nichts, sondern atmete nur schwer vor sich hin. Die Bestürzung, die Fassungslosigkeit und die Wut in Kombination waren ihm stark anzusehen.
„Ben! Willst du schlapp machen?"
Nie hätte ich das gedacht... Brudermord. Und das von dir? Ausgerechnet von dir?
„Sag' mir wieso..." Flüsterton.
„Was gibt's da noch zu erklären? Die anderen haben sich dazu entschieden! Damit muss man leben, auch wenn's schwer ist! Du wirst es irgendwann vergessen haben!"
Ein wahrer Mann würde nie seine eigene Familie so hinterhältig verraten... Was ist in dich gefahren?
Ben setzte sich auf einen Stuhl am runden Tisch – Momos gewöhnlicher Sitzplatz – und stützte seinen Kopf mit seinen beiden Händen ab. Eine geschätzte Minute verging, in der er nur gerade aus auf die gegenüberliegende Wand starrte, ersichtlich innerlich erschüttert.
Nach der Minute schaffte er es, wieder zu sprechen. „Die anderen, sagst du..." Nun schaute er zu dem neben ihm stehenden Vater auf. Er sah ihm direkt ins Gesicht, um seine Reaktion erkennen zu können. „Immer sind's die anderen, die dich interessieren... Egal was passiert, es ist nur wichtig, dass sie zufrieden sind und das scheiß Bündnis erhalten bleibt... Gib's doch zu, was anderes hat dich eh nie gekümmert, oder? Das ist alles für dich, das Bündnis!"
„Rede nicht, wenn du keine Ahnung hast!", verteidigte sich der alte Mann und war sehr laut dabei.
„Und wie ich rede!" Das Adoptivkind sprang förmlich vom Sessel auf. Dabei schmiss er ihn wutentbrannt um. Die Phase des Zorns. „Du willst Benjamin für diese anderen Bastarde töten?"
„Du verstehst das nicht, Bursche... Eines Tages wirst du es jedoch."
„Das sagst du jedes Mal!", brüllte ihn Ben an und fletschte wie ein zorniges Tier mit den Zähnen. „Jedes Mal!"
„Ich hab' mein Leben lang für den Frieden zwischen den Clans gekämpft! Mein ganzes scheiß Leben! Was weißt du schon davon, wie viel Kraft, Zeit und Leid es mich gekostet hat? Über wie viele Leichen ich gegangen bin? Glaubst du, mich verletzt es nicht?", schrie Arno zurück. „Wenn es wieder zu Bandenkriegen kommt, werden wir alle sterben! Jeder Einzelne von uns! Du hast von den Kämpfen früher nicht viel mitbekommen, weil du noch ein kleiner Bengel warst, der von mir durchgefüttert wurde! Du hast keinen blassen Schimmer davon, wie dieses Spiel funktioniert!"
„Das rechtfertigt gar nichts! Das zeigt nur, wie wenig wir dir bedeuten! Dein Lebenswerk ist wichtiger als er? Du nennst ihn deinen Bruder! Geht das nicht in deinen sturen, selbstbezogenen Schädel rein?"
Was bist du bloß für ein Mensch?
„Sei still und tu' das, was ich dir sage! Manchmal treffen Leute wie ich Entscheidungen, die jemand wie du nie verstehen kann!"
„Ich hab' genug davon!"
„Du wirst es tun und mir den Ring geben! Und zwar etwas plötzlich!"
„Nein!"
Arno seufzte. Er erkannte, wie hoffnungslos es war, seinen Handlanger zum Handeln zu bewegen. „Nun gut...". Der Clanchef drehte sich um und ging zur anderen Tischseite. Eine gewisse Distanz baute er zu seinem Ziehsohn auf. „Du kannst dich gerne weigern... Wenn du das unbedingt willst, na, dann kann ich dich nicht aufhalten."
Das wirst du sicher nicht können...
Der Alte setzte seinen Satz fort. „Aber... Ich werd' dir eines sagen: Wenn der Ring nicht bald rausgerückt wird und Benjamin erledigt ist, wollen die anderen dich tot sehen. Sie werden von mir verlangen, dass ich dich ihnen ausliefere oder selbst bestrafe. Ich versprech' dir, ich werd' versuchen, sie davon abzuhalten, aber ewig wird es nicht gehen. Und bevor sie selbst handeln und ich den Zusammenhalt riskiere..." Der Gesichtsausdruck sagte genug. Es brauchte keine weiteren Worte, um zu erläutern, was Arno damit meinte.
Ben konnte die Sätze seines Vaters nicht fassen. Er hatte kein bisschen Verständnis dafür übrig. Nicht mal im Ansatz. Konnte man ihm einen Vorwurf machen?
„So ist das also... Sogar mich würdest du für deinen Plan ans Messer liefern."
„Ja. Ich würde lügen, wenn's anders wäre. Du solltest jetzt besser gehen. Behalt' von mir aus deinen Ring. Ich glaube, du wirst selbst bald erkennen, was du zu tun hast. Entscheid' dich richtig."
Das werd' ich... Meinetwegen trennen sich unsere Wege. Nach so vielen Jahren... Du hast mir dein dreckiges Gesicht gezeigt. Sie sind am Ende alle gleich. Jeder unterwirft sich seinen Träumen, seinen Plänen oder Prinzipien... Sogar du, Papa.
„Hm..."
„Hast du mir noch was zu sagen, Ben?"
„Es gibt eine Gruppe. Hab' die letztens getroffen. Ich glaub' es sind drei Kids, die das leiten... Sie haben angeblich schon viele Anhänger im Untergrund gefunden. Sie wollen ihre Stadt zurück haben... Frankfurt am Main frei von Gangs oder Konzernen machen..."
„Und weiter? Interessiert mich das? Willst du mir etwa drohen?" Unbeeindrucktes Gesicht.
„Wohl kaum... Nur ihr Anführer – Paul heißt der Bursche -, der ist genauso wie du früher. Ausstrahlung, Charisma, Initiative... Gleich wie bei dir."
„Ach Ben... Was habe ich dir all die Jahre über solche Hirngespinste erzählt? Staatsverweigerer, Punks, Kommunisten, Jugendbanden... Diese ganzen Strolche haben keine Relevanz in diesem Kampf. Sie werden jedes Mal aufs Neue ausgemerzt, wenn ihr Höhenflug zu weit geht. Ihr Leben ist kurz."
Der Vollstrecker schüttelte den Kopf. „Diesmal nicht... Die sind anders. Davon bin ich überzeugt."
„Wie du meinst... Wenn du so unbedingt die Seiten wechseln willst..."
Ben spuckte provokant auf den runden Tisch, wissend, dass das Arno am meisten kränkte. Danach – ohne auf die Antwort Arnos zu warten – kehrte er ihm den Rücken zu und verließ hastig den Raum und schließlich auch das Herrenhaus. Arno indes nahm die Respektlosigkeit seines Ziehsohnes überraschend gelassen hin und wischte den Speichel mit einem Taschentuch auf.
„Verständlich, der Zorn...", sagte er zu sich selbst. „Er wird sich einkriegen... Das wird er."
Kapitel 8: Königskinder
„Bitte! Ein bisschen! Ganz wenig nur!" Der bärtige Bettler mit seiner zerrissenen Hose und seinen kaputten Schuhen flehte Ben an, der nur mehr einige Meter vom Haupteingang des prächtigen Main-Towers – dem Wohnort der Brookshields-Familie – entfernt war. Sein Oberteil hatte er wohl der Gluthitze des Tages geopfert, weshalb sein nackter Oberkörper von Sonnenbränden gezeichnet war. „Ich brauche was zum Trinken und Essen!" Der am Boden herumkriechende Obdachlose sah aus wie ein Skelett. Er hatte offenbar seit Wochen nichts mehr zu sich genommen.
Ben war den Bürgerweg vor dem Gebäude entlang gegangen, und es war gewiss keine Seltenheit, dass sich derartige Menschen vor Brookshields Zuhause versammelten, um mit dem Mitgefühl der eintretenden Gäste oder Geschäftspartner zu spielen. Besonders an Montagsnachmittagen wie diesen war das oft der Fall. Der Vollstrecker allerdings zeigte keine solche Barmherzigkeit, sondern marschierte kommentarlos an ihm vorbei. Das wollte der Bettler allerdings nicht hinnehmen und packte Bens rechten Fuß.
„Bitte! Bitte! Versteh' mich!", winselte der Dürre.
Sein Vorhaben aber scheiterte. Ben brauchte nur etwas mit dem Bein zu wackeln und schüttelte ihn somit buchstäblich ab. „Das kannst du vergessen! Fass' mich nicht an!"
Das ist der Zwölfte heute... Wird immer schlimmer mit denen. Dass Benjamin nicht mal was dagegen unternimmt und dieses Gesocks vertreibt.
Der Mittellose machte ein trauriges Gesicht und kroch weiter. Er machte sich daran, seine Masche bei einem anderen, wohlhabender aussehenden Bürger zu probieren. Ben hingegen ging weiter auf die riesige Eingangstür zu, wo er einige von Sebs Kästen erkennen konnte. Seine Personenschützer waren die effektivsten von allen Clans, deswegen machte er damit ein gutes Geschäft.
Die könnten den Auftrag genauso erledigen wie ich... Nur scheißen sich diese Clanführer davor an, feige wie sie sind.
„Na sowas... Wen haben wir denn hier? Ist ja Ewigkeiten her, als du das letzte Mal da warst!" Ein muskulöser Biker mit kurzem Leder-Gilet und grauer Jogginghose erblickte den Eintreffenden. „Ben Wolff. Ein Dauergast. Seit mehr als zehn Jahren bewach' ich diese Tür schon, und dich hab' bis jetzt so oft einkehren seh'n. Warst noch 'n kleiner Hosenscheißer, wo du am Anfang hergekommen bist mit deinem Papi. Bist inzwischen 'n richtiger Kerl geworden!" Der Wächter war sogar größer als Ben, dafür umso hässlicher mit seiner Halbglatze und seinen paar verfaulten Zähnen.
„Sei leise, Bo." Der Vollstrecker kannte den Namen des Mannes sehr gut.
„Du kennst das Verfahren noch, nehm' ich an, ne?"
Der Mundgeruch des Türstehers sorgte für Ekelgefühle. „Ja... Zu gut."
Ben musste – wie bei jedem Besuch hier – seine Arme austrecken und sich von dem Türsteher mit dem Namen Bo auf etwaige versteckte Waffen abtasten lassen.
„Solltest du nicht mittlerweile gecheckt haben, dass ich nie eine Waffe mit hier her schleppe?", wollte Ben wissen, nachdem Bo gerade mit dem Abtasten der Beine fertig war. „Mich nervt der Scheiß."
Und eine Waffe brauch' ich für den Auftrag sicher nicht.
„Ist aber Vorschrift." Der Biker beendete seine Untersuchung und öffnete Ben die schwere, eiserne Hochsicherheitstür. „Viel Spaß."
„Danke."
Der Ziehsohn Arnos ging ins Innere des Main-Towers, wo er sich in der Eingangshalle wiederfand. Luxuriös. Marmorfliesen, zahlreiche Pflanzen, moderne Kunst an den weißen Wänden... Rote Teppiche und Absperrschnüre führten zu diversen Schaltern, wo sich attraktive Damen befanden, bei denen man sich als Besucher anmelden konnte. Neben Ben gab es noch andere scheinbare Gäste hier im Foyer, die jedoch im starken Kontrast zu Ben alle Anzug und Krawatte trugen. Der verwegene Quasi-Neffe Benjamins fiel mit seiner abenteuerlichen Optik eher auf und kassierte so merkwürdige Blicke. Das war ihm aber gleich. Er drängte sich ganz dreist in der Schlange nach vorne zum Schalter.
„Hey! Sie da! Hinten anstellen!", belehrte ihn ein weiterer Anzuträger mit brauner Hornbrille und langen Locken, der anscheinend der Nächste gewesen wäre.
„Ruhe!", rief Ben zurück und widmete sich dann der hübschen Blondine hinter dem Schalter. „Ich bin Ben Wolff. Ich muss sofort Onkel Benjamin sprechen. Es ist wichtig."
Die blonde Frau lächelte und tippte den Namen des Gastes in einen – eher altertümlichen – Computer ein. Sie musste prüfen, ob er zugangsberechtigt war und das Bild am Gerät mit seinem Gesicht übereinstimmte.
„Ah..." Sie wurde fündig. „Sie dürfen rein. Ich werde ihn anrufen und ihm sagen, dass er sich mit Ihnen im Wohnbereich des 55. Stocks treffen soll. Sie können schon zum Lift gehen; sagen Sie dem Liftjungen, wo sie hin wollen."
Das obere Viertel des Turms diente allein als Wohnraum für Brookshields. Zwei Etagen machten beispielsweise ein Fitnessstudio aus. Die restlichen, unteren Stockwerke standen entweder leer, fungierten als Büroräume von Brookshields Administration oder wurden an andere Reiche vermietet.
„Vielen Dank, Fräulein..."
Ben ging mit frustrierter Miene zu dem besagten Aufzug und teilte dem dürren Liftjungen die gewünschte Etage mit. Dieser nickte und drückte den Knopf, der sie zu dem Obergeschoss bringen sollte. Die typische Hintergrundmusik schaltete sich ein. Harmlos, beruhigend, fast schon witzig... Völlig unpassend zu dem Auftrag, den er zu erledigen hatte. Während der Aufzug nach oben fuhr, schloss Ben seine Augen und versuchte, sich durch regelmäßiges, tiefes Ein- und Ausatmen zu beruhigen. Es funktionierte nur bedingt. Die Nervosität war immer noch präsent und schien kaum zu schwinden. Verständlich in dieser Situation. Mit zunehmender Höhe stieg auch der Grad der Verunsicherung. Da half die liebliche Musik wenig.
Ruhig, ruhig, ruhig... Ich hab' nichts zu befürchten. Ich weiß genau, was ich tun werde.
Endlich klingelte der Fahrstuhl und stoppte die Fahrt.
„Auf Wiedersehen, mein Herr", verabschiedete sich der Liftjunge und betätigte einen Knopf, der die Tür aufgehen ließ. Ben trat aus und der Fahrstuhl schloss sich wieder. Er fuhr wieder hinab.
Einen kleineren Flur musste er entlang gehen, um direkt im Wohnzimmer des Unternehmers anzukommen. Nobler Parkettboden. Rechts eine moderne High-Tech-Küche, links ein Weinschrank mit den edelsten Tropfen, an der Wand überall abstrakte Kunstwerke. Neben dem Weinschrank auf der linken Seite befand sich eine Treppe, die in die Schlafräumlichkeiten des Hausherrn führte. Allerdings sah man neben den Weinen noch einen wertvollen Plattenspieler, dutzende Bücherregale und einen Ebenholz-Schreibtisch an der Wand. In der Mitte des riesigen Zimmers war ein Halbkreis aus roten Chesterfield-Sofas, die auf einen gigantischen Flachbildfernseher gerichtet waren. Eine teure Klimaanlage sorgte für eine angenehm kühle Temperatur. Das gesamte Wohnzimmer war von großen, kugelsicheren Fenstern umgeben, durch die man die endlosen Weiten der Dürre und der Trostlosigkeit Frankfurts sehen konnte. Das derzeit höchste Bauwerk der Stadt. Unten das Elend, oben das Paradies. Ben fand, dass der Turm wegen seiner enormen Höhe etwas Königliches an sich hatte, wobei man tief fallen konnte. Und der König Benjamin Brookshields selbst saß auf der mittleren Couch und sah sich einen Spielfilm an, der gerade im Fernsehen lief.
Ben näherte sich vorsichtig und äußerst aufgeregt an. „Onkel... Benjamin?"
„Ben! Mein Junge, setz' dich!", forderte ihn der erfreute, alte Mann auf, der selbst als Freizeitkleidung ein grünes T-Shirt und eine blaue Jeans trug. "Hab' schon gehört, dass du kommen sollst!"
Der Neffe ließ sich neben seinem scheinbar liebevollen Onkel nieder und gab ihm die Hand.
„Seit wann schaust du fern? Und musst du nicht arbeiten?", wollte Ben in Erfahrung bringen.
„Hab' heute schon genug getan. Schau' mal genau hin." Der Zeigefinger des Alten wanderte auf den Flachbildschirm. „Siehst du, was für ein Sender das ist?"
„Ageloin1... Das Logo rechts oben."
„Richtig. Den hab' ich aufgekauft."
„Aber da... läuft doch normalerweise nur schwachsinnige Dauerwerbung, oder? Wer schaut sich das freiwillig an?"
Benjamin grinste. „Ja. Das stimmt schon so. Hab' jetzt jedoch den Auftrag gegeben, mehr Spielfilme zu drehen. Nicht, weil ich so ein Fan der Filmkunst bin... Nein, der Streifen zum Beispiel, der grade läuft, der handelt von einem halb-verdursteten Familienvater, der in Frankfurt am Main Arbeit in einer Wasserreinigungsanlage findet und dadurch seine Frau und Kinder wieder ernähren kann. Das ist ein etwas subtilerer Weg, um Leute anzuwerben. Ich brauch' mehr Freiwillige, nicht nur arme Schlucker, die sich wegen ihres Verzugs in Leibeigenschaft begeben."
Ich bin nicht zum Quasseln hergekommen... Ich muss handeln, und das bald!
„Gut, Onkel, gut... Ich mu... muss dir..." Ben kam ins Stottern. „... was sagen."
Der Onkel, der seine beiden Arme gemütlich über die obere Sofa-Kante gelegt hatte, sah nicht überrascht aus. Es gab keinen Grund dafür. „Sonst hättest du dich kaum mit mir getroffen, hm? Ist ja jetzt fast drei Jahre her, als du das letzte Mal bei uns zu Besuch warst. Blake war damals noch achtzehn."
„Ja..." Der Vollstrecker blickte mit weit geöffneten Augen zum Boden hinab.
„Was hast du denn? Du siehst so... mitgenommen aus?"
„Ich weiß... Ich weiß... Hab' die Nacht keinen Schlaf gekriegt und so. Du weißt ja, wie das ist..."
Ich muss es tun. Die Dinge werden sich für jeden von uns ändern, auch für dich, Papa... Ich tu's...
„Hast du mir was mitzuteilen? Eine Nachricht von Arno?"
Jetzt!
„Nein..." Ben führte seine Hand schnell in seine Hosentasche, holte dort etwas heraus und präsentierte Benjamin den goldenen Familienring mitsamt Emblem. „Der hier... Ich hab' ihn zurückgebracht. Dein früherer Buchhalter Max Altbruck hat ihn dir gestohlen."
„Oh mein Gott!" Brookshields nahm den Ring sofort entgegen und beäugte ihn genau. „Das... ist er! Endlich! Du bist mein Held! Ich dachte schon, er wäre für immer weg!" Sein Blick ging wieder zu seinem Neffen. „Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Junge!"
„Kein Problem... kein Problem."
Unaufgefordert umarmte Benjamin den Retter seines Rings und gab ihm sogar ein freundschaftliches Küsschen.
„Nicht zu danken, Onkel" Der Überbringer fühlte sich wahrlich geschmeichelt und wurde sogar ein bisschen rot im Gesicht.
„Wenn du irgendwas brauchst, ich besorg's dir! Sei dir sicher! Du hast was gut bei mir!" Benjamins fröhliches Dauerlächeln hörte nicht auf. „Max Altbruck... Der senile Buchhalter... Egal, jetzt hab' ich das Teil wieder! Dank dir!"
Der Besucher stand vom Sofa auf. „Ich muss jetzt nur weiterziehen. Die Aufträge rufen. Es ist nicht leicht, dieser Job."
Was hältst du davon, Arno?
Brookshields Senior stand ebenso auf und umarmte erneut seinen Neffen. „Dann will ich dich mal nicht aufhalten. Aber komm' bald wieder! Ich werd' für dich ein Festessen organisieren!" Er klopfte ihm noch zweimal sanft auf den Rücken. "Vielleicht kommt Blake dazu! Dann seht ihr euch endlich mal wieder!"
„Danke, danke für alles... Bis bald!"
„Bis bald!"
Zufrieden ging Ben wieder zur Fahrstuhltür und wartete dort, bis sie sich öffnete. Er stieg schließlich ein und sagte dem Liftbuben, er solle ihn wieder ins Erdgeschoss bringen. Die Tür schloss sich also und der Aufzug ging nach unten. Wieder die wahnsinnig-machende Musik. Die sollte aber nun das geringste Problem sein. Der Lift stoppte plötzlich schon zwei Stockwerke unter Benjamins Wohnzimmer, wo sich die hauseigene Kraftkammer befand. Die Aufzugstür ging auf und ein Passagier trat ein, der Ben allzu gut bekannt war.
„Oh, Ben!" Der im weißen Sportanzug gekleidete Blake hatte ein Handtuch über seine rechte Schulter gehängt und hielt mit der linken Hand eine Wasserflasche. Er kam gerade vom Muskeltraining und war nun umso überraschter, als er den unerwarteten Mitfahrer sah. „Was machst du hier, Cousin?"
Der Lift fuhr weiter nach unten.
„Blake!" Ben spielte seine Freude vor und lächelte gekünstelt. Er mochte Blake nicht. Er hatte den arroganten, viel jüngeren Schönling immer schon verachtet für seine widerliche Art.
Ausgerechnet ihn muss ich treffen... Was für ein Pech.
Bei Blake war es ähnlich. Er hielt nie viel von dem schmutzigen Gossenkind, das keine Manieren kannte und stets nach Dreck roch, obwohl er - wie er selbst - ein Königssohn war. Doch sie waren keineswegs vom gleichen Schlag. Genau genommen konnten sie gar nicht unterschiedlicher sein.
Ben Wolff... Du ‚Vollstrecker'. Du hast dich kein Stück verändert. Ich weiß gar nicht, wen ich mehr hasse: Dich oder deinen Arno.
„Was hast du hier gemacht? Warst du bei meinem Vater oben?", fragte Blake nach.
„Ja. Hab' ihm den Familienring gegeben. Den hab' ich bei einem Auftrag wiedergefunden und ich dachte mir, ich bring' ihn einfach zurück."
Du würdest nie so selbstlos sein, Ben. Lüg' mich nicht an. Du heckst irgendwas aus. Du hättest ihn sonst selbst verkauft.
„Das ist aber nett von dir! Ich mein', ich hab' nie ganz kapiert, warum ihm der Ring so wichtig ist, aber trotzdem... Gute Arbeit, Cousin. Ich werd' unten auf der Straße mein Training fortsetzen. Muss noch ein paar Kilometer laufen."
„Nicht schlecht." Ben hatte überhaupt keine Lust auf ein Gespräch zwischen ihm und Blake. Aber er musste dennoch das Beste daraus machen.
„Und, wie geht's dir sonst so?"
„Wie's mir geht?" Der Vollstrecker sah ihn herablassend an. „Nun ja, eigentlich echt mies, um ehrlich zu sein."
„Wieso das denn?", wollte Blake wissen.
Ob ich's ihm sagen soll?, überlegte Ben. Das wäre was... Er wird's seinem Alten erzählen und dann trennt sich Benjamin hoffentlich von Arno. Damit kann ich es ihm zeigen. Ihnen allen. Wie das Bündnis blöd aus der Wäsche starren würde... Der Gedanke allein ist zu gut. Er soll's ruhig spüren, meine Revanche. Ich bin kein Hund mehr. Ab heute bin ich mein eigener Mann.
„Arno wollte eigentlich, dass ich deinen Vater umbringe und den Ring an das Bündnis abgebe, damit die ihn verkaufen und den Betrieb übernehmen können. Das war der Auftrag. Aber ich hab's nicht übers Herz bringen können", sagte er so trocken, dass es fast wie geschauspielert wirkte.
Meint Ben das gerade ernst?, fragte sich Blake sofort. Nein... Absurd ist das. Völlig krank! Arno würde meinen Vater nicht töten. Niemals. Das war sicher das Bündnis, von dem der so viel hält.
„Das ist... Ach was, du lügst!" Blake hörte sich empört an.
„Nein. Ganz und gar nicht. Es ist leider die Wahrheit."
Benjamins Sohn dachte bereits einige Schritte weiter. Wäre besser gewesen, wenn du es mir nicht gesagt hättest, du Trottel.
„Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll... Dass Onkel Arno sowas befehlen würde? Ich kann das ehrlich gesagt nicht fassen!"
„Glaub' mir, ich konnte das auch nicht."
„Erschreckend! Aber was machst du jetzt? Arno wird das nicht freuen. Er wird sich doch rächen wollen, ne?"
„Das kann er ruhig." Der Lift erreichte mittlerweile das Pattere und beide Insassen stiegen aus. Sie gingen in Richtung Haupteingangstür. Ben war so froh darüber, nicht mehr in einem Raum mit ihm eingeschlossen zu sein.
Blake reichte Ben die Hand zum Abschied. „Ich wünsch' dir jedenfalls viel Glück weiterhin, Ben. Man sieht sich!"
Widerwillig nahm der Vollstrecker diese entgegen. „Ja. Man sieht sich, Blake. Man sieht sich..."
Kapitel 9: Blakes Wahn
Blake, der seinen unliebsamen Quasi-Cousin vorhin im Lift angetroffen hatte, machte sich nun auf den Weg, sein Laufprogramm auf den belebten und gefährlichen Straßen vor dem Main-Tower fortzusetzen. Er verließ die prägnante Eingangshalle des Turms über einen Hinterausgang, der nur für Leute bestimmt war, die hier entweder lebten oder arbeiteten. Seine Wasserflasche hielt er in der rechten Hand fest und das weiße Handtuch legte er simpel über seinen Nacken. Das störte ihn keineswegs – immerhin brauchte er die zwei Sachen. In einer derartigen Hitze wie an diesem Sonntag laufen zu gehen glich einer Selbstverstümmelung. Die meisten mieden es, an Tagen wie diesen überhaupt erst raus zu gehen, solange sie nicht mussten. Vor allem wäre es viel klüger gewesen, wenigstens in der kühleren Nacht zu joggen. Aber Blake war das gleich. Ihm machte die Hitze nichts aus, zumindest psychisch nichts. Oftmals kam er von derartigen Ausflügen mit stechenden Sonnenbränden oder Hitzeschlägen zurück, die er allerdings allesamt bewusst in Kauf nahm. Er war der Auffassung, dass das Lauftraining unter diesen Bedingungen eine größere Herausforderung sei, die ihn stets stärker machen würde. Ja, er liebte das Extreme. Scheinbar undenkbare, untunliche Tätigkeiten gaben ihm den gewissen Kick, den er brauchte, um seine endlose Langeweile zu bekämpfen. Einmal hatte er vom Dach seines Zuhauses ein Seil um den Masten gesponnen, es fünfzehn Meter in die Tiefe geworfen, sich an dieses geklammert und war um den runden Turm geschwungen – völlig ohne zusätzliche Sicherung, nur mit der Kraft seiner geballten Hände. Ein anderes Mal hatte er sich unter Kokain gesetzt und war nur mit einem Golfschläger bewaffnet auf drei Tschetschenen losgegangen, die sich in einer Seitengasse vor seinem Domizil befunden hatten. Aus diesem Konflikt war er – den vielen Narben zu trotz – siegreich hervorgegangen, nicht zuletzt deswegen, weil er keine Hemmschwelle oder etwas Vergleichbares besaß.
Und auch jetzt war nicht die Hitze allein das Gefährliche an seinem Vorhaben. Die Menschen vor dem Turm und auf der breiten Junghofstraße kannten Blake Nathaniel Brookshields als den legitimen Nachfolger jenes Mannes, der zu einem beachtlichen Teil an ihrer Misere schuld war. Obwohl der Großteil der Städter wusste, dass er bei einem Angriff auf ihn mit schweren Konsequenzen zu rechnen hatte, kam es nicht selten dennoch zu körperlichen Attacken oder Verfolgungen durch Einzelne. Meistens konnte Blake dann davonlaufen oder ein Handgemenge für sich gewinnen, aber er war sich nie sicher, ob er es beim nächsten Mal lebend nach Hause schaffen würde. Das machte es so aufregend für ihn.
Er verließ in seiner Trainingskleidung den Hintereingang und fand sich recht rasch auf der besagten Junghofstraße, die als eine Art Hauptstraße fungierte, wieder. Der junge Mann lief in die westliche Richtung, würde später einen Bogen machen und wieder über den Haupteingang in den Tower gelangen. Das war sein Plan.
Bald schon schwitzte er wie wild, hechelte und spürte die ersten Verbrennungen auf den Oberarmen und im Nacken. Die Stiche ignorierte er. Viele Menschen wagten sich bei den Temperaturen nicht raus. Nur die typischen Stricher, Prostituierten und üblichen Verrückten konnte er sehen. Lediglich ein paar realisierten, wer da gerade an ihnen vorbeilief.
„Der Bastardsohn! Du scheiß Arschloch!", grölte ein Besoffener, der am Boden hockte und neben dem bereits reichlich Erbrochenes – wohl aus seinem Mund – lag. Der Trunkenbold hatte in der Distanz den herannahenden Läufer gesichtet.
Blake allerdings verpasste dem armen Tropf noch im Rennen einen Tritt mit dem rechten Bein in dessen Gesicht. Der wehrlose Trinker schrie vor Schmerz auf, indes Benjamins Sohn sein Programm fortsetzte und über das vorangegangene Treffen mit Ben Wolff nachdachte. Das hatte Priorität.
Das, was der Vollstrecker ihm über seinen Vater und den angeblichen Mordauftrag gesagt hatte, beschäftigte ihn sehr. Es ging ihm nicht mehr aus dem Schädel.
Arno lässt sich von Seb, Yuma und wie sie alle heißen dazu überreden, meinen Vater umzubringen. Das dreckige Bündnis... Die wollen den Konzern übernehmen und mehr Profit schlagen. Und weil Arno ein opportunistisches Schwein ist, das nur an sich und seine Allianz denkt, lässt er das noch zu!
Das Schwitzen wurde schlimmer, die Körpertemperatur stieg an und er wurde langsamer. Eine Gruppe von Schwarzen am Straßenrand, an denen er vorbeirannte, starrte ihn hasserfüllt an und schimpfte ihm irgendwas Unverständliches in ihrer Sprache nach.
„Brookshields Limited! Das sauberste Trinkwasser in ganz Europa! Überzeugen Sie sich selbst!", ertönte es im Anschluss laut aus einem Riesenbildschirm, der an einer mit Rissen gezeichneten Hausmauer angebracht wurde. „Brookshields Limited schafft Arbeit, Sicherheit und Wohlstand für jeden!"
Als Blake diesen Bildschirm passierte und seinen desinteressiert wirkenden Blick einige Sekunden lang auf diesen richtete, sprach er zu sich selbst. „Was für ein Schwachsinn... Seine Sprüche waren schon mal besser."
Eine hauchdünne, stark tätowierte und mit Piercings gezierte Passantin, die sich zuvor die Reklame am Fernseher angesehen hatte und nun den Sohn des Geschäftsführers erblickte, lief ihm hastig nach.
„Hey du! Stehen bleiben!"
Blake sah kurz nach hinten, antwortete ihr aber nicht und lief weiter.
„Ja, du! Ich hasse dich und deinen Papa! Blöder Wichser du! Ihr habt meinen Mann getötet! Ihr habt ihn mit Fieber auf die Straße gesetzt, ihr Mörder!", beschuldigte sie ihn.
Ob das der eine Kerl von letzter Woche war? Mpf, mir egal. Es werden so viele Kranke rausgeworfen, da verliert man irgendwann den Überblick...
Die zierliche Frau bekam alsbald Seitenstechen und hatte keine Ausdauer mehr, um ihm weiter nachzulaufen. Sie gab auf. Blake jedoch war mit den Gedanken nach wie vor woanders.
Warum sollte mir Ben das sagen? Ich werd' aus dem Kerl einfach nicht schlau... Er hat was vor, so viel ist sicher. Der Hund wird ja wohl mittlerweile erkannt haben, was für ein Sklave er ist. Mit seinen Prinzipien und seinem dummen Ehrenkodex, den er da hat... Das hat mich immer so angekotzt. Jetzt will er Arno eins auswischen und denkt wahrscheinlich, dass ich das meinem Vater petze und er sich mit Arno zerstreitet. Darauf kannst du lange warten, Ben Wolff.
Blake spielte offenbar mit dem Gedanken, diese brisante Information nicht weiterzugeben. Zumindest vorerst nicht. Man konnte von seinen hirnrissigen, selbstmörderischen Freizeitaktivitäten halten was man wollte, aber wenn es um Intrigen oder Kognitives ging, war er ein Meister seines Faches. Ja, da war er selbst seinem alten Herrn überlegen. Schon auf dem Internat – es gab ein paar davon im Osten Deutschlands, wo nur die Reichsten hingehen konnten – stach er seine Gegenspieler jedes Mal perfide aus. Er log, schwärzte seine Konkurrenten an, verbreitete üble Gerüchte und fälschte sogar belastende Beweise, nur um beispielsweise zum Schulsprecher zu werden. Einen Feind in der Klasse lockte er einmal nach dem Unterricht unter einem Vorwand in das leere Klassenzimmer, wo er ihn dann windelweich prügelte und es später so geschickt darstellte, dass sein Opfer von der Schule flog. Zuvor hatte er dem Jungen ein scharfes Messer in dessen Tasche gegeben und feierte sich dann selbst als derjenige, der einen angeblichen Amoklauf abgewendet hatte.
Es war klar, dass die Clans eines Tages meinen Vater loswerden wollen... Ihre Existenz stört! Ich muss anfangen, in größeren Dimensionen zu denken! Ich würd' das verfluchte Unternehmen mit seinem Tod sowieso erben. Trotzdem will ich dann nicht der nächste Tote oder die neue Marionette von denen sein! Wenn ich je so werde wie mein Vater, schneid' ich mir die Zunge aus dem Mund! Die Spitze ist es, wo ich hin muss... Ich muss sie killen, sie alle. Jeden Einzelnen. Keiner darf überleben. Wobei ich es ruhig angehen sollte... Einer nach dem anderen!
Mittlerweile war es so weit, dass seine Haare komplett nass waren und der gesamte Körper den Schweiß förmlich auf den harten Betonboden fließen ließ. Jeder andere wäre längst zusammengebrochen oder hätte angehalten. Nur er nicht. Er lief weiter und weiter. Drinnen könnte er es sich in seinem Infinity-Pool gemütlich machen oder endlos Wasser trinken. Dieses Wissen trieb ihn vermutlich an. Seine Strecke war fast vorbei und er lief gerade über die Neue-Mainzer-Straße auf den Haupteingang zu. Diesen konnte er allmählich erkennen. Weit hatte er es nicht mehr wirklich. Seinen Tunnelblick fixierte er auf dieses große Tor, vor dem erneut der ihm ebenfalls bekannte Wachmann Bo und seine Kumpanen standen. Alles andere um ihn herum versuchte er auszublenden.
Dann geschah es. Jemand brachte ihn zum Stoppen, so kurz vor dem Ziel.
„Bitte! Wasser! Wasser!" Eine dürre, am Boden liegende Gestalt hatte sein Bein erfasst und ließ ihn nicht los. „Herr Brookshields, bitte!"
Es war paradox. Das war derselbe Bettler, der zuvor auch Ben Wolff um Trinkwasser gebeten hatte. Immer noch oberkörperfrei, immer noch bettelnd vorm Haupteingang, immer noch die Dutzend Sonnenbrände, immer noch das gleiche, terrorisierte Gesicht. Lange würde es der Obdachlose nicht mehr machen, das war evident.
„Lass' mich los!" Blakes emotionsloser Gesichtsausdruck wurde abrupt zu einem total erzürnten. Er hasste sowas. Er hatte für diese Gattung Mensch nicht den geringsten Respekt über. Der Läufer sah sich deutlich höher gestellt. „Mach', dass du wegkommst!" Der Verwesungsgeruch des Kriechenden brachte Blake fast zum Erbrechen.
Blake schüttelte – wie Ben zuvor – sein Bein, doch der dünne Mann ließ nicht locker. Er hatte sich so fest daran geklammert, dass der junge Herr ihn erst mit einigen Faustschlägen loswerden konnte. Die Schläge auf den Beinahe-Toten verursachten kleinere Platzwunden in dessen Gesicht. Er lag nun am Boden, griff sich mit seinen skelettartigen Händen auf die blutigen Wangen und weinte wie ein kleines Kind los.
„Ich brauch' nur 'n bisschen wa... was zum Trinken... Ein bisschen was... Ein bisschen was...", schluchzte er unter Tränen.
Blake begann unerwartet breit zu lächeln. „Oh, was zu trinken? Sag' das doch gleich!"
Der junge Läufer kniete sich nieder, sah dem Heulenden zwielichtig in die Augen und öffnete die Wasserflasche, die er die ganze Zeit bei sich hatte.
„Wasser willst du, hm?", war seine Frage an den Bettler. „Das ist es ja, was du willst, nicht?"
Der Angesprochene atmete erleichtert auf und formte sein Gesicht zu einem sehr, sehr glücklichen. Der Durstige sah so aus, als wäre ihm der schwerste Stein vom Herzen gefallen. Sein persönlicher Garten Eden. Wer wusste schon, wie viele Stunden er hier erfolglos in der Gluthitze herumkrochen war? In einem solchen Todeskampf können sich Menschen bereits über derartige Banalitäten freuen wie ein Pilger, der gerade den heiligen Gral entdeckt hat.
„Da... Danke! Danke! Danke!", versuchte er zu rufen, aber seine Stimme war zu schwach dafür.
Blake wollte ihm die Flasche reichen, entschied sich allerdings im letzten Moment um und trank stattdessen den gesamten, restlichen Inhalt vor den Augen des fast Verdursteten aus. Danach pustete der Sportler die Luft tief aus, grinste diabolisch und erhob sich.
Mir geht's um mehr als die Leitung des Konzerns... Ich will über dieses seltsame Mischvolk bestimmen können wie ich es will, ohne, dass mich irgendein Bündnis daran hindert!
„Ich fühl' mich wie neugeboren!", stieß er mit heiterer Stimme aus.
Kein menschliches Wort konnte die Fassungslosigkeit beschreiben, die der Bettler just in diesem Moment verspürte. Buchstäblich am Boden zerstört lag er da, die Augen und den Mund weit offen. Man sah ihm deutlich an, dass er noch nie zuvor so gelitten hatte.
„Ich verrat' dir jetzt mal was...", sprach Blake zu ihm. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen Menschen wie dir und mir. Ich sag' das nicht aus Spaß. Das sag' ich, weil ich's genau weiß."
„Sie... Sie... Warum? Warum nur?"
„Die Sache ist die... Ich denke, es gibt da einige auf der Welt, die dazu bestimmt sind, Großes zu tun. Hab' da letztens was von diesem Platon gelesen! Er meinte, dass es drei gottgegebene Stände mit verschiedenen Aufgaben gibt: Die Herrscher, die Wächter und die Arbeiter. Du bist eindeutig einer von diesen Arbeitern. Aber du... kriechst hier herum vor meinem Zuhause und bettelst ausgerechnet mich an, anstatt dass du das tust, für das du geboren wurdest, nämlich für's Schuften? Was fällt dir bloß ein? Verrat gegen die Natur! Du willst mich beleidigen!"
Benjamins Sohn sagte das in einer solchen Boshaftigkeit, dass einem wahrlich ein Schauer über den Rücken kommen konnte. Das war bei dem Bettler nicht anders. Er bekam Gänsehaut, freilich der Angst wegen. Jeder Mensch mit halbwegs gesundem Verstand hätte das.
„Leider... so muss ich zugeben... hat sich das mit der natürlichen Auslese ein bisschen geändert über die Jahre. Sonst wärst du nicht mal hier, du einsames Elend. Aber ich..." Der Gesichtsausdruck wurde stetig unheimlicher. „... bin ein herzensguter Kerl. Ich will dir was Gutes tun."
Der Obdachlose verstand nicht, was Blake jetzt von ihm wollte. „Was... haben Sie... vo... vor?" Eventuell bekam er erneut einen Funken Hoffnung. Die Hoffnung, dass er tief in seinem Inneren doch ein anständiger Zeitgenosse war. Waren das nur Worte zur Abschreckung und Machtdemonstration? Würde er ihn trotzdem in sein Domizil mitnehmen? Ihn dort mit literweise Trinkwasser versorgen?
Wäre es nur so gewesen... Wie so oft im Leben kam es anders. Ganz anders.
„Ich könnt' dich in der Sonne verrecken lassen. Das wär' ein langsamer, hässlicher Tod. Weil ich dir schon kein Wasser gebe, dann will ich wenigstens dein Ableben ein bisschen... wie soll ich sagen... beschleunigen!"
Es folgte ein heftiger Tritt ins traurige Gesicht des Obdachlosen. Dann noch einer und noch einer und noch ein weiterer. Blake konnte nicht aufhören, auf sein wehrloses Opfer brutal einzutreten, obwohl das Blut rasch schon wild spritzte und die Todesschreie stets lauter wurden.
„Ich mach' aus dir eine Blutlache!"
Herausgeflogene Zähne, kaputte Augen, starke Blutungen... Es war bald nicht mehr möglich, den Obdachlosen der Verletzungen wegen wiederzuerkennen.
Niemand kam, um dem armen Mann zu helfen. Nein. Völlig undenkbar. Die wenigen Zeugen, die die Gräueltat sahen, machten sich entweder fluchtartig aus dem Staub oder taten so, als hätten sie nichts mitbekommen. Diese Feigheit war fast verständlich, wenn man Blakes abgrundtief bösartiges Grinsen sehen, seine Brutalität aus der Ferne spüren und sein krankhaftes, verrücktes Gelächter dabei hören konnte. Es war, als hätte der Teufel höchstpersönlich für diesen Moment den Körper des jungen Mannes übernommen. Dabei war er im Grunde immer so – die ganze Zeit über. Das war Blakes Wahn. Er war ein mordlustiges Monster, das in solchen Augenblicken eine unglaubliche Kraft entfalten konnte.
Der Arme war längst tot, als Blake dennoch weiter trat. Nach einigen Minuten wurde ihm endlich langweilig und er wandte sich – mit viel fremdem Blut auf seiner Kleidung und Haut – von dem Leichnam ab und ging auf den Haupteingang des Main-Towers zu, als ob nie was gewesen wäre. Das Lachen hatte er inzwischen eingestellt und er stolzierte nun in seiner gewohnten, ruhigen Haltung. Sebs Leute und Bo, die das alles zuvor gesehen hatten, blieben natürlich tatenlos. Es war schließlich ihre Aufgabe, Brookshields zu beschützen und nicht aufzuhalten, obwohl selbst sie zutiefst erschrocken waren von seiner Abscheulichkeit und der Normalität, die er Sekunden nach der Bluttat ausstrahlte. Sie ließen Blake – unter anderem sicherheitshalber - ohne Kontrolle durch die Tür.
Drinnen angekommen wischte sich der Läufer mit dem Handtuch teilweise das warme, frische Blut weg, wobei er wusste, dass er zusätzlich eine Dusche bräuchte, um alles wegzubekommen.
Was für eine Sauerei auch...
So hatte sich der junge Herr nach einem anfangs recht alltäglich erscheinenden Laufausflug auf die offenen Straßen dieser Stadt ein klares Ziel in den Kopf gesetzt, und er würde alles tun, um es zu erreichen, selbst wenn er dafür jeden Gegenspieler aus dem Weg räumen müsste.
Kapitel 10: Solberg & Webb
Wenn es eine Sache gab, die Ben Wolff wirklich abgrundtief hasste, dann war es jene, seine wertvolle Zeit zu verschwenden. In dieser Welt war Zeit sehr wichtig geworden, zumal es gut möglich sein konnte, dass man jeden Augenblick urplötzlich starb. Es war kaum abzuzählen, wie viele ambitionierte, idealistische, junge Menschen voller Pläne und Ziele von einer Sekunde auf die andere brutal ums Leben gekommen waren – sie hatten lediglich das Pech, am falschen Ort zum falschen Zeitpunkt zu sein. Und das war man hier sehr schnell mal. Dem Ende nahe war er schon oft gewesen: In Faustkämpfen, gefährlichen Aufträgen, Verwicklungen, Schießereien... Das abstoßende Gesicht des Todes kannte er demnach zu gut. Man konnte es ihm also nicht verübeln, wenn er wieder einen seiner Wutausbrüche bekam, weil er unnütz seine Energie für etwas seiner Meinung nach Sinnloses verschwendet hatte.
Aber gab es Gründe, an Pauls, Yaminas und Cans Initiative zu zweifeln? Ja, die gab es natürlich. Das Projekt hätte – wie Arno es jedes Mal bei ähnlichen Vorhaben betonte – kläglich scheitern können. Größere feindliche Kräfte, mangelnde Ressourcen oder einfach der schwindende Mut der Anhänger.... Diese Risiken kannte Ben. Und er nahm sie dennoch bewusst in Kauf. Genauso gut hätte er sich den Staatsverweigerern anschließen können, die er gegen Anfang seiner Reise angetroffen hatte, doch in Paul und seinen zwei Freunden schien er ein gewisses Potenzial zu erkennen. Die ganzen anderen Gruppen und Bewegungen, die in den letzten Jahren immer wieder aufkamen und anschließend rasch durch die Konzerne oder Clans vernichtet wurden, hatten unklare, unsinnige Ziele. Diese Sache jedoch, für die die Drei kämpften, war grundvernünftig und hätte simpler gar nicht sein können: Besiegt die Eindringlinge, die Fremden, die Schädlinge, die die Stadt gestohlen und für sich beansprucht haben. Triumphiert über die, die verantwortlich sind für all das Leid, die Armut, den Hunger und den endlosen Durst. Selbstverständlich war das Ziel, irgendwann ganz Deutschland von diesen Clans und Unternehmen zu befreien, ein äußerst hochgestecktes. Allerdings musste man irgendwo anfangen, und der Anfang war eben Frankfurt am Main.
Dieses ganze Geschwafel von Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und vermeintlicher Freiheit für jedermann war jedoch nicht der Hauptgrund für Ben, sich dieser Gruppierung letztendlich anzuschließen. Nein, ihn interessierte es zunächst wenig, wie die Welt um ihn herum aussah. Er dachte praktischer. Er wusste genau, wie motiviert sie waren und wie ernst sie es meinten. Mit diesen Leuten hätte er die größte Chance, seine eigene, persönliche Unabhängigkeit zu erreichen – das interessierte ihn viel mehr. Alleine konnte man schwer was im System ändern.
So ein schäbiger Laden ist das? Kein Wunder, dass es Solberg & Webb seit Jahren nicht mehr gibt...
Ein wenig außerhalb der Stadt, nahe Fechenheim im Osten, wo es nur spärlich bewohnte Häuser gab. Es herrschte eine Totenstille. Keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Nur der Wind blies seine beunruhigend ruhige Melodie und die Möwen am Himmel gaben ihre nervtötenden Laute von sich. Einige Meter neben ihm lagen sogar zwei Skelette im Sand neben dem Wrack eines rostigen Busses. Wieder hatte Ben sein Motorrad an eine lose Mauer gelehnt und stand nun vor dem Eingang der riesigen, ehemaligen Lagerhalle eines Unternehmens namens Solberg & Webb, das vor vielen Jahren schon von Brookshields Ltd. vertrieben worden war. Oberhalb der Eingangstür dieses Gebäudes hängten nur mehr drei Buchstaben des Firmennamens, der Rest war anscheinend vor langer Zeit runtergefallen. Ausgerechnet
S E B waren jene verbliebenen Buchstaben - ein Zeichen? Außerdem zierte haufenweise Graffiti die Wände: Verewigungen, sinnlose Zahlenreihen, Hakenkreuze, Zitate bekannter Personen oder wüste Beschimpfungen... Ausgehungerte Hunde trieben in der Gegend ihr Unwesen und kläfften den Besucher an, der ihnen keine Beachtung schenkte.
Umso mehr Ben auf die Stärke der Initiative vertraut hatte, umso mehr wurde er beim Anblick dieser einzigen Ödnis enttäuscht und dachte kurzzeitig darüber nach, wieder von dannen zu ziehen.
Ob's mir das wert ist? Und ist das sicher der richtige Ort? Muss es sein. Das haben sie mir ja so gesagt, und verarscht werden die mich nicht haben. Was soll's... Ich probier's.
Mit einer genervten Miene und einem ausdruckslosen Gang schritt er voran und schob schließlich die schwere Lagerhallentür auf. Die helle Sonne beleuchtete das abgedunkelte Innere. Was er da sah, machte ihn wahrlich zornig.
Ihr habt mich reingelegt...
Es war nichts zu sehen. Völlig leer und verstaubt war die Halle. Nicht mal Kisten oder Regale waren zu finden. Aus Wut und Enttäuschung heraus feuerte Ben mit seiner Pistole einen Schuss auf die gegenüberliegende Blechwand, welcher sie durchbohrte. Dann schoss er nochmal zwei Kugeln in Richtung der breiten Fenster weiter oben, die nur einige wenige Sonnenstrahlen durchdringen ließen. So vergingen einige Minuten, in denen Ben wortlos da stand und die scheinbare Leere betrachtete.
„Hey! Hören Sie auf zu schießen, verdammt!", rief plötzlich eine Stimme von hinten, die ihm bekannt vorkam.
Ben drehte sich blitzartig um und erkannte Paul wieder, neben dem Yamina und Can standen, wieder mit ihren typischen, abgetragenen Klamotten.
„Wenn Sie so weitermachen, wird uns einer von Yumas Patrouillen entdecken! Die fahren in der Gegend immer umher!", setzte Paul fort.
Can schien sich über Ben zu amüsieren. „Haben Sie echt gedacht, wir würden so offensichtlich in einer Lagerhalle sitzen und uns erwischen lassen? Sie sollten es besser wissen!"
Ben näherte sich den Dreien hastig an. „Ihr scheiß Kinder habt mich verarscht! Ich dachte, ihr seid viel mehr!" Als er vor ihnen war, schlug er Paul mit seiner linken Hand in den Bauch. Dieser knickte zusammen und verzog das Gesicht.
„Was soll der Scheiß?", schrie die sorgsame Yamina, die es nicht abhaben konnte, wenn einer ihrer Freunde attackiert wurde. Auch Can ging in eine Kampfposition, um Paul zu beschützen.
„Wartet! Lasst gut sein!", gab Paul aber stöhnend von sich und hielt sie dadurch vor einem Einschreiten ab.
Der zierliche Junge fasste sich mit den Händen auf die schmerzende Stelle in der Magengegend, riss sich jedoch recht bald wieder ein und richtete sich auf. Seine Freunde sahen verblüfft aus. Qualen konnte er außergewöhnlich gut wegstecken.
„Wir zeigen Ihnen... den richtigen Ort", kam es mühsam aus Pauls Mund.
Der Eingeladene reagierte nicht sonderlich glücklich darauf. „Der richtige Ort? Wo soll der sein? Unterm Boden, oder was?"
Yamina begann, zu lachen. „Sie sind ja ein Blitzgneißer!" Sie fuhr sich verlegen durch ihr langes, lockiges Haar. „Hinter der Lagerhalle gibt es einen Kellereingang aus Metall, den man von innen verschließen kann. Dort unten sind wir."
Die belügen mich doch wieder...
„Folgen Sie uns!", forderte ihn Can auf, der selbstsicher grinste.
„Hört auf mit diesem schrecklichen Siezen... Das kann sich ja kein Mensch anhören!", verlangte Ben.
„Okay, okay...", antwortete Can.
Die drei jungen Erwachsenen gaben die Richtung vor und führten ihren geladenen Gast zuerst ins Freie, dann um die Lagerhalle herum und schlussendlich zu dem besagten, kaum zu erkennenden Kellereingang. Diese am Boden angebrachte Metalltür war bereits offen. Die vier schlüpften hindurch und gingen die Stufen runter. Can war das Schlusslicht und schloss hinter sich wieder die Tür, die ähnlich wie ein quadratischer U-Boot-Lukendeckel funktionierte. Es war relativ eng hier und der große Ben musste seinen Kopf senken, um nicht an der Decke anzustoßen. Dies änderte sich aber, als sie unten ankamen.
Ein gigantisches Untergeschoss war das, keine kleine, kümmerliche Bunkeranlage. Spätestens jetzt hatte Ben seine vorigen Aussagen zu revidieren. Es waren nicht nur die Drei, die die Bewegung bildeten – sie waren viel zahlreicher. Die weite Fläche des Kellerareals übertraf die der Lagerhalle oben sogar, und es gab mehr als das. Ein stark leuchtendes Flutlicht ermöglichte das Sehen. Verschiedene Räumlichkeiten, Türen, Bettenlager, Essensausgaben, Kisten, Wasserflaschen, Klos, Duschen... Und die Bürger selbst. Hunderte waren es. Ben folgte den Dreien mit aufgerissenen, erstaunten Augen durch den Raum wie ein Außerirdischer, der auf eine fremde Zivilisation gestoßen war. Lautstarkes Gerede und eine quicklebendige Atmosphäre, wie sie Ben selten erlebt hatte. Ein kleiner Bub wurde gerade von zwei erwachsenen Frauen verarztet, eine ältere Dame lehnte mit dem Rücken an der Wand und las ein uraltes Buch, eine Gruppe von sechs Männern spielte in der Ecke ein Kartenspiel, ein Asiate schlief gemütlich auf einer Matratze am Boden, eine Mutter stillte ihr Baby auf einem Stockbett und ein dunkelhäutiger Herr erklärte einem blonden Mädchen, wie man Reis in einem Kochtopf korrekt zubereitete. Außerdem war es bemerkenswert kühl hier unten, was offenkundig an einigen Ventilatoren und Klimaanlagen lag.
Sowas habe ich... noch nie gesehen. Das sind keine Kids, die sich Freitagabend am Strand auf einen Joint treffen und dann über Frieden philosophieren... Das ist eine ganz andere Liga.
„Das... habt alles... ihr in die Wege geleitet?", fragte ein zutiefst neugieriger Ben nach, der sich wie in einer fremden Welt vorkam. „Unglaublich..."
„Da staunst du, hm?", kicherte Paul. „Das hat lange gedauert, um ehrlich zu sein. Yamina, Can und ich – wir waren die Ersten. Wir sind in derselben Elendsgegend aufgewachsen – ohne Eltern - und haben uns früh dazu entschieden, uns nicht einen von denen anzuschließen."
„Ja. Lieber wären wir gestorben", fügte Yamina hinzu. „Wir haben mit der Zeit selbstgeschriebene Flugblätter verteilt, Leute aus unserem Block überzeugt und sogar Gangmitglieder auf unsere Seite geholt!"
Sie marschierten an einem Gerät vorbei, das Ben normalerweise nur aus Benjamin Brookshields Betrieb kannte: eine Wasserreinigungsmaschine.
„Warte, warte, warte..." Ben stoppte das Gehen. „Bevor ihr weiterredet: Wo habt ihr das Teil her?"
„Oh, das...", sagte Can. „Das haben wir selbstgebaut. Bauskizzen und Anleitungen haben uns dabei geholfen. Und die Wasserleitungen zu unserem Keller und zu dem Gerät haben auch wir verlegt. Wir haben mit einem Detektor ein riesiges Rohr unter der Erde gefunden, das wahrscheinlich zu irgendeinem reichen Typen oder zu einer Brookshields-Anlage außerhalb der Stadt fließt. Das zapfen wir an, und zwar in so einem Maß, dass es keinem auffallen kann."
„Moment mal, das mit dem Abzapfen versteh' ich ja noch irgendwie, aber selbstgebaut? Ihr seid doch keine Ingenieure oder sowas!" Der Vollstrecker kannte sich vorne und hinten nicht aus.
„Wir nicht. Aber von den Bürgern sind es einige", erklärte Yamina.
„Ja. Vollstrecker, du musst verstehen, wir stehlen vieles oder bauen es selber... Die Nahrung, die Betten, die Medikamente und, und, und... Alles geklaut oder hergestellt. Auch Wissen kann man mehr oder weniger stehlen...", meinte Paul.
Der Gast schaute verwirrt drein. „Ich heiß' übrigens Ben, bevor ihr mich jedes Mal Vollstrecker nennt, okay? Und wie meinst du das, mit ‚Wissen stehlen'?"
„Oh, Ben... Nicht schlecht, der Name." Paul räusperte sich. „Wir haben in den verlassenen Bibliotheken gewühlt, tausende Bücher mitgenommen und die Leute haben sich damit beschäftigt, es geübt und ausprobiert. Mit der Zeit haben sie es gemeistert. So geht das. War gar nicht mal so leicht, in die teilweise zusammengefallenen Universitäten und Schulen zu kommen..."
„Das heißt, die Frauen, die den Jungen da drüben zusammenflicken, sind keine wahren Ärzte, die im Osten ausgebildet wurden? Und der Koch drüben hat es auch nie von einem Profi gelernt?" Ben deutete auf den verletzten Burschen von zuvor und danach auf den dunkelhäutigen Küchenmeister.
Zufällig gingen gerade zwei ähnlich große Männer wie Ben vorbei, die Werkzeuge in der Hand hielten.
Can schüttelte den Kopf. „Nein. Offiziell sind sie keine Ärzte und keine ausgebildeten Köche. Es ist sowieso nichts hier offiziell. Alles, was die Menschen hier machen, haben sie sich selbst beigebracht... und sie helfen sich gegenseitig, so gut sie es können. Das ist das, was wir wollen."
„Ah, und wenn wir schon dabei sind: Wie in Gottes Namen habt ihr wissen können, dass ich oben vor der Lagerhalle stehe? Habt ihr da einen geheimen Spitzel, der ständig Schmiere steht?"
Die Drei lachten kurz, ehe Yamina die Antwort auf die Frage erläuterte. „Sozusagen. Wir haben ein Kamerasystem über der Eingangstür angebracht und unser Verantwortlicher dafür hat uns eben gesagt, dass da irgendein Wahnsinniger um sich schießen würde. Wir wussten sofort, dass du das warst."
„Die Kameras sind übrigens auch geklaut, und zwar von einem Außenposten, der Tonino dem Prinzen gehört", ergänzte Can.
Ben seufzte. „Mpf."
Paul begrüßte einige Personen, die an ihm vorbeischlenderten und sah dann wieder seinen Gast an. „Du bist der erste von den Vollstreckern, die wir für uns gewinnen konnten."
„Bengel, red' nicht von ‚für uns gewinnen'. Ich bin nicht dein Köter, hörst du? Jetzt frag' ich euch, warum habt ihr genau mich zu euch eingeladen? Wieso gebt ihr gerade mir den Aufenthaltsort von eurem Hauptquartier bekannt? Ihr kennt mich nicht mal."
„Wir brauchen Rat. Wir wollen größer werden und es den Gangs heimzahlen! Die anderen und ich glauben, dass du eigentlich ein aufrichtiger Kerl bist... Du hast die Frau und den Mann verschont, obwohl sie dich angelogen und für dumm verkauft haben. Ehrlich wahr, wir haben schon einige von euch Vollstreckern beobachtet. Jeder andere hat Lügner und Betrüger sofort erschossen, aber du... du hast Gnade gehabt."
„Komm' mir nicht damit. Ich hab' bereits genug Menschen in meinem Leben umgebracht."
Can musste dazwischenreden. „Es geht nicht um das! Wir haben länger mit dem Gedanken gespielt, einen wie dich zu uns zu bringen und wussten, dass wir dafür viel riskieren würden! Erinner' dich, du bist uns extra nachgelaufen, hast uns verfolgt und gestellt. Trotzdem hast du uns am Ende nichts angetan, obwohl du es locker hättest tun können. Und wir haben unser Vertrauen in dich gesetzt. Wir mussten dich einfach fragen."
„So ist das also... Was wollt ihr jetzt von mir genau? Ratschläge, oder was? Tipps und Tricks? Zieht mich nicht ins Lächerliche..."
„Dich bedrückt doch was, Ben. Sonst wärst du mit Arnos Männern hergekommen und hättest uns niedergemetzelt. Stattdessen kommst du ganz alleine. Irgendwas muss passiert sein", argumentierte Paul.
Ben war es unangenehm, darüber zu sprechen. Er brauchte etwas Zeit, bis er antwortete.
„Wenn ihr's unbedingt wissen wollt... Ich hab' mich von meinem Clan verabschiedet. Aber das ist eine andere Sache. Ihr wollt, dass ich euch helfe?"
„Ja!", sagten alle drei ziemlich gleichzeitig.
„Also gut..."
Ben verschränkte die Arme und begann damit, sich einen Überblick über das gesamte Areal zu verschaffen. Er schärfte seinen Blick und inspizierte jede Ecke, die er mit seinem aufmerksamen Auge erfassen konnte. Zudem analysierte er die Menschen, die Gesichtsausdrücke, die Objekte, die Rationen... Das dauerte ein wenig.
Nun hatte er sein Ergebnis. „Das was ihr hier habt ist zwar ganz gut soweit... Viele Leute, die euch folgen, anscheinend hohe Moral und so weiter. Aber ich seh' keine einzige Waffe im Raum. Weder ein Gewehr, noch eine Axt oder überhaupt ein Klappmesser! Wie wollt ihr einen Krieg ohne Waffen gewinnen?"
„Das ist... wirklich...", stammelte Can.
„Bedauerlich ist das", führte Paul den halbfertigen Satz seines Freundes zu Ende. „Deswegen brauchen wir dich. Wir müssen Waffen und Munition organisieren. Das haben wir bisher nicht geschafft, weil wir mit anderen Dingen beschäftigt waren und schlicht und einfach... keinen Plan davon hatten, wie man in ein Arsenal eindringt."
„Oh, ist das so?" Ben begann zu grinsen.
Zu gut, dass ich fast jedes verdammte Waffenlager in der Stadt in und auswendig kenne... Ihr seid nicht die Einzigen, die hier aufgewachsen sind.
Kapitel 11: Der erste Zug
Er musste sich unauffällig kleiden. Seine allgegenwärtig elegante Kleidung hätte in der Öffentlichkeit für verblüffte Gesichter gesorgt, zumal jeder wusste, dass es nur ganz wenige in der Stadt gab, die sich derart nobel anziehen konnten. Deswegen hatte Blake sich für diesen besonderen Tag ein normales, rotes T-Shirt mit irgendeiner Aufschrift, eine kurze Jeanshose und schwarze Sportschuhe angezogen. Außerdem hatte er sich, bevor er mit seinem Moped zu seinem Ziel losfuhr, einen Vollvisierhelm aufgesetzt, um nicht erkannt zu werden. Das alles hatte einen Zweck und er wusste, sein ausgeklügelter Plan würde nur bei äußerster Vorsicht aufgehen.
Das war nett von dir Ben... Du hast mir mit dieser Info echt weitergeholfen. Hätte nie gewettet, dass ich mich jemals bei dir bedanken könnte...
Mit Vorsatz hatte er sich diesen Mittwochvormittag ausgesucht, wo üblicherweise jeder seiner Arbeit nachging, so auch sein Vater. Eine Stunde nachdem Benjamin Brookshields zur Inspektion der Hauptfabrik aufgebrochen war, hatte Blake sein Schlafzimmer und die Schubladen durchstöbert. Da Benjamin mit Arno fast täglich lautstark telefonierte, war es Blake einmal gelungen, aus einem Gespräch rauszuhören, dass ihm eine Karte mit allen Wohnorten der Bosse im Bündnis zugeschickt worden war. Diese sollte Benjamin zur Sicherheit dienen, falls das Bündnis je eine ernsthafte Gefahr für ihn werden würde. Und weil der senile Benjamin nicht gerade der Großmeister der Verstecke war, war es ein Kinderspiel, die ominöse Karte in einer der Schubladen zu finden. Jedes Anwesen der Clanleiter war dort akribisch markiert, weshalb Blake, der sich in der Stadt bestens auskannte, nur zu seiner gewünschten Person hinfahren musste. Diese Person war Tonino der Prinz. Eine rein zufällige Auswahl war das keine.
Arno ist ein Plappermaul. Wie oft hat er beim Essen wiederholt, dass er dem Prinzen am meisten vertrauen würde... Das ist wie'n offenes Geheimnis. Sogar Sebs Wächter unten am Eingang erzählen ständig was über den starken Respekt zu Arno, den Tonino hat. Bei ihm muss ich anfangen, dachte sich Blake während der recht zügigen Fahrt.
Es dauerte geschätzte dreißig Minuten, bis er vor dem pompösen Strandhaus im Westen bei der Bockenheimer-Küste ankam. Man hat hier sogar das Meer rauschen hören und das Salzwasser riechen können. Überall in der Gegend standen dunklere, italienische Kerle herum, die den Mopedfahrer im Auge behielten. Einige waren ihm sogar unauffällig mit ihren eigenen Gefährten gefolgt. Für Sicherheit musste hier in der unmittelbaren Heimatgegend des Clanchefs gesorgt werden. In der Nähe vom hölzernen, weißen angestrichenen Strandhaus mit großen Fenstern und einem eigenen Steg aufs Wasser hinaus stellte Blake sein Zweirad ab, nahm den Helm herunter und ging geradewegs auf die Tür des Anwesens zu. Eine nebenstehende Gruppe von braunhäutigen, schwarzhaarigen Frauen murmelte in italienischer Sprache, aber es war leicht erkennbar, dass sie über den prominenten Besucher redeten.
Bevor Blake an der Haustür klopfen konnte, stoppten ihn zwei Glatzköpfe mit Stiernacken und vielen Tattoos am ganzen Körper.
„Was suchen Sie hier, Blake Nathaniel?", wollte der eine, der ein bisschen sympathischer als der andere aussah, wissen.
Eine Kante... Mit dem sollte man lieber nicht eine Schlägerei anfangen.
„Ich muss mit Tonino dem Prinzen sprechen. Es ist sehr wichtig."
Die zwei Stiere sahen sich kurz gegenseitig ahnungslos in die braunen Augen, ehe sie wieder auf den einen Kopf kleineren Blake hinabstarrten.
„Warten Sie hier...", forderte der andere und ging rein.
Fünf Minuten vergingen, in denen sich Blake nur von dem draußen bleibenden Wachmann böse anschauen lassen konnte. Bald kam der andere Stier wieder raus.
„Sie können reinkommen."
„Danke, meine Herrschaften."
Blake lächelte und schritt durch die Tür, die von dem einen Wächter aufgehalten wurde. Der Parkettboden, die Hängelampen, die Bauernutensilien an den Wänden und die vielen Holzmöbel im Eingangsflur verdeutlichten, wie viel Wert Tonino auf Rustikalität legte. Am Ende des Flurs stand der Prinz bereits, in einem purpurnen Sommersakko, einem pinken, aufgeknöpften Hemd darunter und einer beigen Stoffhose gekleidet. Tonnenweises Gel hielt seine schwarzen, dichten Haare zusammen, die aufgestellt waren. In Sachen Ästhetik stand Tonino dem Unternehmersohn in nichts nach, hätte Blake heute bloß seine üblichen Anziehsachen getragen.
„Oh, Herr Brookshields Junior. Ich heiße Sie willkommen!" Der Prinz streckte die rechte Hand zur Begrüßung aus.
Blake, der seinen Motorradhelm in der linken Hand hielt, reichte ihm die Rechte. „Wunderschönen guten Tag, Patron Tonino Esposito."
„Sie haben sicher ein Anliegen, und ich für meinen Teil... würde gerne ein, zwei Dinge von Ihnen zuerst erfahren. Aber gehen wir doch nach draußen, auf den Steg und genießen die Stimme der See... Ich finde es da viel gemütlicher."
„Machen wir das so."
„Kaffee?"
„Gerne."
„Schwarz? Mit Milch? Groß? Klein? Ich hab' gern Espresso, ohne Zucker oder sowas... Ein Klassiker, der gut schmeckt."
„Ich wär' über einen mit Milch und Zucker sehr dankbar."
Tonino nickte, befahl einer hübschen Haushälterin, zwei Kaffees vorzubereiten und führte seinen ungeladenen Gast über die offen stehende Terrassentür hinaus auf den Steg, wo sie sich es an einem kleineren Holztisch mit zwei Stühlen gemütlich machten. Die Kaffees brauchten auch nicht lange, um serviert zu werden.
„So, Herr Brookshields. Es tut mir... sehr Leid..." Tonino nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. Schwarzer Espresso. „Das mit Ihrem Vater... Ich bedauere, was da passiert ist... Mein aufrichtiges Beilei..."
„Mein Vater?", unterbrach ihn Blake. „Der ist wohlauf. Aber um das geht's mir nicht. Stellen Sie erst Ihre Fragen, ich werde dann meine formulieren."
Tonino schluckte seinen Espresso schnell herunter und setzte eine überraschte Miene auf. „Oh, das... Egal. Vergessen Sie's..."
Damit hättest du nicht gerechnet, was? Hast dich schon drauf eingestellt, mir zu kondolieren, Prinz? Du bist zu gutmütig für einen Anführer, und deswegen bist du so leicht zu lenken.
Der Prinz führte fort: „Jetzt will ich aber wissen, wie in Gottes Namen Sie mich gefunden haben und was Sie hier suchen. Mein Wohnort sollte ein Geheimnis sein."
„Das kann' ich recht einfach beantworten..." Blake griff in seine Hosentasche und präsentierte die zusammengefaltete Karte, die Arno wohl selbst mit der Hand gezeichnet hatte. „Hier. Das lag in der Nachtlade von meinem Vater."
Die Verwunderung war dem Italiener stark anzusehen, als er sie auseinanderfaltete und mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete. „Interessant... Da steht oben, wo wir alle wohnen. Seb, Yuma, Juri, Momo und ich. Das sollte eigentlich ein Geheimnis des Bündnisses bleiben... Zum Glück wechsle ich meinen Wohnort bald."
„Das hat Arno gemacht. Nicht erst kürzlich. Soweit ich das weiß, hat mein Vater das Stück schon lange versteckt."
„Schön, schön... Ihr Vater also..." Tonino legte die Karte sanft auf den Tisch. „Das passt perfekt, um meine zweite Frage zu stellen: Ist das der Grund, warum Sie zu mir gekommen sind? Wollten Sie mir das zeigen? Oder wie darf ich Ihr Kommen verstehen? Nehmen Sie das bitte keineswegs böse... Im Gegenteil, ich fühl' mich geehrt, wenn der Sohn des größten Wasser-Tycoons bei mir erscheint, jedoch... müssen Sie irgendwas von mir wollen, hm? Zum Smalltalk sind Sie sicherlich nicht hergereist."
„Arno plant was gegen euch. Davon bin ich überzeugt."
Verständnislos schaute der italienische Clanboss drein. „Moment... Wegen einer Karte? Das... ist vielleicht seltsam und es gefällt mir gar nicht, wenn man meine Adresse verrät. Arno würde trotzdem nie gegen uns was in die Wege leiten wollen. Der hat Jahre seines Lebens dafür gekämpft, die Clans zu vereinen. Das Allerletzte, was er tun würde, wäre diesen Frieden zu stören. Dass er Ihrem Vater dieses Ding zugesteckt hat, war sicherlich ein Irrtum. Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür."
„Bei allem Respekt, Patron Tonino...", seufzte Blake. „Das ist nicht korrekt. Es mag sein, dass er diese Allianz aufgebaut hat. Aber das ist ja sein Trick, den er seit Jahren benutzt. Soll ich Ihnen was verraten?"
„Was denn?"
„Mein Vater – Benjamin – und Arno, die sind keine Fremden. Schlimmer. Die sind mehr als nur gute Freunde. Sie nennen sich Brüder. Kennen sich seit ihren Zwanziger-Jahren und unterstützen sich seitdem gegenseitig. Arno kommt jeden Samstag zum Abendessen in unseren Tower. Kaviar liebt er. Chorizo und Datteln im Speck mag er auch ganz gerne. Rotwein sowieso. Vor allem Tignanello, Petrus, Rothschild und wie sie alle heißen..."
Überraschenderweise reagierte Tonino nicht wie erwartet erschrocken auf diese Nachricht. Blake hatte anscheinend darauf gehofft, dass diese brisante Meldung ein Weltbild in ihm verändern würde, doch der Prinz blieb ruhig und behielt seinen gewöhnlichen, ruhigen Blick.
„Wieso sollte ich Ihnen das glauben?", fragte er den Gast.
Hm. Klüger als ich dachte, dieser Tonino. Gut, dass ich für den Fall vorgesorgt habe.
„Passen Sie auf..."
Blake holte aus der anderen Hosentasche ein Tastenhandy, tippte die Nummer seines Vaters ein, rief an und aktivierte dabei den Lautsprecher. Viermal piepste es laut, bis man Benjamins famose Stimme aus dem Gerät hören konnte.
„Ja, Blake? Was gibt's?", ertönte es mit mäßiger Tonqualität aus dem am Tisch liegenden Handy.
„Hey."
„Was brauchst du? Bin in der Fabrik, kann nicht lange reden."
„Du, Vater... Wann kommt eigentlich wieder Arno zum Abendessen? Diesen Samstag, richtig?"
„Das fragst du mich jetzt? Ja. Kommt er. Warum bitte die Frage?"
„Ach, nur so... Ist nicht so wichtig. Bis später."
„Bis dann."
Blake legte auf.
„Beweis genug?"
Jetzt endlich hatte Tonino den Blick, den der Besucher bei ihm sehen wollte. Geweitete Pupillen, zusammengedrückte Lippen und ein verständnisloses Kopfschütteln.
„Das... Das ist ein Wahnsinn!" Bereits über die höhere Stimmlage konnte man schließen, wie aufgeregt und negativ überrascht der Italiener nun war. „Der Mist stimmt also... Der hat uns die ganzen Jahre über... angelogen? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber... Patron Arno hat immer wieder aufs Neue betont, wie sehr er und wir Ihren Vater und seine Fabrik... ausnutzen könnten. Die anderen sind eh langsam schon ungeduldig geworden, und ich Idiot hab' mich so lange an der Nase herumführen lassen? Juri, Seb und so weiter haben bereits vermutet, dass die sich gut kennen würden. Oh Mann..."
„Und das ist noch nicht alles."
„Wie meinen Sie?"
„Haben Sie nie den Manet in seinem Besprechungsraum gesehen? Haben Sie eine Ahnung davon, was das Teil überhaupt wert ist? Damit könnte man fast eine eigene Wasserfabrik kaufen. Der Kerl hat ungeheure Reichtümer angeschafft. Viel mehr als ihr alle zusammen. Ist euch das nie aufgefallen?"
Der Strandhausbewohner stand auf, ging einige Schritte nach vorne, lehnte sich über das Geländer und blickte aufs weite Meer hinaus. „Jetzt, wo Sie's sagen... Eigentlich wirklich merkwürdig. Ich dachte, er würde so viel haben, weil er schon so lange im Geschäft ist."
„Blödsinn!", stieß Blake laut aus. „So viel kann kein gewöhnlicher Clanboss anschaffen, egal, wie lange er dabei ist! Allein sein Herrenhaus ist ja eine einzige Goldtruhe! Was da für Antiquitäten und Kunstwerke herumstehen! Ich weiß das, ich war ja oft genug dort in meinem Leben!"
„Unsere Umsätze könnten wirklich besser sein, das stimmt..." Tonino war immer noch nicht ganz über den Grund dieser Aufdeckungen im Klaren. „Warum sagen Sie mir das alles? Was hat Sie geritten?", der Prinz drehte sich wieder um und verdeutlichte damit, dass er eine konkrete, präzise Antwort von ihm hören wollte. „Ich hoffe, das ist kein verspäteter Familienkrieg."
Der Angesprochene führte seine Hände zusammen, beugte sich vor und schaute dem Italiener direkt in dessen dunkelbraune Augen.
Mach' dich auf was gefasst.
„Ich habe Arno Klien mein Leben lang verachtet. Wie er mit meinem Vater herumspringt, ihn ausnutzt... Glauben Sie mir, ich liebe meinen Vater von ganzem Herzen und kann es nicht ab, wenn jemand seine gutmütige Art so kaltblütig ausnutzt wie er! Er tut dasselbe bei euch! Er ist ein Lügner, ein Selbstdarsteller und ein Sklaventreiber, der sich durch's Leben schummelt, indem er seine angeblichen Freunde manipuliert und sich an ihnen bereichert! Wenn ich ehrlich sein muss, ich hab' mich an Sie gewendet, weil ich den Alten tot sehen will!"
Ein langer Seufzer kam von dem Clanchef zurück. „Mir wird jetzt einiges klar, wenn ich so darüber nachdenke... Alles ergibt Sinn... Ich hab' die Stimme von Ihrem Vater durch das Telefon hören können. Er lebt also."
Endlich kapierst du's...
„Ja, das tut er. Wieso?"
„Das wird für Sie eine sehr unangenehme Nachricht werden: Das Bündnis hatte letztens entschieden, Ihren Vater durch Arnos hauseigenen Vollstrecker umzubringen."
„Was?"
Eine Schnappatmung. Die rechte Hand von Blake ging mit Blitzgeschwindigkeit zu seiner Brust und ein Ausdruck absoluter Bestürzung zauberte sich auf sein attraktives Gesicht. Alles perfekt geschauspielert.
„Das kann nicht wahr sein! Dieses Schwein!", rief Blake, zeigte die Zähne und schlug mit der Faust fest auf den Holztisch, sodass das dort liegende Handy ein paar Zentimeter in die Höhe sprang.
Enttäuschung machte sich in Tonino breit, der seit Anbeginn des Bündnisses große Bewunderung für den alten Arno gehegt hatte. „Ich hab' nicht dafür gestimmt. Offenbar hat Arno es nicht über's Herz bringen können, Ihren Vater töten zu lassen. Er hätte seinen Laufburschen schon längst losschicken müssen. Das ist nicht passiert. Das sagt mir, dass er es mit der Angst zu tun bekommen hat. Und dass er sich von seinen Gefühlen hat lenken lassen. So viel zu dem von ihm aufgestellten Grundsatz, nach dem jeder im Bündnis das tun muss, was entschieden wurde..."
Seinen Zorn und seine Erschrockenheit täuschte Blake weiterhin vor. „Das sind nicht nur Emotionen, das ist Kalkül! Er braucht meinen Vater als seine Marionette, damit er weiter schön die großen Gewinne abkassieren kann! Der ist für ihn ein Mittel zum Zweck, genau wie ihr es auch seid!"
Auf einmal störte der Glatzkopf von vorhin die Diskussion und kam über die Terrasse auf den Steg. Er ging schnell zu seinem Chef und flüsterte diesem etwas ins Ohr. Der Italiener hörte ihm aufmerksam zu, nickte abschließend und der Mann entfernte sich daraufhin wieder. Das Geflüster zeigte Wirkung. Plötzlich war dem Gastgeber ganz anders. Verwirrt wirkend setzte sich Tonino wieder auf den Stuhl am Tisch und überkreuzte die Arme. Seine anfangs recht entspannte Laune war nun völlig gebrochen, genau wie die Wellen am Strand vor dem Haus. An seinem Blick sah man, dass das keine gute Neuigkeit war, die ihm der Stier gerade mitgeteilt hatte.
„Zwei blonde Milchgesichter sollen an meinem Umschlagplatz in der Berliner-Straße einen Dealer und einige Kunden von mir niedergeschossen haben..."
„Oje..."
„Mit einem Moped sind sie gefahren, der der hinten oben saß hat mit einer Maschinenpistole geschossen. Sie waren zu schnell wieder weg", berichtete der Prinz erschrocken. „Ich versteh' das nicht."
Ziel erreicht.
„Mein Gott... Tut mir Leid für Sie, Patron Esposito." Blake musste sich wahrlich anstrengen, Mitgefühl in seiner Stimme zu vermitteln. Das war für einen so wenig empathischen Menschen wie ihn eine große Herausforderung. „Aber ich muss das selber alles gerade verarbeiten... Es ist nicht leicht, diesen Menschen in seinem Leben zu haben." Jetzt hatte er es sogar geschafft, eine winzige, kaum sichtbare Träne sein linkes Auge runterlaufen zu lassen. Das war vermutlich die erste, die er überhaupt geweint hatte, wenngleich beabsichtigt.
„Ist in Ordnung..." Tonino atmete tief aus. Eine entsetzte Mimik. „Wissen Sie... Das mit der Schießerei kann jeder beliebige Idiot gewesen sein. Ich will nicht sagen, dass das Arno war. Aber nach allem, was Sie mir heute gesagt haben, kann ich das nicht völlig ausschließen. Ich hab' Patron Arno immer dafür geschätzt, dass er seine Gefühle hinter seine Entscheidungen stellte. Er dachte wie ein Stratege, nicht wie ein Trottel. Der Mann verachtete Leute, die sich nur ihren Gemütern unterwarfen... Jetzt hat er bewiesen, dass er sich selbst belogen hat."
Das war die beste Entscheidung überhaupt von dir, ihn nicht zu töten, Ben. Du hast das alles möglich gemacht. Das trifft sich ja gut, wenn wir das gleiche Ziel vor Augen haben. Trotzdem solltest du mir besser nicht in die Quere kommen.
„Werden Sie dem nachgehen? Ihn damit konfrontieren?"
„Mal sehen", war die Antwort des Prinzen. „Einerseits wäre es komisch, wenn er so brachial vorgehen würde. Andererseits haben die zwei Typen laut den Berichten meiner Männer verdächtig deutschstämmig ausgesehen, genau wie seine Leute. Dann noch die Karte, wo man unsere Adressen sieht... Ich weiß nicht, was da abgeht... Das ist so seltsam, das alles hier!"
Oftmals ist es so, dass bereits eine minimale Ungereimtheit ausreicht, um volles Vertrauen zu einer Person zu brechen. Sobald man den kleinsten Verdacht hegt, hebt sich dieses automatisch auf. Vor allem in derartigen Kreisen.
„Ich glaub', ich geh' dann mal, Patron Esposito. Danke für Ihre Zeit und den Kaffee... Ich hoffe, ich konnte zumindest einigermaßen für Klarheit sorgen. Vertrauen Sie mir, es ist auch in meinem Interesse, dass man diesem Kerl Einhalt gebieten muss."
Blake erhob sich und gab dem Italiener die Hand zum Abschied. Er schüttelte sie kräftig und sah dabei den Schönling selbstsicher an.
„Ich hab' zu danken. Sie haben mir weitergeholfen. Machen Sie's gut und passen Sie auf sich auf", sagte Tonino.
„Werd' ich machen."
Blake verließ das Strandhaus über die Tür, durch die er vorher hereingekommen war. Draußen lief er zu seinem Moped und sprang auf dieses auf. Mittagsstunde war angebrochen. Die Sonne war somit wesentlich stärker geworden und schoss ihre wahnsinnig machenden Strahlen auf die Köpfe der Menschen hinab. Der junge Mann konnte diesen jedoch mit seinem ihn verschleiernden Helm trotzen. Er startete die Maschine und fuhr geschwind los. Eine jugendliche Mutter mit ihrem Kind in den Armen hätte er fast über den Haufen gefahren, so unvorsichtig und fahrlässig raste er durch die Gegend. Das war das Resultat seiner krankhaften Adrenalin-Sucht und seiner fehlenden Rücksicht auf die körperliche Unversehrtheit anderer Mitmenschen.
Eine knappe Viertelstunde brauchte er, um wieder in die Nähe seines Wohnortes – dem Main-Tower – zu kommen. Doch er steuerte nicht wie üblich auf die Tiefgaragen-Einfahrt zu, sondern lenkte sein Gerät in eine Seitengasse neben dem alten Stoltze-Museum, das gegenüber des Turms in Trümmern lag. Der Raser schaltete hier den Motor aus, legte den Helm ab und blieb auf dem Moped sitzen. Er sah sich um. Nicht viele Personen befanden sich in der durch die Gebäude daneben abgedunkelten Seitengasse. Lediglich drei, vier schlafende Obdachlose, ein paar streunende Hunde und etliche herumlaufende Ratten. Blake schien auf jemanden zu warten, denn er blickte immer wieder um die Ecke, ob jemand kommen könnte.
Weitere zehn Minuten vergingen, bis ein anderes Moped eintraf und direkt vor Blake anhielt. Zwei Jugendliche ohne Helm saßen oben. Der am Rücksitz trug eine moderne Maschinenpistole. Beide durften maximal um die sechzehn Jahre alt gewesen sein. Sie hatten wasserstoffblonde Haare, blaue Augen, eine bleiche Haut, waren dürr wie ein Ast und trugen löchrige Shirts sowie zerrissene Shorts. Der mit der Waffe hatte sogar nur einen Schuh an, während der andere Fuß nackt herunterhing. Dass die Zwei nicht gerade dem Geldadel entstammten, war leicht erkennbar. Das waren die Täter, die in Toninos Viertel um sich geschossen hatten.
„Endlich seid ihr da", sagte Blake zu ihnen und sah danach kurz auf seine Uhr. „Mit der Pünktlichkeit habt ihr's nicht so, ne?"
„Es war viel Stress in der Stadt und so... Du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell wir gefahren sind, Mann", rechtfertigte sich der am Fahrersitz.
„Ja eh! Außerdem haben wir den einen da abgeknallt, wie du es uns gesagt hast!", warf der Hintere ein.
Blake grinste. „Das habt ihr gut hingekriegt. Wir haben erfolgreich Verwirrung gestiftet. Die werden sich darüber streiten, wer das war und auf Arno wird garantiert das schlechteste Licht fallen. Ihr seht ja wirklich aus wie zwei Musterdeutsche. Da hab' ich die richtige Entscheidung getroffen. Gebt mir die Knarre und ich geb' euch – wie versprochen – die zwei Luxusuhren."
Der Manipulant ging von seinem Gefährt runter, öffnete das Topcase und holte dort zwei goldene Armbanduhren heraus. Eine Rolex Daytona und eine Jaeger-Lecoultre. Beides Spielzeuge von ihm, die er irgendwann mal zu einem Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Materielles interessierte Blake wenig.
Die jungen Auftragsmörder zögerten.
„Jetzt gebt sie mir endlich! Sie gehört meinem Vater!", forderte Blake die beiden auf.
Die Waffe, die der eine Jugendliche hielt, war tatsächlich aus Benjamins Wandschrank. Dort bewahrte er einige Schusswaffen auf, unter anderem eine alte Kalaschnikow und eine Glock-Sonderanfertigung. Sein Sohn, der den Zugangscode kannte, hatte die Maschinenpistole einfach aus dieser Aufbewahrungsstelle stehlen müssen. Nichts war leichter als das.
Anstatt, dass der hintere Blonde ihm das Schießeisen überreichte, zielte er damit auf seinen Auftraggeber. „Was, wenn du uns verarschst und dann hinterrücks abknallst? Willst du uns für dumm verkaufen?"
„Ja, Mann! Lass' die Uhren rüberwachsen! Oder wir erschießen dich!", mischte sich der andere Bursche ein.
Blake ließ das ziemlich unbeeindruckt. Er rollte mit den Augen.
„Kommt schon, denkt ihr, ich würd' das tun? Eher wollt ihr mich gerade töten und euch mit den Uhren aus dem Staub machen. Außerdem, was hab' ich euch noch zusätzlich versprochen? Na?"
„Dass du... unsere...", stammelte der, der die Waffe hielt.
„Richtig, eure Eltern aus der Fabrik entlasse und ihnen einen angenehmeren Job in der Administration verschaffe. Und das kann ich wohl schwer machen, wenn ich tot bin, oder?"
„Ja..."
Die zwei verunsicherten Burschen schwiegen und überlegten kurz. Bald schon hatten sie ihre passende Antwort.
„Ist okay. Wir vertrauen dir."
Der Hintere warf Blake die gesicherte Maschinenpistole zu, die dieser mit beiden Händen geschickt auffing und zunächst in das Topcase verfrachtete.
„Kluge Entscheidung. War schön, mit euch Geschäfte zu machen!", rief Blake und schmiss anschließend die beiden Armbanduhren als Entgelt zu ihnen.
Die Jugendlichen lächelten vor lauter Freude, schnallten sich die Schmuckstücke jeweils um ihre dünnen Ärmchen und fuhren langsam davon. Blake aber agierte schnell, holte die Waffe sofort wieder aus dem Topcase und schoss das restliche Magazin auf die davonfahrenden Buben. Die Schüsse waren derartig laut, dass sogar einer der dösenden Bettler weiter drüben aus seinem Schlaf gerissen wurde. Die beiden Blondlinge flogen sofort tot um, mitsamt ihrem Moped. Zahlreiche Löcher waren nun in ihren Oberkörpern. Zwei weitere, namenlose Tote, die mit ihrem vielen Blut den sandigen Boden dieser elenden Stadt zierten. Der einzige Fehler, den sie machten, war jener, sich auf Benjamin Brookshields' Sohn einzulassen. Wie katastrophal so eine scheinbar gute Gegenüberstellung enden kann... Sonderlich weit waren sie nicht gekommen.
Blake ging zu den einige Meter entfernten liegenden Leichen, entnahm ihnen die Uhren, grinste siegessicher und bewegte sich wieder zu seinem eigenen Moped.
Das war gar nicht mal so schwer, wie ich es mir gedacht habe, sagte er in Gedanken zu sich selbst, während er schnell losfuhr.
Kapitel 12: Waffenlager
„Wie weit ist's noch?", fragte Yamina unsicher.
Es war dunkel und dementsprechend recht kühl geworden. Das hübsche Mädchen hatte sich also einen grauen Schal, eine beige Stoffweste und eine lange Jeans angezogen. Sie alle trugen Jacken und dickere Hosen, der niedrigeren Temperatur wegen. Vor ihr ging Can, der den Hang hatte, sie stets beschützen zu wollen, und vor diesem wiederum marschierte Ben, der die kleinere Gruppe leitete. Diese Gruppe bestand aus Yamina, Can, Paul, Ben und drei weiteren, erwachsenen Männern, die der Vollstrecker persönlich ausgewählt hatte. Ein Bosnier, ein Deutscher und ein Kasache, alle drei großgewachsen, halbwegs athletisch und ziemlich breit gebaut. Der Deutsche hatte keine Haare, dafür einen roten Bart und blasse Haut, vermittelte jedoch den Eindruck eines Freaks, eines sozial total isolierten Mannes. Der Bosnier und der Kasache waren dagegen schwarzhaarig, dunkelhäutig, hatten zahlreiche Bartstoppel, trugen Mützen und wirkten im Grunde wie zwei stereotypische Berufsverbrecher, die nachts in Wohnstätten einbrachen. Trotzdem waren sie in Bens Augen einige der wenigen in Pauls Untergrund-Organisation, die überhaupt dazu in der Lage gewesen wären, einen Coup wie diesen auszuführen.
„Ja, Mann! Wir gehen seit einer Stunde! Wieso haben wir nicht mit unseren Mopeds oder so fahren können?", beklagte sich nun auch Can, der – wie der Rest der Gruppe – versuchte, mit Bens schnellem Gang Schritt zu halten.
Für einen winzigen Augenblick drehte der Angesprochene seinen Kopf nach hinten zu seiner Gefolgschaft. „Seid ruhig, wir sind gleich da. Mit den Mopeds direkt vors Haus zu fahren wäre zu auffällig gewesen." Er hatte sich eine Kappe aufgesetzt, um zumindest halbwegs anonym zu bleiben. Die Leute hier kannten ihn teilweise. „Wir brauchen die Waffen. Ich hab' selber fast keine Patronen mehr."
In sicheren Abständen zueinander marschierte die Truppe gerade über eine mäßig belebte, brüchige Straße im Osten, um Fechenheim herum. Dutzende Ruinen zusammengefallener oder längst verlassener, mit Unkraut verwachsener Wohnhäuser standen hier und der Verwesungsgeruch von jenen Tieren und Menschen, die zur heutigen Mittagsstunde der Hitze zu Opfer gefallen waren, war allgegenwärtig. Die Gegend hasste Ben und er wollte nur ungern hierher zurückkommen. Immerhin hatte sich hier einst der Wohnblock befunden, der mit seiner Zerstörung für den Tod seiner beiden Eltern verantwortlich gewesen war. Und was die Atmosphäre dieser Straße und dieses Bezirks anging: Das Gebiet gehörte Juri Koskow, der hier Teile seines regen Waffenhandels betrieb. Da der Russe dafür bekannt war, ungebetene Zeugen seiner illegalen Machenschaften bei Sicht zu töten, traute sich kaum einer um diese Uhrzeit noch raus. Das tat er nicht etwa zur Verschleierung oder Beweisvernichtung. Nein, wer hätte ihn zu dieser Zeit belangt? Viel mehr waren es blanke Machtdemonstrationen.
In anderen Ortschaften Frankfurts war es eher so, dass die Bürger in den Nachtstunden auflebten, weil sie dann die quälende Hitze für eine Zeit nicht mehr ertragen mussten und sich daher im Alkohol, Drogenkonsum oder in Gruppenorgien verloren. So vergaßen sie das alltägliche Leid und die Verzweiflung zumindest vorübergehend.
„Ben, nimm's mir nicht übel, aber warum muss Yamina heute mitgehen? Hätte sie nicht einfach im Lager bleiben können?", fragte Paul, der dem Mädchen hinterherging.
„Ihr seid doch Anführer, oder?", war Bens Gegenfrage.
„Ich denke... schon, ja."
„Was ist ein Anführer, der an seinen Schlachten nicht selbst teilnimmt?"
Can richtete sich seine dichten Haare zurecht und mischte sich in das Zwiegespräch ein. „Keiner dieser Clanchefs würde auch nur bei einem einzigen Deal oder Kampf dabei sein! Nicht mal dein Arno!"
„Da irrt ihr euch."
Paul und Can sahen verwirrt aus.
„Denkt ihr, die hätten nie in vorderster Reihe gestanden? Richtig, jetzt hocken sie am Schreibtisch und geben Befehle weiter, aber damit sie erst den Respekt ihrer Leute ernten konnten, haben sie in ihren Anfangsjahren sehr wohl mitgekämpft. Ich weiß das. Allein wie viele Schädel Juri eingeschlagen hat... Von Momo oder Seb will ich gar nicht anfangen", sagte Ben und klang dabei so, als würde er von seinen größten Idolen sprechen.
„Das weiß ich schon, Ben! Aber was wir laut dir jetzt tun werden, ist selbstmörderisch! Ich mein', wie sollen wir mit ein paar Hämmern und Küchenmessern ein Waffenlager von Juri ausrauben?", legte Paul nach.
Sie alle waren mit halbherzigen Werkzeugen bewaffnet und ähnelten damit mehr einem Bauernaufstand als einer revolutionären Bürgerinitiative.
„Ja! Ich kann mir das nicht vorstellen! Und ich bin nicht so stark wie ihr! Ich kann doch keinem von diesen Zwei-Meter-Typen die Fresse einschlagen!", meinte nun auch Yamina und warf einen abfälligen Blick auf den rostigen Golfschläger, den sie in ihrer linken Hand hielt und der offenbar als Waffe gedacht war.
„Vertraut mir, das wird reichen", versicherte der Vollstrecker. „Juri ist ein kluger Mann. Jeder andere Boss hat nur ein, zwei große Waffenlager. Aber er hat kein großes Arsenal, sondern nur vereinzelte, winzige Verstecke, überall in der Stadt verteilt... In Wohnungen, Kellern, Rohren, vergrabenen Truhen, Schränken, Löchern... An den komischsten Plätzen hat er die Teile, und ich kenne einige davon."
„Es wird trotzdem gefährlich! Da werden ja tausende seiner Männer stehen! Wie soll sie gegen die kämpfen können?", rief Can.
„Nein. Nur ein paar stehen dort, und das sind normalerweise schmächtige Kerle, damit niemand merkt, dass es da was zu holen gibt. Ich kenn' mich da aus, Junge."
„Wenn das so ist..."
„Das Mädchen ist dir anscheinend echt wichtig, ne?"
Der junge Türke setzte einen gekünstelt überraschten Blick auf. „Ja? Sie ist mei... unsere Freundin!"
Yamina lächelte. „Lieb von dir."
„Habt ihr euch schon mal geküsst oder was?", hakte Ben nach. „Es muss so sein, he. Oder bist du bloß der beste Freund, der ihr in den Arsch kriecht?" Er liebte es, den türkischen, jungen Mann zu provozieren.
„Nein! Was soll die scheiß Frage, Ben?" Can fühlte sich in gewisser Weise ertappt.
„Warum nicht?" Ben grinste süffisant.
„He! Ben, ist das nicht die Kreuzung, von der du gesprochen hast?", sagte Yamina und beendete somit das Thema.
Sie waren tatsächlich am besagten Ziel angekommen – die Kreuzung, wo kein Mensch weit und breit sichtbar war. Ben zeigte auf ein baufälliges Reihenhaus, das gar kein wirkliches Dach mehr hatte, sondern nur mehr ein lieblos zusammengenageltes Holzkonstrukt, um vor der Sonne zu schützen. Die Fenster des vierstöckigen Gebäudes waren zum größten Teil eingeschlagen, die Türen allesamt aufgebrochen und es sah nicht danach aus, dass hier noch irgendein Mensch hausen würde.
Ben drehte sich zu seinen Gefährten um. „Ihr hört mir jetzt gut zu: Wir werden keine großen Anstalten machen und direkt da reinstürmen, okay? Kleine Wiederholung: Das erste Versteck ist im Erdgeschoss, Wohnung Nummer Vier, im einzigen Kleiderschrank, der dort steht. Das Zweite ist im Keller hinter den Waschmaschinen. Da ist'n Loch in der Wand, wir müssen die Dinger nur wegschieben. Und das letzte Versteck ist im dritten Stock, Wohnung Nummer Eins, unter dem Bett sind da mehrere Taschen, wo die ganze Munition für den Scheiß ist. Das müssen wir in fünf Minuten erledigt haben, bis dahin wird sicher irgendeiner Juri angerufen haben."
Der Bosnier stellte eine Frage. „Und die Typen, die das bewachen?"
„Juri nimmt meistens unauffällige Fünfzig-Kilo-Vögel, die er dazu noch absichtlich schlecht kleidet, damit man sie mit irgendwelchen Junkies oder Pennern verwechselt. Aber passt auf: Die haben alle irgendwo eine Pistole versteckt und tragen Handys in ihren Hosentaschen, mit denen sie Verstärkung holen können. Wenn wir die also nicht sofort kaltmachen, steht plötzlich eine ganze Armee vor der Haustür."
„Okay, soweit so gut... Aber wie gehen wir das genau an? Wie transportieren wir außerdem den ganzen Mist?", fragte Paul.
„Wie besprochen: Ich, du und der Deutsche gehen in den Keller. Das ist der gefährlichste Ort, weil da die Sturmgewehre lagern. Der Bosnier und Can erledigen das Erdgeschoss und Yamina und der Kasache nehmen sich den dritten Stock vor, weil das dort wahrscheinlich am wenigsten bewacht wird. Sobald wir fertig sind, ruft einer von uns Pontius an, der kommt dann mit den Mopeds und holt uns ab. Die Gewehre werden sowieso schon in Sporttaschen verpackt sein, also müssen wir sie nur raustragen! Wir sollten uns beeilen, die Kerle schauen hin und wieder aus dem Fenster und unsere kleine Ansammlung hat sicher für genug Verdacht gesorgt!"
„Perfekt, gehen wir's an!", rief Paul motiviert.
Die Gruppe teilte sich wie besprochen in die drei Teams auf und rannte sofort ins Innere des scheinbar leerstehenden Wohnhauses. Vor der Treppe im Foyer des Erdgeschosses wartete bereits einer der prophezeiten Wächter – ein schmaler, unauffälliger Bursche, wie es Ben geschildert hatte. Der Vollstrecker rannte auf diesen zu, hielt seine Hand auf dessen Mund, umklammerte seinen Schädel und brach ihm gewaltsam das Genick. Die Vermutung, dass es einer von Juris Handlangern war, bewahrheitete sich, als dem Burschen das Klapphandy aus der Tasche fiel. Paul war sichtlich schockiert von der harten Herangehensweise des Vollstreckers.
Ben ging mit dem Deutschen und Paul weiter die Treppen zum Keller hinab. Unten im steinernen, nach Schimmel riechenden Kellerareal angekommen überraschten sie zwei weitere Wächter, die gerade rauchten und in russischer Sprache miteinander redeten. Zunächst hatten die Diebe sich hinter einer Wand versteckt, näherten sich den Russen dann aber an und gingen zum Angriff über. Paul und der Deutsche schlugen den Einen nieder, während Ben dem Anderen mit einem Klappmesser den Hals durchschnitt. Dass das Einschlagen auf den Russen keine angenehme Tätigkeit für Paul war, war ihm leicht anzusehen – nicht nur erledigte der Deutsche die meiste Arbeit, Paul schien nervlich auch ziemlich fertig zu sein. Nachdem die Gefahr gebannt war, gingen die Drei rasch in den Wäscheraum, schoben die Waschmaschinen beiseite, nahmen die dort lagernden fünf Taschen voller Sturmgewehre und rannten mit der Beute wieder zurück Richtung Kreuzung. Dort wollten sie das vorerst ablagern.
Indes traten der Bosnier und Can die Wohnungstür im Erdgeschoss ein und fanden dahinter zwei auf dem Sofa sitzende Handlanger auf – ein junges Mädchen und ein bärtiger Kerl mittleren Alters, die offenkundig gerade etwas miteinander hatten und nun umso mehr überrascht über die unerwünschten Besucher aufsprangen. Dass eine so intime Pause einen derartigen Ausgang nehmen würde... Kaum einer hätte das gedacht. Die Hand des Mannes ging von ihrem Schritt urplötzlich zu der Pistole am Fliesentisch vor dem Sofa, aber er unterschätzte die Schnelligkeit der Angreifer.
Der Bosnier nahm sich die Frau vor, die eben eine Pistole zücken wollte, und Can schlug brutal auf den Mann ein, bis dieser bewusstlos wurde. Can war zu schnell, als dass sein Gegner irgendwelche besonderen Verteidigungsmittel hätte benutzen können. Schlägereien hatte Can genug in seinem Leben gehabt, und auch Ermordungen hatte er viele gesehen, aber es verstörte ihn dennoch etwas, als der Bosnier die wehrlose Russin mit seinen eigenen Händen erwürgte. Sekunde für Sekunde wurde das Leben aus ihr gesaugt, und ihr lautes Krächzen und Würgen verdeutlichte noch einmal, wie grausam es ihr in diesen Momenten ging. Was ein Todgeweihter in solch einer Situation denken mag... Das qualvolle Wissen, dass man sich nicht aus der tödlichen Lage befreien kann, egal, wie sehr man es versucht – Can konnte es von ihrem immer weißer werdenden Gesicht förmlich ablesen. Schauderhaft. Einerseits tat er sich wirklich schwer damit, diese Szenerie anzuschauen, aber andererseits veranlasste ihn irgendwas in ihm dennoch dazu, seine Augen nicht wegzuführen. Faszination und Ekel zugleich.
Nachdem auch diese zwei Feinde erledigt waren, schnappte das Team die Rucksäcke und Taschen aus dem Wandschrank und lief danach wieder ins Foyer zurück, wo sie hergekommen waren.
Währenddessen waren Yamina und ihr Begleiter – der Kasache – im dritten Stockwerk angelangt. Hier trafen sie noch am Gang vor der Wohnungstür auf einen heraneilenden Wächter, der offenbar den ganzen Krach im Haus gehört hatte. Der sehr große Kerl mit Glatze und weißem Tank-Top raste auf die Zwei mit einem Baseballschläger bewaffnet zu. Yamina kannte zwar die vielen Gewalttaten in Frankfurt und hatte bereits viel Schlimmes sehen müssen, aber aktiv an Gefechten hatte sie nie teilgenommen. Es war ein Metier, das ihr völlig fremd war. Wieso sollte sie auch damit auskennen? Frauen kamen für gewöhnlich selten in den Genuss davon, solange sie nicht selber attackiert wurden. Widerwillig war Yamina mitgekommen, weil es hauptsächlich Ben gewesen war, der ihr eingeflüstert hatte, dass sie den nötigen Respekt braucht, um eine vormals unbewaffnete Untergrundorganisation zu einer kriegerischen Revolutionstruppe zu formen.
Voll von Angst und Schrecken wollte sie vor dem heranrasenden Irren flüchten, doch der Kasache kam dem Russen glücklicherweise zuvor und stach ihm mit einem Küchenmesser in den Bauch, was ihn dazu brachte, stark blutend zusammenzufallen.
Er blickte grinsend auf sein Opfer hinab. „So macht man das!", stieß der Kasache euphorisch und triumphierend über seinen Erfolg aus.
Jedoch sollte diese Freude nicht lange halten. Schlimmer noch. Es sollte überhaupt sein letztes Gefühl der Glückseligkeit werden. Die gesuchte Wohnungstür wurde auf einmal von innen aufgetreten. Ein dicker Schnauzbartträger zeigte sich, richtete seinen Revolver auf den Kasachen und schoss ihm vier Mal in die Brust. Er war sofort tot. Um das festzustellen brauchte man keinen Beschauer oder Ähnliches. Lediglich ausreichend Verstandeskraft.
Yamina schrie auf. Sie ließ ihren Golfschläger zitternd fallen, schritt langsam rückwärts, fasste sich mit ihren Händen auf die Brust und merkte dabei, wie schnell ihr Herz pochte. Die Treppe war zu weit entfernt, um rechtzeitig bei einer Flucht dem drohenden Kugelhagel zu entkommen. Und den Dicken körperlich anzugreifen wäre auch einem Selbstmord gleichgekommen. Sie konnte also nur innerlich beten, dass er Gnade mit ihr haben würde. Voll und ganz war sie der Willkür dieses Mannes ausgesetzt, der sie wiederum mit seinen wenigen, gelben Zähnen gefährlich anlächelte.
„Kleines Mädchen, hm? Dein Freund wird dir nicht mehr helfen können... Ich mag Mädchen wie dich... Nigger sind gut im Bett, ne? Müsstest du wissen, ha?", sagte er mit heiterer Stimme zu ihr.
„Bi... Bitte! Ich... Ich werd'... alles tun, was Sie sagen!"
„Das wirst du, das wirst du... Komm' her, ich tu' dir nichts."
Er näherte sich ihr an, während sie nur wie festgenagelt dastand, die Augen geschlossen hatte und irgendwas Unverständliches murmelte, vermutlich tatsächlich ein Gebet. Allerdings hatte sie an diesem Tag Glück, wenngleich dieses mit einem weiteren Opfer gekennzeichnet war.
Die gesamte restliche Truppe – Ben, Can, Paul, der Deutsche und der Bosnier – kamen raufgerannt und stürmten auf den Dicken zu. Dieser hatte nicht mit einer so großen Anzahl an Eindringlingen gerechnet. Er feuerte panisch aus seinem Revolver und durchschoss den Kopf des Deutschen, der mutig in erster Reihe gelaufen war. Der Getroffene starb ebenso schnell wie der Kasache, aber durch die Tatsache, dass der Dicke an ihm seine zwei verbleibenden Patronen verschoss, machte es den anderen möglich, ihn niederzuringen. Sie alle schlugen und traten solange auf ihn ein, bis er endgültig tot war. Damit war der wohl der letzte Gegner im Haus ausgeschalten.
„Er... Er ist... tot?", fragte die terrorisierte Yamina, die gerade von Paul und Can gestützt wurde und bestürzt auf den Leichnam des Deutschen starrte.
„Ja! Wir müssen jetzt abhauen! Keine Zeit fürs Trauern! Juris Killerkommando ist sicher längst auf'm Weg!", antwortete Paul.
„Bis jetzt habt ihr eure Bewegung auf friedlichen Wege aufgebaut, aber das reicht nicht! Ihr müsst euch an Tod und Leid gewöhnen, wenn ihr das System besiegen wollt!", meinte Ben.
Ben und der Bosnier holten die Munitionstaschen aus der Wohnung. Als das endlich erledigt war, rannten sie alle über die Treppe vor die Haustür, wo bereits mehrere Mopeds und ihre jeweiligen Lenker parat standen. Paul hatte diese Verbündeten bereits vorher alarmiert und sie waren blitzschnell über eine Seitengasse hierhergekommen. Das war alles Teil des Plans. Vor dem Haus hatten sie ihre gesamte Beute gelagert, nahmen sie schließlich auf und setzten sich auf die Rücksitze der Mopeds, die dann rasant losfuhren und sich in ihren Richtungen trennten.
Die erste Aktion gegen das Bündnis war nun erfolgreich beendet. Nach zirka zehn Minuten kam der schwerverletzte Handlanger, den Paul zusammen mit dem Deutschen am Anfang niedergeschlagen hatte, über die Kellertreppe ins Foyer gekrochen. Dort entdeckte er unter anderem die Leiche jenes Mannes, dem Ben das Genick gebrochen hatte. Mit lauter Beulen, blauen Augen, blutenden Platzwunden in der Visage und am Körper nahm er das am Boden liegende Klapphandy seines Kameraden in die Hand und tippte mit zittrigen Händen die Nummer von Juri ein.
Ein paar Sekunden dauerte es, bis Juri Koskow den Hörer entgegennahm.
„Ja? Was ist los?", fragte dieser seinen Untertanen mit seiner gewöhnlich tiefen Stimme.
„Patron Juri, es ist... was passiert." Der Verletzte sprach nur mehr gebrochen.
„Was soll passiert sein? Ist was mit den Waffen? Hat ein Kunde nicht richtig bezahlt oder wie? Ich hab' euch gesagt, ihr sollt mich nicht wegen jedem Scheißdreck anrufen!"
„Nein! Nein! Nein! Der Vollstrecker... Er war hier! Ist mit so 'n paar Leuten reingestürmt und hat alle unsre Waffen geklaut! Der hat anscheinend jeden außer mich im Haus umgebracht! Hab' auch Schüsse gehört! Ich hab' ihn gesehen!"
„Vollstrecker? Welcher? Einer von unseren?"
„Der von Patron Arno! Der... der Eine, der so bekannt ist! Mit dem Undercut, den breiten Armen und den vielen Narben!"
Kurzes Schweigen.
„Ben Wolff?"
„Ja! Genau!"
„Interessant. So ist das also..."
Kapitel 13: Der ewige Frieden
Normalerweise waren diese Treffen in Arnos Herrenhaus eintönig und liefen stets nach demselben Schema ab: Man unterhielt sich über das Wirtschaftliche, das Geschäft, Beziehungen zu externen Gangs und interne Vergehen... Im Grunde wurden diese Besprechungen jedes Mal begleitet von Momos überheblichen Ansagen, Sebs Streitsucht, Juris Dickköpfigkeit, Toninos Anteillosigkeit und Yumas Desinteresse. Es war meist Arno, der dafür sorgte, dass der Dialog überhaupt aufrechterhalten wurde. Oftmals kam es zu Beschimpfungen, teilweise sogar körperlichen Attacken, weil irgendein Deal lieber von einem anderen abgewickelt worden wäre. Und trotz dieser scheinbaren Abwechslung waren die Sitzungen im Prinzip alle gleich – gleich langweilig.
Aber das war das, was sich Arno Klien immer gewünscht hatte. Er wusste genau, dass Frieden – so schön er in seinem Kern auch sein mochte – immer Langeweile bedeuten würde. Das ist das einzige, wenngleich wirklich wundervolle, Manko daran. Das Problem war, dass diese Herrschaften am runden Tisch in Arnos Gemächern nicht an ewigen Frieden gewohnt waren – und in diesem konnten sie auch nicht aufsteigen. Sie wuchsen allesamt auf in einer Zeit, in der brutale Bandenkriege tobten und Frankfurt am Main wortwörtlich in Flammen stand. Die Kriege zwischen den Gangs waren grausam; Arno war der Einzige im Bunde, der sie bereits als reifer Mann hautnah miterlebt hatte, zumal die anderen damals noch Kinder oder allenfalls junge Erwachsene gewesen waren. Arno sah die Vergewaltigungen, Familienmorde, Brandstiftungen, Folterungen, Verstümmelungen und Attentate. Er erlebte es, wie dem armen Sohn eines verfeindeten Gang-Mitglieds die Mutter vor dessen Augen genommen wurde, nachdem der Vater zuvor zu einem Krüppel verarbeitet worden war. Das waren Jahre des Schreckens; jeden Tag starben Hunderte, und keiner wusste, ob man den nächsten Tag überhaupt noch erleben würde. Und man brauchte gar nicht in irgendeiner Form selbst am eigentlichen Konflikt beteiligt gewesen sein. Nein, zu oft nur gingen Unschuldige zugrunde, die in ihrem Unglück den falschen Ort zur falschen Zeit gewählt hatten und in eine Schießerei oder Ähnliches geraten waren. Manches Mal hing das Überleben in dieser Zeit rein vom persönlichen Glück ab.
Deshalb musste die Monotonie in Kauf genommen werden. Es war ein lächerlich geringer Preis für das, was man dadurch verhinderte. Vermutlich war das der Grund, warum Arno so sehr an diesem Frieden hing. Das bedeutete alles für ihn. Sein Ziel im Leben, das er ja erreicht hatte und für das er gewillt gewesen war, selbst seinen Bruder Brookshields sterben zu lassen.
Nun allerdings ging er nicht so selbstbewusst wie sonst in den Raum. Obwohl er im Regelfall immer der Erste am runden Tisch war, so war er am heutigen Tage der Letzte, der den edlen Raum betrat. Alle anderen saßen bereits wieder an ihren typischen Plätzen, und als Arno an ihnen vorbeiging, um sich auf seinen Sitz niederzulassen, spürte er bereits, dass irgendetwas Schlechtes in der Luft lag. Waren es die ihn scharf inspizierenden Gesichter? Oder die merkwürdige Schwüle im Raum? Die Nervosität der Leibwächter? Die gedrückte, angespannte Stimmung? Wohl eine furchterregende Mixtur aus alldem. Selbst Tonino, der den alten Patron stets mit einem Händedruck begrüßt hatte, ließ an diesem Tag davon ab.
Der alte Mann setzte sich und knüpfte sich sein grünes Sommersakko auf, unter dem er ein weißes Hemd trug, zusätzlich zur beigen Stoffhose. Bevor er zu sprechen begann, nahm er kurz seine Brille ab und reinigte sie mit einem Putztuch, das er davor aus seiner Sakkotasche geholt hatte. Als er damit fertig war, setzte er sich die Sehhilfe wieder langsam auf und analysierte die ihn streng ansehenden Gesichter der anderen am Tisch. Juri, Seb, Momo, Tonino, Yuma... Keiner von ihnen zeigte auch nur den Ansatz von Zufriedenheit. In der Regel war das auch normal, doch heute schien der Level an Unzufriedenheit und Wut enorm hoch zu sein.
Überraschend war das für Arno nicht. Er wusste genau, dass Ben Wolff den Geschäftsführer von Brookshields Ltd. nicht umgebracht hatte, wie es ihm eigentlich aufgetragen wurde.
„Guten Tag, meine Damen und Herren... Ich hoffe, es geht Ihnen gut", gab Arno in einem leiseren, schüchternen Ton von sich.
„Sparen Sie sich die Worte, Patron." Yuma hatte für vorgegaukelte Höflichkeit nicht viel übrig. „Sie wissen, was passiert ist."
„Ja... Das tue ich." Das Interessante war, dass Arno zwar wusste, dass Benjamin noch lebte, nicht jedoch, dass es zu diesem geheimen Treffen zwischen Blake und Tonino und dem Zwischenfall in Juris Waffenlager gekommen war. „Ich weiß, dass Ben Wolff das Ziel nicht getötet hat. Das ist wirklich bedauerlich."
„Nun, Arno...", sagte Seb mürrisch klingend. „Er ist Ihr Mann. Nicht unserer. Aber das ist ja bei Weitem nicht alles."
Als Zeichen der Respektlosigkeit zündete sich Seb wieder eine Zigarette am runden Tisch an. Das diente offenbar als Provokation. Arno war sich darüber im Klaren, dass nun nicht der richtige Moment war, um den Rüpel abzumahnen. Die Scheinwerfer waren nämlich auf ihn gerichtet. Und sie warfen ein schlechtes Licht.
„Auch wenn Sie es mir nicht glauben werden, aber ich habe Ben Wolff mehrmals dazu aufgefordert, diesen Auftrag korrekt durchzuführen! Das ist eine Tatsache!" Arno wurde lauter. Er wusste, dass er die Wahrheit sagte. Nur würde ihm keiner Glauben schenken. „Bitte, Sie müssen mir doch glauben! Er hat sich plötzlich von mir abgewandt, mich beschimpft, sogar auf den runden Tisch gespuckt, als ich ihm den Auftrag gegeben hab'!"
Ein Seufzer kam von Juris Seite. „Ihr treuester Soldat verrät Sie einfach so... Nach so vielen Jahren."
„Ja! Ich versteh' sein Verhalten selber nicht! Aber ich hab' eben keinen Einfluss darauf, was er tut und was nicht!"
„Ach, hören Sie auf!", fluchte Juri. „Reden Sie keine Scheiße, verdammt... Sie elender Wichser, wissen Sie überhaupt, was Sie angerichtet haben?"
„Patron Juri... Ich weiß, dass wir beschlossen haben, er solle ihn umbringen... Aber weil er es nicht getan hat, werde ich Ben eben bestrafen müssen, und ein anderer wird Brookshields töten! Das verspreche ich Ihnen allen! Es tut mir ja so leid, dass der auf einmal untreu wird!"
Momo, der die ganze Zeit über bereits nervös mit seinen Fingern auf den Tisch getippt hatte, stand plötzlich auf und beugte sich über den breiten Tisch. „Alter Mann, Sie haben einfach den Schwanz eingezogen, weil Sie ihren besten Freund nicht töten wollten..."
Das war der Moment. Arno schluckte. Das typische Gefühl, wenn ein unangenehmes Geheimnis blitzschnell gelüftet wird. Jeder kennt es. Es war, als würde ihm beinahe schwarz vor Augen werden.
„Sie... Was... meinen Sie bitte? Ich kenne Brookshields nur durch kürzere... Unterredungen." Die Versuche des alten Mannes, sich gegen die Anschuldigungen zu wehren, waren fast schon lächerlich.
„Sie lügen." Tonino sah sein bisheriges Idol, das neben direkt ihm am Tisch saß, genau an. Dieser erwiderte seinen Blick und machte einen verständnislosen Gesichtsausdruck. „Blake Brookshields war bei mir. Er hat mir alles verraten. Wie oft Sie sich mit ihm treffen, wie lange Sie ihn schon kennen, was Sie ihm alles für Geheimnisse über uns verraten haben..."
„Tonino... Aber... Ich kann das... erklären! Das alles!"
„Seien Sie still, Arno. Ich hab' Sie bewundert, ehrlich wahr. Aber dann... knicken Sie ein? Verarschen uns alle? Und auf einmal schießt einer von Ihren Leuten in meiner Gegend rum und tötet einen meiner Dealer? Mir passt das nicht!"
Juri musste ebenfalls über seinen Zwischenfall berichten. „Ihr Ben Wolff hat außerdem mein Waffenlager geplündert. Alles leer. Die Wachen sind bis auf einen alle tot. Wie erklären Sie sich das?"
Diese ganzen Anschuldigungen verstand der alte Herr nicht. Dass er sie bezüglich Benjamin Brookshields belogen hatte war ihm bewusst, doch die anderen Verdächtigungen verwirrten ihn zutiefst.
„Mein Gott, das ist Unfug! Ja, ich hab' euch belogen! Es tut mir Leid, dass ich euch all die Jahre nichts über meine Beziehung zu Benjamin gesagt habe!"
„Benjamin... Wie nett er ihn nennt... Als ob ihr zwei Schwuchteln wärt. Würd' mich nicht wundern, wenn Sie ihm täglich den Arsch lecken würden", machte sich Seb darüber lustig.
Die Situation im Raum wurde immer angespannter. Arno kannte Menschen gut genug, und er bekam mit, dass sich der Hass um ihn herum stetig aufbaute.
Das führte auch dazu, dass das Herz des alten Mannes schneller pochte. Allmählich begann er auch unter dem Sakko zu schwitzen, trotz der kühlenden Klimaanlage im Zimmer. „Die anderen Sachen, die Sie da behaupten... Von wegen, ich hätte einen Ihrer Männer getötet, Tonino, oder Ihr Waffenlager ausrauben lassen, Juri! Es stimmt auch nicht, dass ich den Schwanz eingezogen hätte! Das müssen Sie mir einfach glauben! Ben Wolff hat sich halt gegen mich entschieden, so ist das mal! Dafür finden wir sicher eine Lösung, aber Sie müssen mir zuerst vertrauen!"
„Vertrauen sei das Wichtigste im Bündnis, haben Sie immer gesagt, Patron Arno...", meinte Yuma, als sie den nervösen Mann mit nonchalantem Blick begutachtete. „Aber wie sollen wir Ihnen jetzt noch vertrauen können?"
Nun setzte sich Arno erneut die Brille ab, schloss seine Augen und rieb sie sich resigniert. Sie wurden etwas feucht. Die Einsicht setzte ein. Er war zu erfahren, als dass er es überhaupt noch versuchen würde, sie zu überzeugen. Sie hätten ihm ohnehin nie geglaubt. Er erkannte, dass es Blakes ausgeklügelter Plan gewesen war, der scheinbar grandios funktionierte. Wahrlich, sein Herz war gebrochen, denn der ganze Sinn seines Lebens, seines Wirkens, seiner Arbeit – nämlich der Frieden – würde vor die Hunde gehen. Und das aufgrund der Machtversessenheit dieses arroganten Kindes seines besten Freundes und der Auflehnung seines Ziehsohnes.
„Oh... Er hat sich also wirklich mit diesen Arschloch-Kindern verbündet... Armer, dummer Ben... Du wirst sterben, wenn du bei ihnen bleibst...", murmelte Arno vor sich hin, offenbar im Selbstgespräch. Seine traurigen, nassen Augen waren auf den runden Tisch gerichtet, dem Zentrum des bisherigen Friedens.
„Was faseln Sie da, Arno?", fragte Tonino nach, der bewusst auf den Zusatz Patron verzichtete.
Langsam hob Arno seinen Kopf und lächelte kurz – merkwürdigerweise.
„Wann habt ihr vor, es zu tun?", fragte er in die Runde.
Keiner antwortete, wenngleich jeder wusste, was er meinte.
„Nicht weiter schlimm...", sprach der alte Mann weiter, mit gebrochener Stimme. „Wie glaubt ihr, bin ich an die Macht gekommen? Denkt ihr, ich hätte nie intrigiert, andere Leute beschuldigt oder gelogen? Ihr kennt das nicht. Ihr wurdet in eure Posten reingeboren, ihr alle. Ihr musstet nie diese Leiter hinauf klettern, so wie ich es tun musste. Jetzt macht Blake dasselbe. Schade nur, er hat gewiss nicht solche edlen Motive wie ich... Aber der Weg nach oben ist immer übersäht mit Blut, Verrat und schlimmen Taten. Wer weiß, vielleicht ist das ja auch die Strafe dafür... Jedenfalls ist ein Krieg... unvermeidlich."
„Arno...", sagte Tonino zu seinem Sitznachbarn.
Der Angesprochene führte seinen Blick zu ihm. „Der Prinz... Tonino. Du hast sie gekauft, oder?"
„Ja..."
„Sehr gut. So hätte ich es auch gemacht. Es gibt schlimmere Arten, zu sterben. Mach' schon."
Tonino nickte und sah dann zu den zwei Leibwächtern, die hinter Arnos Stuhl standen und die eigentlich zu dessen Leuten gehörten. Das war das Signal. Der eine packte den Schädel des alten Herrn, während der andere ihm ein Messer an die Kehle hielt und zu schneiden begann. Arno wehrte sich nicht. Letztlich schien nur Tonino schockiert über das folgende Blutbad gewesen zu sein – die anderen zeigten keine besondere Reaktion.
Kapitel 14: Bis zur letzten Träne
Die Nachricht über das Ableben Arno Kliens verbreitete sich in Frankfurt am Main schneller als ein Lauffeuer. Bereits Stunden nach der brutalen Ermordung des deutschen Clanchefs und Hauptverantwortlichen für die Allianz der Clans wussten es die Bewohner des Stadtkerns und spätestens als die Morgensonne aufging hatten sogar die Hinterwäldler in den Vororten davon Wind bekommen. Allerdings wurde die Geschichte um die Art und Weise seines Todes von den anderen Clanführern etwas abgeändert – was eine wesentliche Wirkung haben sollte. Weil Juri Koskows Leute Ben Wolff und dessen neugefundene Freunde beim Waffendiebstahl gesichtet hatte, nutzte man dies, um Arno Klien des Putsches zu bezichtigen. Offiziell wurde verkündet, dass die Organisation des alten Mannes versucht hatte, die Macht an sich zu reißen und die anderen Familien auszustechen. Ein Hirngespinst natürlich, doch es forderte viele Tote. Die Obersten in Arnos Stab wurden allesamt hingerichtet, ebenso wie etliche andere seiner Vollstrecker oder Leibwächter. Einzig die kleinen Fische in seinem Clan mussten - offenkundig gezwungenermaßen - die Seiten wechseln. Für den von Arno so sehnsüchtig herbeigewünschten Frieden war das alles natürlich nicht sonderlich förderlich. Im Gegenteil. Erste Spannungen wurden erzeugt. Misstrauen entstand. Blake war mit seinem ersten Schritt mehr als nur erfolgreich gewesen.
Und wie die Bevölkerung auf diese Neuigkeiten reagierte? Gemischt würde es am besten bezeichnen. Viele feierten, lachten und weinten Freudentränen. Jener Teil der Stadt aber, der unmittelbar unter Patron Arnos Schutz stand, erschauderte und verlor die Hoffnung. Arno war zwar ein Verbrecher und kein besonders guter Mensch, doch im Vergleich zu den anderen Vierteln Frankfurts ging es den Leuten in seinem Gebiet noch verhältnismäßig am besten. Nun allerdings entstanden erste Differenzen bezüglich der Gebietsaufteilung. Ähnlich hatten die früheren Clankriege begonnen.
Die Nacht darauf. Im Hauptquartier von Paul, Yamina und Cans stetig wachsenden Bürgerbewegung wurde hingegen wild gefeiert. In der stickigen, großflächigen Bunkeranlage tropfte der Schweiß der tanzenden Menschen schon von der Decke, und die Musik aus den gestohlenen Boxen war so laut, dass man sie womöglich sogar im Freien gehört hätte. Selbstverständlich freuten sich die drei Initiatoren der Bewegung auch. Yamina schwang das Tanzbein, nachdem sie vorhin mit Can und dem Bosnier vom Waffenlager-Überfall, der Marko hieß, drei Wodka-Shots hintereinander getrunken hatte. Paul vergnügte sich auch und stieß mit vier erwachsenen dickbäuchigen Männern auf den vermeintlichen Triumph an. Immerhin wussten sie nichts von Blakes eigentlicher Mitwirkung. Sie waren im Glauben, dass einzig und allein ihr Angriff auf das Waffenlager dafür gesorgt hätte, dass Chaos innerhalb des Bündnisses ausbrechen würde. Was für ein böser Trugschluss das war.
Nur Ben war nicht auf der Party. Er war draußen und saß direkt neben der Luke zum Bunker. Da Paul ihn längere Zeit über nicht gesehen hatte, riskierte er einen Blick ins Freie und stieg durch die Luke nach draußen, wo er den Vollstrecker am Boden sitzend vorfand. Paul hielt mit der rechten Hand ein halb-volles Bier und trug schweißdurchnässte Kleidung, während Ben in seinem typischen Trenchcoat der kühlen Nacht trotzte.
„Hey, hab'... dich nicht unten gesehen", meinte Paul. Man merkte, dass er schon etwas Alkohol intus hatte.
„Du bist besoffen, hab' ich Recht?", war Bens Antwort.
„Jo... Mehr oder weniger... Haben ja immerhin Grund zu feiern."
„Wenn du das so siehst... Feiern... Pf. Was feiert ihr denn?" Ben pustete den Rauch seiner Zigarette aus. „Euren Untergang? Ihr denkt, unser Angriff hätte dafür gesorgt?"
„He, Ben... Komm' mal runter."
„Ich komm' nicht runter!" Ein böser Blick vom Vollstrecker. „Was denkst du eigentlich, wer du überhaupt bist? Ein Held, oder was? Dass Arno gestorben ist war nicht unser Verdienst."
Paul setzte sich zu Ben dazu und nahm einen weiteren, tiefen Schluck vom Bier. „Was macht dich da so... sicher, wenn ich fragen darf?"
„Verträgst du den Scheiß überhaupt?" Der offenkundig aufgebrachte Exekutor lenkte vom eigentlichen Thema ab.
„Wa... Was vertrag' ich?"
Ben rollte mit den Augen. „Das Bier... Den Alkohol."
„Oh... Ja, also... Ich vertrag' eigentlich schon recht viel", antwortete Paul verlegen. Seine Nase war bereits leicht rot.
„Tz. Bei deinem Gewicht bist du nach einem Bier schon zu vergessen." Der Vollstrecker lachte kurz. „Schau' dich mal, du taumelst und lallst."
„Nur leicht..."
„Naja. Wie man's sieht. Wie läuft's mit dem Mädchen?"
„Mädchen?"
„Stell' dich nicht blöder als du bist."
„Ah, Yamina... Was soll da laufen?"
„Stehst du nicht auf sie?"
„Nein... Ganz und gar nicht..."
Wieder ein kurzer Lacher von Ben. „Und wieder lügst du, pah!"
„Willst du jetzt endlich meine andere Frage beantworten, Ben?", wollte Paul schließlich wissen.
Ben drückte die Zigarette am Boden aus. „Hör' zu, Paul. Ich weiß, du hattest vielleicht ein schwieriges Leben und so. Aber du bist schließlich kein Sohn von irgendeinem Boss. Wie die Gangs funktionieren, wie die Clanführer ticken, was die für Spielchen spielen... Davon hast du keinen blassen Schimmer. Da ist jemand anderes beteiligt gewesen. Arno war wie ein Vater für mich. Ich bin mit solchen Leuten groß geworden. Er würde das Bündnis nicht verraten. Nie. Er hätte sogar mich und seinen Bruder Benjamin Brookshields geopfert."
„Wa... Warte... Was? Er wollte Benjamin Brookshields töten?"
„Wollen nicht. Die anderen im Bündnis wollten es. Er hat es aber geduldet. Und deshalb hab' ich ihn verlassen."
„Scheiße, Mann..." Paul war der Schock anzusehen.
„Deswegen kann diese Lügengeschichte, die da erzählt wird, nicht stimmen. Er wurde schlicht und einfach verraten. Oder falsche Infos wurden gestreut. Keine Ahnung. Jedenfalls steckt irgendwer anders dahinter."
„Hast du da eine konkrete Vermutung?"
„Ja."
„Wer?"
Nun sah Ben dem jungen Paul tief in die Augen. „Blake Nathaniel Brookshields."
„Was? Willst du mich verarschen, Ben? Der? Warum genau der?"
„Hör' zu!" Ben packte Paul mit der Hand am Kinn. „Er hasst Pap... Arno und seinen eigenen Vater wie die Pest! Er hat mitbekommen, dass ich den alten Brookshields eigentlich töten hätte sollen, es aber dann doch nicht gemacht habe..." Er ließ den Jungen wieder los und führte seinen Blick Richtung Himmel.
„Okay, okay... Wie hat er's erfahren? Und wieso verdächtigst du ihn trotzdem?"
„Ich hab's ihm gesagt, als ich dort war, in ihrem Zuhause. Außerdem ist er ein Psychopath. Ein hochintelligenter, skrupelloser Irrer, der nur nach außen hin so edel wirkt. Ich kenn' dieses Balg seit meiner Kindheit. Er hat mal, als er so um die acht Jahre alt war, ein Nachbarskind am Spielplatz mit einem Stein totgeschlagen, bloß weil es sein Spielzeug geklaut hat. Danach hat er die Schuld auf ein anderes Kind geschoben. Jeder hat ihm geglaubt, weil er seine Bestürzung so dermaßen gut gespielt hat. Ich hätt's selber nie erfahren, wenn er es mir nicht mal irgendwann gesagt hätte."
„Gestört..."
„Sehr, Paul... Sehr."
„Weiß er von unserer Gruppe?"
„Bis jetzt noch nicht, denke ich. Das ist gut so. Denn sobald er davon erfährt, wird es uns nicht mehr lange geben."
Der Vollstrecker seufzte einmal laut und legte sich dann auf den Rücken. Den Kopf stützte er mit seinen Armen. Eine nächste Zigarette zündete er sich im Liegen an und schaute in den wundervollen Nachthimmel – keine einzige Wolke, nur ein Meer aus hell glitzernden Sternen. Faszinierend, diese anderen Welten. Welche Probleme es wohl dort zu lösen galt?
Papa... Er verlor sich kurz in Gedanken. Warum hast du es soweit kommen lassen?
Paul legte sich ebenfalls auf den Rücken und starrte gemeinsam mit Ben in den Himmel. „Du, Ben? Ehrlich jetzt, vermisst du Arno Klien? Für uns war er immer ein Feind, aber du... du sagtest ja gerade, er wäre wie ein Vater für dich gewesen, hm?"
„Warum interessiert dich das so brennend?"
„Lass' doch endlich mal deine künstliche Fassade fallen, Mann... Als hättest du noch nie geweint um jemanden..."
„Wir alle weinen, wenn wir jemanden verlieren, der uns etwas bedeutet hat..."
„Willst du damit sagen, du hast...?"
„Ja, vorhin sogar etwas."
„Oh..."
„Arno Klien hat mich aus den Trümmern geholt. Das Gebäude war eingestürzt – zusammen mit meinen Eltern. Ich war weg, als es passierte. Und dann kam ich zurück und sah es. Stunden saß ich da, vor dem zerstörten Haus und hab' geheult. So lange, bis ich keine Träne mehr weinen konnte. Da kam er vorbei, sah mich und nahm mich mit. Nicht gewaltsam. Das Erste, was er machte, war, mir einen Mantel umzulegen und den Kopf zu streicheln." Der Vollstrecker pustete den Qualm seiner Zigarette in den Himmel, und zwar so, dass der Rauch den kleinen Wagen überdeckte. Just in dem Moment erinnerte ihn dieses Sternbild an einen Kinderwagen – und schließlich auch an seinen Ziehvater Arno. „Was für eine Verschwendung einfach... Scheiß Welt..." Eine winzige, kaum erkennbare Träne lief seine rechte Wange runter.
„Ich hab' meinen echten Vater nie kennengelernt. Bin mehr oder weniger als Waise aufgewachsen", versuchte Paul einzuwenden, um Ben ein wenig zu trösten. Auch wenn sich der Vollstrecker Mühe gab, nach außen hin stahlhart zu wirken, merkte man die innere Gebrochenheit sehr.
„Sei froh... Sei froh."
Kapitel 15: Neue Pläne
Am Morgen nach den zahlreichenden ausschweifenden Feierlichkeiten im Unterschlupf der neuartigen Bürgerbewegung um Paul, Yamina, Can und nun auch Ben Wolff sah die Halle dreckig aus. In jeder Ecke fand man Kotze, Glasscherben, teilweise Blutflecken und natürlich auch die schlafenden Nachtschwärmer. Auch Yamina und Can hatten es sich in ihren jeweiligen Betten gemütlich gemacht und schliefen bis zehn Uhr des nächsten Tages, ohne dabei auch nur irgendein Anzeichen des Wachseins zu machen. Und Paul war im Freien nach seinem Gespräch mit Ben relativ rasch eingeknickt, als er längere Zeit gebannt in den Himmel gestarrt hatte. Nur Ben bekam kaum ein Auge zu.
Er hockte seelenruhig da, rauchte unaufhörlich und blickte in die Ferne. Neben ihm lag Paul und schlief noch. In dieser Nacht war Ben einige Male aufgrund seiner Einschlafprobleme mit dem Motorrad um die Lagerhalle, die der Bewegung als Unterschlupf diente, gefahren, um etwaige Späher auszumachen. Aber er fand – glücklicherweise – bis auf einige halb-verhungerte Obdachlose und ein paar schwarzhäutigen Drogendealern nichts Bedrohliches. Er wusste, die Gruppe der Jugendlichen würde alsbald mit ihren Aktionen ins Kreuzfeuer der Clans geraten. Nicht, dass ihm das großartige Sorgen gemacht hätte. Immerhin war das Teil des Plans, und um dem derartig hochgesteckten Ziel der jungen Menschen zumindest etwas näher zu kommen, musste man den offenen Kampf mit den Mächtigen dieser Stadt suchen. Wen er allerdings tatsächlich ein wenig fürchtete, war Blake Nathaniel Brookshields. Er war sich seines Wahns und seiner Bereitschaft, alles Erdenkliche zu tun, um in der Sonne bleiben zu können, bewusst.
Als Ben die mittlerweile zwanzigste Zigarette seit Mitternacht anzündete, wachte endlich der junge Anführer neben ihm auf. Seine einzige Decke war ein blauer, durchlöcherter Kapuzenpullover. Diese Nacht war von einem überraschend warmen Fön begleitet worden.
„Hey... Ben... Guten Morgen...", brachte Paul langsam heraus, gähnte einige Male und rieb sich die Augen wie ein Kleinkind.
„Schlaft ihr immer so ewig?"
„Ja... Wir haben gefeiert, wie du weißt. Hast du denn gar nicht geschlafen?"
„Nur einige Minuten."
„Wieso das?"
„Was ist das für eine dämliche Frage? Weil's so ist, verdammt."
Paul seufzte. „Ach, okay... Hast du irgendwas geträumt?"
„Ich hab' davon geträumt, wie ich dir den Kopf abschlage." Sagte Ben und machte dabei ein wahrlich bedrohliches Gesicht. „Egal, komm', lass' uns zu den anderen gehen. Wir müssen die weiteren Schritte besprechen", führte er fort.
„Jetzt schon?" Paul kannte sich nicht aus.
„Ja. Immerhin gibt's bald Krieg. Komm' mit."
Ben ging als Erster wieder durch die schwere Bunkertür ins Innere der unterirdischen Halle. Tatsächlich musste er hin und wieder die Nase wegen des furchtbaren Gestanks von Erbrochenem und Alkohol verziehen. Er sah beim Vorbeigehen, wie einige der Bürger – unabhängig von Alter oder Ethnie – noch immer nackt übereinander lagen. Offenbar hatten diese Personen in ihrem Rausch sogar vergessen, sich nach Beendigung ihrer Orgie wieder anzuziehen. Letztlich klatschte Ben ein paar Mal laut mit den Händen und rief die teils schlafende Meute zur Besprechung auf. Weil eine Vielzahl der Belegschaft zunächst nicht reagierte, musste Paul ebenfalls mit Schreien nachhelfen. Nach einer Zeit hatte man dann alle wachgekriegt, und auch Yamina und Paul bekamen die Rufe ihrer Freunde aus ihrem Zimmer mit.
Yamina und Paul teilten sich regelmäßig den gleichen Schlafraum in der Bunkeranlage, wenngleich sie immer in getrennten Betten schliefen. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit, wuchsen beide in den gleichen elenden Verhältnissen auf, aber bis zu ihrer Jugend sahen sie sich stets als Freunde – und keineswegs als mögliche Liebespartner. Zumindest Can hegte seit seinem fünfzehnten Lebensjahr sexuelle Gefühle für die dunkelhäutige, lockige und hübsche Yamina, die ihm jedoch keinerlei Beachtung in dieser Hinsicht schenkte. Natürlich liebte sie ihn, genauso wie sie Paul liebte. Aber diese Liebe von ihr war nicht erotischer Art. Und in gewisser Weise kränkte das Can. Oft genug hatte er in seinen perversen Fantasien an sie gedacht... Und immer wieder probierte er, bei ihr zu landen. Was jedes Mal misslang.
„Was schreien die so?", fragte die gerade aufgewachte Yamina ihren besten Freund, der gegenüber von ihr im Bett ebenfalls nahezu zeitgleich die Augen aufmachte.
„Oh... Paul und Ben sind das... Die wollen uns allen irgendwas mitteilen...", antwortete Can und fuhr sich durch sein dichtes, türkisches Haar.
„Wenn das so ist..." Man merkte, dass Yamina im Begriff war, aufzustehen.
„Hey, Yamina...", sagte Can, kam zu ihr und nahm ihre Hand. „Die reden doch nur unwichtiges Zeug. Lass' uns lieber hier bleiben und weiterschlafen..."
Yamina fühlte sich unwohl, als er ihr so nahe kam. „Ich weiß nicht... Es geht vielleicht um den Plan."
„Der Plan... Der Plan... Den gibt's am Nachmittag auch..."
„Ich werd' mir das anhören, Can", meinte sie abschließend und stand auf, um zur Versammlung zu gehen.
Genervt und von seiner erneuten Niederlange erzürnt folgte ihr Can widerwillig, nachdem er sich sein Shirt angezogen hatte.
Nun, als Yamina und Can schließlich eintrafen, waren fast alle Teilnehmer der von den jungen Waisen ins Leben gerufenen Bürgerinitiative anwesend, um den Worten des Ex-Vollstreckers zu lauschen.
„Freunde...", sagte Ben vor versammelter Menge. „Ihr wisst, dass Arno Klien gestern gestorben ist. Kaltblütig ermordet... Von Leuten aus seinem eigenen Bündnis. So ist das als Boss. Um einen herum gibt es nur Ratten, und kaum echte Freunde. Sein Tod hat in seinem Viertel in Frankfurt-Westend für Tumulte gesorgt. Ich hab' gestern Nacht eine kleine Rundfahrt in dieser scheiß Gegend hier gemacht und das durch ein paar afrikanische Dealer rausgefunden. Wenn die Leute in einem Kaff wie diesem hier über etwas Bescheid wissen, was so viel weiter weg passiert, muss es eine große Nachricht sein. Wie dem auch sei, was bedeutet dieses Chaos nun?", fragte er prüfend in die Runde.
„Dass wir die Chance ergreifen müssen", gab eine zirka vierzigjährige Frau mit blonden Haaren und Hamsterbacken als Antwort.
„Ist schon richtig, aber was passiert eurer Meinung nach gerade dort?", musste Ben seine Frage präzisieren.
Der mit verschränkten Armen dastehende Can meldete sich zu Wort: „Jeder will sich das Viertel unter den Nagel reißen."
„Genau. Die Bosse im Bündnis sind allesamt scharf auf Westend. Aber damit wir endlich an wahre Macht kommen, brauchen wir Gebiete in Frankfurt. Wir können uns nicht ewig in diesem Drecks-Schuppen verkriechen. Der ist höchstens als Notunterkunft geeignet, aber niemals, um die Stadt einzunehmen."
Nun sprach Paul – der eigentliche Anführer – weiter. „Richtig! Wir haben genügend Mopeds, Autos und Motorräder geklaut... Damit sollten wir in dieses Viertel fahren, die angreifenden Feindgangs zermalmen und die Leute auf unsere Seite ziehen."
„Nur wie geht das? Wieso sollten die uns akzeptieren?", wollte ein alter Herr mit Glatze und Krücken wissen.
„Weil wir anders sind als die Clans und Gangs. Sie haben die Bevölkerung dort jahrzehntelang mit Rauschgift und Versklavung unten gehalten... Mithilfe von Brookshields Wasseranlage hatten sie etwas, mit dem man sie erpressen konnte. Wir werden ihnen jetzt weißmachen, dass wir uns all das zurückholen, was uns genommen wurde! Wir werden als Befreier, nicht als Eroberer dort eintreffen! Deswegen fertigen wir überall, an jeder Ecke und an jeder Wand Graffitis, Plakate und Sprüche an und wir gehen ins jedes Wohnzimmer, um unsere Botschaft zu verkünden! Wir werden Wasser an die Bevölkerung verteilen! Und jeder Störenfried wird aus dem Weg geräumt!"
„Das ist der richtige Schritt...", sagte Yamina. „Die Menschen sind nicht dumm. Sie wissen, was ihnen genommen wurde. In ihren Herzen sehnen sie sich danach, wieder frei zu sein. Und diese Freiheit geben wir ihnen. Als unser Geschenk."
„Nur...", setzte Ben fort. „Werden wir damit den Hass der Clans auf uns ziehen. Bis jetzt waren wir quasi unsichtbar. Aber durch diese Aktion geraten wir erstmals ins Visier unserer Feinde. Das muss euch bewusst sein. Dadurch beginnt der wahre Krieg. Aber... zum Glück haben wir jetzt allerhand Waffen. Und mit jedem weiteren Sieg werden es mehr!"
„Seid ihr bereit dazu?", fragte Paul die Meute.
Sie jubelte, hob die Arme und schrie euphorisch.
„Dann geht's los! In einer Stunde fahren wir von hier weg! Währenddessen besprechen wir noch die Einzelheiten des Plans!", befahl Paul ihnen.
Und somit wurde der erste wirklich bedeutsame Schritt gewagt. Innerhalb dieser einen Stunde packten sie alle ihre Ausrüstung, Schutzwesen, Plakate, Graffitidosen, Lautsprecher, Sprengstoffe, Waffen und Messer. In der Halle merkte man, wie der Frust der Frankfurter Stadtbevölkerung über die Jahre aufgebaut wurde. Hochmotiviert und bereit zur Rebellion waren sie pünktlich nach Ablauf dieser sechzig Minuten startklar. Den Plan hatten sie akribisch genau einstudiert. Sie sammelten sich alle draußen - vor der Lagerhalle - auf ihren Gefährten sitzend. Von jung bis alt, vom Araber bis zum Deutschen, vom Krüppel bis zum Athleten war jeder dabei.
Ben stand mit seinem Motorrad in der ersten Reihe und auf seinem Hintersitz saß Paul, der eine Maschinenpistole in der Hand hielt. Nachdem Ben sich kurz umgedreht hatte und die versammelte Moped-Armee hinter sich inspizierte, sah er wieder nach vorne, lächelte und startete die Fahrt. Das war das Startsignal für die kommende Schlacht.
In unter zwanzig Minuten krachten sie wie ein Blitz schlagartig in das ehemalige Viertel ein, das Bens Ziehvater gehört hatte. Dort angekommen wehte ein unangenehmer Sandsturm, überall schrien die Menschen in Panik und von jeder Richtung aus hörte man Feuergefechte. Es war offenkundig, dass bereits jetzt um diesen Bezirk gekämpft wurde. Wie nach Plan teilten sich die einzelnen Mopeds von Pauls Bürgerbewegung in verschiedene Gassen und Straßen auf und begannen, von den Bikes aus auf herannahende, feindliche Gangmitglieder zu schießen.
Yaminas Gruppe begab sich zum Beethovenplatz – der mittlerweile zu einem reinen Drogenumschlagplatz mutiert war – und verteilte dort tausende Flugblätter, wo ihre Nachricht verkündet wurde. Dabei erschossen sie offenkundige Dealer und schrien ihre Parolen durch mitgebrachte Lautsprecher, sodass man ihre Worte noch in jedem elendigen Schlafzimmer der dortigen Hochhäuser vernehmen konnte.
„Befreit euch von der Plage dieser Stadt! Schließt euch uns an! Die Freiheit ist unser!", wurde von den Rebellen in jeder Gasse verkündet.
Cans Gruppe nahm sich die einzelnen bedeutsamen Wohnhäuser in der Mainzer Landstraße – im ehemaligen Businessdistrikt – vor. Dort hatten sich in den letzten Stunden zwischenzeitig die neuen konkurrierenden Clans eingenistet, um ihre Prostitutions- oder Drogengeschäfte abzuwickeln. Diese Information erhielten die Rebellen von den ansässigen Straßenkindern. Das erste Wohnhaus, das Can und seine Leute säuberten, war von Seb Kints Motorrad-Gangstern besetzt. Kampflustig traten sie jede Zimmertür auf und legten die gesichteten Feinde um. Viel Gegenwehr kam nicht, da Can und seine Gefolgschaft blitzschnell agierte.
Das nächste zu säubernde Wohnhaus war von Toninos Leuten okkupiert worden. Hier kam es zu ersten heftigeren Schusswechsel, in dessen Verlauf auch einige wenige Vertreter der Bürgerbewegung starben. Letztendlich konnte jedoch trotzdem der Sieg davongetragen werden. Die Männer des Italieners wurden dezimiert und mussten davonlaufen.
Die dritte und für den heutigen Tag letzte Hochburg der Gangs war ein breiter Wohnblock direkt neben der zur Hälfte abgerissenen St.-Antonius-Kirche. Yumas anzugtragende, japanische Killer waren dort anzutreffen. Diese waren im Vergleich zu Sebs oder Toninos Leuten wesentlich organisierter. Dementsprechend war es hier etwas härter, das Haus einzunehmen und es kostete letztlich mehrere Opfer. Can selbst geriet beim Durchsuchen einer Wohnung in einen Nahkampf mit einem dieser Anzugträger und bekam zahlreiche Faustschläge verpasst. Mit lauter Wunden im Gesicht konnte er sich nur retten, indem er seinem Gegner plötzlich ein kleineres Messer, das er an seinem Fußgelenk angeschnallt hatte, in den Bauch rammte.
Die lokale Bevölkerung nahm allmählich Notiz von den Kämpfen und half intuitiv der Bürgerbewegung dabei, die Japaner aus dem Block zu vertreiben, was am Ende auch gelang. Das war genau das, was sie erreichen wollten: Eine Botschaft senden. Indem sie Propaganda verbreiteten und zeitgleich andere Gangmitglieder beseitigten, war bis vier Uhr am Nachmittag schon nahezu das gesamte Viertel erobert. Und die Bürger dort feierten, rannten aus ihren dunklen Zimmern und begrüßten ihre Retter, als ob sie Heilige gewesen wären. Es war nahezu biblisch.
Und was Ben und Paul derweil machten? Sie waren unmittelbar im Zentrum von Westend, in der Nähe des Hauptbahnhofes, und koordinierten von einem Hausdach aus die einzelnen Aktionen ihrer Gruppen hauptsächlich per Funk. Außerdem hatten sie auch hier in der Gegend ordentlich aufgeräumt und den Abschaum von Drogendealern und andersartigen Verbrechern aus dem Weg geräumt. Hier, vom Hausdach aus, konnten Ben und Paul in der Ferne den famosen Main-Tower sehen – den Sitz des Bösen. Dort, nicht weit weg von ihnen, residierte der alte Brookshields und amüsierte sich vermutlich prächtig über den wortwörtlich brennenden Distrikt.
„Ben, Can und die Kampfgruppe haben jetzt die drei Häuser gesäubert. Sie haben alle Gangmitglieder, die sie finden konnten, getötet oder vertrieben", teilte Paul dem Vollstrecker triumphierend mit.
„Sehr gut. Alles verläuft nach Plan. Ich sagte doch, wenn man schnell vorgeht, ist man viel erfolgreicher." Ben lenkte seinen Blick hinauf zum Main-Tower. „Irgendwann müssen wir ihn erledigen."
Oder besser gesagt: Dich, Blake...
„Das stimmt... Aber zuerst die Gangs, dann Brookshields. Ohne die Clans ist er machtlos."
„Ja. Das ist richtig." Der Vollstrecker sah wieder zu seinem Schützling Paul. „Junge, das kommt sicher überraschend, aber du musst jetzt mit mir mitkommen... alleine!", forderte er ihn auf.
„Was? Sag' mal, spinnst du? Mitten im Kampf geh' ich nicht von der Front weg!", widersetzte sich Paul.
„Du wirst mitkommen. Es wird sich für deine Sache lohnen."
„Ben, nein!"
„Komm' mit. Oder dein Traum wird sich in Luft auflösen. Es muss jetzt sein!"
Widerspenstig legte Paul sein Funkgerät nieder und folgte Ben, der die Treppen des Gebäudes herunterging. Er hatte keinerlei Idee, was der Vollstrecker mit ihm vorhatte. Teil des Plans war dieser plötzliche Ausflug definitiv nicht. Unten auf der Straße angekommen stiegen sie auf sein Motorrad und Ben fuhr rasant fort. Er wusste offenbar genau, wohin er musste.
„Verrätst du mir endlich mal, was der Dreck soll? Wohin fahren wir, Ben?", fragte der Junge neugierig am Hintersitz, während sie mit der Maschine fuhren.
„Nicht weit weg. Gleich in der Nähe von hier. Die alte Frankfurter Volksbank... Oder was davon übrig ist. Dort hat Arno sein ganzes Erspartes verstaut. Du weißt schon, Gemälde, Wasser, Gold, Schmuck... Das ist ja wichtig, ne? Waffen und Soldaten sind zwar nett, aber für erfolgreiche Kriege braucht man eben auch Geld."
„Woher weißt du, dass das dort ist?"
Der Idiot passt nicht auf.
„Ich war sein Ziehsohn, du vergesslicher Trottel."
„Oh, ja... Aber sind dort nicht tausende Wachen?"
„Nein. Genau einer. Aber der zählt wie tausend Mann."
„Was erwartet mich da für eine kranke Scheiße? Und warum gehen wir dann nicht mit unseren Leuten dort hin?"
„Du wirst schon sehen... Es war wichtig, dass niemand davon weiß. Und gerade jetzt haben unsere Leute nur den Kampf, den wir praktisch gewonnen haben, im Kopf. Also passender geht's kaum."
Sie fuhren schnell, und es nahm nicht allzu viel Zeit in Anspruch, bis sie beim besagten Volksbankgebäude ankamen. Selbstverständlich war das kein aktives Bankunternehmen mehr, sondern nur eine scheinbar menschenleere, große und verstaubte Ruine, in die sich allerhöchstens einige Junkies oder Stricher verirrten. Am aufgebrochenen Eingangstor des Bankgebäudes stellte Ben sein Motorrad ab, nahm seine Pistole in die Hand und gab die Richtung vor. Im Foyer der Bank sah man nur längst aufgegebene Schalter und zerbrochene Stühle... Doch das war nicht das, was Ben interessierte. Kein Mensch wäre jemals auf die Idee gekommen, sein ganzes Hab und Gut gerade in einem verlassenen Bankgebäude zu verstauen. Und das war Arno Kliens Absicht. Also suchte man auch nie danach, weil es eben keiner dort vermutet hätte. Für den seltenen Fall, dass doch einer darauf stoßen würde, hatte er jedoch vorgesorgt.
Ben führte Paul über einige Hintertüren der Bank zu einer engen Treppe, die in den Keller ging. Es dauerte ganze vier Minuten, bis sie die unterste Etage erreichten. Danach mussten sie noch einen Flur bestreiten und kamen endlich an ihrem Ziel an – ein großer Tresorraum in einem der zahlreichen Räumlichkeiten des Kellers. Bis dahin war nichts abgesichert. Nur der Tresor selbst war natürlich verschlossen, wobei das das geringste Problem war.
In dem abgedunkelten Tresorraum sahen die beiden eine Silhouette auf einem Stuhl sitzen, der mit dem Rücken zu ihnen gedreht war. Dieser jemand, der durch das mangelnde Licht nicht gut erkennbar war, schien Zigarre zu rauchen und Whiskey zu trinken. Im Raum lagen einige mehr oder weniger frische Leichen und auch ein paar Skelette. Auf einem Kasten stapelten sich abgetrennte Schädel. Außerdem roch es hier furchtbar nach Tod und Verwesung.
„Wurde Zeit, dass du kommst...", flüsterte der sitzende, unheimliche Mann mit einer bedrohlich tiefen Stimme. Sie war noch tiefer als die von Ben.
„Das ist wahr... Ray."
„Lang ist's her, Ben", antwortete Ray.
„Ja... Ist es. Wie viele Jahre hockst du schon da unten?"
„Pf. Ich hab' aufgehört zu zählen."
Paul war sichtlich verängstigt. Er wusste, dass mit diesem Mann nicht zu spaßen war. Die Tatsache, dass er als einzige Wache eingesetzt wurde, verdeutlichte schon alles. Der Junge begann zu zittern und wurde blasser, als er es ohnehin schon gewesen war.
„Be... Ben... Wer ist... das?"
„Das Gleiche wie ich, Paul. Ein Vollstrecker von Arno."
„Du hast den Jungen mitgebracht... Wieso tust du ihm das an?", fragte Ray. „Du weißt, es gibt nur einen Grund, weshalb du hier bist. Ich hab' gehofft, dass wir uns nie wieder sehen, Ben."
Nun stand der mysteriöse Ray von seinem Stuhl auf. Als er sich erhob, wurde seine enorme Körpergröße und Breite deutlich. Er drehte sich um und kam den beiden näher. Als hier das Licht besser wurde, zeigte sich, dass Ray eine Glatze trug, oberkörperfrei war und nur eine zerrissene Jean anhatte. Auf seinem gesamten, muskelbepackten Torso fanden sich Narben, Schürfwunden und ein fett aufgetragenes Reichsadler-Tattoo. Während er vor dem ebenfalls großgewachsenen Ben stand wurde klar, dass er mindestens zwei Meter groß und sicherlich über hundertzwanzig Kilo wog. Das Gesicht von Ray war wenig einladend. Er hatte keine Brauen mehr, kaum Lippen, eine mehrfach kaputtgeschlagene Nase und kristallblaue Augen. Und eine Hakenkreuz-Tätowierung auf der Stirn.
„Bist du bereit, Ben?", fragte die Monstrosität.
Kapitel 16: Die Monstrosität
Der unschöne Koloss bewegte sich langsam auf die zwei ungebetenen Gäste zu. Mit jedem Schritt, den er machte, kam er dem schwachen Licht näher und dementsprechend wurde sein grausames Antlitz besser beleuchtet. Als er schließlich gänzlich unter der einzigen, winzigen Lampe des Raumes stand, wurde seine abgrundtiefe Bestialität bestens erkennbar. Die verbliebenen Zähne waren gelb und verfault, die Nase schien schon zum tausendsten Male gebrochen worden zu sein, die Stirn wies das besagte Hakenkreuz-Tattoo auf, die Brauen waren nicht vorhanden und die Augen sahen hypnotisierend aus aufgrund ihrer hellblauen, absurden Farbe. Die Kreatur wirkte kaum wie ein menschliches Wesen, war aber gar zu hässlich, um überhaupt als Tier tituliert zu werden. Ray, der ehemalige Vollstrecker Arnos und Bens Quasi-Berufskollege hatte garantiert seit Jahren kein echtes Sonnenlicht mehr gesehen, weswegen seine Haut merkwürdig weiß war. Wenn er sich überhaupt ins Äußere wagte, dann nur nachts.
Immer wieder geschah es, dass sich Betrunkene oder neugierige Jugendliche in das Kellerabteil dieses eigentlich längst verlassenen Gebäudes begaben, in dem Arnos angespartes Vermögen lagerte. Und falls diese Leute das Pech hatten, den Keller tief genug runterzumarschieren, stießen sie unweigerlich auf Ray. Diese Menschen waren mehr oder weniger seine Hauptnahrungsquelle. Bei den Eindringlingen ging Ray daher in der Regel bestialisch vor. Entweder man hatte das Glück, unmittelbar durch seine Schrotflinte ums Leben zu kommen, oder man wurde unfreiwillig Part einer abscheulichen Kannibalen-Orgie. Wie dem auch sei, die Monstrosität hatte Arno einst den Treueschwur gegeben und versprochen, niemanden je an den Tresor zu lassen. Seltsamerweise kam Ray trotz seiner gewaltigen Stärke nie auf die Idee, sich selbst zu bereichern und mit dem vielen Geld einfach abzuhauen. Nein, es war so, als wäre er gehirngewaschen worden. Fast schon krankhaft akribisch führte er seine aufgetragene Mission durch wie kaum ein anderer Clan-Krieger. Der wohl Treueste der Treuen.
„He, Ben, das... das kannst du mir doch nicht antun! Wie soll ich gegen den kämpfen? Der reißt mich in Stücke... Der reißt uns in Stücke, Ben!", lamentierte der sichtlich nervöse Paul, als Ray ganz langsam auf die beiden zuging.
„Ruhig, Junge. Der Typ ist gefährlich, das stimmt, aber vielleicht können wir ihn besiegen."
„Vielleicht? Was heißt vielleicht? Willst du mir damit sagen, dass unsere Chancen schlecht stehen?"
„Es ist so... an der Kippe."
„Was ist mit dir falsch, Ben? Warum sind wir nicht mit mehreren Leuten hierhergekommen? Dann hätten wir anders vorgehen können... Ihn mit Sprengfallen oder so aus dem Weg räumen können..."
Die Atmung des Jungen wurde schneller. Ben behielt seine übliche Haltung und zeigte wenig Erregung, während sein Kumpan richtig blass vor Furcht wurde.
Ben wusste jedoch die passende Antwort, die auch tatsächlich rational war. „Mein Freund, dort bunkert Arno sein ganzes Hab und Gut, verstehst du? Bald gibt's Krieg, da brauchen wir halt Geld."
„Das weiß ich! Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass..."
„Ruhig!", unterbrach ihn Ben. „Wie gesagt, es ist wichtig, dass nur du und ich davon wissen. Du darfst niemandem was von diesem Tresor verraten, hörst du? Du musst immer wieder in Raten was rausnehmen und es unserer Gruppe zuführen... Aber du darfst nie jemandem etwas davon erzählen!"
„Wieso bitte? Was hat das für'n Sinn? Ich kann's doch wohl Yamina und Can sagen!"
„Weil es in dieser Welt nur Ratten gibt. In diesem Spiel verraten dich selbst deine vermeintlich besten Freunde. Glaub' mir, wenn's mal soweit ist, wirst du mir dankbar sein."
Die Monstrosität Ray stampfte mit seinem rechten, schweren Bein laut auf den Boden, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.
„Seid ihr mit eurer Scheißdiskussion endlich fertig?", fragte Ray wütend und mit seiner abwechselnd hohen und tiefen Stimme. Er hörte sich wie ein Geisteskranker an.
„Nun, was soll ich dir sagen, Ray...", antwortete Ben seinem Kollegen. „Du wirst wohl wissen, warum ich hier bin."
„Das weiß ich ganz genau. Wie Arno mal sagte... Sollte sein geliebter Ziehsohn je hier runter kommen, dann deshalb, weil er ihn hintergangen hat." Ray verzog seltsam das Gesicht und grinste dabei krankhaft. Eine Sekunde später setzte er wieder einen boshaften Blick auf. Es war wahrlich erschreckend.
„Arno ist tot. Das solltest du noch wissen... Bevor es losgeht."
„Warst du es?"
„Nein. Das schwör' ich dir. Aber ich hab' mich von ihm abgewendet."
„Na dann... Keine Schusswaffen."
„Keine Schusswaffen."
Die Monstrosität näherte sich weiter an, indes Ben bereits in seine gewöhnliche Kampfhaltung ging. Seinen Trenchcoat hatte er zuvor auf den Boden gelegt – er würde ihn sowieso nur hindern. Ray begann nun, unmittelbar auf Ben zuzulaufen. Schließlich kam es zum Kampfkontakt. Mit einem gewaltigen Schwung boxte die Kreatur Ben mitten in den Bauch. Der Vollstrecker versuchte zwar, den Hieb mit seinen eigenen Armen abzudämpfen, aber das Unterfangen glückte nicht sonderlich. Ben ging durch den immensen Schlag zu Boden und gierte nach Luft, doch das Monster hörte selbstverständlich nicht auf, auf ihn einzutreten und einzuschlagen. Ben wurde von Ray durch dessen zahlreiche Schläge in die Ecke des dunklen Raumes gedrängt, sodass ihm alsbald kaum mehr Platz zur Verfügung stand. Immer wieder schaffte es Ben, einige Schläge sogar zu parieren, aber es war offenkundig, dass die Monstrosität ihm in Sachen Stärke weit überlegen war – und das, obwohl Ben bereits selbst zu den Besten der Besten zählte.
Der eingeschüchterte Paul probierte indes, den durch den Kampf abgelenkten Ray von hinten zu attackieren, indem er halbherzig auf dessen Rücken einschlug. Aber das half nichts. Die Kreatur schien dies zunächst nicht mal zu merken. Als Paul jedoch die Initiative ergriff und den mitten im Raum stehenden Sessel in die Hände nahm und mit voller Wucht auf den Rumpf des Glatzkopfes schmiss, reagierte Ray erstmals auf den Jungen. Weniger verletzt als genervt von dieser Wurfattacke drehte er sich um, fasste den Burschen ins Auge, ließ von Ben kurzzeitig ab und rannte auf Paul zu. Das Opfer bekam es mit der Angst zu tun. Er versuchte, wegzulaufen, aber konnte es wegen der riesigen Furcht nicht. Deshalb dauerte es nicht lange, bis Ray ihn im Würgegriff hatte. Das Fliegengewicht kassierte zunächst einen Faustschlag und wurde daraufhin von seinem Kontrahenten mit nur einer Hand gegen die nächste Betonwand katapultiert. Bei diesem Aufprall zog sich Paul ziemlich heftige Wunden zu. Am Boden liegend griff er sich auf den Hinterkopf und spürte das warme Blut, das von dort kam... Umso erschrockener war er, als er seine Hand wieder vor seinen Augen hatte. So rot waren seine Hände noch nie gewesen. Außerdem rannte auch noch Blut aus seinen Nasenlöchern und ein Backenzahn musste dran glauben. Dessen Fragmente spuckte der fertige Paul auf den Boden. Zu allem Überfluss kam Ray langsamen Schrittes auf den Burschen zu. Das war einer der Momente in Pauls Leben, in denen er dem Tod extrem nah war.
Zum Glück – und das war vermutlich auch Pauls Intention – hatte sich Ben in dieser kurzen Zeitperiode von den eingesteckten Schlägen erholen können. Einigermaßen zumindest.
Hoffentlich geht's auf... Hoffentlich kapiert' der Junge es..., sagte er in Gedanken zu sich, als Ben sich dem Monster näherte. Er ist schließlich kein Dummer... Niemand kann diesen Koloss alleine malträtieren.
Ray bemerkte nicht, dass dieses Mal Ben von hinten auf ihn zu gerannt kam. In der Hand hielt Ben dabei einen vom Boden aufgehobenen Schraubenzieher. Mit seiner höchsten Geschwindigkeit sprintete er auf den Rücken der Monstrosität zu, sprang auf ihn rauf und steckte das Werkzeug bis zum Anschlag in Rays Schulterbereich. Vor Schmerz musste sogar ein Tier wie Ray aufschreien. Danach versorgte Ben seinen ehemaligen Kollegen noch mit heftigen Tritten und Schlägen ins Gesicht. Das diente letztendlich jedoch nur dazu, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sein Plan beinhaltete etwas ganz Anderes. Und er hoffte, dass Paul klug genug sein würde, um zu erkennen, was jetzt getan werden musste.
So zog Ray selbstständig den Schraubenzieher aus den Rücken und widmete sich danach wieder voll und ganz dem Vollstrecker Ben, während Paul sich regenerieren konnte. Obwohl die Schmerzen unerträglich waren, wusste der Junge, dass kein Weg an der Kreatur vorbeiführte. Sollte Ben sterben, würde er der Nächste sein. Und nicht einmal der Teufel wusste, auf welche Art und Weise Ray Pauls Leben beenden würde. Ihn bei lebendigem Leibe zu verschlingen war wohl noch recht human für Ray. Also sprang Paul – wie zuvor Ben auch – auf den Rücken des Monsters, das gerade damit beschäftigt war, Pauls Begleiter zu verprügeln. Und als sich Paul an Rays Rücken festhielt, nahm er seine blutige Hand und steckte sie tief in die offene Wunde an dessen Schulter. Erneut musste die Kreatur vor Schmerz aufschreien. Die einzige Möglichkeit, ihm Schaden zuzufügen.
Er hats's geschnallt!
„Mach' weiter, Paul! Lass deine Hand drinnen stecken!", rief Ben seinem Begleiter zu.
„Ich kann nicht! Er wird mir den Kopf abreißen!"
„Tu's einfach!"
„Ihr scheiß Arschlöcher!", ertönte es wütend aus Rays Maul. Tatsächlich versuchte er, unter größter Anstrengung den Jungen von seinem Rücken zu schütteln, was ihm nicht gelang.
Das nun gegebene Interludium nutzte Ben, um den zuvor schon benutzten Schraubenzieher wieder aufzuheben und ihn dieses Mal mit aller Kraft in das linke Auge des abgelenkten Wächters zu rammen. Das war der Moment, in dem Ray unter lauten Schmerzensschreien zusammenbrach. Nun ließ auch Paul von ihm ab und entfernte sich vorsichtig einige Schritte.
Lieblos lag sie jetzt da - jene Bestie, die den Eingang zu Arnos Reichtum über all die Jahre hinweg erfolgreich bewacht hatte. Niemand hatte es bis dato geschafft, das Monstrum in irgendeiner Form zu verletzen. Vielleicht waren die vorherigen Eindringlinge einfach nicht raffiniert genug und dachten, die einzige Möglichkeit sei ein Einzelkampf. Wie einfältig von ihnen. Keiner, nicht mal Ben Wolff, hätte es jemals geschafft, diese äußerst effiziente Ein-Mann-Armee alleine zu besiegen.
„Jetzt müssen wir ihm nur mehr beim Verbluten zuschauen...", sagte Ben und hockte sich neben dem schwer verletzten Wachmann hin.
„Du Schwein! Du... Scheißkerl! Ich tö... töte... dich!", brachte Ray nur mehr gebrochen heraus, indes er lauter Blut spuckte und den Vollstrecker mit seinem verbliebenen Auge hasserfüllt anstarrte.
Man merkte deutlich, dass es mit seinem Leben in einigen Minuten vorbei sein würde. Das Blut überdeckte mittlerweile sogar das Hakenkreuz-Tattoo auf seiner Stirn.
„Ich hab' deine Loyalität wirklich bewundert, Ray... Muss ich leider zugeben." Ben blickte keineswegs triumphierend auf den am Boden taumelnden Koloss herab. Es wirkte eher so, als würde er ihn gar bemitleiden. „Stell' dir mal vor, es wäre jeder so treu wie du es gewesen bist..."
„Du Bastard... Du... dreckiger... Bastard!", Ray stotterte.
„Ja... Verständlich, diese Wortwahl...."
Nun schnappte der stark blutende und verletzte Ray einige Male tief und erschreckend schnell nach Luft, bis er das letzte Mal in seinem traurigen Leben ausatmete. Der Brustkorb senkte sich langsam. Es war vorüber. Der Tod war sicher. Jetzt musste sich auch der nervlich und körperlich erschöpfte Paul am staubigen Boden niedersetzen.
„Wir haben ihn... wirklich gekillt?", fragte er verwundert über den anfangs unwahrscheinlich erscheinenden Sieg.
„Wie du siehst, ja. Zum Glück hast du das mit der Wunde kapiert. Sonst wären wir beide tot."
Paul schmunzelte. „Oh... Ja. War die einzige Möglichkeit, ne?"
„Und wie. Du hast gesehen, wie der mich fertiggemacht hat. Allein hätte den niemand kleingekriegt. Mir passiert's nicht oft, dass einer stärker ist als ich."
„Was ist das überhaupt für ein Vieh gewesen?"
„Ein von Arno gehirngewaschener Krüppel."
„Und ein Nazi, oder? Das Hakenkreuz-Tattoo auf seiner Stirn..." Paul deutete mit dem Finger auf den Schädel der Leiche.
Ben grinste verlegen. „Noch nie einen gesehen?"
„Eigentlich nicht, um ehrlich zu sein... Gehört schon, ja. Man hört immer wieder von Nazi-Gangs und so weiter in Westend. Skinheads. Aber man sieht die irgendwie nie."
„Die Skins sind unbedeutend, Paul. Das sind Versager. Genau wie diese kommunistischen Jugendbanden oder diese Staatsverweigerer. Lächerlich. Nur eine Gruppe Nazis macht mir Sorgen..."
„Und die wären?"
„Kannst du dich noch an die GSG-9 erinnern?"
„Hm? Was soll das sein?" Paul machte einen verwunderten Eindruck und fasste sich auf den Hinterkopf, um die mittlerweile weniger heftig gewordene Blutung zu stillen.
„Ach, da, nimm das..." Ben warf dem Jungen eine Bandage zu, die er in seiner Hosentasche verstaut hatte. „Das mit GSG-9 ist vor deiner Zeit. Aber die Typen gibt's immer noch."
Paul weitete die Bandage aus und legte sie sich selbst um den Kopf. „Und was soll an denen so schlimm sein?"
„Das war früher mal, als es noch einen funktionierenden Staat gab, eine Eliteeinheit. Die haben Terroristen bekämpft. Die waren Teil der Polizei. Über die Jahre haben sich die einzelnen Teams natürlich aufgelöst... Bis auf eines. Ein Team hat zwar seine Ausrüstung und Waffen behalten, sich aber vom Staat abgespalten. Diese eine Gruppe, die aus ungefähr vierzig Mann besteht, ist mittlerweile als eine Art Söldnergruppe aktiv. Die werden von so einem Typen angeführt, den sie den ‚Commander' nennen. Ein Extremist. Ein Psychopath soll er sein. Ohne Gefühle, ohne Reue, ohne Mitleid für irgendwen oder irgendwas. Er und seine Truppen würden alles fürs Geld tun."
„Heftig... Das sind alles Nazis?"
„Natürlich. Da der Commander selbst einer ist, stellt er eben nur solche Typen an."
„Woher kennst du die?"
„Arno hat sie für die eine oder andere Sache angeheuert... Sie waren effektiv. Seinem Ansehen im Viertel hat's aber nicht gut getan. Das musst du auch lernen, Junge." Ben zeigte mit dem Finger auf den Tresor neben ihnen. „Mit diesen Besitztümern, die da im Tresor sind, kannst du diese Söldner locker kaufen. Aber dann schadest du deiner Beliebtheit. Du musst die Bevölkerung auf deine Seite ziehen. Niemand mag Söldner. Vor allem nicht welche von der Sorte. Dass du fremde Soldaten kaufst zeigt den Bürgern nur, wie schwach du bist. Und niemand steht gerne hinter einem Schwachen. Merk' dir das."
„Gut..."
„Dann weißt du ja ab jetzt, wo sich deine Kriegskassa befindet, falls du sie mal brauchst... Ich kenne den Code für den Tresor. Und aufhalten wird dich hier auch keiner mehr... Los, gehen wir!"
Kapitel 17: Die Liebe des Vaters
Die Attacke von Pauls Bürgerbewegung hatte starke Auswirkungen auf die Stadt Frankfurt. Wahrlich, die Clans wurden förmlich aufgemischt und es dauerte nicht lange, bis sich die Nachrichten über diesen blutigen Aufstand in Westend und die Annexion von Arnos ehemaligen Gebieten im gesamten Staat verbreiteten. Selbst der nutzlos gewordene Bundestag bekam Wind davon, diskutierte darüber einige Minuten in der Sitzung und versuchte allgemein eher, das Thema brutal unter den Tisch zu kehren. Doch dieser eine Angriff blieb nicht die einzige Aktion. Jeden Tag passierte etwas.
Überall wurde das Symbol der Freiheitsbewegung – eine Silhouette einer Taube, die ihre Flüge weitet – verbreitet, nebst den Sprüchen, Parolen und der Mundpropaganda. Graffitis zierten die Wände, Flugblätter lagen verteilt herum, lautstarke Protestzüge in den schäbigen Gassen wurden durchgeführt... Und mit jedem Tag, der verstrich, bekamen sie neue Anhänger. Selbstverständlich wurde das allmählich für die Gangs und auch für Brookshields zu einer Bedrohung. Seb Kint musste eine befreundete Motorrad-Gang aus Bielefeld herrufen und Yuma Aido begab sich per Privatjet zu ihrem mächtigen Bruder, der im funktionierenden Japan den Verteidigungsminister stellte. Sie ließ sich dort von ihm beraten, wie man derartige Initiativen in ihrem Keime ersticken könnte; und zusätzlich gab er ihr bedeutsame, militärische Waffen nach Frankfurt mit. Selbst Momo Al-Hadad begann damit, seine islamistischen Brüder aus dem Osten um Hilfe zu ersuchen. Nicht wenige kamen sogar. „Für Allah", hieß es. Das war Momos typischer Legitimierungsversuch, falls er Probleme hatte, die schnell gelöst werden mussten. Er selbst war keineswegs gläubig. Viel mehr benutzte er den Islam als Mittel zum Zweck, und in Frankfurt gab es genug radikalisierte Muslime, die für ihren Gott alles in Schutt und Asche gelegt hätten. Zunächst nahm das Bündnis der Bosse jedoch von Großangriffen gegen die Bewegung Abstand. Sie warteten ab und führten momentan eher Verteidigungskrieg. Es musste zuerst eine vernünftige Strategie her.
Am meisten unter den beginnenden Aufständen litt jedoch Benjamin Brookshields. Der Geschäftsmann harrte in seinem riesigen, eleganten Büro im letzten Stockwerk des Main-Towers aus und saß vor dem Schreibtisch aus Ebenholz, wo er sein Gesicht in den Händen vergrub. Fertig sah er aus. Augenringe, unreine Haut, fettige Haare. Seit knapp einer Woche hatte er sich die Kleidung nicht gewechselt und kaum was gegessen; gewiss hatte der eigentlich dickliche Kerl auch einige Kilo abgenommen. Vor ihm lagen tausende Dokumente und auch seine zwei Computerbildschirme hatten lauter Tabs offen. Liquiditätsengpass hier, Auftragsrückgang dort... Es regnete Kündigungen und Beschwerden im Betrieb. Ständig klingelte das Telefon, weil Benjamins Geschäftspartner und Gläubiger ebenfalls nervös wurden. Dazu kam noch Arnos Tod, der an Benjamin selbstverständlich nicht vorbeigegangen war und ihn zutiefst belastete. Hatte er den einen, erstmaligen Angriff der Bürgerbewegung noch belächelt, bangte er nun um seinen Betrieb.
Er stand kurzzeitig auf und ging zum gegenüberliegenden, breiten Fenster des Penthouse-Büros, von wo aus er beinahe die gesamte Stadt sehen konnte. Wieder tobte ein typischer Sandsturm und verbreitete Wüste in der Gegend, das war von dort oben aus kaum zu übersehen. Doch viel mehr war Benjamins besorgter Blick in diesem Moment nicht auf die absurden Wettergeschehnisse, sondern auf den offenkundig bald erfolgenden Angriff auf eine seiner Fabriken zurückzuführen. Es war abzusehen, dass Pauls Meute nicht lange darauf warten würde, die Wasserversorgung der Stadt für sich zu beanspruchen. Nur hatte Benjamin neben einigen Sicherheitskräften keine eigene Armee und war der Unterstützung durch die Bosse hilflos ausgeliefert. Das kränkte ihn. Er war abhängig. Erst jetzt, wo Arno endgültig weg war, schien er das zu begreifen. Freunde hatte er nun keine mehr.
Jemand klopfte an der Tür. Mehrmals und ziemlich hart.
„Herein...", sagte Benjamin noch so laut, dass es derjenige hinter der Tür wohl verstehen konnte.
Die Tür ging auf und sein Sohn Blake zeigte sich. Nachdem er eingetreten war, schloss er sie hinter sich. Er hatte seltsamerweise noch seine grüne Motorradjacke, den Nierengurt und die Schutzausrüstung an. Seine langen, braunen Haare waren durch den abgesetzten Helm, den er in der linken Hand hielt, durcheinander und hingen ihm ins hübsche Gesicht. Offenbar hatte er soeben einige Runden im Freien gedreht, was er generell gerne tat.
„Hey, Papa...", begrüßte er seinen Vater.
Er ging zu ihm vors breite Fenster. Dabei sah er sich näher in der Büroräumlichkeit um. Heller Marmorboden, Pantherteppiche, Barockmöbel, tausende Bücher und die modernste Computeranlage. Er hatte dieses Arbeitszimmer wegen der Ästhetik immer gemocht.
Schön eingerichtet. Aber dir bringt all dieser Luxus nichts, Vater, wenn du schwach bist.
„Blake! Zum Glück bist du da!", der alte Benjamin lächelte aufrichtig. Es schien ihn tatsächlich ein wenig zu erfreuen, seinen geliebten Sohn in dieser turbulenten Zeit zu sehen.
Die beiden umarmten sich zur Begrüßung kurz.
„Papa, du siehst nicht gut aus... Wollte mal vorbeischauen bei dir... Das mit Arno, es macht dich fertig, stimmt's?" Blake setzte seinen ständig arroganten Blick ab und machte einen eher bemitleidenden.
„So ist es... Die Zeiten könnten schlechter gar nicht sein. Das Geschäft geht grade den Bach runter wegen diesen aufständischen Kindern und dazu stirbt mein Bruder... Dass das nicht gerade lustig ist, kannst du wohl verstehen, hm?"
„Das kann ich. Obwohl ich Arno – wie du weißt – nie sonderlich mochte, kann ich deinen Frust nachvollziehen, Papa."
„Danke dir..."
Blake klopfte seinem Vater tröstend auf die rechte Schulter. Einige Tränen kamen aus Benjamins grauen Augen, als er für einen flüchtigen Moment seinen Blick auf ein Foto von Arno, das am Schreibtisch stand, warf.
Schluchzend begann Benjamin, zu reden. „Weißt du, wir haben uns durch Zufall gefunden... Wir waren fast noch Kinder damals... Ich ein armer Schlucker und er ein Krimineller. Und doch haben wir uns geschworen, diese Stadt eines Tages zu übernehmen... Wir haben's geschafft, Blake, wir haben's wirklich geschafft. Ich hab' ihm geholfen, wo ich konnte, und er stand jederzeit hinter mir. Zum Beispiel hat er meine geschäftlichen Konkurrenten ausgeschalten und ich hab' ihn im Gegenzug beim Wirtschaften geholfen oder ihn mit Kapital versorgt... Das nennt man eine wahre Bruderschaft. Bedingungslose Loyalität. Es ist eine Tragik, dass die Bosse ihn gemeuchelt haben, weil sie scharf auf seine Gebiete waren."
„Sowas gibt's heutzutage echt selten...", antwortete Blake.
Wie froh ich bin, keine Freunde oder sogenannte Brüder zu haben. Ob man sie Freunde oder Feinde nennt, ist letztlich egal. Jeder steht mir im Weg.
„Es kann nicht so weitergehen, Blake, es geht einfach nicht...", jammerte Benjamin. „Wir haben keine Soldaten. Dieser Bengel führt bald eine Armee aus wütenden Bürgern an... Und wir stehen da ohne irgendwas!"
„Mit Bengel meinst du diesen Paul, nicht wahr?", wollte Blake erfahren, neugierig wie er war. „Das ist der Anführer."
„Ja. Das ist er. Das Balg... Ich hab' meinen... diesen Paul immer schon... Ich hasse ihn."
„Hm? Immer schon?" Blake wunderte sich über die verwirrende Aussage seines Vaters.
„Ach...", Benjamin lenkte vom Thema ab. „Blake, hörst du? Wir müssen handeln! Und zwar jetzt! Sonst wird vom Main-Tower bald nichts mehr übrig bleiben!"
Glaub mir, alter Mann, ich handle bereits. Du weißt es nur noch nicht.
Der Sohn legte den Motorradhelm frech auf den Schreibtisch ab und begab sich dann wieder zu seinem Vater, der noch immer beängstigt aus dem Fenster starrte.
Er seufzte. „Papa... Bist du wirklich bereit, mir dieses Erbe zu überreichen? Ich will dir nichts aufzwingen..."
„Was meinst du? Das Unternehmen?"
„Ja. Ich mein', wenn ich das tue, übernehme ich auch die ganzen Scherereien und Probleme. Wenn es dein innigster Wunsch ist, dass ich das weiterführe, dann tue ich es gerne... Aber wirklich nur, wenn du dir das so wünschst." Blake sah seinem Vater tief in dessen Augen. „Ich will nur das Beste für dich!"
Benjamin erwiderte mit nassen, stolzen Augen und einem breiten Lächeln. Ja, er war überaus stolz auf seinen Sohn, den er über alles auf der Welt liebte. „Blake, ich weiß, dass du das kannst. Du wirst unserem Unternehmen zu neuer Größe verhelfen. Du bist wie gemacht für diese Aufgabe... Sieh' dich doch an, du bist so klug, so athletisch, so gerissen... Und das alles schon in diesem jungen Alter!"
„Danke, Vater!", lächelte Blake zurück. „Das bedeutet mir sehr viel."
„Gerne, mein Sohn." Der Alte streichelte seinem Sohn symbolisch den Kopf.
„Du, ich hab' da nur eine Frage noch..." Blakes Blick wurde ernster.
„Bitte, meine Ohren sind stets offen für dich."
„Wie geht es Mutter? Nicht die angebliche Prostituierte, die mich zur Welt gebracht haben soll... Ich weiß über alles Bescheid."
Benjamins vorherige Freude wurde mit diesem einen Satz quasi zerstört. Er wirkte überaus überrascht über diese plötzliche, unvorhergesehene und unangenehme Frage.
„Wie... kommst du auf sie? Sie ist eine kranke Frau, das weißt du. Ich musste sie im Keller einsperren. Wieso fragst du mich das? Ich will darüber nicht sprechen..."
„Nun ja, sie ist eben meine Mutter. Ich hab' sie nie wirklich kennengelernt."
„Und das ist gut so. Ich hab' sie an einem Ort in diesem Keller untergebracht, den keiner finden kann... Damit sie niemandem was tun kann, und auch nicht sich selbst."
Auf einmal begann Blake zu lachen. Er lachte wie der Teufel. Nein, schlimmer als der Teufel, und man merkte deutlich, dass es kein gutartiges Gelächter seinerseits war. Es war ein boshaftes. Er schien sich über die traurige Situation seiner eigenen Mutter prächtig zu amüsieren.
„Papa! Ihr Käfig war leicht zu finden, pah!"
Benjamins Mund ging weit auf. „Sag' mir nicht, dass du..."
„Ich hab' sie getötet, Vater. Sie von ihrem Leid erlöst. Sie wog nur mehr vierzig Kilo... Hatte kaum noch Fleisch an den Knochen... Was du ihr nur angetan hast..."
„Das... Das kannst du nicht..."
„Und wie, Vater. Du bist sonst so ein kluger Mann, und dann zeichnest du jedes Versteck auf einem Zettel auf, der in deiner Nachtlade liegt..."
„..."
Der sichtlich schockierte Vater bekam plötzlich blasse Haut und begann, schwer zu atmen. Seine Hände zitterten, und das vorhin fröhliche Gesicht seines Sohnes mutierte in ein bösartiges.
„Arno hab' ich übrigens auch indirekt getötet. Hab' einfach nur diesen Tonino ein wenig verarschen müssen. Du hast mir dabei sogar geholfen. Und weil Arno weg war, konnte Ben mit diesem Paul problemlos in Westend einmarschieren und den Aufstand anzetteln. Für all dein jetziges Leid bin sozusagen ich verantwortlich. Ich alleine."
Das Atmen des alten Mannes wurde unruhiger und unruhiger. Die Pupillen hatten sich mittlerweile bedrohlich geweitet, der Schweiß floss ihm förmlich runter und nun musste er sogar seine rechte Hand auf seine linke Brust halten – sein Herz pochte wie wild.
„Mei... Mein Sohn... Nein..."
„Doch, Vater. Ich wollt's dir nur sagen. Ich denke, es ist wichtig, dass du's erfährst. Das mit Mutter ist außerdem schon mehr als eine Woche her. Dass du über ihren Tod nichts weißt, zeigt nur, was für ein unglaublich mieser Vater du bist. Ehrlich wahr. Ich hasse dich. Ich hab' nichts für dich übrig außer Hass."
Nun schmerzte das Herz des alten Mannes wie noch nie zuvor. Er fiel um, presste beide Hände auf die Stelle seines Herzens und schrie wie am Spieß. Ein Herzinfarkt setzte ein. Der ganze Stress der letzten Tage, sein schrecklicher Verlust, der drohende Niedergang des Unternehmens und nun sein Sohn, der ihm all dies offenbarte.
„Hilfe! Hilf' mir, Blake! Mein Herz! Ruf' wen!", flehte Benjamin seinen Sohn an, während er hilflos da lag. „Lass' mich nicht... zurück!"
Dieser jedoch reagierte nicht, sondern sah regungslos auf den am Boden herumtaumelnden Mann hinab, dabei belustigt wirkend.
„Bitte... Tu' es... Für deinen Vater... Es tut so weh!", probierte es der alte Herr erneut.
„Deine Zeit ist vorbei, Vater. Jetzt bin ich an der Reihe."
„Nein... Nein..."
Wieder wurde die Atmung des leidenden Benjamin schneller und schneller. Nun war der Schmerz so stark, dass er gar keine Worte mehr aus sich herausbrachte, sondern nur qualvoll stöhnte. Nach einigen Minuten hörte er auf zu schreien. Seine Augen gingen zu. Er wurde bewusstlos. Blake dachte nicht einmal daran, Hilfe zu holen. Das war seine Absicht.
Ich hätt's mir nicht so leicht vorgestellt...
Mit der vollen Absicht, ihn dort beim Fenster liegend sterben zu lassen, nahm Blake den Helm vom Schreibtisch und ging aus dem Arbeitszimmer raus, um sich wieder seelenruhig dem Motorradsport zu widmen. Der Nächste, der die Büroräumlichkeit betreten würde, würde nur einen an Herzversagen verstorbenen Benjamin Brookshields vorfinden.
So es Blake wollte.
Kapitel 18: Der Commander
Es wäre unrichtig, zu behaupten, dass das eine Drecksbude gewesen wäre. Nicht so wie etliche andere verrauchte Etablissements oder Lokalitäten innerhalb Westends, wo die Kotze bereits verteilt war, es bis zur Decke nach Pisse roch, die Säufer an den Tischen schliefen oder die Freier ihre Prostituierten in den Ecken vögelten. Gasthäuser, wo die Skinheads und Neonazisten aus der Gegend um und aus Westend Flaschen willkürlich gegen die Wände warfen oder Schlägereien untereinander anzettelten. Man glaubte gar nicht, wie elendig es in so manch einer Gaststätte aussehen konnte. Es war ein Wunder, dass es überhaupt noch eine Vielzahl hiervon in dem an sich zugrunde gerichteten Frankfurt gab, aber diese dienten nicht etwa dem Verköstigen der Gäste, sondern primär der illegalen Prostitution, dem Glücksspiel, der Hehlerei, der Söldner-Rekrutierung und dem Waffen- und Drogengeschäft. Von harmloser Unterhaltung oder Spaß konnte also so gar nicht gesprochen werden. Wenn sich jemand, der einer Gang angehörte, in das Innere eines solchen Schuppens begab, standen dahinter regelmäßig rein geschäftliche Absichten.
Den Commander, wie er vom Frankfurter Untergrund genannt wurde, hingegen fand man nie in solchen Bars oder Lokalen. Nein. Wenngleich er – wie alle anderen Nazis und Rechtsextremen der heutigen Zeit – sein Hauptquartier in Westend hatte, so war es kein Leichtes, seinen Aufenthaltsort zu finden. Der Commander, der mit bürgerlichem Namen Marvin Alexy hieß, führte die wohl meist gefürchtetste und effektivste aller Söldnergruppen dieses Landes an – die abgespaltene, rechtsextrem gesinnte Grenzschutz-Gruppe-9-Einheit. Weil Frankfurt die wichtigste Hafenstadt wurde, siedelte er sich mitsamt seinen Männern hier an, bedingt durch die Dichte der Aufträge. Hier in Westend, nahe dem Rothschildpark – paradox für einen Nazi – hatte er in einer gigantischen, alten Tiefgarage sein Hauptquartier. In dieser umfunktionierten Tiefgarage standen allerhand Einsatzwagen und es gab Waffenlager, Betten, Versorgungsmittel, Computer und ein großes Büro, das der Entgegennahme exklusiver Aufträge diente.
Um überhaupt mit seinem GSG-9 in Kontakt treten zu können, muss man ein Auftraggeber mit Bonität sein. Das war man in der Regel als einflussreiches Unternehmen, als Mafia-Clan oder als reiche Einzelperson. Darüber hinaus sicherte sich der Commander deren Bonität, indem er auf sie zuging, und nicht etwa umgekehrt. Meist sandte er ausgewählten Personen oder Vereinigungen, die den Schutz brauchten und das nötige Kleingeld hatten, einen Brief mit den Koordinaten seiner Tiefgarage zu – für den Fall, dass diese seine Hilfe einmal in Anspruch nehmen wollten oder müssten.
Nun war es offenkundig wieder so weit gekommen. Es war bereits Abend, und der Commander war erneut in seinem Büro. Abgedunkelt war es. An den Wänden hingen Bildschirme, die die Bilder der Überwachungskameras zeigten. Sonst war in dem mit Holzmöbel geschmückten Raum noch ein viereckiger Glastisch, um den drei edle Leominster-Couches standen. An den Wänden befanden sich Regale, die mit zahlreichen Büchern vollgestopft waren. Der Anführer las viel und gerne. Er selbst saß hinter einem uralten Biedermeier-Schreibtisch aus Ebenholz, wo er gerade ein rassentheoretisches Schriftwerk von Houston Stewart Chamberlain, einem seiner Lieblingsautoren, las. Vertieft schien er in das rassistische Werk zu sein, so gebannt starrte er mit seinen kristallblauen Augen auf die einzelnen Seiten hinab.
Er, dessen Großvater diese Truppe einst geleitet und abgespalten hatte, war kein einfach gestrickter Faschist. Nein, er hatte Rosenbergs Fanatismus, Rommels militärisches Verständnis, Görings Intellekt, Goebbels' Wortgewandtheit und Ribbentrops gutes Aussehen. Und er trug auch die Boshaftigkeit all dieser namhaften Persönlichkeiten des dritten Reiches in sich. Er war fast zwei Meter hoch, breitschultrig, kräftig wie ein Bär, hundertzehn Kilo schwer, im Gesicht völlig bartfrei und mit einem nach hinten gekämmten, blonden Haarscheitel versehen. Auf der Seite und am Hinterkopf hatte er sich die Haare fast gänzlich abrasiert. Die Lippen waren voll, die Nase spitz und die Haut grundsätzlich ohne Unreinheiten, bis auf eine markante Narbe am rechten Auge, die wohl aus einem Messerkampf stammte. Heute kam er erst von einem Einsatz zurück, also hatte er nun gerade mal seinen Helm abgelegt. Die Schutzweste und die restliche Einsatzkleidung hatte er immer noch an. Marvin Alexy war wahrlich ein „Arier", wie er im Buche steht. Und attraktiv. Wenngleich sein Fanatismus und seine fehlende Menschlichkeit schauderhaft waren. Seine müden Augen verdeutlichten, dass dahinter keine Spur Empathie lag. Nicht mal ein bisschen. Man merkte, dass er Grausamkeit gewohnt war.
„Wir haben einen Gast." Ein anderer, ebenso breit gebauter Stier in GSG-9-Montur kam durch die Tür ins Innere des Zimmers, zunächst ohne Begleitung. „Sollen wir sie reinlassen?"
„Hm." Der Commander blickte auf, sichtlich genervt, da man ihn zu dieser Stunde während seiner Lektüre störte. „Eine sie also?"
„Ja. Sie meint, sie wäre vom Brookshields-Konzern. Will uns arrangieren für irgendwas."
„Brookshields... Der alte Mann ist doch tot, oder? Interessant... Nun, so lange sie kein Scheißkanake ist, soll's mir recht sein."
„Ist sie nicht. Zum Glück", versicherte der Wachmann schmunzelnd.
„Oder ist sie irgendwie asiatisch angehaucht? Oder wirkt sie wie eine von diesen Zigo-Schlampen, die sich aus dem zwielichtigen Serbien hierher begeben? Ich verstand das noch nie... Räuberisches Pack, dieses komische Mischvolk. Voll der Missgunst und niederen Arglist. Gleich wie die Italiener, dieses Gesindel: Verroht, brutal und gänzlich ungenießbar. Diese Schlappe in Königgräz und der folgende Dualismus waren nur der Anfang vom Ende... So oft wurden wir von diesen Verrätern in den Arsch gefickt. Wenn die was mit Tonino, dem angeblichen Prinzen, zu tun hat, exekutier' sie sofort! Schlag' ihr dann am besten den Kopf ab!" Voller Wut klatschte er das Buch zusammen und verzog danach wütend das Gesicht. „Ich nehme keine Aufträge von Nicht-Deutschen an."
„Herr, sie sieht mir ziemlich deutsch aus. Sie hat sich als Manuela Weber vorgestellt. Klingt zumindest inländisch."
„Gut... Lass' sie rein, von mir aus. Aber wenn sie nicht zahlen kann oder mir irgendwas spanisch vorkommt, werd' ich den Konzern morgen in Stücke reißen. Der ist eh am Ende, seitdem die Kinder unter diesem Paul sich Arnos Gebiete unter den Nagel gerissen haben. Wundert mich, mit was die bezahlen wollen..."
„Verstehe, ich werde sie zu Ihnen lassen..."
Der Wachmann entfernte sich wieder aus dem abgedunkelten Raum und holte von draußen – aus der Tiefgarage – die besagte Dame. Er öffnete ihr die Tür zum Büro des Commanders und betrat mit ihr den Raum. Danach schloss er die Tür. Zur Sicherheit blieb er anwesend.
Die Frau, die sich dem Wächter vorhin als Manuela Weber vorgestellt hatte, war Teil des Brookshields-Vorstands. Sie war fünfzig Jahre alt, hatte komische, kurz-geschnittene Locken, eine runde Brille und bereits einige Falten im Gesicht. Sonderlich schön war sie nicht. Eher wirkte sie mit ihrem grauen Blazer und der Stoffhose und der Optik an sich wie ein Mauerblümchen. Doch sie war hochintelligent. In der Vorstands-Ressortverteilung war sie für die Finanzen zuständig. In einer Universität im Osten hatte sich die aus einer reichen Familie stammende Manuela zur Betriebswirtin ausbilden lassen. Interessanterweise hatte auch der Commander sich einer solchen Ausbildung im Osten unterzogen. Daneben hatte er noch Geschichte, Philologie und diverse Sprachen studiert. Er war also intellektuell auf einem gleichen, wenn nicht sogar höheren Level als sie.
„Guten Abend, Herr Alexy!", begrüßte die lockige Dame den noch immer hinter dem Schreibtisch sitzenden, unheimlichen Mann.
„Bitte sehr, setzten Sie sich", forderte er sie auf und deutete mit der Hand auf den Stuhl gegenüber von ihm.
Sie folgte der Bitte und setzte sich sogleich auf jenen Stuhl.
„Was kann ich für Sie tun?", fragte der Commander mit seiner natürlich tiefen Stimmlage. Er hatte den typischen Frankfurter Städter-Akzent.
„Ich bin Manuela Weber, und ich habe im Vorstand der Brookshields Limited das Finanzressort inne." Auch sie sprach im selben Akzent.
„Das weiß ich."
„Gut... Wie Sie vermutlich auch wissen, ist unser alter Vorstandsvorsitzender -Benjamin Brookshields - bedauerlicherweise an einer Herzschwäche gestorben. Erst vor einigen Tagen fand man ihn tot auf. In seinem Testament hatte er seinen alleinigen Sohn, Blake Nathaniel Brookshields, zum Nachfolger gemacht. Im Wege der Gesamtrechtsnachfolge erbte er alle Anteile und wurde anschließend einstimmig zum neuen Vorstandsvorsitzenden gewählt."
„Wird leicht gehen, wenn er alle Anteile hat..."
„Ja. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich gekommen bin. Blake Brookshields hat mich geschickt."
„Wegen was sind Sie denn gekommen?", der Commander seufzte und klang ungeduldig.
Das Vorstandsmitglied hielt inne. „Es sind turbulente Zeiten. Gerade jetzt braucht Brookshields Limited ausreichend Sicherheit."
„Für Ihre Sicherheit sind die Clans zuständig. Was soll ich da noch tun, außer Ihre Zahlungsunfähigkeit riskieren?"
„Der Schutz seitens der Clans reicht nicht mehr länger aus. In der Stadt macht sich aktuell eine größere Kraft breit."
„Sie meinen die Jugendlichen? Die Rebellen?"
„Genau. Noch sind sie klein, aber bald könnten sie zur reellen Gefahr für uns werden. Die Clans könnten sich durch Arno Kliens und Benjamin Brookshields Tod zusätzlich untereinander zerstreiten. Im Ergebnis heißt das, dass unsere Sicherheit nicht mehr auf Dauer gewährleistet werden kann. Daher benötigen wir effektiveren Schutz vor möglichen Angriffen."
Der Commander musste – genau wie der Wachmann im Raum - kurz schmunzeln. „Sie drücken sich ja richtig fein aus, meine Dame... Das muss man Ihnen lassen. Deutsche Effizienz... Kein Wunder, dass man sie zum Vorstandsmitglied gemacht hat, wenngleich mir dieser Amerikaner Benjamin Brookshields immer schon suspekt war."
„Ich würde meine Fähigkeiten als sehr gut einschätzen."
„Ja, ja... Wissen Sie, ich mag Amerikaner schon mal von Grund auf nicht. Ich mag diesen ganzen Konzern nicht, ehrlich gesagt. Aber er ist nun mal der Mächtigste der Stadt. Und da Blake Nathaniel deutsch genug aussieht und sich offenbar auch so aufführt, würde ich Ihnen sogar helfen. Was bräuchten Sie denn genau?"
„Wir müssen unsere Wasserabfüllungsanlagen und die übrigen Standorte – speziell den Main-Tower – mit Truppen schützen. Und eventuell auch Angriffskriege führen, soweit es erforderlich ist."
Der Commander stand auf. Sein Blick wurde interessierter. Erst als er sich von seinem Sessel erhob, wurde seine unglaubliche Breite und Größe sichtbar. Es war angsteinflößend. Er stützte seine zwei Hände auf der Tischkante ab und sah der potenziellen Klientin tief in die Augen.
„Ich wusste es ja. Wer führt nicht gerne Angriffe durch?", lachte er schelmisch.
„Hätten Sie denn genug Männer, um das alles abzudecken? Es gäbe viel zu bewachen... und zu attackieren."
„Meine Dame, ein Mann von mir ist ungefähr so stark wie tausend Clan-Handlanger. Mir geht's aber noch um was Anderes in dieser Sache..."
Er ging lässig im Raum herum und blickte auf einige der Bücher, die er liebevoll gesammelt hatte: Arische Weltanschauung von Chamberlain, Psychologie der Massen von Le Bon, Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts von Rosenberg, Parzival von Eschenbach, Étude sur les Beth-El von Mousseaux... Relikte umstrittener Schriftsteller aus einer längst vergessenen Zeit.
Ohne groß nachzudenken schnappte er sich eines der Werke und schmökerte darin, während er weitersprach: „Ich frage mich aber, wie es mit ihrer Liquidität aussieht, Frau Weber. Immerhin ist ja einhellig bekannt, dass der Alte vor seinem Ableben Schuldenberge ohne Ende angehäuft hat. Auch wenn ich Sie unterstützen würde, wie wollen Sie mich dann bezahlen? Mit netten Worten oder Ihrem Trinkwasser?"
„Wir verfügen über ausreichend liquide Mittel."
„Die da wären?"
„Zunächst hat Blake alle Altschulden aus seinem neuen, geerbten Privatvermögen getilgt. Er legt nicht viel Wert auf Materielles... Dahingehend sind wir mal befreit."
„Trotzdem kommt nichts Neues rein, oder? Ihre Aufträge gehen zurück. Ich hab' das durch einige meiner Spitzel erfahren können. Ich informier' mich immer über potentielle Kunden."
„Und auch da verfügt die Gesellschaft und notfalls Blake über ausreichend Vermögen. Das kann ich Ihnen versprechen."
„Haben Sie Belege dafür? Meine Dienste sind sehr teuer. Meine GSG-9 hat noch nie ihr Wort gebrochen oder einen Kampf verloren."
„Das wissen wir. Sehen Sie selbst..." Die Frau griff in ihre Handtasche und zückte mehrere zusammengefaltete Dokumente heraus.
Darunter waren einerseits Rechnungen, Jahresabschlüsse, Forderungsschreiben, Lageberichte und eine von Blake eigenhändig unterschriebene Bürgschaftserklärung zu finden, wonach er mit seinem gesamten Privatvermögen als Ausfallsbürge haften würde, sofern die Gesellschaft die Dienste der Söldner nicht bezahlen könnte. Diese Papiere legte sie auf den Schreibtisch.
Der Commander ging zu diesem zurück und begutachtete die Dokumente einige Minuten lang genau.
„Das sieht gut aus, meine Dame...", meinte Alexy, als er mit dem Prüfen fertig war. „Vielleicht haben Sie ja doch Recht."
„Das haben wir. Das ist keine gefährliche Gratwanderung für Sie. Brookshields Limited wird in der Stadt wieder die volle Kontrolle übernehmen. Und dann wird es für Sie mehr als nur den normalen Sold geben, versprochen!" Manuela wurde euphorischer in ihrer Stimme und ihre Pupillen weiteten sich.
„Meinetwegen. Sie haben mich. Wie viele Männer brauchen Sie?"
„Alle. Das gesamte Equipment ebenfalls", bestand sie.
„Gut. Wir sind im Geschäft. Dann muss ich wohl die anderen Aufträge fürs Erste abblasen..."
Der Commander grinste zufrieden.
Kapitel 19: Neue Freunde
Es war Nachmittag. Die Sonne strahlte auf die Erdoberfläche hinab und dadurch auch unmittelbar durch das Fenster des winzigen Schlafzimmers, in dem Can einen Tagschlaf hingelegt hatte. Die drei jungen Menschen und große Teile ihrer Bewegung nächtigten nicht mehr in der kargen Kellerunterkunft, von der aus sie ihre Initiative gestartet hatten. Nein, viel mehr wechselten sie ständig ihre Übernachtungsplätze. Einmal bei der halbwegs intakten Bahnstation nahe der Miquelallee, ein anderes Mal im Gebäude des ehemaligen Generalkonsulats von Brasilien... Heute war es ein Wohnhaus beim Bremer Platz, der sich relativ unmittelbar vor der zusammengefallenen Goethe-Universität befand. Can selbst war in einer Dachgeschosswohnung.
Derartige Nachmittagsschläfchen mochte er gerne. Der Türke war zwar allgemein ein Frühaufsteher, doch in letzter Zeit musste er noch eklatant früher das Bett verlassen, weil zahlreiche Aufgaben auf ihn warteten – bedingt durch die aufstrebende Revolution, die von ihm mitangeführt wurde. Waffendiebstähle, Gebietskämpfe, Besprechungen, Propaganda-Verbreitung, Rekrutierungen... Die frühen Morgenstunden eigneten sich am besten für solcherlei Vorhaben. Man konnte ihn zweifellos als vielbeschäftigten Mann bezeichnen. Allerdings benötigte auch ein Tausendsassa wie er hin und wieder Schlaf. Ein notwendiges Übel, das er verabscheute wie die Pest.
Langsam wurde er munter, und die Sonne strahlte unangenehm auf seinen Schädel hinab. Mit Decke schlief er tagsüber selbstverständlich nie; allein der Hitze wegen. Nun aber war es so heiß, dass er zur am Boden neben dem Bettgestell stehenden Wasserflasche greifen und den Inhalt dieser in nur ein paar Schlucken leeren musste. „Brookshields Still" stand fett auf dem Etikett der Plastikflasche. Can drückte sie zusammen und warf sie in die Ecke des kleinen Schlafzimmers.
Es klopfte. „He, Can, lass' mich mal rein!", verlangte eine ihm bekannte Stimme.
Es war die Stimme von Murat, einem Freund und vermeintlichen Anhänger der Bewegung. Murat war ein ehemaliger Bediensteter von Momo Al-Hadad. Nachdem er ihn verraten hatte, befehligte er seine eigene, kleine Gang von Afghanen.
„Murat? Was willst du?" Can hatte keine wirkliche Lust, so kurz nach dem Aufstehen schon mit seinem Kindheitsbekannten – die Bezeichnung Freund wäre unpassend – zu sprechen.
„Ach, kann ich rein jetzt, Lak?"
„Ja... Komm'."
Murat öffnete die Tür, trat durch und schloss sie rasch wieder hinter sich. Er sah brutal aus. Eher klein, von dicklicher Statur und mit Bartstoppeln versehen. Ein schwarzes Tank-Top hatte er an. Und seine seltsam hohe Stimme verlieh ihm nicht gerade den Eindruck eines Anführers. Er setzte sich auf das zweite im Raum stehende Bettgestell gegenüber seines Bekannten hin.
„Can... Mann, alles okay?"
„Ja, geht... Alles stabil soweit. Müde nur." Can hörte sich noch richtig verschlafen an. „Ich will die Stadt ändern, aber ich hätt' nicht gedacht, dass das so anstrengend sein kann..."
Murat seufzte. „Darüber wollt' ich mit dir sprechen, Can..."
Can sah überrascht auf. Er ahnte irgendwas Ungutes. „Hm? Inwiefern darüber sprechen?"
„Lak, ich und meine Jungs, wir haben euch ja geholfen, du weißt... Bei dem Überfall auf Westend, den Schießereien mit den Gangs und so..."
„Ja, und? Das hast du mir auch versprochen. Du hast gemeint, du unterstützt uns."
„Ja... Mann... Das hab' ich gesagt, stimmt schon."
„Aber?"
Murat beugte sich vorsichtig vor und wurde leiser. „Bruder, wir können mit diesem Paul nicht. Meine Jungs wollen sich von dem nichts sagen lassen. Und ich auch nicht, ehrlich gesagt. Sorry, aber ich kann den überhaupt nicht aussteh'n."
Der Türke rollte mit den Augen und setzte sich nun auf. „Ist das dein Ernst, Murat?"
„Mann... Wir haben keinen Bock auf neue Freunde. Can, du und ich, wir kennen uns vom Block. Du weißt, wie wir sind. Afghanen gehören zusammen. Wir wollen nichts teilen oder so. Natürlich haben wir Brüder, aber man kommandiert uns nicht rum. Das kannst du ja verstehen, oder?"
„Willst du uns verlassen? Soll ich das etwa so verstehen?"
„Nicht wirklich, eigentlich. Das ist es ja, Mann. Hör' mal, wir wollen das ganze Ding mit euch ja durchziehen. Aber nicht mit ihm als Anführer."
„Was wollt ihr stattdessen, wenn ihr ihn so hasst? Was habt ihr eigentlich gegen ihn? Ich versteh's nicht..."
„Er ist ein Alman, ganz einfach. Die Wichser von Arno Klien haben zwanzig Jahre lang nach unserem Leben getrachtet. Du wirst dich erinnern, wir sind alle in Arnos Gegenden aufgewachsen. Wie beschissen diese deutschen Bastarde zu uns waren... Echt, denen darf man keine Macht geben. Versteh' mich nicht falsch, aber ich glaub' ernsthaft, dass du der bessere Boss wärst. Wirklich. Du bist Kanake, kein schwuler Bastard-Alman."
Can dachte kurz nach. Er überlegte, brauchte aber nicht lange, um eine passende Antwort zu haben. „Soll ich etwa meinen besten Freund verraten? Wie stellst du dir das vor, Murat?"
„Es geht manchmal nicht anders. Es ist besser, du machst es so. Musst ihn halt irgendwie verstoßen... Dich durchsetzen, du weißt. Oder meine Jungs und ich unterstützen euch nicht mehr länger. Überleg's dir gut. Wir wollen nicht zu euren Feinden werden."
„Ich werd' meine Freunde nie verraten. Deine zwanzig, dreißig Mann können wir gerne verlieren."
„Na, gut... Noch red' ich vernünftig mit dir, Can. Aber irgendwann sind die netten Angebote vorbei", sagte Murat abschließend und verließ danach prompt das Zimmer.
Der Türke musste kurz über die Dreistigkeit seines Jugendbekannten lachen. Jedoch realisierte er schnell, dass dies der erste angebahnte interne Komplott ihrer Bewegung gewesen war. Dies schockierte ihn dann doch ziemlich, weswegen er kurzerhand aufstand und runter ins Erdgeschoss ging. Im Parterre befand sich ein großer Wohnbereich – das Gebäude dürfte früher mal eine Art Studentenheim gewesen sein -, wo sich Paul mit Ben, Yamina und lauter anderen Bürgern umgab. Der Vollstrecker lehnte gegen eine Wand und rauchte wieder einmal, während Paul zusammen mit Yamina auf einer Couch neben einem Getränkeautomaten saß. Vor ihm standen eine Menge Menschen, die ihm scheinbar zuhörten. Der Junge schien ihnen irgendetwas zu erzählen, und Can merkte, wie sie ihm lauschten, als wäre er Jesus bei der Bergpredigt gewesen. Erst als Can näher kam, hörte er, dass Paul gerade neue Leute für seine Sache rekrutierte. Er schilderte ihnen alle Ungerechtigkeiten und führte im Detail aus, wieso sie sich ihm anschließen sollten. Der Türke hörte nur das Ende des theatralisch gehaltenen Gespräches.
„Ihr mögt gelitten haben... Ihr müsst denken, diese Tyrannen haben euch euer ganzes Leben lang versklavt. Bedauerlicherweise konntet ihr gar nichts dagegen tun. Niemand konnte das. Es war schlicht nicht möglich. Die Clans und Brookshields' Vollstrecker waren zu mächtig, als dass sich ein unbeugsamer Bürger erfolgreich gegen sie zur Wehr hätte setzen können. Zu lange zwangen sie euch, Schuldenberge aufzutürmen und nieder Dienste zu verrichten, falls ihr nicht gezahlt habt. Das war alles eine erfolgreiche Masche, eine geschickte Maschinerie. Es gab aber Zeiten in der Menschheitsgeschichte, in der sich die Unteren zusammengetan haben, um die Obrigkeiten einen so vernichtenden Schlag zu versetzen, dass sie abdanken mussten. Französische Revolution, Oktoberrevolution, Unabhängigkeitskrieg in Amerika, die Kämpfe Bolívars... Jetzt ist es wieder so weit. Schließt euch uns an, und wir werden diese Bestien stoppen können. Nur gemeinsam ist das möglich", sagte Paul zu ihnen.
Sichtlich überzeugt nickten die vor ihm stehenden Menschen – es dürften um die elf gewesen sein – oder sprachen Paul ihre Unterstützung zu. Yamina sah den neben ihr sitzenden Paul auch bewundernd an. Die Dame war in den letzten Tagen hauptsächlich damit beschäftigt, die unterdrückten Frauen dieser Stadt zu mobilisieren. Da sie selbst weiblich war, fungierte sie als Vorbild. Insbesondere in Momos Gebieten, wo der radikale Islam stark verbreitet war, wurden Frauen oftmals wie Hunde gehalten. Dort konnte sie durch von ihr konzipierte Propaganda in Form von Flugblättern, Protestzügen und auch Kampfhandlungen für ein gewisses Umdenken sorgen.
Ihre Beine hatte sie zu Paul gerichtet und immer wieder fuhr sie sich durch ihre Haare. Sie hatte gar nicht gesehen, dass inzwischen Can vor den beiden stand. Es machte den Türken wahrlich stutzig, dass sie Paul so verliebt anstarrte. Das vertrug der Neidische gar nicht.
„He, Paul!", rief Can seinem Freund zu, der ihn auch erst jetzt bemerkte.
„Can! Bist du wieder wach?", antwortete Paul scherzhaft.
„Es gibt da was zu besprechen. Schick' mal diese Leute da weg." Er hatte eine ernste Miene aufgesetzt.
„Huh... Meine Freunde, dürfte ich euch kurz bitten, raus zu gehen?" Paul wandte sich an die im Raum verteilten Anhänger. „Ihr seid selbstverständlich stets willkommen. Ich müsste nur schleunigst was mit Can besprechen."
Erneut nickten die Leute und verließen daraufhin – ohne erzürnt zu wirken – geschlossen den Raum. Es waren also nur mehr Ben, Yamina, Can und Paul in dem Wohnbereich. Ben paffte immer noch an seiner Zigarette und schenkte dem Trio wenig Beachtung. Er war mehr mit sich selbst beschäftigt und schien in seinen Gedanken verloren zu sein.
„Was ist, Can?", wollte Yamina wissen.
Als sie zu dem vor der Couch stehenden Can hinaufsah, machte sie keinen verliebten Eindruck mehr. Eher einen negativ überraschten.
„Es gibt einige Verräter unter uns", antwortete er. Er hatte lässig seine Hände in den Jogginghosentaschen.
„Wer?", fragte Paul nach. „Wer soll uns verraten haben?"
„Murat und seine Afghanen-Clique."
„Woher weißt du das?"
„Er wollte dich stürzen und mich zum neuen Anführer machen."
Auf einmal begann Ben kurz zu kichern, wurde danach aber wieder ernst.
„Was ist da so lustig, Ben?", wollte nun Can von dem Vollstrecker wissen und sah ihn zornig an. „Ich find' das überhaupt nicht komisch! Der will uns ficken!"
Kinder..., dachte sich Ben indes.
„Habt ihr echt geglaubt, dass sowas nicht kommen wird? Mich hat's eher gewundert, dass es erst so spät passiert ist und nicht schon viel früher." Ben rauchte fertig, warf den Glimmstängel auf den Boden und drückte ihn mit seinen Schuhen aus. „Ratten gibt's immer. Jetzt müsst ihr euch überlegen, wie ihr damit umgeht."
„Was sollen wir deiner Meinung nach tun, Ben?", fragte Paul seinen Quasi-Mentor um Rat. „Ich mein', das können wir unmöglich auf uns sitzen lassen."
Plötzlich klopfte es an der Tür. Heftig. Jemand insistierte darauf, reinzukommen. Ergo konnte es nur ein bedeutsamer Besuch sein. Paul wies Ben an, dem scheinbaren Gast aufzumachen. Als der Vollstrecker das tat, zeigten sich hinter der Tür zwei bewaffnete Revolutionäre. Hinter ihnen stand ein Mann mittleren Alters.
„Was gibt's?", fragte Ben die Wächter.
„Dieser Herr hinter uns – er nennt sich Sahid – meint, er hätte ein Angebot für euch. Er will mit den Anführern sprechen", antwortete dieser mit einer rauchigen, komischen Stimme.
„Der Zwerg da?" Tatsächlich war die Körpergröße von diesem Sahid eher gering.
„Ja."
Ben blickte kurz zu Paul rüber, der daraufhin per Handzeichen den Einlass gestattete, wenngleich er verwirrt zu sein schien. Der Vollstrecker ließ den mysteriösen Sahid den Raum betreten.
„Das kommt ja gerade Recht...", sagte Can. „Wer bist du und was willst du? Du siehst aus wie ein Tschetschene..."
Sahid stellte sich vor die Couch, auf der Paul, Yamina und mittlerweile auch Can saßen. „Ich bin Tschetschene. Ich weiß ja, das alles kommt ganz seltsam... Aber ich hab' einen Vorschlag."
„Einen Vorschlag also?" Paul war in der Tat verwundert. „Was denn für einen Vorschlag?"
„Einen Deal. Einen richtig guten." Er rollte markant das R. Seine Stimme war maskulin und dominant.
Der Tschetschene Sahid – man erkannte den Akzent – war gleich klein wie Paul, hatte rot-braunes Haar, eine seltsam blasse Haut, kaum Bart, eine kaputtgeschlagene Nase, eine breite Statur und ein strenges, weniger einladendes Gesicht. Er trug ein simples schwarzes T-Shirt, durch das seine Muskeln gut zum Vorschein kamen. Im Allgemeinen sah er wie der typische Tschetschene aus – eine eigenartige Mixtur aus europäischer, asiatischer und russischer Ethnie.
Paul zog die Brauen zusammen. „Dich kenn' ich irgendwoher... Sahid... Das sagt mir was. Du führst nicht etwa die Tschetschenen aus Bornheim an, oder?"
Jetzt kam Paul die Erinnerung wieder. Ihm fiel ein, dass als er zirka zehn Jahre alt war, er gemeinsam mit Can, Yamina und einigen anderen Kindheitsfreunden in der Gegend um Bornheim Faxen machte. Schließlich wurden sie mehr oder weniger gewaltsam von den dort ansässigen, gleichaltrigen Tschetschenenkindern davongejagt. Paul wurde von diesen ominösen Kerlen, deren Statur mit der Form eines Kastens vergleichbar war, regelrecht verprügelt. Der damals schon etwas kräftigere Can konnte Paul gerade noch aus dem Getümmel retten, indem er Paul förmlich aus dem Kampf zog und mit ihm auf den Schultern floh. Die Gewaltbereitschaft dieser Volksgruppe in einem derart jungen Alter hatte Paul und die anderen wesentlich geprägt. So geprägt, dass sie sich nie wieder in diese Gegend trauten. Bereits zu diesem Zeitpunkt erzählte man sich Geschichten von einem gewissen Sahid und seinen brutalen Landgenossen, die hier in Frankfurt für Unruhe sorgten. Man hatte die Drei sogar gewarnt, nicht in dessen Gegend zu kommen.
„Ich werde zumindest als Anführer gesehen, ja", meinte Sahid und nickte dabei mit seinem viereckigen Schädel. Die Hände hatte er selbstbewusst zusammengeführt. „Wir sind zahlreich. Und wir sind wütend."
„Auf?" Can sah den merkwürdigen Sahid skeptisch an. Auch er erinnerte sich offenbar an ihn.
„Wir sind wütend auf diesen Brookshields, die Gangs, die Söldner... In Bornheim versuchen uns Momo Al-Hadad und Seb Kint unten zu halten. Vergewaltigen oder prostituieren unsre Frauen, verderben unsre Kinder, indem sie sie rekrutieren... Es ist ganz furchtbar für uns. Wir haben dieselben Feinde."
„Aber ihr seid doch so stark. Warum nehmt ihr euch eure Gegend nicht selbst zurück?", fragte Yamina kritisch und fuhr sich dabei durch ihre lockigen Haare.
„Wir sind stark, aber zu wenige. Wir müssen zusammenhalten. Zumindest in dieser Zeit." Die abgehackten Sätze waren eine Art Erkennungsmerkmal des Tschetschenen.
„Na dann", seufzte Paul. „Verrat' uns mal deinen Deal."
„Meine Männer und ich schließen uns euch an. Wir kämpfen gemeinsam an einer Front. Dafür gebt ihr uns, sobald wir gewonnen haben, Bornheim. Uns alleine. Keiner soll sich einmischen."
Dann wird das Gang-Problem nie ein Ende finden..., dachte sich Ben, der sich die Szene belustigt aus seiner Ecke anschaute. Mir egal. Ich bin doch nicht der Anführer. Er muss lernen, eigene Entscheidungen zu fällen.
Just in dem Moment drehte Paul seinen Kopf zu Ben. „Sollen wir das machen?"
„Mpf", stieß der Vollstrecker aus. „Ein paar Generäle und Armeen könnten euch nicht schaden... Zumal die Gangs immer noch mehr sind als wir."
„Also?", fragte Sahid nach und sah dem Jungen dabei tief in die Augen. Es wirkte fast bedrohlich.
„Wir werden es uns überlegen."
„Gut. Lasst es mich wissen, wenn ihr euch entschieden habt. Ich werd' noch einige Zeit in eurer Gegend sein. Ich halt' mich grade in dem Wohnhaus gegenüber von euch mit ein paar Freunden auf." Der ungeladene Gast ging langsam zur Tür. „Überlegt's euch", sagte er noch, ehe er austrat.
Eine kurze Phase des Schweigens kehrte ein. Mit einem derart unüblichen Besuch hatten sie nicht gerechnet. Dennoch waren sie sich darüber im Klaren, dass sie für ihre Sache mehr Anhänger benötigen würden. Das, was sie bisher zusammengetragen hatten, reichte keineswegs.
„Ben, wie findest du den Kerl?", wollte Paul wissen.
„Was soll ich von dem halten? Er ist halt ein Tschetschene. Die sind alle brutal und hirnverbrannt. Das viele Licht und die Sonne tut denen nicht gut. Da werden die noch irrer. Keine Ahnung, ob man denen vertrauen kann."
„Mann, du kennst dich mit sowas am besten aus!", meinte Can, der dabei etwas lauter wurde.
„Ja eh. Das ist aber eure Entscheidung. Ich weiß nicht, ob ich einen wortwörtlich dahergelaufenen Typen, von dem ich nichts Positives weiß, sofort in mein Heer aufnehmen würde. Allerdings sei gesagt: Ihr braucht Leute. Mehr denn je."
Yamina stand auf und wandte sich Ben zu. „Können wir nicht irgendwas machen?"
„Ihr könntet seine Loyalität testen."
„Wie das?", hakte die Dame nach. „Sollen wir ihn irgendwo hin schicken, wo er einen unserer Feinde erledigt, oder wie stellst du dir das vor?"
Ben sah auf einmal Can an. „Du hast vorhin was von diesem Murat gesprochen... Dass er uns verraten würde und so. Warum lässt ihr Sahid nicht einfach diese Ratte und dessen Sippschaft töten?"
„Ihn und seine Leute töten? Bist du verrückt? Ich kenn' Murat seit meiner Kindheit, verdammt!" Can reagierte nicht sonderlich erfreut.
„Und seit deiner Kindheit ist er ein Verräter. Ein Opportunist durch und durch. Ist er ein Freund von dir? Sei ganz ehrlich jetzt."
„Würd' ich nicht so sagen... Aber..."
„Na eben", unterbrach ihn Ben. „Dann kannst du ihn ja ohne Probleme töten lassen."
Paul mischte sich ein. „Ist das nicht etwas zu... radikal? Ich mein', man könnte Murat doch anders bestrafen... Ihn verbannen, oder so."
Wieder kam ein leises Kichern aus Bens Mund. „Junge, Junge... Du musst lernen, Abstriche zu machen. Wenn du alle potenziellen Verräter laufen lässt, wird dich irgendwann jeder hintergehen. Lass' Sahid dieses Schwein umbringen, am besten öffentlich, damit jeder sieht, wie Verrätern geschieht."
„Damit beweisen wir nur, dass wir kein Stück besser sind als die Gangs!"
„Krieg ist Krieg. Da sterben Leute mal."
„Trotzdem!"
„Nichts trotzdem! Du musst den Vorteil dahinter sehen. Deine Leute werden dich weniger wahrscheinlich verraten und du gewinnst vielleicht einen neuen, treuen Anhänger!"
„Was für ein Wahnsinn..."
„Du darfst dir nicht jede Scheiße als Anführer gefallen lassen! Arno hätte diesen Murat vierteilen und die Leichenteile den Familien schicken lassen. So viel dazu!"
„Was er immer mit seinem Arno hat... Das ist kein Vorbild...", wandte Yamina ein. „Wenigstens sind deine saudummen Sprüche weniger geworden, Ben."
Kurzes Gelächter. Nur Can schwieg.
„Dann machen wir es von mir aus so", entschied sich Paul. „Ist das okay für dich, Can?"
Der Türke schwieg weiter. Und Schweigen, das aktuell von einem mehr als ernsten Blick begleitet wurde, bedeutete in der Regel eine konkludente Zustimmung.
„Gut. Ich werd's Sahid mitteilen...", meinte Ben abschließend und verließ danach ebenso den Raum. Auf dem Weg zur Tür zündete er sich die nächste Zigarette an.
Kapitel 20: Mergers & Acquisitions
„Ihr verfickten Wichser, ihr Bastarde!", schrie Seb Kint, der gerade eben aufgestanden war, den jungen Biker an.
Dieser junge, ebenfalls mit der prägnanten, schwarzen Lederjacke ausgestattete Bursche hatte seinen Boss um zwölf Uhr mittags geweckt. Dies mit der Begründung, dass erneut der runde Tisch – das erste Mal nun ohne Arno Klien – einberufen wurde. Von wem, wusste man noch nicht. Nur wurde dem jungen Motorrad-Gangster, der eine Art Buchhalter und Sekretär von Seb war, gesagt, es würde eine Notfallsitzung darstellen.
„Wer hatte diese scheiß Idee denn? So früh?" Man merkte deutlich, dass Seb in der Nacht zuvor gesoffen hatte. Den Rum roch man noch förmlich aus seinem unschönen, mit einem ekelerregend ungepflegten Bart geschmückten Mund. „Ach, was... Das war bestimmt dieser Araber", vermutete Seb seinen Erzfeind Momo Al-Hadad hinter der Einberufung.
„Das weiß ich leider nicht." Der Bote wirkte eingeschüchtert. „Sie meinten nur, es wäre dringend. Irgendwas mit Brookshields."
„Fick' dich doch, es geht immer um diesen Brookshields-Fettsack! Dachte schon, seitdem er tot ist würd's weniger um den geh'n. War anscheinend falsch!"
Es war bereits stadtbekannt, dass man den Motorrad-Gang-Anführer Seb Kint nicht aus seinem Schlaf wecken durfte. Einmal soll er gar ein Biker, der genau das gemacht hatte, mit einem Klappmesser abgestochen haben. Das erzählte man sich zumindest. Bis auf diese paar Beleidigungen kam der junge Biker hier aber mehr als gut davon. Seb steckte sich einen Zigarillo in den Mund und zündete ihn sich an, während er mit genervtem Blick seine eigene Lederjacke anzog und sich die fettigen, langen Haare zu einem Zopf band. Als er seine Wohnung, die sich in einem hundertfach bewachten Wohnhaus in Sachsenhausen befand, verließ, schupfte er einige ihm im Weg stehende Biker zur Seite und schritt zur Garage. Dort stand seine Harley – ein wahrliches Prachtstück, das mit allerhand Sachen präpariert worden war. Schusssichere Reifen, Nitro, Drossel-Entfernung... Er pfiff in der Garage einige seiner wilden Leibwächter zu sich, die sich ebenso auf ihre Motorräder setzten. Am Ende hüpfte Seb selbst auf sein Heiligtum, deutete mit der Hand zum Start und fuhr ohne Helm aus der Garage voraus in Richtung Arnos Kliens Herrenhaus. Die ansässigen Bürger auf der Straße bekamen Angst und liefen entweder in ihre Häuser zurück oder versteckten sich anderweitig, als Seb mit seinen Bikern bei ihnen vorbeifuhr. Der brutale Rockerpräsident hielt sein Viertel mit höchster Brutalität und drakonischen Strafen unter Kontrolle. Die Bewohner hassten ihn, fürchteten sich jedoch gleichzeitig vor ihm.
Beim Herrenhaus angekommen, stellte er sein Bike an der Hausmauer des stark bewachten Gebäudes ab und ging mitsamt seinen Leibwächtern durch die große Haustür ins Innere. Er sah sich zum ersten Mal während seines Besuches genauer im Foyer beziehungsweise in den Fluren des riesigen Hauses näher um – die vielen Kunstgegenstände und Gemälde von Arno Klien schienen verschwunden zu sein. Generell fühlte sich das Haus viel leerer ein als sonst. Das verblüffte selbst Seb. Außerdem wunderte er sich über die vielen, im Haus verteilten GSG-9-Mitglieder.
Im Raum des runden Tisches angekommen warteten bereits die anderen Bosse. Yuma, Tonino, Juri und Momo saßen an ihren typischen Plätzen. An Arnos ehemaligem Platz aber befand sich eine neue Person, die Seb bis dato nur vom Sehen kannte – Blake Brookshields im Business-Anzug, hinter ihm einige Vorstandsmitglieder. Zu seinem Schutz waren der Commander und ein paar weitere GSG9-Kerle im Raum anwesend. Den Commander und seine blutige Truppe kannte Seb zu gut – und er fürchtete sie. Als der Commander den Biker mit seinen kristallblauen Augen anstarrte, senkte Seb unterwürfig den Blick und setzte sich schnell auf seinen Stuhl. Die anderen hingegen sahen ihn böse an, weil er wieder einmal zu spät kam.
„Du riechst nach Alkohol, Seb", merkte Momo Al-Hadad angeekelt wirkend an. „Wieder mal gesoffen gestern?"
„Halt' deine Schnauze. Ihr trinkt ja nicht mal Alkohol wegen eurer scheiß Religion. Zumindest sagt ihr das zu euch selbst, ihr Heuchler."
Bevor Momo ausrastete, intervenierte die wie immer elegant gekleidete Lady Yuma. „Seid leise! Es gibt scheinbar etwas Wichtiges... das besprochen werden muss."
„Geht's um das Milchgesicht da an Arnos Platz?", wollte Juri wissen, der von dem arroganten Bengel Blake nichts hielt und ihn verächtlich anschaute.
Sonderlich großen Respekt hatten die Bosse vor dem Brookshields-Erben nicht. Noch nicht. Er musste sich diesen erst verdienen.
„Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zur neuerlichen Sitzung..." Blake stand auf, gab die Hände auf den Tisch und eröffnete mit diesem Satz die Tagung. „Das heutige Treffen hat durchaus einen tieferen Sinn..."
„Blake, reden Sie nicht mit uns wie bei irgendeiner Hauptversammlung... Sie wissen ganz genau, wer wir sind. Sagen Sie doch einfach, was Sie von uns wollen und warum Sie uns hierher gezerrt haben", verlangte Yuma, die wenig Geduld zu haben schien und immer wieder ihre Fingernägel schliff. Bewusst sprach sie – wie jeder andere Boss – Blake nicht mit dem Zusatz „Patron" an. Diesen Titel durften nur etablierte Clan-Anführer tragen.
„Hast dir einen guten Beschützer geholt, Junge", lobte Seb Blake und meinte offenkundig den in der ganzen Stadt respektierten Commander. „Endlich wird das Vermögen deines Vaters intelligent eingesetzt."
„Vielen Dank", antwortete Blake und richtete sich seine perfekt sitzende Krawatte mit Windsor-Knoten zurecht. „Wie Sie vermutlich wissen, meine Damen und Herren, habe ich das Unternehmen übernommen. Mein geliebter Vater war bei Ihnen selbstverständlich nicht beliebt. Genauso wenig wie es Arno Klien gewesen ist. Jedoch habe ich vor, drastische Änderungen vorzunehmen."
„Die da wären?" Juri nahm den Burschen weiterhin wenig ernst und langweilte sich. Das erkannte man daran, dass er sein müdes Gesicht mit der rechten am Tisch abstützte.
Du wirst mir früher oder später noch genug Respekt zollen... Oder zollen müssen, Russe. Sei dir da sicher!, dachte sich der Jungunternehmer dabei.
„Erstens: Das Problem mit Arnos alten Gebieten in Westend. Sie alle haben versucht, den Distrikt einzunehmen. Dabei haben Sie sich teilweise selbst bekriegt. Allerdings stellt der Bürgerkönig, wie er vom Volksmund genannt wird, mit seiner Bewegung eine ernstliche Bedrohung für uns alle dar. Sie wissen ja, wie seine Leute Ihre Männer abgeschlachtet haben, als wären sie nichts anderes als Vieh." Bewusst setzte Blake in seiner Rhetorik auf Provokation und Selbstbewusstsein.
„Wollen Sie uns damit weißmachen, wir könnten uns nicht gegen diesen Bürgerkönig und seine Anhängerschaft unzufriedener Städter zur Wehr setzen?", fragte Tonino beleidigt nach.
Tatsächlich war „Bürgerkönig" die Bezeichnung für Paul, der auch als Anführer der Aufständischen angesehen wurde.
„Ja, das will ich damit sagen. Auch wenn Sie es nicht zugeben wollen, so hat er Sie richtig aufgemischt. Er hat einige erfahrene Strategen und Berater unter sich... Zum Beispiel Ben Wolff, der ehemalige Vollstrecker von Arno. Und der Bürgerkönig hat ein Talent dafür, Leute für sich zu begeistern. Die Wahrheit ist, dass Sie um Ihre Gebiete fürchten müssen. Und Westend können Sie momentan nicht einnehmen."
„Will der uns verarschen?", wollte Juri wissen. „Vor zwei Jahrzehnten geboren und der will unser Geschäft kritisieren? Was denkt der sich dabei?"
Ihr Narren...
„Das ist nämlich der zweite Punkt meines Anliegens", kündigte Blake an. „Jahrelang war Brookshields für Sie nur Mittel zum Zweck. Das will ich ändern. Ich habe nun auch eine Armee." Er sah kurz zum Commander rüber, der zufrieden lächelte. „Und da ich einerseits Gebietsstreitigkeiten vermeiden und andererseits diese störende Bewegung niederschlagen will, unterbreite ich Ihnen einen Vorschlag: Fürs Erste nehme ich Arno Kliens Platz ein und bekomme seine Gebiete. Alle Erlöse aus Geschäften, die noch in diesem Distrikt abgeschlossen werden, gehen also an mich."
„Sie sind verrückt...", kommentierte das Tonino.
„Das ist nur temporär", rechtfertigte sich Blake jedoch. „Ich werde diesen Status so lange aufrechterhalten, bis die Bewegung endgültig niedergeschlagen ist. Sobald der Bürgerkönig gefallen ist, teilen wir Westend unter Ihnen auf. Das wäre dann auch der Zeitpunkt, an dem ich mich aus dem Clan-Business zurückziehe. Dann läuft alles wieder wie früher ab."
„Warum sollten wir Ihnen trauen?", fragte Juri.
Blake grinste, da er wusste, dass diese Frage kommen würde. „Weil Sie und ich genau wissen, dass Sie den Bürgerkönig und seinen Aufstand nicht alleine niederschlagen können. Und ich kann es mit GSG9 – so mächtig sie sonst sind – auch nicht auf eigene Faust. Wir müssen uns hierfür also verbünden. Die Bewegung hat inzwischen so stark zugenommen, dass die Bürger in Ihren Gegenden langsam aufbegehren oder sogar nach Westend flüchten... Das ist ein reines Chaos. Jeder in diesem Raum hat ein berechtigtes Interesse an der Niederschlagung dieser Unruhestifter."
„Und warum sollten Sie nach unserem Sieg plötzlich gehen wollen?", fragte Yuma. „Das ergibt keinen Sinn. Warum würden Sie sich zurückziehen?"
„Weil ich kein Kriegstreiber bin. Ich entscheide mich nur dazu, aktiv zu werden, um mein Unternehmen zu schützen! Ich bin Geschäftsmann, und kein Clan-Boss! Aber weil Brookshields Limited zurzeit in Gefahr ist, bleibt mir nichts anderes übrig. Und wenn das endet, will ich auch mit Ihren kriminellen Machenschaften nichts mehr zu tun haben. Das ist nicht mein Unternehmensgegenstand."
Ob die Idioten mir das abkaufen?
Kurzes Schweigen. Die Clanchefs überlegten eine Weile. Innerlich wussten sie, dass Blake an sich Recht hatte: Alleine waren sie machtlos. Es fehlte an Organisation. Einzelne Allianzen ohne Blakes GSG-9-Truppe hätten vermutlich nur in Streitigkeiten geendet. Und die Idee, das Gebiet vorerst ihm zu überlassen, bevor sie sich gegenseitig darum bekriegen würden, passte ihnen im Moment auch gut. Jedoch waren sie nach wie vor skeptisch, was die Person Blake betraf. Von Benjamin Brookshields wussten sie, dass dieser ein Narr war, der das Clan-Geschäft nicht verstand. Aber der junge Blake war aus einem ganz anderen Holz geschnitzt.
„Wie wissen wir, dass wir Ihnen vertrauen können?", fragte Juri schließlich nach.
Blake lächelte siegessicher. „Haben Sie bereits mitbekommen, dass nahezu das gesamte Herrenhaus von Arno leer steht? Alle Gemälde und Kunstwerke weg sind?"
„Ja", sagte Seb trocken.
„Das liegt daran, dass ich diese Gegenstände und überhaupt alles, was ich von Arno an Vermögenswerten gefunden habe, Ihnen habe zukommen lassen. Sie wissen es wahrscheinlich noch nicht, aber bald werden Ihre Buchhalter große Gewinne vermerken. Auch das Haus hier habe ich bereits an einen Geschäftsfreund im Ausland verkauft. Den Erlös daraus werde ich, sobald es soweit ist, gleichmäßig aufteilen und Ihnen überweisen. Deshalb werden die künftigen Sitzungen bei mir im Main-Tower stattfinden. Ich hätte das alles für mich beanspruchen können, aber nein... Ich hab' mich dazu entschieden, es Ihnen zu überlassen. Reicht Ihnen das jetzt, als ‚Vertrauensbeweis'?"
Die Vorstandsmitglieder hinter Blake lächelten alle zufrieden. Unter ihnen befand sich auch jene Dame, die zuletzt den Commander angeheuert hatte.
Yuma nickte. Juri auch. Momo stimmte mit einem einfach „Ist in Ordnung" zu. Seb schwieg, was bei ihm normalerweise Zustimmung bedeutete. Nur Tonino der Prinz wollte das alles so gar nicht wahrhaben. Er schien als Einziger das wirkliche Wesen dieses ominösen Blakes erkannt zu haben.
„Vor einigen Wochen noch saßen wir bei mir auf einen gemeinsamen Kaffee...", erinnerte Tonino sich. „Da haben Sie über Arno geflucht, was er nicht alles sei und wie sehr er sich hochintrigieren würde... Ich darf Sie daran erinnern, dass diese Leute hier entschieden hatten, Ihren Vater umzubringen. Und gerade jetzt bieten Sie uns eine Zusammenarbeit an? Mir scheint das sehr fragwürdig..."
„Ich tue das natürlich nicht freiwillig. Es geht mir selbst ums Überleben. Und dafür muss man sich eben manchmal mit seinen Feinden zusammentun."
„Was für ein unglaublicher Schwachsinn... Das alles hier..." Der Prinz erhob sich von seinem Stuhl und knöpfte sein braunes Slim-Fit-Sakko zu. Danach richtete er sich seine edle Haarpracht zurecht. „Ich weiß ja nicht, warum Sie alle dem zustimmen, Patron Yuma, Patron Juri, Patron Seb und Patron Momo. Aber dieser Blake Brookshields wird Sie irgendwann hintergehen. Seien Sie sich da sicher. Ich bin raus."
„War's das jetzt mit Ihnen, Prinz?", wollte Yuma von ihm wissen. Sie schätzte ihn eigentlich sehr.
„Scheint so", kam es von ihm neutral klingend zurück.
Mitsamt seinen Beschützern verließ der Prinz mit arrogantem Gang den Raum und knallte schließlich die Tür hinter sich demonstrativ zu. Damit drückte er offenkundig seinen Frust und seine Abneigung gegenüber den neuesten Entwicklungen aus. Natürlich war er mit dem Stand der Dinge unzufrieden. Wer wäre das nicht gewesen? In einer von Kriminalität, Korruption und Gier zerfressenen Stadt setzten sich zum ersten Mal aufrichtig erscheinende Menschen gegenüber den herrschenden Autoritäten durch. Dass das ihm nicht passte, war wenig verwunderlich. Aber Tonino war nicht zugänglich für derart drastische Machtwechsel. Für ihn wirkte Blake wie ein Usurpator und die unfreiwillig zustimmenden Bosse wie deprimierte Opportunisten, die ihre Haut retten mussten.
Geh' nur, Prinz. Damit machst du es für mich nur leichter. Die anderen werden sich auf dich stürzen, während ich freie Bahn für meine Manöver habe. Besser geht's kaum. Blake befand sich wahrlich im Siegesrausch.
„Sind wir uns nun einig?", war seine abschließende Frage in die Runde.
Kein Widerspruch. Das genügte ihm. M&A hatte ihm sein Vater scheinbar mehr als erfolgreich gelehrt.
Kapitel 21: Der Bürgerkönig und sein Prinz
Heute war es besonders heiß. Viel heißer als an den anderen Tagen. Und das selbst am späteren Nachmittag, wo es normalerweise etwas abkühlen sollte. Auch wehte sehr überraschend kein Wind. Wirklich gar nicht. Vom wolkenlosen Himmel brannte die Sonne hinab auf den Erdboden. Nun, das Wetter war ein unberechenbarer Hund hier, doch die Hitze sollte jetzt das geringste Übel darstellen.
Geschlossen marschierte die schwitzende Rebellenarmee unter Paul, dem Bürgerkönig, auf Frankfurt am Main Mitte-Nord zu. Dieses an Westend angrenzende Viertel stand seit Jahrzehnten unter der kompletten Kontrolle von Momo Al-Hadad, dem gefürchteten Araber. Dieser betrieb eine radikale Drogen- und Prostitutionspolitik innerhalb dieses Distrikts, zeitgleich aber propagierte er paradoxerweise den Islam und verbreitete überall eine radikale, von ihm mitverfasste Version des Korans. Bis auf die Huren musste jede Frau in Mitte-Nord mit Schleier herumlaufen und die männlichen Bürger täglich in eigens eingerichtete Gebetshäuser beten gehen. Ungläubige wurden öffentlich gesteinigt oder erschossen. Gotteslästerern wurden zusätzlich zur Hinrichtung davor alle Gliedmaßen systematisch abgetrennt. „Alles für Allah", hieß es. An Grausamkeit war der Araber also kaum zu übertreffen. Daher war es generell ratsam, kein Gefangener von ihm zu werden. Das wussten diese Rebellen, die jetzt in sein Viertel einmarschierten, auch genau – doch das Risiko musste in Kauf genommen werden.
Sahid war nun ebenfalls ein fester Bestandteil von Pauls Gefolgschaft. Gemeinsam stolzierte er mit Ben, Yamina, Can und eben Paul zusammen in der hintersten Reihe ihrer Armee – bekanntlich musste der Führungsstab stets geschützt werden. Der Tschetschene Sahid hatte nämlich seine Treue insofern bewiesen, als dass er wie angeordnet den Verräter Murat und dessen Anhänger auffing und sie im Palmengarten aufhängen lies. Der Bürgerkönig Paul hatte anfangs seine Zweifel daran. Er fürchtete, seine Gefolgsleute würden ihn als neuerlichen Tyrannen betrachten. Zu seinem großen Glück jedoch wurden die Leichen der aufgehängten Verräter von den Bürgern geschändet und verhöhnt, was bedeutete, dass das der richtige Schritt gewesen war.
Bewaffnet waren die Rebellen mit zahlreichen Gewehren, kugelsicheren Westen, Helmen und allerhand Nahkampfwaffen. Zusätzlich wurden die Rebellen in Gruppen aufgeteilt, die untereinander und mit dem Befehlshaber Paul per Funkgerät kommunizieren konnten. Auch waren Teile der Bürgerarmee mit Autos oder Motorrädern unterwegs. All diese Gegenstände wurden entweder gestohlen oder von Paul durch das nahezu endlose Vermögen in Arnos ehemaligem Tresor aus dem Ausland gekauft. Davon wussten allerdings nur er und Ben was. Die Lieferungen wurden als „Eroberungsbeute" deklariert. Keiner durfte vom heimlichen Schatzbunker was erfahren. Das hatte Paul Ben hoch und heilig versprochen.
Die marschierende Armee, die aus tausenden Leuten bestand, bewegte sich relativ schnell über die verwachsene, kaputte Eschersheimer Landstraße, die quer durch das Viertel verlief. Dort begannen sie mit Kriegsgeschrei und wehten die Fahnen der Rebellion, die sie in ihren Händen hielten. Man musste hier jedoch aufpassen, da die Atlantikflut diesen Teil der Stadt regelmäßig unter Wasser setzte und immer wieder einige größere, behindernde Wasserlacken überblieben.
„Wir wären angekommen", informierte Sahid Paul und wischte sich danach den Schweiß von seiner mit Hautunreinheiten übersäten Stirn.
Die drei Anführer Yamina, Can und Paul wurden von Sahids breit gebauten Tschetschenen schützend umgeben. Diese fungierten als Leibwache. Und Sahid selbst war neben Ben ein Berater. Die beiden Strategen ergänzten sich mit ihrem Wissen perfekt. Die Armee war nun bei der prägnanten Kreuzung nahe der Dornbuscher U-Bahn-Station angekommen. Hier führte eine Straße nach links, eine nach rechts und eine nach vorne. Paul befahl zunächst Halt.
„Gut, Gruppe Eins und Gruppe Zwei gehen nach links über die Raimundstraße und mischen Momos Leute von dort aus auf! Gebt das durch! Sofort!", befahl Paul.
„Nicht klug! Lass' Gruppe Zwei lieber mit Gruppe Drei und Vier mit nach vorne marschieren. Im Westen ist weniger los, die meisten Leute von Momo sind im Norden, also vorne", warf Ben ein, der ebenfalls in diesem Schutzkreis stand. Er hatte an dem Tag neben seinen Schuhen und der olivgrünen Hose bloß ein weißes Tanktop an, durch das sein muskulöser und mit hunderten Narben gezeichneter Körper gut sichtbar war.
„Find' ich auch. Gruppe Zwei besteht rein aus Motorradfahrern. Links ist weniger Straße, mehr so kleine Seitengassen mit vielen Kurven, da tun die sich schwer", fügte Sahid dem hinzu.
„Okay...", stimmte Paul dem zu. „Dann machen wir es so!"
Der Befehl wurde von einem Funker weitergegeben und es dauerte nicht allzu lange, bis sich Gruppe Eins in Bewegung setzte. Die ersten Kämpfer vom Araber zeigten sich und stürmten teilweise auf die noch stehenden Teile der Armee zu. Es kam rasch zu Schießereien und Kämpfen. Man hörte von Pauls Position aus bereits erste Schreie, die von ganz vorne kamen.
Can nahm sich ein Funkgerät und gab die nächste Anordnung weiter. „Gruppe Zwei, Drei und Vier, stürmt über die Eschersheimer Landstraße nach vorne ins Zentrum von Mitte-Nord! Tötet sie alle!"
Die besagten Gruppen begannen ebenso zu stürmen und begaben sich damit mitten ins Getümmel. Auch Momo hatte zuvor seine Truppen positionieren lassen. Sie schossen von Wohnhäusern oder Seitengassen aus, aber gegen die Überzahl an wütenden und rasenden Bürgern konnten sie wenig ausrichten. Tumultartige Szenerie.
„Gruppe Fünf und Sechs geht nach rechts über den Marbachweg, oder?", fragte Yamina nach.
„So ist es", antwortete Ben. „Dort sind viele Häuser und Gebäudekomplexe. Die sollen sich dort anständig verteilen."
„Gut." Yamina ging zum Funker und nahm dessen Gerät in die Hand. „Gruppe Fünf, Sechs – nach rechts über den Marbachweg! Verteilt euch und säubert die Häuser! Verbreitet auch die Flugblätter und schreit wer ihr seid, damit die Bewohner wissen, dass sie befreit werden!"
So startete auch der letzte Teil der Armee. Eine größere Gruppe an Rebellen blieb jedoch bei den Anführern stehen und schützte sie. Von Minute zu Minute wurde die Schlacht spürbar lauter. Die ansässigen Bewohner von Momos Viertel empfingen die Befreier mit gemischten Gefühlen. Viele freuten sich, brachen in Euphorie aus und schlossen sich sofort der Bewegung an. Andere jedoch, die von Momos islamistischer Propaganda zu gehirngewaschen waren, wehrten sich und bekämpften die „Eindringlinge", indem sie beispielsweise Möbel von den Balkonen auf sie warfen. Alles in allem war das erneut eine blutige Schlacht. Das Viertel brannte förmlich, es wurde um sich geschossen, massenweise Verletzte gab es, Granaten wurden geworfen, Menschen erschossen oder andersartig getötet, Schmerzensschreie ertönten, Wohnungen wurden gestürmt, Kinder verloren vor ihren Augen ihre Eltern... Eine Rebellion ist nie unblutig. Das war der Grundsatz, dem am heutigen Tage beispielhaft entsprochen wurde.
Der Bürgerkönig und sein Stab ließen sich ständig über Funk über den Verlauf des begonnenen Scharmützels unterrichten. Bei jeder Frage standen Sahid, Ben und andere Bürger, die mit Führerschaft Erfahrung hatten, zur Verfügung.
Einige dreiviertel Stunde verging, in der alles halbwegs planmäßig verlief.
„Paul!", meinte Sahid zum Bürgerkönig, als der Kampf schon richtig tobte. „Bald wird deren Verstärkung kommen!"
„Das denke ich auch... Die anderen Bosse sind bestimmt schon auf dem Weg!", fügte dem Ben hinzu. „Ist Gruppe Eins fertig?"
Paul informierte sich schleunigst über den Stand der Dinge.
„Ja, sind sie. Wie geplant."
„Gut, lass' sie zurück zu uns kehren, wie besprochen!", forderte Sahid den jungen Kerl auf. „Die könnten uns von jeder Seite aus ficken! Blakes GSG9 ist nicht zu unterschätzen! Der macht jetzt gemeinsame Sache mit den Bossen!"
„Warte... was?" Damit hatte Paul nicht gerechnet und sah verdutzt aus. „Der hat die Typen echt angeheuert? Und kämpft Seite an Seite mit den Clanchefs?"
Yamina schüttelte verständnislos den Kopf. „Das hast du nicht gewusst? Jeder hat's mitbekommen. Sowas verbreitet sich hier schnell!"
„Informier' dich beim nächsten Mal besser, Paul!", sagte Can, erzürnt über die Unwissenheit seines Anführers. Seine Zweifel gegenüber Paul wurden ohnehin mit jedem Tag schlimmer. Dass Murat sterben musste, passte Can so gar nicht. Er hatte Angst, dass Paul sich zum Tyrannen entwickeln würde.
Auf einmal kam einer der Funker zu Paul gerannt, um offenbar eine wichtige Botschaft zu überbringen. „Bürgerkönig! Gruppe Zwei meint, dass vorne was ganz Eigenartiges passiert!" Der dickliche Funker mittleren Alters schnaufte vor Erschöpfung.
Dann ein kurzer Wind. Er sorgte zumindest ein paar Sekunden lang für vermeintliche Erfrischung.
„Was denn?"
„Tonino der Prinz ist mit seinen Männern aus dem Norden gekommen und stürmt auf Momos Gebiet zu! Sie schießen!"
„Scheiße!", stieß Paul aus. „Die haben vorgesorgt! Der hat seine Leute doch vorher schon dort platziert!"
„Nein, so ist es nicht!", setzte der Funker fort. „Der Prinz kämpft offenbar auf unserer Seite! Seine Männer schießen Momos Araber nieder, wie unsere Kämpfer an der Front berichten!"
Alle im Stab waren stark verwundert über diese Nachricht, allen voran natürlich Ben. Er war der Einzige im Bunde, der den Kerl persönlich getroffen hatte. Er wusste, dass dieser ein treuer Hund gewesen war, sein ganzes Leben lang. Dass ausgerechnet er das Bündnis hintergehen würde, war denkbar unwahrscheinlich. Wie so oft im Leben kann man sich aber täuschen.
Plötzlich kam ein anderer Funker – dieses Mal eine zwanzigjährige, sportliche Frau – zu Paul. „Anführer! Von hinten kommen drei Motorräder auf uns zu! Auf einem sitzt Tonino! Auf den anderen anscheinend zwei seiner Leibwächter! Sie sind alleine! Sollen wir das Feuer eröffnen?"
„Nein, auf keinen Fall!", antwortete Ben für Paul. „Der will mit dir verhandeln! Oder sich verbünden! Lass' ihn zu uns stoßen!", meinte der Vollstrecker im Anschluss zum Bürgerkönig.
Dieser – noch immer sichtlich überrascht – nickte wortlos. Sein Mund blieb offen. Die Paul umgebenden Bürger machten den Weg frei für den langsam heranfahrenden Tonino.
Dessen Motorrad wirbelte den Sand durch die Luft. Er selbst saß mit Sonnenbrille und T-Shirt oben. Sein sündhaft-teures Sonnenöl verhinderte etwaige Sonnenbrände, die sonst nahezu jeder andere Bürger der Stadt heute hatte, sofern dieser kurzärmlig durch die Gegend lief. Unmittelbar vor Paul und den anderen hielt er seine Maschine an, stieg hinab und ging mitsamt seinen zwei Leibwächtern auf Paul zu. Der Prinz kassierte von jedem kritische Blicke, wurde aber aufgrund von Pauls Anordnung in Ruhe gelassen. Der Menschenkreis wurde wieder geschlossen.
Dieser Kerl war mir nie geheuer... Verfluchter Italiener... Diese Hunde können nie treu sein, dachte sich Ben, der den Ankömmling und Mitmörder von Arno boshaft anstarrte.
„Guten Tag, Bürgerkönig...", begrüßte Tonino Paul, als er schließlich vor ihm stand. Er nahm seine Sonnenbrille ab und sah dem Jungen wohlwollend in die Augen. Ohne irgendeine bösartige Intention.
„Was in aller Welt tust du hier? Was machen deine Leute im Norden?", waren Pauls Fragen.
„Oh." Tonino bemerkte Ben Wolff in Pauls Reihen. „Den Vollstrecker hast du dir geangelt, was?" Er lachte kurz. Dann entdeckte er auch Sahid, der ihm ebenfalls bekannt war. „Ah, und den Tschetschenen auch... Da hast du ja zwei Vollprofis auf deiner Seite." Erneut ein Schmunzeln.
„Beantworte die Fragen." Ben fand das überhaupt nicht komisch und stellte sich breitbeinig neben seinem Schützling Paul hin.
Tatsächlich sah Ben in dem Moment so aus, als würde er jede Sekunde Tonino den Kopf abreißen können. Wut staute sich in ihm zusammen, als er den Meuchler seines Ziehvaters sah. Er hielt sich nur krampfhaft zurück, um Pauls Bewegung nicht zu gefährden. Ansonsten hätte er den Italiener vermutlich in Stücke gerissen. Sein Herz pochte wild und er zeigte seine Zähne. Drohverhalten.
Sei vorsichtig, was du sagst, Prinz.
„Gut, gut... Gibt ja Erklärungsbedarf..." Tonino atmete tief aus. „Weiß gar nicht, wo ich anfangen soll."
„Beeilt euch, die Schlacht geht weiter!", erinnerte Can die beiden, der inzwischen zusammen mit Yamina sich wieder um die Kommunikation mit den Kampfgruppen kümmerte.
„Hm, wenn das so ist...", meinte der Prinz. „Kurz gesagt: Ich hab' mich vom Bündnis gelöst. Diesem Arsch von Blake Brookshields diene ich nicht. Also hab' ich mir gedacht, ich würde mich euch anschließen. Wisst ihr, ihr mögt mir das nicht glauben, und ich bin ja eigentlich euer Feind, aber ich hab' nachgedacht die letzten Tage... Und ich bin zu dem Entschluss gekommen, dieses Business sein zu lassen. Man sieht doch deutlich, was die Bürger wirklich wollen. Die haben in meinem Viertel schon zu rebellieren begonnen, und so dachte ich mir, ich komm' denen zuvor. Daher hab' ich den Drogenhandel eingestellt und verkündet, zukünftig auf eurer Seite zu stehen. Die Einwohner haben das erstaunlich positiv aufgenommen. Mein Gebiet ist euer Gebiet."
„Wa... Was zum..." Der Bürgerkönig war sprachlos. Er wusste just in dem Moment nicht, ob das nun die Wahrheit oder nur ein böser Scherz vom Prinzen war.
„Wieso haben wir davon nichts erfahren?", fragte Sahid, der den Italiener – wie viele andere auch - gar nicht leiden konnte.
„Konntet ihr nicht, weil das alles erst vor einer knappen Stunde passiert ist." Tonino grinste selbstsicher. „Ich gebe gerne den Patron-Titel ab, wenn eure Sache besser ist als meine..."
„Äh... warte..." Paul stotterte. „Das ist ja alles schön und gut, dass du uns hilfst, aber... Wie zum Geier konntest du wissen, dass wir auf Momos Gebiet losgehen?"
„Ich hab' die schnellsten Fahrzeuge und die besten Spitzel dieser Stadt. Meine Späher haben euch schon vor Stunden losmarschieren sehen. Da wusste ich, was ihr vorhabt. Und zusammen vernichten wir diesen Araber."
In der Zwischenzeit konnte Can über den Funk in Erfahrung bringen, dass Gruppe Drei zwar vollständig ausgelöscht und die anderen Gruppen auch dezimiert worden sind, sie jedoch dank Toninos Hilfe im Begriff waren, das Gebiet schneller einzunehmen als gedacht. Momos Kämpfer zogen sich bald schon zurück.
„Hey! Es sieht gut aus für uns!", verkündete der Türke mit einem wahren Lächeln im Gesicht. „Gruppe Drei ist dahin! Aber wir sind im Vorteil! Die Araber ziehen sich zurück!"
„Na seht ihr...", kommentierte das Tonino.
In Pauls Gesicht entstand indes ebenfalls ein geradezu typisches Siegerlächeln. Nur Ben und Sahid behielten ihre ernsten und skeptischen Blicke. Die beiden Männer hatten zu viel Lebenserfahrung, als dass sie sich von anfänglichen Erfolgen hätten blenden lassen.
Auch Tonino wusste das. „Freut euch nicht zu früh... Blake hat es auf eure Gegend in Westend abgesehen. Er beansprucht das Gebiet für sich. Das hat er beim letzten Treffen so gesagt. Es war relativ unmissverständlich."
Ben sprach weiter. „Paul, wir müssen das Ding so schnell beenden, wie möglich! Und danach den Großteil unserer Leute dorthin zurückverlegen! Blake wird nicht alleine kommen!"
Der Mistkerl wäre dafür viel zu feige...
„Seid unbesorgt", sagte Tonino. „Ich habe bereits vorgesorgt und meine besten Leute an Westends Grenzen geschickt. Eure Rebellen sollten auch wissen, dass wir jetzt Verbündete sind."
„Da... Danke?" Der Bürgerkönig war sich immer noch unsicher, was Toninos plötzlichen Seitenwechsel anlangte. „Ich weiß zwar nicht, ob du das alles ernst meinst, aber das ist sehr... ehrenvoll von dir."
Der Prinz seufzte und kniete sich danach zusammen mit seinen zwei Leibwächtern vor Paul hin. Er sah aus wie ein Untergebener, der zum Kaiser sprach. Ein Prinz, der vor seinem König das Knie beugte. Tonino der Prinz und Paul der Bürgerkönig. Theatralischer konnte eine Unterwerfung nicht sein.
„Bürgerkönig, wirst du mir meine bisherigen Schandtaten vergeben?"
Diese Szene war seltsam. Das alles ähnelte einem Treueschwur. Nur anstatt dass dieser in einem königlichen Palast abgehalten wurde, fand er nun inmitten einer sandigen, durchlöcherten Kreuzung innerhalb eines ruinenartigen Stadtviertels statt, wo jedes Fenster zerbrochen und beinahe jede Wand bröckelig war. Und keiner der Zuseher trug edle Kleider. Viel mehr schwitzte jeder stark aufgrund der Gluthitze. Ja, sogar Yamina lief der Schweiß nur so von der Stirn runter, obwohl sie im Normalfall weniger anfällig für sowas war. Zum Glück hatten sie alle reichlich Wasser mit sich.
„Ja... Werde ich...", antwortete Paul dem Knienden.
„Gut. Wirst du mich als deinen Verbündeten akzeptieren? Und wirst du mein Viertel in deine Gebiete einverleiben?"
„Auch das werde ich."
Die anderen in der Runde wirkten äußerst verblüfft. Verständlich. Zuerst die gigantische Hitze, dann die Schlacht und dann inmitten von dieser ein ehemaliger Feind, der sich urplötzlich zum Freund erklärt.
„Perfekt." Der Prinz setzte sich wieder lässig seine Sonnenbrille auf und erhob sich. „Dann haben wir das mit den Formalitäten. Jetzt sollten wir aber mal die Schlacht beenden."
„Wäre das Beste", sagte Paul abschließend und widmete sich danach wieder der Befehlsweitergabe an den Funkgeräten.
Ben sah währenddessen den Prinzen immer noch feindselig an. Schließlich wusste er, dass dieser mitverantwortlich für Arnos Ermordung gewesen war.
„Sag' mal, Ben..." Tonino bemerkte Bens bösen Blick. „Stimmt das, was Arno gesagt hat? Hast du wirklich den Befehl nicht ausgeführt? Oder war Arno damals einfach zu feige, Benjamin Brookshields umbringen zu lassen?"
„Arno hatte Recht. Ich war es. Ihr seid auf eine Intrige von Blake reingefallen, die ich dummerweise miterschaffen habe..."
Man merkte, dass das dem Prinzen im Moment sehr unangenehm war. „Das mit deinem Vater... hat mir wirklich Leid getan... Ehrlich wahr. Ich kann's nicht mehr rückgängig machen. Ich war damals zu blind und zu naiv gewesen."
„Ich weiß."
„Ist es zwecklos, wenn ich mich bei dir entschuldige? Für alles, was geschehen ist?" Tonino sah reumütig zur brüchigen Straße hinab, wo spärlich Reste eines Verkehrsstreifens waren. Dieser Streifen war eine alte Sperrlinie, die die Fahrbahnen abtrennte und an sich nicht übertreten werden durfte. Jetzt war er es, der die Seiten wechselte.
„Es ist nie zwecklos. Aber du hättest es damals wissen sollen... Dich nicht so leicht täuschen lassen dürfen..." Ben schluckte. Ein kurzes Schluchzen kam, als er an seinen toten Ziehvater dachte, den er über alles liebte. Geschickt überspielte er es.
Ich und anderen verzeihen? Das hab' ich von euch drei Kindern wohl gelernt... Arno hätte mir das nie beigebracht...
„Egal. Was geschehen ist, ist geschehen. Wenn du ab jetzt die Fresse hältst, sind wir durch damit", sprach Ben weiter.
„Ja, Ben..."
Kapitel 22: Auf die Bruderschaft!
Es vergingen mehrere Wochen seit der Schlacht in und um Frankfurt Mitte-Nord. Diese verlief mehr als nur erfolgreich für die Bewegung. Zusammen mit Toninos Hilfe wurde Momos Gebiet nahezu gänzlich von dem Einfluss seiner arabischen Mafia befreit, wenngleich die Kämpfe Tage andauerten und mehrere hunderte Opfer forderten. Nach fünf Tagen erhielt die Rebellion des Bürgerkönigs die Kontrolle. Viele islamistisch gesinnte Einwohner zogen von dannen oder brachten sich um, so sehr hatte sie Momo mit seiner geschickten Islam-Maschinerie indoktriniert. Er selbst hatte sich stets als einen Kalifen dargestellt, der von Allah entsandt wurde, um die Welt von den Ungläubigen zu befreien. Dass er ganz offensichtlich das „Wort Gottes" brach, indem seine Leute Drogen verkauften oder Huren auf den Strich schickten, erkannten die geblendeten Einwohner dieser Gegend nicht – oder zumindest wollten sie es nicht wahrhaben. Zu sehr vertrauten sie ihrem Patron. In kaum einem anderen Distrikt war die ansässige Bevölkerung dermaßen von ihrem Schutzherrn beeindruckt. Nun aber änderten sich die Umstände. Insbesondere Yamina hatte in dem Viertel viel zu tun, und sie war die letzten Wochen primär damit beschäftigt, den verschleierten und gehirngewaschenen Frauen zu erklären, dass sie ab jetzt freie Menschen seien und vor keinem Mann mehr buckeln mussten. Bei dem Großteil fruchtete dieses Vorhaben, bei einem kleineren Part bedauerlicherweise nicht. Man konnte keineswegs jeden zur Rebellion bewegen.
Momo musste sich aus seinem eigenen Wohnort zurückziehen und fand mitsamt seinen Männern ausgerechnet bei seinem Erzfeind Seb Kint Unterschlupf. Glücklicherweise zählte nun neben Momos auch automatisch Toninos Viertel zu jenen Orten, die den Rebellen gehörten. Insgesamt hatte die Bürgerinitiative also fast die Hälfte der Stadt eingenommen. Damit waren sie ihrem Ziel deutlich näher gekommen.
Blake hatte zusammen mit dem Bündnis einige Angriffe auf Westend und die eroberten Gebiete gestartet, war jedoch weniger erfolgreich, da er nicht mit Toninos plötzlichem Seitenwechsel gerechnet hatte. Zudem wurden die Stimmen aus der Bevölkerung dank Yaminas Flugblättern und der Mundpropaganda stetig lauter. Von Tag zu Tag wurde innerhalb der jeweiligen Distrikte mehr aufbegehrt, was den Clans zusätzliche Mühen bescherte. Das Bündnis musste sich also neu formieren und zog sich vorerst aus den Kämpfen zurück.
Keiner jedoch war so unzufrieden wie Blake. Während seine Verbündeten Aufstände in ihren eigenen Reihen und Gegenden unterdrücken mussten, war er auf Konfrontation aus. Er wusste, dass Pauls Bewegung zurzeit zu stark war, um sie mithilfe der anderen im Zuge eines Frontalangriffes zu zerschmettern. Also musste ein neuer Plan her – ein Subtilerer.
Und er hatte sich bereits genauestens vorbereitet, als er an diesem einen Abend den Bürgerkönig Paul selbst per Anruf kontaktierte, um mit ihm ein Treffen auszumachen. Dessen Nummer konnte er leicht ausfindig machen, da er den Geschäftsführer des lokalen Mobilfunkanbieters gut kannte; zum Lokalisieren reichten die technischen Kapazitäten jedoch nicht aus. Nach anfänglichem Zweifeln akzeptierte Paul den Vorschlag. Seine einzige Bedingung war aber, dass sowohl Ben als auch Yamina und Can während der Gegenüberstellung anwesend seien. Sonst niemand. Dem stimmte Blake zu.
Es war fast zehn Uhr abends, also schon stockdunkel draußen. Als Treffpunkt fungierte der gottverlassene und breitflächige Campus der zerfallenen Goethe-Universität. Direkt am Platz vor dem Hörsaalzentrum warteten die Vier – Yamina, Can, Paul und Ben – in einer Schulter-an-Schulter-Reihe stehend auf die Ankunft ihres Hauptgegners. Die Wartenden waren dem krassen Temperaturabfall entsprechend mit schwarzen Lederjacken und langen Hosen gekleidet. Ein unguter Wind pfiff seine beunruhigende Melodie. Allgemein spielte das Wetter an dem Tag irgendwie verrückt. Die Windstöße waren nämlich heftiger und langwieriger als sonst. Dies erzeugte eine gewisse Weltuntergangsstimmung – optimal passend zur gegenwärtigen Situation.
Exakt fünfzehn Minuten kam der junge Geschäftsführer des großen Wasser-Konzerns zu spät. Alleine fuhr er mit seinem Motorrad über den steinernen Boden, stellte das Gefährt in der Mitte des leeren Platzes ab und ging selbstsicher auf seine Kontrahenten zu. Blake trug seinen typischen Motorrad-Schutzanzug und hielt in der rechten Hand den dazugehörigen Helm.
„Nun denn... Meine Damen und Herren...", sagte er als Begrüßung und stellte sich gegenüber den Vieren hin. „Freut mich, dass wir es geschafft haben, das hier zustande zu bringen."
„Das hast du auch vorgeschlagen", antwortete Paul mit einer zurückhaltenden Stimme. Überhaupt wirkte besonders Paul extrem angespannt, ja fast nervös. Als hätte er Angst vor dem, was Blake sagen könnte.
Die Blicke der jungen Menschen verrieten, dass sie nichts als Hass für den Brookshields-Erben übrig hatten. Auch Ben verband eine starke Antipathie zu Blake, die noch von seiner gemeinsamen Zeit mit ihm rührte.
„So ist es. Ich habe das vorgeschlagen." Blake ließ den Helm auf den Boden fallen, lachte kurz merkwürdig und steckte dann seine Hände in seine Hosentaschen. „Seht, ich hätte euch einfach durch einen Scharfschützen hier töten lassen können! Ihr seid so einfältig, pah! Ich kann nicht mehr!" Er brach kurzzeitig in abgrundtief boshaftes Lachen aus.
Dies verstanden die übrigen Anwesenden nicht. Keiner hätte das. Für einen normalen Menschen sind die Handlungen eines derartigen Psychopathen stets irrational und nicht erklärlich.
„Du hast es aber nicht getan, hm?", wandte Yamina ein. „Das muss einen Grund haben."
Blake kriegte sich wieder ein und setzte ein ernsthafteres Gesicht auf. „Nein, nein... Was hätte ich davon? Das wäre zu leicht. Überhaupt nicht lustig! Ich kämpfe fair, wisst ihr?"
„Du bist jetzt auch ein Patron, hab' ich gehört", sagte Can.
„Ja, sowas in der Art bin ich... Ich hab' eine treue Söldner-Armee hinter mir, und natürlich ein Imperium, das mein Vater geschaffen hat. Seit mehr als fünfzig Jahren versorgt dieses Unternehmen die Bürger der Stadt mit reinem Trinkwasser. Es stellt sozusagen die Existenzgrundlage für uns alle dar. Und nun wollt ihr es vernichten... Dabei erkennt ihr Tölpel nicht, was ihr da anrichtet. Da muss ich mich doch wehren, nicht?"
„Wie dürfen wir das verstehen?", wollte Paul wissen. Die Nervosität war ihm noch immer deutlich anzusehen.
„Tut doch nicht so. Denkt ihr, alles wird besser, sobald ihr das Sagen in der Stadt hättet? Tz, machen wir uns mal nichts vor: Ihr würdet genauso arme Menschen unten halten und sie zwingen, für euch zu arbeiten. Ihr seid nämlich keine ‚Helden' oder ‚Befreier', oder wie auch immer ihr euch selbst tauft... Ihr seid nichts anderes als dreckige Heuchler, die vorgeben, etwas Besseres zu sein. Und es gibt in der Stadt genug Hohlköpfe, die auf euer Geschwafel reinfallen."
Ben musste schmunzeln. „Ist das alles von dir, Blake? Kommt noch was? Oder war das der einzige Grund für das Treffen? Uns zu beleidigen?"
Mein lieber Ben, sei ruhig frech... Du wirst sehen, was du davon hast.
Denk' nicht, du wärst schlauer als ich, Blake. Ich weile schon länger auf dieser Welt als du.
„Ach, Ben... Du hast dich echt diesen Komikern angeschlossen? Ich dachte, du wärst ein Mann... Aber du bist scheinbar doch nur ein Laufbursche. Jetzt hast du eben ein neues Herrchen, dem du dienst." Blake grinste. Er wusste genau, wie er den verhassten Ben am besten provozieren konnte.
„Wenn ihre Sache eine gute ist, helfe ich ihnen."
Sie ist gut... Wahrlich. Sei dir dem mal bewusst, Blake.
„Oh, was für eine Diktion du auf einmal hast! Wo sind die ganzen Schimpfwörter hin, mein Lieber? So kenne ich dich gar nicht. Als du bei uns im Tower warst hast du ja immer geflucht wie ein alter Seehund!"
„Ruhe jetzt!", mischte sich Paul ein. „Was willst du, Blake? Warum wolltest du uns treffen? Willst du Frieden schließen?"
Ein kalter Windschlag peitschte die Anwesenden. Yaminas Haare wehten in der Luft, genauso wie ihr Schal. Auch Pauls langer Mantel wurde durch den Wind kurz hochgeworfen.
„Frieden? Mit euch?" Erneut grinste Blake. „Das glaubt ihr doch wohl selber nicht!"
„Was ist es dann, was du willst?" Can wurde ungeduldig.
„Euch etwas mitteilen..."
„Und das wäre?"
Nun war der Wind am heftigsten. Sein Sausen war wahrlich unangenehm.
„Euer Anführer ist Paul...", sagte Blake trocken. „Oder sollte ich lieber sagen: Roger Timothy Brookshields?"
Schweigen. Keiner kannte sich aus. Keiner außer Paul – und Blake natürlich.
„Wa... Was... redest du da?", stotterte Paul runter. Er fühlte sich ertappt, und das merkte man nach außen hin.
„Du weißt genau, was ich meine, Brüderchen. Tja, ich hätte dich ja wirklich vergessen... Aber wie blöd, dass ich zuhause ein wenig gestöbert habe..."
„Der redet nur Scheiße, glaubt ihm kein Wort!" Paul wurde lauter.
„Brüderchen, ich hab' alte Akten, Fotos, Tagebücher, Aufzeichnungen, Dokumente gefunden... Alles verstaubt und gelagert im Archiv... Es hat natürlich ewig gedauert, an das ranzukommen, aber... Den Tipp dazu hat mir Vater selbst vor seinem Ableben verraten. Er meinte irgendwas mit ‚ich habe meinen Paul schon immer...'; unser Vater brachte seinen Satz nicht zu Ende, aber ich konnte mir denken, was er meinte. Du weißt ja, Vater war bekannt dafür, viele Bastarde in der Stadt gezeugt zu haben. Du aber..."
„Hört nicht auf ihn!"
„Du aber warst besonders. Genau wie ich. Wir waren die einzigen Kinder, die von derselben Frau stammten. Und dazu bezeichnete er diese Dame als seine echte Ehegattin, obwohl er sie kurz nach deiner Geburt elendig in einen Käfig gesperrt hat... Anscheinend stimmt also die Geschichte, meine Mutter wäre eine Hure gewesen, gar nicht. Roger, wir sind Brüder, du und ich."
Nun musste Can etwas sagen. „Was zur Hölle redet der da, Paul? Stimmt das alles?" Er blickte böse zum Bürgerkönig.
Dieser sah nur bedrückt zu Boden. „Kann sein... Kann sein...", wiederholte er sich.
„Ja oder nein, Paul? Wer zum Teufel bist du?", hakte Can nach.
Ben schwieg indes, genau wie Yamina, die aber betroffen dreinschaute. Es war überaus still an diesem verlassenen Campus. Nur der Wind trieb weiter sein Unwesen.
„Das ist aber noch nicht alles", führte Blake seine Offenbarung fort. „Seid ehrlich, Yamina und Can, wann habt ihr den Kerl kennengelernt?"
„Mit sechs Jahren, oder so...", erinnerte sich Yamina.
„Ja", stimmte Can zu.
„Na also...", sagte Blake. „Wir sind nur ein Jahr und ein halbes auseinander. Er war der Zweitgeborene. Von Anfang war er schwach, dünn und klein... Und er war frech, führte sich auf, widersetzte sich seinen Eltern. Insbesondere auf deinen Vater hast du nie gehört. Ich hingegen passte ihm von Anfang an. Ich war fleißig, hab' mich benehmen können und war körperlich viel fitter als du. Vater schämte sich für dich und dein Verhalten. Er wollte dich nicht als seinen Sohn akzeptieren. Ehrlich wahr, manchmal munkelte er, ob du nicht einfach die Ausgeburt einer Affäre zwischen Arno und unserer Mutter gewesen wärst..."
„Sei still, Blake!", befahl Paul ihm schreiend. Vergebens.
„Wie dem auch sei..." Blake ließ sich nicht aufhalten. „Bis du fünf Jahre alt warst hat man dich im Main-Tower versteckt gehalten und nicht in der Öffentlichkeit gezeigt. Ja, nicht mal Arno wurdest du präsentiert, weil sich Vater Benjamin für dich geschämt hat. Deswegen erinnere auch ich mich gar nicht mehr an dich. Diese ganzen Infos habe ich aus Vaters Tagebucheinträgen... Tja, und als du sechs warst, hat man dich auf die Straße gesetzt. Mit der Zeit hast du begonnen zu begreifen, was man dir angetan hat."
„Du verficktes Schwein! Du beschissener Behinderter, Blake!" Wütend wollte Paul auf Blake losgehen, aber Ben und Can hielten ihn zurück.
„Ab da hast du jedem erzählt, dass du ‚Paul' heißen würdest und ein Vollwaise seist. Was für ein Blödsinn. Erstunken und erlogen. Dir war es peinlich, zuzugeben, was mit dir passiert ist. Weil dich da irgendwelche Penner aufgenommen haben, hattest du wenigstens eine Art Alibi für deinen Waisen-Status, als die irgendwann abgekratzt sind. Und dieser ganze Schwachsinn, den du da gestartet hast, der diente nicht etwa dem Wohle der Menschen. Er diente einzig und allein deiner persönlichen Rache an mir und Vater. Vor allem an mir, weil ich der Grund war, weshalb du verstoßen wurdest, Roger!"
„Nein!"
„Oh, doch. Seht es ein, meine Freunde: Euer tapferer Anführer ist ein mickriger Lügner. Ein selbstsüchtiger Wicht, der nur nach Rache sinnt, und sonst nichts. Und auf den wollt ihr hören? Dass ich nicht lache..."
Nun war der Moment gekommen, in dem Paul – oder Roger Timothy Brookshields – in Tränen ausbrach und zusammenknickte. Er wusste innerlich, dass Blake Recht hatte. Nur hätte er nie gewettet, dass jemals jemand sein dunkles Geheimnis lüften könnte. Er glaubte stets, sogar sein eigener Vater hätte ihn vergessen. Yamina war die Einzige, die sich zu ihm setzte und tröstete, während er kläglich weinte.
„Es tut mir so Leid...", schluchzte er. „Ich... ich hätt' das... früher sagen sollen... Aber ich bin nicht auf Rache aus! Ich schwöre auf alles, was ich habe! Es geht mir um die Menschen!"
„Ja, ja... Immer sind's die Menschen, für die man ja nur Gutes will. Du bist nicht der erste Tyrann, der das von sich behauptet hat", merkte Blake an. „Wisst ihr, Leute? Für manche Siege braucht man keine Waffen. Es reichen einfach Worte, wie man hier sehen kann. Schon ist der Traum von der wiedererlangten Stadt ausgeträumt. Mein Bruder, du sagst, sie hätten sie dir gestohlen? Du warst selbst dabei, sie dir ungerechtfertigterweise anzueignen!"
Ben schwieg weiterhin. Er sprach kein Wort, sondern sah Paul nur enttäuscht an.
Can hingegen war da viel impulsiver. „Du bist ein Bastard, Paul. Oder Roger. Keine Ahnung, wen ich da mein ganzes Leben lang vor mir hatte!"
Sehr gut. Da ist der richtige Kerl anwesend. Dieser Can ist einfach zu sensibel. Das sollte reichen, um euren Zusammenhalt zu brechen, fantasierte Blake, der sich als deutlicher Sieger sah.
„Can... Bitte, verzeih' mir!", stammelte Paul. „Das mit Brookshields stimmt, und ja, ich wollte am Anfang Rache, aber mit der Zeit hab' ich gesehen, was Frankfurt wirklich braucht! Ich hab' keine Rachegelüste mehr! Vertrau' mir, ich will unser Ziel erreichen! Glaub' mir das!"
„Wie soll ich dir je wieder vertrauen können, wenn du mich die ganze Zeit belogen hast? Wenn du uns alle belogen hast?" Auch Can kam eine Träne die Wange runtergelaufen.
„Ach, hab' ich euch Bastarde etwa zum Weinen gebracht?" Blake lachte wieder und amüsierte sich köstlich über das, was er angerichtet hat.
Mittlerweile hörte der Wind auf zu blasen. Nur mehr das Geschluchze des Bürgerkönigs war präsent. Doch das machte alles nur schlimmer.
„Hast du uns noch was zu sagen, Blake?", fragte Ben, der mit verschränkten Armen da stand und deprimiert aussah.
Offenkundig hatte Blake sein heutiges Ziel erreicht. Ben war frustriert, Can am Boden zerstört, Paul weinte über seine Einfalt und auch Yamina sah man die Enttäuschung an, wenngleich sie Pauls Hand nahm und ihn aufmuntern wollte. Das machte Can nur noch wütender.
„Es wäre besser, wenn du jetzt gehst, Blake", forderte Ben den Jungunternehmer auf.
„Gerne. Ich hab' sowieso das erreicht, was ich wollte. Ach ja, denkt nicht mal daran, mich jetzt hinterrücks abzuknallen oder so. Ich hab' euch vorhin angelogen, dort hinten, am Dach des gegenüberliegenden Fakultätsgebäudes..." Er deutete auf dieses teils zusammengefallene Bauwerk hin. „Dort sitzen tatsächlich einige GSG-9-Scharfschützen, die euch jederzeit kalt machen könnten. Aber seid unbesorgt, ich werd' euch nicht heute töten lassen. Nein, zuerst schau' ich mir gespannt an, wie ihr euch selbst zugrunde richtet. Und dann vernichte ich euch."
Blake behielt sein bösartiges Grinsen, hob seinen Helm auf und begab sich langsam zu seinem Motorrad.
„Verzieh' dich jetzt endlich, du Schwein", verlangte Ben.
„Oh, und falls ihr Beweise oder was braucht..." Blake griff kurz in die Innentasche seiner Motorradjacke. „Da habt ihr!"
Er warf einige Seiten aus Benjamins Tagebuch und offenbar eine Kopie einer Geburtsurkunde in Richtung der Vier. Solche Urkunden waren unter den Eliten noch gebräuchlich. Can hob sie auf und las tatsächlich den Namen Roger Timothy Brookshields und dessen Geburtsdatum, das mit dem von Paul übereinstimmte.
Danach setzte sich Blake auf sein Gefährt und verließ mit diesem den Treffpunkt. Dieser folgenschwere Abend sollte den Vieren lange im Gedächtnis bleiben.
Kapitel 23: Eine Familie
Ein Lastwagen war es, der den sechsjährigen, verwahrlosten und schwachen Roger Timothy Brookshields Zeit auf die Straße gesetzt hatte. Tatsächlich handelte es sich bei dem Jungen um einen ungeplanten Unfall. Der alte Benjamin Brookshields war kein Mann, der einvernehmlichen Sex präferierte. Im Gegenteil. Wann immer er Lust und Laune hatte, machte er sich über seine gedemütigte, viel jüngere „Ehefrau" her und wunderte sich im Nachhinein über ihr verstörtes Verhalten. Dies nahm er zum Anlass, sie für immer und ewig wegzusperren. Es fehlte dem Alten an jeglicher Empathie, weswegen er Gefühlszustände anderer Mitmenschen nicht nachvollziehen konnte. Er war ein Monster sondergleichen. Wenig verwunderlich, dass Blake ähnlich gestrickt war – wenn nicht sogar schlimmer.
Roger – oder Paul – war darüber hinaus eine Frühgeburt. Der Brookshields-Geschäftsführer holte sich die besten Mediziner, um den kleinen Menschen irgendwie am Leben zu halten. Natürlich hatte Benjamin zuvor daran gedacht, das ungeborene Kind abzutreiben, doch das letzte bisschen Menschlichkeit in ihm brachte ihn dazu, dem Burschen eine Chance im Leben zu geben. Allerdings enttäuschte Roger seinen Vater in den nächsten Jahren. Neben seinem grandiosen Bruder Blake wirkte der aufgrund der Frühgeburt und der verbrachten Zeit im Brutkasten geschwächte und dünne Roger wie ein Strich, der keine Bedeutung in dieser Welt haben sollte. Das Kleinkind schrie, wann immer es konnte. Es brauchte viel mehr Milch von seiner Leihmutter als andere. Es musste ständig schlafen und aß wenig. Es wollte nicht lernen. Es weigerte sich beharrlich, auf die Anordnungen seines Vaters zu hören. Blake dagegen war anders. Er war wohlgenährt, stark, schlau, lernte mit drei Jahren zu lesen und zeigte bereits in jungen Jahren eine vermeintliche Treue gegenüber seinem Erzeuger. Wollte Benjamin das Risiko tragen, dass sein schwacher Zweitgeborener, den er ja nicht mal der Öffentlichkeit preisgab, ihn eines Tages zur Last fallen oder gegen ihn aufbegehren würde? Nein, selbstverständlich nicht. Also verbannte er ihn. Übers Herz hat er es nicht gebracht, ihn zu töten, aber er war der Auffassung, „Frankfurt werde ihm so oder so das Leben nehmen".
Und so landete er letztendlich tatsächlich auf der Straße. Was dem alten Benjamin jedoch nie aufgefallen ist, war der unheimlich starke Überlebenswille von Roger. Selbst seine Geburt war ein Kampf, der gewöhnlich nicht überlebt wurde. Aber der Junge schaffte es. Später sogar auf den Straßen jener Hauptstadt der Kriminalität.
Irgendwo zwischen den Ruinen des Bahnhofviertels fanden ihn bald zwei Heroinsüchtige. Das Kind lag halb-verhungert und in einer Decke gewickelt in der Ecke eines teilweise eingestürzten Wohnblocks. Mit aller Liebe nahmen ihn die beiden auf und nannten ihn von da an „Paul". Voll des Hasses und der Wut auf seinen Vater und seinen Bruder legte Roger seinen alten Namen ab und nahm diesen neuen dankbar an. In dieser Zeit – als die echten Eltern von Yamina und Can noch lebten – lernte er seine künftigen besten Freunde kennen. Bald jedoch hatten Pauls Zieheltern keine Vermögensgegenstände mehr, um ihre Drogenschulden zu begleichen.
In einer Nacht, wo ein merkwürdig kalter Wind wehte, holte ein damaliger Vollstrecker sie und brachte die Eltern in die Leibeigenschaft in Brookshields Betrieb, wo sie wenig später an Erschöpfung starben. Paul erinnerte sich noch gut an daran, wie sie geschrien hatten und ihren Sohn in einem Kasten versteckt hielten. Auch erinnerte er sich, noch nie so viel geweint zu haben wie zu diesem Zeitpunkt. Das war die kälteste Nacht seines Lebens. Sein Hass wurde stärker und stärker.
Auch Cans und Yaminas Eltern wurden damals entweder von Vollstreckern oder von Gangs getötet. So genau konnten sie das nie herausfinden. Jedenfalls formten die drei Freunde von dieser Zeit an, die sie zu dritt im elendigen Bahnhofsviertel verbrachten, ein untrennbares Band. Gemeinsam gingen sie stehlen, lernten von inoffiziellen Lehrern oder trieben sich Tag und Nacht in den Elendsvierteln dieser dunklen Stadt herum. Mit den Jahren realisierten sie, wie verdorben Frankfurt eigentlich war. Sie sahen, wie Leute, die sie einst Freunde nannten, zu Clanmitgliedern, Dealern, Junkies, Extremisten, Leibeigenen oder Toten wurden.
„Clan, Brookshields – oder der Tod!"
Der Grundsatz. Das wurde den Menschen so eingetrichtert. Wenig konnten sie tun, um diesem Zugang zu entgehen. Die massenweisen Werbe-Bildschirme, die überall angebracht waren, verstärkten diesen Glauben, und jedes Jahr wurde Brookshields Einfluss größer. Nur eine Handvoll Bürger schien aufrecht zu sein, und immer wieder belehrten sich die drei Kinder gegenseitig, nie so zu werden wie der Abschaum dieser Metropole. Dabei bedeutete ihnen Frankfurt alles. Immerhin war das ihre Heimat. Sie sahen mit ihren eigenen Augen, wie ihnen ihr Zuhause über die Jahre hinweg gestohlen wurde.
Letztendlich hatten sie ihre eigene Rebellion gestartet. Aus rein guten Absichten heraus, wenngleich Paul stets seine persönliche Rache im Hinterkopf behielt. Es sollte nichts daran ändern, dass es sein Charisma, Yaminas Charme und Cans Entschlossenheit der Initiative zu enormer Größe verhalfen. Es schien, als hätte ein nicht unbeachtlicher Teil der Frankfurter Bevölkerung dieselben Gedanken gehabt. Überhaupt glaubte Paul sein ganzes Leben lang daran, dass in jedem Menschen ein guter Kern stecken würde, solange er noch nicht verdorben sei. Selbst seinem gehassten Vater und Bruder traute er dies zu.
Und jetzt sollte das untrennbare Band reißen? War der Moment, den sie sich nie erhofft hatten, etwa gekommen?
Ben, Sahid, Paul, Yamina und Can befanden sich gerade in einer großen Dachgeschosswohnung eines Wohnhauses in Westend. Sie war edel eingerichtet, mit Kronleuchtern, Perserteppichen, Barock-Möbeln... Sie hatte früher einmal einem namhaften Slawistik-Professor gehört. In der Mitte des Wohnzimmers stand ein uralter Tarock-Tisch, an dem die Fünf nun saßen. Allgemein diente dieses Wohnhaus nahe des Grüneburgparks als Hauptstandort der Initiative. Die alte Unterkunft in der Bunkeranlage von Solberg & Webb diente mittlerweile nur noch als Waffenlager und Lazarett. Pauls Geheimnis-Offenbarung lag nun drei Tage zurück.
„Das ist heftig... Das Ganze...", gab Sahid von sich, nachdem Paul seine gesamte Lebensgeschichte geschildert hatte.
„Tja. Das ist es wirklich...", fügte dem Ben hinzu, der wieder einmal rauchte.
In den letzten Tagen hatte er mehr geraucht als sonst. Das lag wohl an der gedrückten Stimmung innerhalb der Bewegung. Obwohl nur die Fünf von Pauls Geheimnis wussten und es niemandem verraten hatten, wirkte sich diese Niedergeschlagenheit auf die gesamte Rebellion aus. Kämpfe wurden nicht mehr so effektiv geführt wie zuvor.
„Könnt ihr das irgendwie verstehen?", fragte Paul, der brutale Augenringe hatte, in die Runde. „Ihr müsst wissen, dass ich nicht mehr auf Rache aus bin! Ich hab' nach wie vor das gleiche Ziel wie ihr! Ich wurde damals einfach ausgetauscht! Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie wütend ich war, als ich meinen Bruder Blake das erste Mal auf den Bildschirmen gesehen habe!"
„Paul... Es ist okay... Wirklich. Natürlich ist es seltsam, aber ich bin dankbar dafür, dass du uns das so ausführlich geschildert hast...", meinte Yamina und gab ihre zarte Hand tröstend auf die von Paul.
Nur Can wirkte immer noch skeptisch. Das ganze Treffen lang hatte er nichts gesprochen. Überhaupt hatte er in den vergangenen Tagen mit Paul kein Wort gewechselt. Zu groß war seine Enttäuschung. Viel mehr versank der Türke in gigantische Zweifel und fragte sich, ob sein getöteter Jugendfreund Murat nicht doch Recht gehabt hätte.
„Willst du dazu gar nichts sagen, Can?", wollte Ben wissen, der das Schweigen des Jungen nicht nachvollziehen konnte. „Du bist einer der Anführer, verdammt!"
„Ich weiß nicht...", kam es leise aus Cans Mund, während er demonstrativ auf die Tischoberfläche – und nicht etwa in die Augen seines Gegenübers – starrte.
„Can, ich versteh' ja deine Wut, aber ich versprech' dir, ich stehe hinter unserem Ziel!", versicherte ihm Paul, der ihn mit nassen Augen ansah.
Es folgte keine Reaktion.
„Na gut... Bis jetzt weiß keiner davon, außer wir, oder?" Sahid sah besorgt und unsicher aus.
„Ja", sagte Paul.
Der Tschetschene atmete erleichtert aus. „Das soll so bleiben. Die Leute dürfen nicht an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln. Was mir eher schlaflose Nächte bereitet ist, dass Blake das weiß."
„Er wird's nicht sagen. Noch nicht." Ben drückte die Zigarette auf einem altertümlichen Aschenbecher aus und lehnte sich dann auf seinem Stuhl zurück.
„Was macht dich da so sicher?", fragte Yamina hastig.
Mädchen... Du passt nicht auf, hm?
„Ich kenne Blake. Er denkt berechnend, aber er ist auch ein Sadist. Er könnte locker diese Information jetzt verbreiten, doch das würde ihm keinen Spaß machen. Es wäre ihm zu einfach. Aber er wird damit irgendwann rausrücken."
„Und wenn's soweit ist, was sollen wir dann machen?" Das Mädchen hatte ein überaus ängstliches Gesicht aufgesetzt. Verständlich, in dieser Lage.
„Die Leute darauf vorbereiten. Wir müssten Blake eigentlich zuvorkommen. Natürlich wird das die Moral schwächen, aber wenn Paul das im Rahmen einer Ansprache halbwegs nachvollziehbar rüberbringt, so wie bei uns gerade..."
„Klingt vernünftig...", sagte Paul dazu. „Das erste Mal in unserem Dasein gibt's eine Krise..."
„Für die du alleine verantwortlich bist!", fügte Can dem hinzu.
Danach stand er sichtlich zornig vom runden Tisch auf, drehte sich um und verließ recht hastig das Wohnzimmer durch die dünne Holztür. Nach ihm ging auch Sahid wortlos und mit müdem Gesicht aus dem Raum.
„Es hat keinen Sinn mehr, heute weiter zu diskutieren. Gute Nacht", verabschiedete sich Ben, zog sich seinen Trenchcoat an und ging ebenso auf die Tür zu. „Ich werd' dann mal ein paar Runden drehen... Zur Ablenkung."
Nachdem auch der Vollstrecker aus dem Haus ging, waren nur mehr Yamina und Paul zusammen am edlen Tarock-Tisch. Sie hatte ihre Hand sanft auf seine gelegt und sah ihn, den schlimmen Vorwürfen zu trotz, irgendwie bewundernd an – als hätte sie die ereignisreiche Lebensgeschichte des geheimen und verstoßenen Brookshields-Sprösslings, der nun paradoxerweise die Stadtrevolte anführte, zutiefst fasziniert.
„Can scheint mich jetzt zu hassen...", sagte Paul mit trauriger Stimme und sah dabei hinab.
„Ach..." Sie lächelte nur mit ihren hellweißen, perfekten Zähnen. „Der kriegt sich wieder. Du kennst ihn ja schließlich. Er ist halt ein temperamentvoller Typ."
„Ist er, ja."
„Na eben..."
Paul merkte, dass sie sich ihm stetig unauffällig näherte. Er wusste zunächst nicht, wie er auf sowas reagieren sollte. Zwar hatte er bisher Vieles erlebt, aber mit den Frauen war noch nie was Konkreteres gelaufen. Etwas nervös richtete er sich seine braunen Haare zurecht. Mittlerweile war dem bleichen Paul sogar ein kaum sichtbarer Bart gewachsen. Der Stress der letzten Tage sorgte außerdem für einige Hautunreinheiten auf seiner Stirn. Der dunkelhäutigen und exotischen Dame neben ihm passierte so etwas nie. Sie schien ihre Attraktivität immer aufrecht behalten zu können – egal in welcher Lage.
„Ich find's echt gut, was wir bis jetzt geschafft haben, Paul", meinte sie mit einer weicheren Stimmlage. Fast hörte es sich so an, als würde sie ihm das zuflüstern wollen. „Du kannst die Leute einfach gut auf deine Seite ziehen. Selbst den Vollstrecker. Das bewundere ich an dir."
„Yamina..." Paul räusperte sich. „Ohne dem was du für uns getan hättest, wären wir nichts. Danke dir."
„Du musst dich nie bei mir für irgendetwas bedanken."
„Ich hab' Angst... Um unsere Sache..."
„Brauchst du nicht."
„Ich will mich nicht unterkriegen lassen wie mein Vater. Ich will auch nicht so enden wie er."
„Du bist nicht dein Vater. Sei dir darüber im Klaren." Nun drückte sie seine Hand fester und berührte seinen Körper mit ihrer Hüfte. „Ich weiß das..."
Er erwiderte dem. Seine andere Hand streichelte ihr über die zarten Beine. Auch wenn sie sich ewig kannten und oftmals als Quasi-Geschwister bezeichneten, empfanden sie stets etwas für einander. Das war mehr als blanke Freundschaft. So viel gegenseitige Leidenschaft, die versteckt gehalten wurde und nie wirklich emporkam... Keiner wusste in dieser Stadt, wie lange er den anderen noch an seiner Seite hätte. Es war keineswegs verwerflich, sich seinen ureigenen Trieben zu widmen.
Und so küssten sie sich schließlich. Sie küssten sich heftig. Alsbald begannen sie damit, sich ihren Kleidern zu entledigen, nur um im Anschluss ihren bis dahin geschickt verborgenen Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Doch sie wussten nicht, dass sie beobachtet wurden. Nicht von irgendeinem Fremden, einem Eindringling, einem Dieb, einem von Blakes Leuten... Es war Can, der kurz nach Bens Fortgang sich ans Schlüsselloch der hauchdünnen Holztür gemacht hatte und die Szenerie sowohl hören als auch sehen konnte. Man kann den inneren Schmerz, den der Türke just in diesen Momenten spürte, kaum mit menschlichen Worten beschreiben. Sein ganzes Leben lang hatte er vergeblich versucht, dieselben Gefühle von ihr zu bekommen, die er für sie pflegte. Aber er wurde enttäuscht – immer und immer wieder aufs Neue. Zwar liebte sie ihn tatsächlich, jedoch war diese Liebe rein platonischer Natur. Irgendwann hatte er es halbwegs akzeptiert. Wirklich wahr, er wünschte ihr nur das Beste. Er hoffte, sie würde eines Tages den Richtigen finden. Nur war seine größte Angst allerdings, dass dieser Jemand gerade Paul sein würde. Dieser persönliche Albtraum wurde nun zur Realität. Und es zerbrach ihn.
So viel Wut, Zweifel, Neid und Missgunst hatte er über die letzten Wochen und Tage gegenüber seinem ehemals besten Freund angestaut. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er ausrasten würde. Kalte, salzige Tränen liefen Cans Wangen runter, und es gab lediglich eine Sache, die er jetzt tun würde. Das hatte er sich lange überlegt. Eigentlich wollte Can dem Anführer seiner Revolution noch eine zweite Chance geben, indem er sich selbst eingeredet hatte, bloß einige Tage warten zu müssen, bis das Ganze abklingen würde... Doch es kam anders.
Der Türke ging in sein zugeteiltes Zimmer zurück, nahm von dort eine Flasche Hennessy, leerte sie bis zur Hälfte und packte dann seine Sachen zusammen. In seinen riesigen Rucksack steckte er alles, was er möglicherweise brauchen würde. Zudem verbarg er sein Gesicht mit einem Bandana, um auf den Straßen nicht erkannt zu werden. Danach verließ er rasant den Häuserblock über das Stiegenhaus und stieg draußen dann auf sein Moped. Mit diesem fuhr der Türke auf unmittelbarem Wege zum famosen Main-Tower.
Es gehörte viel Glück dazu, dass ihn keiner der in dieser Gegend verteilten feindlichen Kämpfer erkannt oder kontrolliert hatte. Direkt vorm Haupteingang des Main-Towers, der stark bewacht war, stieg er von seinem Gefährt ab und näherte sich den maskierten Wachleuten. Diese begannen, auf den ungebetenen Besucher mit ihren Sturmgewehren zu zielen.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie?", fragte einer der GSG9-Kerle.
Can legte sein Bandana ab und präsentierte sich somit als einer der Schlüsselfiguren der Bürgerrevolte.
„Ich muss Blake Brookshields sprechen... Lassen Sie mich zu ihm."
Kapitel 24: Garten Eden
Viel Zeit war nicht geblieben, um sich auf das Kommende vorzubereiten.
Ben drehte sorglos in der Gegend um Dornbusch seine Runden mit dem Motorrad. Dies diente primär seiner Beruhigung. Währenddessen verbrachte der halbnackte Paul mit der ebenfalls nahezu gänzlich entkleideten Yamina seine Zeit im Bett liegend. Sie befanden sich in jenem Schlafzimmer dieser eleganten Dachgeschosswohnung. Obwohl es relativ eng hier war und man erkennen konnte, dass das Holzdach irgendwann selbstständig wiedererrichtet wurde, war der Zustand der Immobilie dennoch von höchster Qualität. Beide Liebhaber lagen am Rücken und umarmten sich, indes sie die vielen Engelsbilder und Christuskreuze an den Wänden betrachteten. Der ehemalige Bezieher war offenkundig stark gläubig gewesen und hatte viel Wert darauf gelegt, seine Wohnstätte so christlich wie nur möglich einzurichten. Außerdem hatte er auf Luxus gesetzt, was die prächtigen Perserteppiche, der Mahagoni-Wandschrank oder die antike Stehlampe verdeutlichten.
„Gefallen sie dir?", fragte Paul sein nun endlich ihm gehörendes Mädchen.
„Die Engel etwa?" Sie streichelte sanft seinen Kopf. Er zeigte sich zufrieden und lächelte glücklich.
Glückseligkeit. Das, nach dem er sein ganzes Leben lang vergeblich gesucht hatte, fühlte er in diesem Moment.
„Ja. Das Bild links oben... Ich halt' ja normal nicht viel von so einem religiösen Kram, aber das ist doch recht schön, oder nicht?"
Paul deutete auf eines der Bilder. Es zeigte einen weiblichen und einen männlichen Engel, die Hand in Hand auf einer Wolke zu schweben schienen. Der junge Mann sah darin jedoch mehr als bloße Freundschaft. Die Art und Weise, wie sich diese zwei Engel gegenseitig anschauten deutete auf wahre Liebe und pure Leidenschaft hin. Dies erinnerte ihn an die jetzigen Momente mit seiner Yamina.
„Süß... Hast Recht.", meinte sie. „Könnten wir sein."
„Ja... Wirklich."
„Wieso haben wir das nicht schon früher getan?"
„Gute Frage... Die Umstände waren's wahrscheinlich. Ich hab' mich irgendwie nie bereit genug gefühlt, dir das zu zeigen. Tut mir Leid dafür."
Paul drehte seinen Kopf zu seiner Liebe. „Du brauchst dich bei mir nie für irgendetwas auf dieser Welt entschuldigen."
Sie antwortete mit einem kurzen Kuss auf seine Lippe. Erneut lächelte Paul.
„Ich fühl' mich wie im Garten Eden mit dir... Wie die zwei Engel da..."
Es war nichts verkehrt daran, die Liebe für etwas rein Himmlisches zu halten. Schließlich haben es himmlische Dinge so an sich, nicht real zu sein. Und wenn doch ein Narr dieser trügerischen Welt meint, Derartiges zu spüren, so enden diese schönen Momente in der Regel sehr bald. Das Schicksal macht einem für gewöhnlich einen nicht-radierbaren Strich durch die Rechnung.
Denn während die zwei Liebhaber nichtsahnend in ihrem Bett lagen und sich zum allerersten Mal in ihrem schwierigen Leben ihrer tief verankerten, gegenseitigen Leidenschaft widmen konnten, ging es unten auf den Straßen vor diesem Wohnhaus merkwürdig zu.
Eine seltsame Atmosphäre war in diesen Abendstunden zu spüren. Sahid befand sich vor der Haupteingangstür und stand dort zitternd und nervös da. Selbst seine Joints halfen ihm nicht, runterzukommen. Drei seiner Tschetschenenfreunde, die ebenso unruhig waren, standen bei ihm. Auf der Straße selbst gingen Dutzende Bürger herum. Doch in dieser Nacht feierte keiner. Niemand soff, tanzte oder lachte, wie es sonst zu dieser Zeit üblich war. In der Ferne hörte man nämlich viele Schüsse und Todesschreie. Es schien ein Angriff auf das Hauptquartier der Bewegung im Gang zu sein.
Ein namenloser Bürger mit dickem Bauch und kurzen, braunen Haaren, der offenbar auch Teil der Rebellion war, kam auf den bloß tatenlos herumstehenden Sahid zu. "Hey! Sie! Was sollen wir tun? Irgendwo in der Gegend schießt wer um sich! Das ist sicher 'n Angriff!"
„Ja...", sagte Sahid und blickte dabei traurig, während er wie ein Irrer an seinem Joint zog.
„Wollen Sie gar nichts befehlen? Sollen wir etwa einfach hier stehen bleiben?"
Keine Antwort von Sahid. Nur ein bedrückter Blick. Ein Blick, der Selbstmitleid und Reue zeigte.
„He!" Eine schwarzhäutige Frau mischte sich ein. „Was ist los mit Ihnen? Warum tun Sie nichts?"
„Es ist zu spät", gab Sahid schließlich von sich und spuckte die Cannabis-Zigarette aus, sodass sie auf dem sandigen Boden landete.
„Hä? Was soll das denn heißen?" Die Dame blieb standhaft.
Die Schüsse und brutalen Geräusche von Tod wurden mit jeder Sekunde lauter. Außerdem zeigten sich in der Ferne erste Feuer, die aus den Fenstern der dortigen Häuser kamen. Und es wurde mit Panzerfäusten geschossen. Explosionen, heftige Schusswechsel und die typischen Töne heranfahrender Panzer... Es war offensichtlich, dass der Commander im Anmarsch war. Und das mitsamt seiner gesamten Truppe. Es sollte bloß eine Frage der Zeit sein, bis sie das Haupthaus der Rebellion erreichen würden.
Diese traurige Aussicht bewahrheitete sich nur einige Minuten später, als mehrere gepanzerte Lastwagen die Straße vor dem Gebäude daher gerast kamen und dabei zig wehrlose Bürger gnadenlos niederfuhren. Die optimistischen Versuche der Rebellen, mit ihren Gewehren auf die herannahenden Gefährte zu schießen, waren vergebens. Sie drangen mit ihren Kugeln nicht durch. Unmittelbar vor dem Haupteingang, wo Sahid noch immer festgenagelt dastand, hielten die Wagen. Die Türen öffneten sich, und es stiegen lauter schwergepanzerte, maskierte und mit Sturmgewehren bewaffnete GSG-9-Kämpfer des Commanders aus. Verzweifelt leisteten die anwesenden Rebellen Widerstand, aber es wurde einer nach dem anderen von den Elitekämpfern niedergeschossen. Die Spezialeinheit an sich hatte hingegen keinerlei Verluste zu beklagen.
„Sahid! Machen Sie endlich was!", schrie die panische Frau nun den eigentlichen General der Rebellion an und packte ihn.
„Verdammt, ja! Die werden uns alle kalt machen!", fügte der dicke Mann von vorher hinzu.
Doch anstatt dass Sahid endlich Befehle abgab, zückte er seine Pistole und schoss sowohl der schwarzen Frau als auch dem Dicken in den Bauch. Die beiden waren sofort tot. Danach nahmen die drei Tschetschenen neben ihm ihre Gewehre in die Hand und begannen damit, ebenso auf die Rebellen und unbeteiligten Bürger in dieser Gegend zu schießen. Blakes Söldner schossen nicht auf Sahid, geschweige denn auf seine Untergebenen. Ein Seitenwechsel? Es war eine bizarre Szene.
Ben Wolff hatte inzwischen von den Krawallen Wind bekommen, obwohl er so weit weg war. Die Explosionen und Schusswechsel waren immerhin kaum zu überhören oder übersehen. Sofort stoppte er seine Fahrt, nahm sein Klapphandy und wählte Pauls Nummer. Dieser – der nun selbstverständlich auch was vom Angriff mitbekam – hob sofort ab.
„Paul! Was ist das für eine Scheiße? Was passiert gerade draußen?", fragte Ben hastig und selbst zutiefst geschockt.
„Die greifen uns an! Die sind direkt vor unserer Tür!" Man merkte deutlich, dass Paul Angst hatte. Verständlich.
Er lag mit Yamina zusammen im Bett, und sie hatten sich der Furcht wegen nicht einen Millimeter rühren können. Stattdessen blieben sie an Ort und Stelle, mit blassem Gesicht und viel Angstschweiß.
„Ich... Ich... weiß nicht... was mit uns passiert, Ben! Töten... die uns? Werden wir sterben, Ben?"
„Nein! Ich komm' zu euch! Sag' den Wachen, sie sollen bei euch bleiben!"
„Die sind alle schon ins Stiegenhaus... gerannt!"
Verdammte Scheiße!
„Versteckt euch! Irgendwo, wo euch keiner finden kann!"
„Es gibt kein gutes Versteck hier!"
„Mein Gott, dann verbarrikadiert wenigstens die Tür zu euch! Ich werd' mit den Leuten aus der Gegend zu euch stoßen! Tonino werd' ich auch anrufen! Halt' durch!", meinte Ben abschließend und legte auf. Unverzüglich machte er sich auf den Weg und rief im Fahren Tonino an, um Unterstützung zu holen.
Mittlerweile waren alle Rebellen, die die Straßen vorm Hauptgebäude bewacht hatten, getötet worden. Nun zeigte sich auch der Commander, der als Einziger von der mörderischen Nazi-Truppe keinen Helm trug, sodass man ihn leicht erkannte. Auch hob er sich durch seine unglaubliche Körpergröße und Muskelmasse von den übrigen Kämpfern ab. Sahid, der zuvor wie aus dem Nichts auf seine eigenen Verbündeten geschossen hatte, stand wieder regungslos da und sah den Commander beängstigt an.
Der Commander ging langsam und mit strenger Miene auf den Tschetschenen und seine Beschützer zu. Selbstbewusster und dominanter konnte ein Mensch fast nicht gehen. Als der Muster-Arier sich vor den viel kleineren Tschetschenen hinstellte, inspizierte er nochmals kurz die Gegend, das Schlachtfeld. Lauter verstümmelte Leichen, viel Blut, Feuer, verzweifelte Schreie aus den Häusern... Die paar überlebenden Schwerverletzten wurden systematisch von der Eliteeinheit abgeschlachtet.
„So, so... Tschetschene..." Der Commander richtete seinen verächtlichen Blick wieder auf Sahid. „Das habt ihr gut hingekriegt."
Die tiefe Stimme des GSG-9-Anführers machte selbst dem kräftigen Sahid Angst.
„Ja...", sprach er unterwürfig aus, mit gesenktem Blick.
„Haben deine tschetschenischen Drecksbrüder alle Wachen im Haupthaus abgeschlachtet? Wie angeordnet?", erkundigte sich der Deutsche.
„Ja, haben sie."
„Gut. Weißt du, Tschetschene? Du warst meinem Auftraggeber ein großer Nutzen. Ehrlich wahr, du hast uns mit wertvollen Informationen versorgt. Aber dieser Can ist dir zuvorgekommen. Er hat uns sofort alle wichtigen Standorte, Lager und Außenposten auf der Karte gezeigt, von denen du nichts wusstest."
„Ich war noch nicht so lange dabei..."
„Dennoch, du bist überflüssig. Du bist letzten Endes nichts als ein schäbiger Untermensch. Was hast du für deine Spionagearbeit von Blake verlangt? Bornheim, oder was? Ihr seid alle gleich, ihr Tschetschenen. Keinen Funken Anstand habt ihr in euch."
Sahid schaffte es endlich, genug Mut zu sammeln, um dem Commander in dessen hypnotisierende Augen zu starren. „Ja, Bornheim hat er mir versprochen. Hoch und heilig."
„Tz", kam es vom Deutschen zurück. „Willst du noch irgendwas sagen? Ein letztes Gebet, oder was, bevor ich dich in den Himmel schick'?"
Der Puls des Tschetschenen stieg. Seine Beschützer neben ihm stellten sich in eine Kampfposition.
„Ich hatte eine Abmachung! Bornheim soll mir gehören für das bisschen Spionieren!", schrie Sahid wütend – und auch verzweifelt.
„Mach' es mir nicht zu leicht..."
Die drei Tschetschenen neben Sahid liefen auf den Commander zu und wollten ihn offenbar mit Fäusten angreifen, weil in ihren Gewehren keine Kugeln mehr waren. Der Commander jedoch wich deren Tritten und Schlägen geschickt aus, parierte sie und versetzte ihnen nacheinander heftige Hiebe in deren Magengegenden. Dadurch klappten die Angreifer keuchend zusammen, woraufhin der Deutsche ihnen mit der bloßen Faust systematisch die Schädel einschlug. Einer der Drei schien sogar gestorben zu sein. Sahid hatte sich zwischenzeitig ängstlich etwas nach hinten bewegt.
„Na, komm' schon...", forderte der Commander seinen Kontrahenten zum Kampf auf.
Voll der Furcht und der Gewissheit, keinerlei Chance zu haben, rannte Sahid auf seinen Feind zu und versuchte, ihm einen seitlichen Tritt zu verpassen. Der Commander aber fing sein Bein mit Leichtigkeit ab, hielt es fest und brach es schließlich mit der Kraft seiner beiden Arme. Dies dauerte nur Sekunden. Der Tschetschene schrie vor Schmerz auf und fiel zu Boden. Der winselnde Sahid wurde anschließend vom Commander so brutal mit Faustschlägen ins Gesicht versorgt, dass er innerhalb von nur einer Minute tot war.
Als der GSG-9-Anführer mit seinem Opfer fertig war, wischte er sich das fremde Blut vom Gesicht. „Schwacher Bastard... Wie jeder andere aus diesem Drecksland auch." Er wandte sich zu seiner versammelten Truppe, die hinter ihm bereit stand. „Gut, stürmt das Haus und tötet jeden verbliebenen Tschetschenen! Und alle anderen Personen im Haus auch!"
„Jawohl!", schrien die Elitekämpfer – es dürften um die dreißig gewesen sein – nahezu im Einklang und stürmten daraufhin das gesamte Wohnhaus vor ihnen, wo sich auch Paul befand. Ben war immer noch auf dem Weg.
Paul und Yamina hatten derweil bereits den Mahagoni-Kasten und zahlreiche andere Möbel vor die Tür ihres Schlafzimmers geschoben in der Hoffnung, dass dies reichen würde, um die Eindringlinge irgendwie fernzuhalten. Sie hörten schon, wie im Stiegenhaus mit Kugeln gefeuert wurde, und ihr Puls wurde stetig schneller. Vor lauter Furcht fiel es ihnen sogar schwer, sich überhaupt im Raum zu bewegen, und nun war der Zeitpunkt gekommen, in dem sie nur auf ihr unausweichliches Schicksal warten konnten. Sie waren sich darüber im Klaren, dass kein Mensch der Welt – ja nicht mal Ben – jetzt kommen würde, um sie zu retten. Hoffnung ist etwas für Träumer.
Schließlich pochte es an der verbarrikadierten Tür. Die zwei Liebhaber versteckten sich unter dem großen Bett, in dem sie zuvor ihre Leidenschaft ausgelebt hatten. Nach einiger Zeit wurde auf die Tür geschossen, und nachdem dies nicht wirkte, wurde von den Eindringlingen ein Sprengstoff gezündet, der letztlich den Weg ins Schlafzimmer für sie freimachte. Zirka sechs GSG-9-Soldaten stürmten das Zimmer, während die anderen den Rest des Gebäudes von Rebellen säuberten. Auch der Commander betrat das Innere.
Schnell wurden die Zwei entdeckt und gewaltsam über den Boden aus ihrem lächerlichen Versteck gezogen. Dann wurden die halbnackten jungen Erwachsenen von den Soldaten brutal verprügelt. Paul bekam ebenso harte Hiebe ab wie Yamina. Keinerlei Rücksicht wurde auf die Weiblichkeit genommen. Bald schon spuckten sie Fragmente von Zähnen, hatten blaue Augen, ein ramponiertes Gesicht und dutzende Platzwunden an ihren schmalen Körpern. Der Commander sah sich das ganze amüsiert an. Seine skrupellosen Söldner hörten nicht auf, die zwei Anführer der Rebellen übel zuzurichten.
Nach einigen Minuten stoppte der Commander per Handzeichen die Attacke. Seine Kämpfer ließen also von den Zweien ab, die nun nur mehr kraftlos und mit gesenktem Haupt vor dem Deutschen knieten wie Sklaven.
„Scheinbar war euer Freund doch kein Freund, wie es aussieht." Er hielt kurz inne und sah sich im Zimmer um. „Nicht, dass wir euch nicht sowieso früher oder später gefunden hätten, aber der Kanake hat es beschleunigt. Diesen türkischen Bastarden darf man kein Vertrauen schenken. Das ist sowas wie ein Grundsatz."
„Wir... Wirst du uns... töten?", stammelte der schwerverletzte Paul.
„Ich? Ich würde dich in tausend Stücke reißen, wenn ich könnte. Aber die Vorgaben meines Auftraggebers waren ganz klar, was das anbelangt. Du weißt vermutlich, dass wir noch nie unser Wort gebrochen haben."
„Was... meinst du...?", fragte Paul.
Yamina hingegen heulte nur und brachte keinen einzigen Satz mehr heraus. Womöglich war sie dazu bereits zu schwach.
„Roger Timothy Brookshields, wir haben alles getan, um deinen Traum von der zurückerlangten Stadt zu zerstören. Wir haben eure Waffenlager gestürmt, eure Außenposten zerstört und haufenweise eurer Leuten ermordet. Jetzt fehlt nur mehr Tonino, dann ist eure Bewegung dem Erdboden gleichgemacht. Ja, sogar diesen Bunker beim Lager von Solberg & Webb haben wir sprengen lassen. Das kannst du alles deinem türkischen Freund verdanken. Blake Brookshields meinte aber, wir sollten dich auf keinen Fall töten. Nein, stattdessen sollst du sehen, wie alles, was du aufgebaut hast, zugrunde geht, während du selbst wie ein Hund weiterlebst!"
Der Commander nahm Yamina ins Visier, ging langsamen Schrittes auf sie zu und packte ihren dünnen Hals mit seiner kräftigen Hand. „Und auch deine Liebsten sollst du verrecken sehen...".
„Nein! Das kannst du nicht!" So laut hatte Paul noch nie geschrien. „Fass' sie nicht an! Das ist mein Fleisch und Blut! Lass' sie in Ruhe, du Bastard!"
Mit aller Mühe versuchte Paul, auf den Commander loszugehen und ihn abzuhalten. Aber die anderen Soldaten im Raum hielten den schwächlichen Bürgerkönig zurück. Yamina konnte selbst auch nicht viel tun, um sich gegen den Deutschen zu wehren. Er war schlicht viel zu kräftig für ihren zarten Körper.
Und so begann er, sie zu würgen. Er drückte, fester und fester. Vergeblich gierte das junge, hübsche Mädchen nach Luft. Paul schrie und schluchzte zugleich um seine einzige Liebe, doch er konnte nichts für sie tun. Vor seinen Augen wurde ihm das genommen, was ihm am meisten bedeutete. Sei es um die Stadt oder ihre Bürger gewesen. Wenngleich das Pauls eigentliches Ziel gewesen war, so wichtiger war es ihm geworden, Yamina an seiner Seite zu haben. Für immer und ewig.
Nach einer geschätzten Minute war es zu Ende. Yamina flog leblos mit dem Kopf nach vorne um. Beim Anblick ihres Leichnams fiel der selbst bereits halbtote Paul vor Schock in Ohnmacht. Blake hatte sein Ziel erreicht.
„Wir haben's geschafft... Männer, Abmarsch!", befahl der Commander, womit er mitsamt seinen Truppen das Wohngebäude verließ und sich mit den Lastwagen draußen zügig aus dem Staub machte.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Ben endlich mitsamt Toninos Leuten am Ort des Geschehens eintraf. Sofort rannte er in das Schlafzimmer, wo er die beiden Anführer der Rebellion bereits vermutet hatte.
Tatsächlich wäre ihm selbst beinahe das Herz stehen geblieben, als er sah, wie der inzwischen wieder wach gewordene Paul seine tote Yamina umarmte. Und dabei kläglich weinend auf das Bild der beiden Engel starrte.
Kapitel 25: Die Säuberung
Can war auf der Flucht. Der stadtbekannte Türke und deklarierte Verräter versuchte nun alles, um den sicheren Konsequenzen zu entgehen, und so war er entsprechend untergetaucht. Bereits wenige Stunden nach seinem Verrat und der darauf folgenden Stürmung des Rebellen-Hauptlagers durch Blakes eiskalte Söldner verbreitete sich die Kunde um den verräterischen Can in der gesamten Stadt. Allein aus moralischen Gründen wollte ihn der Großteil der Bevölkerung tot sehen. Doch jetzt gab es andere Probleme, die Vorrang hatten: Die Bewegung wurde durch die vielen Großangriffe seitens Blakes extrem geschwächt. Westend musste aufgegeben werden, ebenso beinahe alle anderen Gebiete – auch die von Tonino waren ab sofort in der Hand von Blake, der sich zur Kontrolle über seine Bezirke weiteren Söldnertruppen aus dem Ausland bediente. Die Rebellen mussten sich daher notgerungen in den Norden der Stadt flüchten, was ihnen selbstverständlich schwer zusetzte. Außerdem gab es keine Waffenreserven mehr, fast die Hälfte der Anhängerschaft wurde getötet oder schwer verletzt, viele desertierten, wichtige Posten waren dahin und allgemein sank die Moral erheblich. Blake hingegen baute sich langsam ein großflächiges Revier auf, über das er mit äußerster Härte und mit viel Einsatz von Waffengewalt herrschte. So durften die Zivilisten ihre jeweiligen Distrikte nicht mehr verlassen. Taten sie es dennoch, schossen die GSG-9-Trupps sie ohne zu zögern über den Haufen. Man konnte sohin von einem neuen Bürgerkrieg inmitten dieser Metropole sprechen. Chaos, Unmut und Panik waren ausgebrochen. Das, was Arno einst mit aller Kraft zu verhindern versuchte.
Und das Bündnis der übrigen Bosse? Hierfür sah Blake keinerlei Verwendung mehr. Was nutzte ihm ein Momo Al-Hadad, der seinen Distrikt und damit auch seine Geschäftsgrundlage verloren hatte? Was brachte ihm ein Juri Koskow, dessen Russen-Mafia im Kampf gegen die Rebellierenden kläglich versagt hatte? Überhaupt sorgte erst Cans plötzlicher – von Blake natürlich einkalkulierter – Verrat dafür, dass der Brookshields-Erbe seine Attacken präzisieren und die Bewegung somit an ihren Schwachstellen treffen konnte. Ansonsten hätte er zusammen mit dem Bündnis einen Großangriff starten müssen, was selbstredend viel aufwendiger gewesen wäre. Nun aber waren die anderen Bosse überflüssig geworden. Also musste eine Notlösung für deren Verbleib her, die alsbald gefunden wurde. Immerhin hatte Blake noch immer Arnos famose Karte mit den Wohnorten sämtlicher Bündnispartner, wobei nur Tonino nicht mehr am selben Platz weilte.
Es war mitten in der eiskalten Nacht. Der Temperaturabfall war wieder einmal enorm heute. Ein Vollmond sorgte für einigermaßen klare Sicht.
Die erste, die es traf, war die edle, ältere Japanerin Yuma Aido, die in ihrer sündhaft teuren und luxuriösen Residenz am Stadtrand von Lerchesberg im Süden ihr Dasein fristete. Ein gigantischer Wald bestehend aus Palmen und anderen exotischen Pflanzen und Bäumen grenzte direkt an ihr modernes Hochsicherheits-Haus. Es war ausgestattet mit Pool, zwei breitflächigen Stockwerken, einem riesigen Garten, zwei Garagen und einem hohen Metallzaun, der das Gebäude eigentlich schützen sollte. Sie selbst schlief gerade gemütlich in ihrem Boxspringbett im zweiten Stock. Vor diesem Bett war ein größeres, kugelsicheres Fenster angebracht, von wo man auf den Garten und den angrenzenden, dunklen Palmenwald blicken konnte. Das Haus war so stark abgeschottet, dass man es eigentlich nie hätte finden dürfen. Der Karte sei Dank, dass man es dennoch tat.
Nur zufällig wachte die alte Dame auf. Sie hatte erneut schlecht geträumt, rieb sich die Augen und setzte sich auf. Müde blickte sie vom Bett aus durch das Fenster auf den besagten Wald. Dort sah sie mehrere grelle Taschenlampen und rote Laser aufs Haus leuchten. Offenkundig kamen die Träger dieser Lichter stetig näher. Sofort sprang sie auf, zog ihren Morgenmantel an und rannte förmlich runter ins Wohnzimmer. Sie ahnte schon, was vor sich ging. Nicht der Kamin, die japanischen Malereien, die Samurai-Schwerter an den Wänden, die antiken Möbel, die runden Tische samt Sitzpolster oder die asiatischen Hängelampen interessierten sie, nachdem sie unten ankam. Nein, ihr Atem stockte, als sie ihre anzutragenden, sportlichen Personenschützer sah, die jeweils tot am Marmorboden lagen. Als sie sich näher im Wohnzimmer umsah erkannte sie, dass man die Kerle durch die hier unten nicht-kugelsicheren Fenster scheinbar mit Scharfschützengewehren hingerichtet hatte. Jetzt sah sie auch, dass Blakes vermummte GSG-9-Trupps bereits in ihrem Garten standen und auf sie zielten. Yuma erkannte die roten Laserpunkte von deren Gewehren an ihrem Oberkörper. Die Eindringlinge zögerten fürs Erste.
„Der Tag musste kommen... Ich hab' die letzten Wochen immer wieder Albträume gehabt. Jetzt hat es sich bewahrheitet", sprach die Dame zu sich selbst, die trotz ihres hohen Alters und ihren unmoralischen Machenschaften nie ihre Eleganz verloren hatte.
Sie setzte sich in einen Schneidersitz, machte die Augen zu und begann offenbar zu meditieren – oder zu beten; je nachdem, wie man es interpretierte. Der Exekutionstrupp wartete noch exakt eine Minute, ehe er ihr mit einem Kugelhagel einen blutigen, aber im Ergebnis doch schnellen Tod bescherte.
Als Nächstes folgte der Russe Juri Koskow. Dieser befand sich zu dieser späten Stunde ebenfalls in seinen Gemächern. Allerdings war sein Wohnort im Vergleich zu Yumas Palast ein viel weniger ästhetischer. Genau genommen lebte der Russe in einem Bunker inmitten der Fechenheimer-Industriegegend im Osten der Stadt. Oberhalb dieses Bunkers befand sich eine verlassene und zu einem Art Außenposten umfunktionierte Fabrikanlage, ähnlich wie die von Solberg & Webb. Haufenweise bewaffnete, griesgrämige Russen, Ukrainer und Polen bewachten diese Fabrik, rund um die Uhr. Nur sie hatten nicht damit gerechnet, dass die GSG-9-Truppen, die eigentlich ihre Verbündeten sein sollten, auf einmal mit gepanzerten Fahrzeugen und sogar einem Helikopter angestürmt kommen würden. Die Söldner bombardierten die gesamte Anlage derart mit Kugeln und Sprengkörpern, sodass nach nur einer halben Stunde Feuergefecht so gut jeder von Juris Männern in und um die Fabrik tot war. Die Russen selbst schafften es lediglich, drei GSG-9-Kämpfer umzubringen. Gegen die Professionalität der Elite-Einheit kamen die halbherzig ausgerüsteten Clankrieger kaum an.
Nachdem die kleinen Fische erledigt waren, drangen die GSG-9-Soldaten in die Anlage ein, töteten jeden Feind und sprengten schließlich die Tür zum Bunker, in dem sich Juri befinden sollte. Tatsächlich fanden sie den verwahrlosten und sichtlich um sein Leben bangenden Boss auf dem Bett innerhalb des kleineren Bunkers sitzend. Gewaltsam schlugen sie auf ihn ein und zerrten ihn dann gewaltsam aus seiner Schutzhöhle heraus ins Freie. Auf dem Weg dorthin sah er seine eigenen, reihenweise abgeschlachteten Handlanger verteilt liegen – das war wie ein Stich ins Herz für ihn. Er wollte nicht sterben. Auf keinen Fall wollte er das.
Draußen schließlich wurde er wortwörtlich an die Wand des kargen, grauen Fabrikgebäudes gestellt und schlussendlich unter Tränen und verzweifeltem Geschrei exekutiert. Paradox, dass der sonst so kalte, gefühlslose und unbarmherzige Juri Koskow gerade in seinen letzten Momenten derart ums eigene Überleben winselte.
Als letzte Station waren Seb Kint und Momo Al-Hadad angesetzt. Momo musste wegen seines Gebietsverlustes vorübergehend zu seinem eigentlichen Erzfeind Seb ziehen, der am Martin-Luther-Platz in Nordend-Ost und somit unmittelbar in dessen Nähe seinen Wohnsitz hatte. Das mehrstöckige Rocker-Clubhaus war stets beleuchtet, weil es eine eigene Kneipe im Erdgeschoss hatte, wo man Sebs Motorrad-Gangster anheuern konnte. In der obersten Etage vergnügte sich Seb gerade mit einer Prostituierten, während Momo im Nebenzimmer nichtsahnend und seelenruhig schlief. Ganz im Vergleich zu den restlichen Häusern der Bosse war Sebs Unterkunft keineswegs luxuriös oder teuer eingerichtet. Nein, das interessierte ihn wenig. Überall lagen leere Alkoholflaschen, Zigarettenstummel, die Zimmer waren eng, die Korridore mit Müll übersäht, die Möbel waren teilweise zerstört oder schimmelig, von der Decke hingen uralte Ventilatoren und im ganzen Gebäude roch es übel nach Pisse. Außerdem durften sowohl Momos als auch Sebs engere Vertraute treiben, was sie wollten. Deshalb wurden in den anderen Stockwerken wilde Partys gefeiert. Generell hörte man aus dem Clubhaus wegen der Kneipe und der übrigen ausschweifenden Feierlichkeiten in der Regel die ganze Nacht lang Rockmusik, Schlägereien, stöhnende Damen und schreiende Männer.
Diese „gute" Stimmung wurde jedoch bald zerstört, als der Commander für dieses letzte Ziel der heutigen Nacht persönlich mitsamt seinen Elite-Kämpfern vor dem Clubhaus aufkreuzte. Nur etwa zwanzig Mann brauchte er für diesen Abschnitt, der Rest hatte sich bereits um die übrigen Bosse und deren Gegenden gekümmert.
Eines der drei gepanzerten Autos machte direkt vor dem Eingang zur Kneipe Halt, zwei Insassen packten in Windeseile ein großes, fixiertes Maschinengewehr aus und feuerten damit durch die Fenster ins Lokal. Die übrigen GSG-9-Kämpfer stiegen ebenso aus und schossen ihre Kugeln auf die herausstürmenden, panischen Rocker und islamistischen Clankrieger. Blakes Söldner hatten die Gegenden der Bosse lediglich deshalb passieren dürfen, weil er eigentlich als Verbündeter galt. Der plötzliche Angriff auf das Clubhaus sorgte unter den Clanmitgliedern für Verwirrung; viele wussten nicht einmal, ob sie überhaupt auf Blakes Söldner schießen sollten. Nichtsdestotrotz kam ein wenig Gegenwehr von Seiten der Rocker und Momos Leuten. Jedoch konnten auch sie nur gerade mal zwei der Söldner töten, ehe sie selbst völlig dezimiert wurden.
Als die gesamte Belegschaft sowie die Gäste der Kneipe tot waren, gab der Commander – der erneut seinen Helm ablegte – das Signal zum Sturm. Unterwegs zum letzten Stockwerk richteten er und seine Männer ein Massaker unter den dort hausenden Clanmitgliedern an. Sogar Kinder und Frauen wurden einfach niedergeschossen. Momo und Seb hatten bereits von dem tobenden Kampf was mitbekommen und versteckten sich in ihren jeweiligen Zimmern.
Zuerst stürmte der Commander mit seinen Leuten Momo Al-Hadads Schlafraum. Das war ein kleines, stinkendes und dreckiges Zimmer mit nur einer schäbigen Matratze, einigen Postern, zwei kaputten Stühlen und einem demolierten Wandschrank. Die Wände waren von Schimmel befallen oder abgenutzt. Dies passte so gar nicht zu dem eitlen Araber, der davor in einem Luxus-Penthouse gelebt hatte. Momo schreckte auf, als er sah, dass der Commander – und nicht wie von ihm erwartet einer von der Rebellion – seinen Raum betrat. Das Mondlicht von draußen reichte, um den Raum zu erhellen.
„Na, wen haben wir denn da?" Der Commander grinste schelmisch, als er den verweichlichten und schwitzenden Araber vor sich sah, der nur in Unterwäsche dastand. „Nicht mal genug Zeit gehabt, dich anzuziehen, Kanake?" In diesem Licht des Mondes sah er noch unheimlicher aus als sonst.
„Was in aller Welt... geht hier vor sich?" Momo klang in der Tat erschrocken. Seine innere Panik und seine Verwirrtheit wurden durch seinen offenen Mund und seinen Schweißausbruch verdeutlicht. „Ich dachte, du wärst auf unserer Seite, vallah!"
„Das dachtest du also?" Noch immer lächelte der Commander. Ihm schien das alles zu gefallen. „Das war der beste Auftrag meines Lebens, haha! Ich hatte eine Menge Spaß! Ich wollte euch jämmerlichen Clanbosse ohnehin irgendwann mal verrecken sehen, vor allem dich, du elender Dreckskanake!"
Dem unschönen Rauschebart-Träger Momo fiel nicht mehr viel ein, um sich zu verteidigen. „Inshallah, du Bastard! Dich wird... Allah richten... für deine Taten, du Hund!"
Man erkannte bereits an seiner Stotterei, dass der Araber nur versuchte, seine Furcht mit diesen halbherzigen Beschimpfungen zu überspielen.
„Wie witzig!" Der GSG-9-Anführer brach in kurzes Gelächter aus. Seine übrigen Söldner konnten sich ebenso das Lachen nicht verkneifen. „Das sagst du mir? Gerade du? Hast du nicht mehr zu bieten?"
„Ich schwör', du wirst gefickt werden! Du wirst ins Feuer kommen!"
„Ach, echt? Werde ich das etwa? Und was passiert mit dir? Ewig hast du die Leute in deinem Distrikt mit diesem scheiß Allah und seinen angeblichen Worten an der Nase herumführen können. Ja, es ging so weit, dass du dein eigenes Handeln damit legitimiert hast! Als wäre alles, was du tust, gottgegeben! Wenn einer in der Hölle brennt, dann du!"
„..."
Der Araber brachte kein Wort mehr raus, sondern schnaufte nur mehr seltsam nervös.
„Hat's dir die Sprache verschlagen?" Wieder das typische, leibhaftige Grinsen und der nonchalante Blick. „Wie dem auch sei, ich werd' das heute zu meinem persönlichen Glückstag machen. Ja, solange habe ich darauf gewartet, dir den Schädel einschlagen zu lassen, du kleiner Araber! Ich würd's ja am liebsten selbst tun... Aber ich muss meinen Leuten auch was bieten, oder?"
„Was... hast du vor?"
„Männer..." Der Commander drehte sich zu seinen Kämpfern. „Vergnügt euch mit ihm."
„Was? Nein! Nein! Nicht! Bitte nicht!"
Die übrigen GSG-9-Soldaten im Raum legten ihre Waffen ab und schmissen sich mit Gebrüll auf den wehrlosen Araber. Tatsächlich ließen sie ihren gesamten, durch Alexys rassistische Ideologie erzeugten Hass an dem ehemaligen Anführer des arabischen Großclans aus. Sie schlugen ihn zusammen, hauten ihm die Zähne aus dem Maul, peitschten ihn, brachen seine Knochen, ja, sie rissen ihm sogar die Augen aus. Es war ein reines Blutbad. Bis er endgültig tot war sah der Commander nur mit verschränkten Armen zu und lachte.
Als Momo schließlich nur mehr ein Leichnam war, machte sich der Deutsche zusammen mit seinen Männern auf ins letzte Zimmer – dem Schlafraum von Seb. Sie traten relativ mühelos die Holztür auf. Auch dieses Schlafzimmer war ähnlich dreckig und schäbig wie das von Momo, nur etwas größer.
Der ungepflegte Rockerpräsident Seb stand ebenfalls nur in Unterhose da. In der Ecke des Raumes saß die weinende und nackte Prostituierte.
„Tötet sie...", befahl der Commander sogleich.
Einer der Kämpfer erschoss sie kurzerhand mit seinem Gewehr. Seb schockte das, aber er blieb regungslos stehen. Anstalten machte er keine, das Leben der Hure zu retten. Er schien von allen Bossen bis dato trotzdem der mutigste zu sein, wenngleich ihm das in einer Situation wie dieser wenig bringen würde.
„Mein lieber Seb... Das Mädchen hat dir nicht viel bedeutet, hm?", fragte der Commander den Rocker prüfend.
Dieser sah gefasst aus und starrte dem Eindringling in die Augen. „Nur eine Nutte..." Er hielt kurz inne. „Ich hätt' diesen Schnösel für alles gehalten, nur nicht für einen Verräter..."
„Du meinst Blake, oder wie?"
„Ja... Es musste wohl so kommen. Wir waren ihm anscheinend nicht mehr gut genug."
„Wenn du das so siehst..." Der Commander ging im Raum herum. „Weißt du, was das Schlimmste an dir ist, Seb Kint? Du bist mutig, brutal, gnadenlos, effizient – und ein Deutscher mit reinem Blut. Keine ausländischen Wurzeln oder sowas. Aber du... hast keinerlei Disziplin. Deine Leute völlern alles in sich rein, sie ficken Huren, plündern wahllos, feiern die ganze Nacht, saufen wie letzten Löcher und spritzen sich allerhand Drogen. Sie stinken, pflegen sich nicht, haben kein Benehmen und kein Gefühl für Ordnung. Und du duldest das nicht nur, du befürwortest das. Du bist sogar selbst so."
„Halt' dein scheiß Maul!"
„Ich mein', sieh' dich doch mal an! Du stehst hier, vor mir, nackt und dreckig wie irgendwas! Ich kann deine Alkohol-Fahne und deinen Rauchgeruch bis hierher riechen! Und diese Nutte da... Das ist der letzte Schund! Und du willst ein Anführer sein? Lächerlich!"
„Ich muss dir wohl alles brechen, bevor du eine Ruhe gibst...", drohte der Rockerpräsident und ballte bereits seine beiden Hände zu Fäusten.
Tatsächlich war er eigentlich ein sehr guter und starker Faustkämpfer. Aber ob das gegen den Commander reichen würde, war fraglich.
„Versuch's..." Der GSG-9-Anführer sah wenig beeindruckt aus.
Seb stürmte auf den vor ihm stehenden Commander zu und probierte, ihn mit seinen überaus schnellen Fausthieben zu verletzen. Den meisten davon wurde ausgewichen oder sie wurden von seinem Kontrahenten geschickt pariert. Einige aber trafen sogar, taten dem Commander aber nicht viel. Irgendwann hatte Sebs Gegner genug vom reinen Abwehrkampf und versetzte dem Rocker einen heftigen Tritt in dessen linkes Schienbein. Seb schrie auf. Der Commander hatte es ihm offensichtlich gebrochen.
Dennoch nahm der Rocker den Schmerz – vermutlich durch das Adrenalin bedingt – hin und versuchte weiter, mit seinen Schlägen irgendeinen Schaden am Feind anzurichten. Nur hatte er allgemein das Problem, dass der Commander ein Riese war und er deshalb kaum in die Nähe seines Gesichts kam. Der vom Kampf belustigte Commander holte zum finalen Angriff aus und schlug dem Rockerpräsidenten mehrmals auf verschiedenste Körperregionen – hauptsächlich aber ins Gesicht. Wenig später war Seb nicht viel mehr als ein taumelndes, schwerverletztes Prügelopfer mit lauter Blut und Wunden am ganzen Leib. Alexy ging kurz zurück.
„Ich werd'... dich kaputt... schlagen...", stammelte Seb nur mehr mühsam und spuckte anschließend ganze zwei Backenzähne aus. Er keuchte.
„Mich kaputt schlagen? Sieh' dich an, du bist halbtot bevor der Kampf überhaupt angefangen hat."
„Nein... Ich bin stärker... als du..."
„Tz. Ich glaub' es ist an der Zeit, Seb. Es hier mal Schluss irgendwann. Du glaubst doch wohl nicht, du hättest gegen mich den Hauch einer Chance, oder?"
„Du Schwuchtel, du verfickte!"
„Wie erbärmlich du doch bist..."
Dem Commander reichte es. Sein Kontrahent langweilte ihn nur mehr. Daher kam er ihm näher, packte seinen Kopf, drehte ihn und brach ihm somit letztendlich das Genick. Kurzer Prozess. Damit war auch das Leben des grausamen Seb Kints vorbei.
Keiner würde ihm nur eine Träne nachweinen, genauso wenig wie den anderen Bossen, die in der heutigen Nacht ihr Leben lassen mussten. Zu viel Gräuel hatten sie ihren Einwohnern angetan, und obwohl Blakes folgende Terrorherrschaft sogar noch brutaler werden würde, so hatten sie alle ihren Abgang redlich verdient. Immerhin hatten sie selbst derartige Killerkommandos auf ihre eigenen Feinde schicken lassen, und das jeden verfluchten Tag in dieser ebenso verfluchten, verkommenen Stadt. Außerdem erfuhr nun auch der getötete Arno Klien mehr oder weniger Genugtuung. Tonino entkam dieser Säuberung nur deshalb, weil er wegen seines Seitenwechsels einen anderen Wohnsitz hatte.
Gewiss hätte keiner von ihnen je damit gerechnet, dass ausgerechnet der Sohn jenes Mannes, der für sie ursprünglich nur eine Marionette gewesen war, eines Tages für ihren Tod verantwortlich sein würde.
Kapitel 26: Sühne
Man konnte sich gar nicht vorstellen, wie verheerend die tatsächlichen Auswirkungen von Blakes letzten Handlungen auf die Stadt und ihre Bevölkerung waren. Es war innerhalb Frankfurts unheimlich still geworden. Leer gefegte Straßen. Man hörte keine typischen Beschimpfungen oder Schreie aus den Fenstern, sah keine herumstreunenden Bettler oder traf an den Strandgegenden auf übermutige Jugendliche. Nachdem Blakes GSG-9 mit der Hilfe einiger anderer, fremder Söldnergruppierungen den Großteil der Metropole gewaltsam annektiert hatte, fürchteten sich die Bewohner der besetzten Gebiete zu sehr, als dass sie sich ins Freie gewagt hätten. Angst regierte. Blake hatte mitsamt seinem Vorstand ein eigenes Regelwerk für die von ihm eroberten Bezirke verabschiedet. So wurde jeder Bewohner zwangshalber in die Brookshields-Fabrik integriert, wo überaus fordernde Arbeit verrichtet werden musste. Körperlich oder geistig Unfähige mussten als Ersatz große Teile ihres Vermögens abgeben, und kräftigere Bürger dienten Blake nun als Unterstützungskämpfer. Außerdem durfte unter keinen Umständen das Gebiet verlassen werden. Dies wurde strengstens an den jeweiligen Bezirksgrenzen kontrolliert; hierzu verfügten die Truppen des Commanders über ausreichend Material. Um sich den verhassten Drogensüchtigen, Säufern oder Perversen zu entledigen, ordnete Blake seinen Söldnern an, diese bei Sicht hinzurichten. Die Säuberungsmaßnahmen waren radikal. Ganze Familien wurden auseinandergerissen, weil beispielsweise bei einer stichprobenartigen Hausdurchsuchung kleinste Mengen Crack in der Schublade eines Vaters gefunden wurden. Es wurde nicht gezögert, die Beschuldigten vor den Augen ihrer Liebsten zu exekutieren. Ferner verhängte Blake überhaupt Ausgangssperren. Kein Mensch durfte nach Eintritt der Nachtruhe seine Unterkunft verlassen. Und wehe, jemand widersetzte sich diesen Anordnungen. Der junge Brookshields-Erbe setzte alles daran, „Unbelehrbare" grausamst zu bestrafen. Bald schon zierten die Erhängten sämtliche, noch vorhandenen Straßenlaternen dieser Stadtgebiete.
Auch der Verräter Can hatte Angst – und vor allem Panik. Ist Ben Wolff in der Nähe? Lauert einer der Rebellen hinter der nächsten Ecke? Wo schlafe ich heute, sodass mich niemand sieht? Wo bekomme ich was zum Essen, ohne von wem erkannt zu werden? Fragen über Fragen, die dem jungen Türken Sekunde für Sekunde durch den dunkelhäutigen Schädel schossen. Er fühlte sich so, als würde jeden Moment sein verräterisches Herz stehen bleiben, da es ständig heftig pochte. Permanent schwitzte und atmete er schwer, hatte sich alle Fingernägel ausgebissen und viele seiner eigentlich festen Haare ausgerissen. Die Panikattacken waren sohin allgegenwärtig. Begleitet wurden diese Angstzustände von Reue, Weinkrämpfen und tiefem Selbsthass. Verständlich, in seiner Situation. Er wusste, was er angerichtet hatte. Und er wusste auch, dass ihn beinahe jeder aufmerksame Bürger der Stadt sofort als den ehemaligen General der von ihm miterschaffenen Rebellion wiedererkennen würde. Also wechselte er tagtäglich seinen Aufenthaltsort, bedeckte sein gesamtes Gesicht mit einer Kapuze und Sonnenbrille, lies sich einen Bart wachsen, stahl Essen und sprach wenn überhaupt nur äußerst kurz und mit verstellter Stimme mit anderen Bürgern. Er hatte sich selbst das Aussehen eines Obdachlosen gegeben, um nicht aufzufallen. Klarerweise konnte er nicht in Blakes eroberten Gebieten herumspazieren, sondern musste - notgerungen und paradoxerweise – genau in die letzten verbliebenen Bezirke der Rebellion weichen. Weil die Bürgerrevolution gerade andere Probleme hatte und im Untergang begriffen war, war die Wahrscheinlichkeit, hier entdeckt zu werden, relativ gering – vermeintlich gering.
Ob Blake ihn aufgenommen hätte? Niemals. Zuflucht hätte er bei ihm nie gefunden. Er wusste schließlich, dass Blake Menschen nach Nützlichkeit bewertete, und ein Verräter ist niemals auf beiden Seiten beliebt.
Nun befand Can sich in einem längst verlassenen, verstaubten und heruntergekommenen Schulgebäude in Frankfurt Mitte-Nord. Es war bereits die Sonne untergegangen und ein merkwürdig heller Mond sorgte für Licht in der Dunkelheit. Der bröckeligen Aufschrift am Haupteingang des baufälligen Konstrukts nach zu urteilen handelte es sich um die Franz-Böhm-Schule. Zuvor war Can ein paar Brote und Wasserflaschen holen gegangen. Mit absichtlich gebückter Haltung, der ihn verschleiernden Kapuze und der löchrigen Landstreicher-Kleidung marschierte er durch den Eingang und anschließend über die Aula in ein ehemaliges Klassenzimmer im ersten Stock. Die Fenster hier waren zerbrochen, die Stühle und Möbel kaputt oder morsch... Alles halbwegs Brauchbare war bereits gestohlen worden. Hier hatte er sich schon zu Mittag eine temporäre Schlafgelegenheit – nämlich eine fleckige, alte Matratze, die sich vor der Tafel befand - eingerichtet.
Als er das Klassenzimmer und somit seinen Schlafplatz betrat, fand er zwei kleine Kinder vor. Ein offenbar zirka zehnjähriges, blondes Mädchen und ein etwa gleichaltriger, braunhaariger Junge, beide hauchdünn und selbst offenbar obdachlos. Sie schienen erschrocken zu sein, als sie ihn sahen.
„Verzieht euch, los...", krächzte Can und ging währenddessen langsam auf sein improvisiertes Bett zu. „Na los, geht schon, verdammt. Lasst mich alleine..."
Die beiden Kinder flüsterten sich gegenseitig irgendwas Unverständliches in die Ohren, bewegten sich vor dem übelriechenden Ankömmling weg und rannten daraufhin schnell aus dem Klassenzimmer raus. Das war normal. Derartige Straßenkinder sah Can ständig, doch trotz seiner Paranoia hoffte er, dass diese noch zu jung wären, um in ihm den mittlerweile stadtbekannten Verräter zu erkennen.
„Jedes Mal dasselbe mit denen... Dreckige Kinder." Can ließ sich auf die Matratze fallen und setzte danach die Kapuze und die Sonnenbrille ab. „So eine verfickte Scheiße, das ganze... Wie konnte ich nur so dumm sein?"
Can sah zum ehemaligen Lehrertisch. Dort standen zwei leere Wodkaflaschen. Er hatte beide zu Mittag, kurz nachdem er angekommen war, ausgetrunken. Ja, der Türke war der Ansicht, seinen Frust mit Alkohol ertränken zu können, was alles im Ergebnis aber nur schlimmer machte. Als er nun sah, dass kein Tropfen mehr da war, vergrub er reumütig sein Gesicht in seinen Händen.
„Es tut mir Leid... Paul, Yamina... Ich hab' mich zu leicht lenken lassen... Ich wusste nicht, wer ich war, als ich zu Blake gegangen bin!", schluchzte er im Selbstgespräch. „Es war, als wäre ich ein anderer Mensch geworden! Meine Wut hatte mich unter Kontrolle!"
Jetzt brach er in Tränen aus. Jeden Tag wurden Cans Verfolgungsängste und Schuldgefühle schlimmer. Das ging eine ganze Stunde so.
Irgendwann öffnete sich die knarrende Tür zum Klassenzimmer. Can hob langsam seinen Kopf und blickte nach vorne. Nie hätte er damit gerechnet, dass überhaupt jemand diesen verwahrlosten und gottverlassenen Ort jemals betreten würde. Und noch weniger hätte er damit gerechnet, dass der ungebetene Besucher ausgerechnet Ben Wolff sein würde.
„Be... Ben?" Can wusste nicht, wie er auf die Ankunft des Vollstreckers reagieren würde. Aber ihm war klar, dass dieser nicht im Frieden kam. „Wa... was... tust du... hier? Wie in aller Welt... hast du mich ge.... gefunden?", stotterte der sichtlich schockierte Can.
Ben sagte nichts, sondern stand nur in seinem beigen, typischen Trenchcoat gekleidet da, breitbeinig und mit verschränkten Armen. Er starrte den terrorisierten Can voller Hass an.
Nun kroch Can langsam in Bens Richtung. „Nein, Ben! Es tut mir so Leid... Ich... Ich weiß... dafür gibt's keine... Entschuldigung! Aber..."
„Was hast du mir noch zu sagen, Can?", war Bens Gegenfrage.
Wenn du was zu sagen hast, versteht sich.
„Es ist bloß so... Ich hatte keine Ahnung, dass Blake so reagiert! Ich hätte nie gedacht, dass er Yamina gleich töten würde!" Selbstverständlich war der Tod seiner geliebten Yamina nicht an ihm vorbeigegangen.
„Du hattest keine Ahnung?" Ben verzog das Gesicht. „Du wusstest genau, was du tust. Du hast mit der vollen Absicht gehandelt, uns ins Verderben zu stürzen! Und versuch' erst gar nicht, mir weiszumachen, du hättest dir nie denken können, was Blake Brooskhields tun würde! Du kanntest ihn, genau wie ich!"
„Ja... Ben, ich war aufgebracht! Die ganze Sache mit Paul, der eigentlich Blakes Bruder ist... Ich hatte meine Zweifel, ja, und ich hab' falsch gehandelt, das weiß ich auch! Aber du musst mich zumindest ein bisschen verstehen!"
„Nein, Can, das kann ich nicht. Wirklich nicht." Ben kam dem am Boden kriechenden Türken langsam näher. „Ich hab' mich damals von Arno getrennt, weil ich mich in ihm getäuscht habe. Aber getötet hätte ich ihn nie. Du aber hast dich aus Eifersucht dazu entschieden, deine engsten Freunde ans Messer zu liefern. Und dann hast du noch gedacht, du könntest mir entkommen?"
Dieses Kind hat nichts dazugelernt. Kein bisschen. Und den haben wir zu einem unserer Anführer gemacht?
„Ben, bitte..."
„Ich war Vollstrecker. Glaubst du, ich spüre zum ersten Mal Leute auf? Die Straßenkinder... Sie versorgen mich mit allen Informationen, die ich brauche... Deine Uhr an deinem Arm, diese Longines, die hast nur du. Ich wusste genau, du wärst dir selbst jetzt noch zu stolz, sie jemals abzulegen. Yamina hat sie dir mal geschenkt, nicht wahr?"
Dem Türken liefen die Tränen nur so von den Wangen runter, als er mit blassem Gesicht da hockte. „Ja... Vor langer Zeit einmal... Ich hab's nicht geschafft, sie nicht mehr zu tragen."
„Nun ja, Can..." Der Vollstrecker ging wieder einige Schritte auf den jungen Mann zu. „Ich muss ehrlich sagen: Am Anfang hat mich eure ganze scheiß Bewegung einen Dreck interessiert. Euer Lager und die vielen Anhänger waren zwar beeindruckend, aber ich hatte nur das Ziel, es Arno und den anderen Bossen zu zeigen... Ich wollte beweisen, dass auch ich bei etwas mitbestimmen konnte, ohne bloß ein winziges Zahnrad zu sein. Nur mit der Zeit habt ihr Kinder es irgendwie geschafft, mich zu ändern. Ja, ehrlich wahr, ihr habt mir bewiesen, dass euer Ziel tatsächlich ein gutes ist. Spätestens als Arno so hinterhältig ermordet wurde war mir klar, dass eure Bewegung sich durchsetzen muss, bevor Frankfurt vor die Hunde geht."
„Ja..." Viel konnte der Türke darauf nicht sagen.
„Natürlich war Pauls Geheimnislüftung nicht schön und ich wäre vermutlich besser drauf, wenn's nie rausgekommen wäre. Aber dein Verrat... Der hat mir im Herzen wehgetan. Ich hab' dich geschätzt, ehrlich. Dich gemocht. Dich respektiert für deine kühne und selbstbewusste Art."
„Es tut mir so unendlich Leid..."
„Dafür ist es zu spät. Das hättest du dir vorher überlegen sollen."
Ben holte aus der Innentasche seines Mantels langsam seine Pistole raus, hielt sie im Anschluss aber zunächst nur in der Hand.
„Wirst du mich... töten?", fragte Can mit gebrochener Stimme. Er wusste, was ihm blühte.
„Ich hab' schon zu vielen Menschen in meinem Leben eine zweite Chance gegeben."
Nun weinte Can nicht mehr. Er sah vielmehr gefasst aus. Als würde ihn sein offenkundig folgendes Ableben nicht weiter stören, sondern eher erlösen. Und das war nicht so abwegig. Er wusste, was er getan hatte, und er benötigte einen Ausweg aus dem ganzen. Und den findet man manchmal nur im Tod.
„Werde ich Schmerzen haben?" Der Türke schloss seine Augen. Seine Stimme war klarer als zuvor.
„Nein."
„Gut... Ich hab's verdient... Ich wünsche dir nur das Beste, Ben. Wir sind am Ende des Tages alle Helden. Nicht wahr?"
„Ja, Can, das sind wir..."
Der Vollstrecker hob den Arm, in welchem er die Waffe hielt. Dann zielte er auf den Kopf des jungen Mannes, wartete noch ein paar Sekunden und beendete schließlich mit einem präzisen Schuss sein kurzes, wenngleich überaus ereignisreiches Leben.
Ich hätte mir gewünscht, du hättest ein erfülltes Leben gehabt. Es wäre schön gewesen, wenn du zusammen mit Paul und Yamina über dieses Monster gesiegt und ein glückliches Dasein im Frieden verbracht hättest... Das hast du dir aber selbst zunichte gemacht. Jetzt bist du tot, ohne jemals deinen Traum von der befreiten Stadt verwirklicht zu haben. Was für eine Verschwendung...
Ben starrte einige Minuten wortlos den Leichnam des Verräters an und zog danach weiter.
Kapitel 27: Festlichkeiten
Eine lange Zeit, bevor der Wahnsinn ausgebrochen war.
Die Liftmusik in den Aufzügen des famosen, frisch renovierten Main-Towers inmitten dieser Metropole hatte den ambitionierten Arno Klien immer schon aufgeregt. Doch an dem heutigen Abend hatte Benjamin Brookshields eine andere Melodie einspielen lassen – die eintönige Liftmusik wurde durch wunderschöne Titel aus Mussorgksys „Bilder einer Ausstellung" ersetzt. Es sollte nämlich eine Feierlichkeit anstehen: Der 50. Geburtstag des Wasser-Tycoons.
Neben Arno im Lift stand sein junger, ungefähr zwanzigjähriger Ziehsohn Ben Wolff. Beide hatten sie einen Smoking an, um einigermaßen wie Gentlemen rüberzukommen, wenngleich Ben diese Kleidung verabscheute. Draußen, wo das Abendrot bereits eingesetzt hatte, wehte ein unnatürlich heftiger Wind, der den Sand nur so durch die Gegend fliegen ließ. Die Obdachlosen waren also ziemlich arm an diesem Tag. Hier im sicheren Domizil von Brookshields aber merkte man gar nichts von dem turbulenten Wetter.
„Sag' mal, musstest du mich heute unbedingt mitnehmen?", fragte Ben, während sie beide alleine im Aufzug waren und warteten, bis dieser das oberste Stockwerk erreichen würde.
Damals sah Ben viel schmächtiger aus. Gewiss war er muskulös und athletisch aufgrund der jahrelangen, aufgezwungenen Trainingseinheiten, doch hatte er nicht diese Muskelmasse, die ihn als Mitte Dreißigjährigen auszeichnete. Außerdem war sein Gesicht kindlicher und völlig bartlos. Den markanten Undercut besaß er trotzdem. Dieses Mal hatte ihn Arno aber dazu gezwungen, sich den braunen Haarscheitel zumindest nach hinten zu kämmen anstatt ihn seitlich runterfallen zu lassen, um eleganter auszusehen.
„Ja. Du warst schon öfters im Main-Tower. Aber du warst noch nie auf einem der Feste. Das musst du sowieso lernen, wenn du meinen Platz später Mal einnehmen solltest. Feiern haben nämlich etwas Besonderes an sich: Sie verbinden die Menschen, die Leute sind redseliger und teilweise sogar angetrunken... Die idealen Voraussetzungen, um Geschäfte zu schließen oder Bündnisse einzugehen...", antwortete Arno.
Auch der deutsche Clanboss sah wesentlich frischer aus. Noch keine grauen Haare, keine gebückte Haltung... Nur edle, schwarze Haare, ein dezenter Schnurrbart und ein viel jüngeres Gesicht. Er sah sogar attraktiv aus mit seinen vollen Lippen und dem spitzen Kinn. Man hätte bei diesem Anblick nie gewettet, dass dieser Herr als einfacher Taschendieb aufgewachsen ist.
„Apropos Bündnis... Werden die anderen Bosse auch oben sein?", wollte Ben wissen.
Er fühlte sich stets unsicher bei deren Präsenz. Auch wenn er bereits als Vollstrecker eingesetzt wurde, war er lange noch nicht so furchtlos wie später.
Arno drehte sich zu seinem Ziehsohn. „Ja, die werden da sein. Deshalb darfst du mit denen nicht viel sprechen. Sie dürfen nicht erfahren, dass ich und Benjamin uns kennen, verstanden?"
Der Lift hatte mittlerweile die Hälfte der Stockwerke des Turms überschritten.
„Ich weiß, ich weiß..." Ben wirkte unterwürfig. „Wieso ist das eigentlich so? Ich mein', das wiederholst du jedes Mal."
„Weil es für's Bündnis nicht förderlich ist. Ich hab', wie du weißt, diese Clans mit größter Mühe zusammenschweißen können. Und Onkel Benjamin als vermeintlicher Goldesel, der nur ausgenutzt wird, ist das Fundament des Zusammenhalts. Du weißt genau, dass ich ihn in Wahrheit nicht ausnutze und ihm insgeheim alle Gewinne abwerfe, die er verdient... Aber dennoch: Manchmal braucht der Frieden ein gemeinsames Opfer. Würden die Bosse dahinterkommen, dass wir in Wahrheit gut miteinander sind, käme das seltsam."
„Verstehe... Das ergibt Sinn... Irgendwie zumindest."
„Lügen lassen sich im Leben oftmals nicht verhindern, Ben. Das solltest du wissen. Mit ihnen lässt sich viel erreichen. Wichtig ist nur, dass die Lügen etwas Wertvolles bringen. Lügner, die nur aus Eigennutz die Unwahrheit sprechen, sind ohne Ehre."
„Das ist mir bewusst."
„Sehr gut."
„Und dieses Balg ist auch anwesend?"
„Du meinst Benjamins Sohn? Blake?"
„Ja, genau den... Das arrogante Kind."
„Ich fürchte ja. Ich mag ihn auch nicht sonderlich."
„Oh, na dann...", seufzte Ben.
Schließlich kam der Lift beim obersten Stockwerk – dem Wohnbereich von Brookshields – an und stoppte. Die Aufzugstür ging auf und die beiden Herrschaften fanden sich im breiten, wunderschönen Korridor des Penthouse wieder, der direkt in das eigentliche Domizil führte. Von dort aus sahen sie, dass bereits viele elegant gekleidete Leute hier waren. Geschäftspartner, schöne Damen, Mafiabosse, Vorstandsmitglieder, Bedienstete, Kellner mit Fliegen... Es waren garantiert über zweihundert Leute, die im großflächigen Stockwerk in jeder Ecke verteilt waren und sich mit Champagnergläsern in den Händen unterhielten. Und sie trugen alle Smoking oder Anzug. Eine angenehme Jazz-Musik wurde von einer Liveband, die sich ganz vorne vor dem breiten Fenster eingerichtet hatte, gespielt.
Als Arno und Ben langsamen Schrittes nach vorne gingen, kam ihnen ein etwa zehnjähriger Junge entgegen. Der Bursche war ebenfalls im Smoking gekleidet.
„Seid ihr eingeladen?", fragte das Kind. Es handelte sich bei dem Jungen um Blake.
„Ja, Blake..." Arno beugte sich zu dem kleinen Mann runter und lächelte ihn an. „Dein Vater hat uns eingeladen."
Blake hingegen lächelte nicht zurück, sondern schaute nur böse drein. „Mein Vater lädt aber komische Leute ein..."
Ein anderer, erwachsener Herr mit Glatze und dickem Bauch kam. Es war der Gastgeber Benjamin Brookshields.
„Hey, wen haben wir denn da? Patron Arno Klien! Willkommen!" Benjamin gab Arno und Ben die Hand und tat bewusst so, als würden sie sich nur oberflächlich kennen. „Ich sehe, mein Sohn hat Sie bereits begrüßt?"
„Selbstverständlich, Herr Brookshields!", antwortete Arno Klien euphorisch klingend. „Sie haben dem Jungen gute Manieren beigebracht!", log er.
„Das freut mich! Darf ich den Herren ein Gläschen Champagner anbieten?"
„Bitte!"
Eine freizügig gekleidete Kellnerin servierte den zwei Gästen jeweils ein Achtel des besten Champagners, den man zu dieser Zeit erstehen konnte. Dann führte der Gastgeber die beiden in das Wohnzimmer, wo die Stehparty lautstark tobte. Die Leute unterhielten sich, einige waren offenkundig schon stark betrunken. Jeder schien sich zu amüsieren. Jeder außer Ben – und Blake, der seinem Vater nur widerwillig nachspazierte.
„Bevor ich es vergesse: Mein Geburtstagsgeschenk an Sie wird im Laufe des Abends geliefert. Es ist ein echter Picasso!" Arno schlürfte den edlen Tropfen hastig runter und blickte sich in der Gesellschaft um.
„Vielen herzlichen Dank, Patron Arno!" Benjamin klopfte seinem geheim-gehaltenen Freund locker auf die Schulter.
„Sind denn die anderen Familien bereits anwesend? Was ist mit den Espositos? Oder den Aidos aus Japan?"
„Alle schon da. Akari Aido steht mit seiner Tochter Yuma und seinem Sohn Sanji dort hinten, bei der Bar."
Tatsächlich stand der japanische Boss mitsamt seinen Kindern an der Bar des Wohnzimmers, wo die Anti-Alkoholiker Tee tranken. Sie trugen traditionelle japanische Festkleidung. Damals war noch Yumas Vater Akari Aido der Anführer des Clans, während ihr Bruder Sanji seiner politischen Karriere im aufrechten Staat Japan nachging. Er war extra angereist gekommen, um dem Fest beizuwohnen.
„Sehr nett...", sagte Arno.
Ben erblickte in der Menschenmenge auch einige Rocker, die völlig unnatürlich in diesen Smokings aussahen. Die zahlreichen Araber unter Nasser Al-Hadad – dem Vater von Momo Al-Hadad – hingegen hatten sich mehr als genug herausgeputzt.
Plötzlich stieß ein italienisch aussehender, großgewachsener Adonis zu ihnen. Ein etwa sechzigjähriger, schwarzhaariger Schönling in einem weißen Anzug, der ebenfalls von seinem Sohn begleitet wurde. Dieser Sohn war ungefähr gleich alt wie Ben.
„Patron Arno! Wie schön, dich zu sehen!", sagte Lorenzo Esposito, Anführer der italienischen Kriminellen der Stadt.
„Patron Esposito! Freut mich!" Beide Bosse umarmten sich freundschaftlich.
„Darf ich vorstellen? Mein Sohn Tonino!", der italienische Boss zeigte auf seinen ebenfalls attraktiven Jüngling. „Er ist mein Prinz! Tonino der Prinz!"
Der junge Tonino gab Arno und Ben nur schüchtern die Hand. Ben war etwas angewidert von ihm, weswegen er nur nickte und kein Wort mit ihm sprach. Er hasste diese in seinen Augen dekadente Menschenansammlung.
„Verzeih' mir, Patron Arno, meine Frau wartet im Foyer auf mich, wir sehen uns!", verabschiedete sich der Italiener kurzerhand und zog mitsamt Tonino weiter.
Benjamin ging mit seinen zwei Gästen etwas weiter.
„Was war denn das für ein Vogel?", fragte Ben frech.
Arno verpasste seinem Ziehsohn eine leichte, kaum spürbare, aber belehrende Ohrfeige. „Zeig' mehr Respekt, Ben! Das war Lorenzo Espositos Sohn! Er wird später mal der italienische Patron werden!"
„Oh... Tut mir Leid..."
„Schon in Ordnung. Gehen wir weiter."
Benjamin sprach dazwischen: „Patron Arno, darf ich Sie kurz in mein Bürozimmer entführen? Ihr Ziehsohn Ben kann gerne mitkommen. Ich müsste etwas Wichtiges besprechen."
„Natürlich, Herr Brookshields. Meine Ohren sind stets offen für Sie."
„Sehr gut. Blake?" Benjamin wandte sich seinem desinteressiert wirkenden Kind zu. „Kannst du kurz auf dein Zimmer gehen? Papa muss was bereden mit seinen Gästen."
„Okay, Papa..."
Nachdem Blake tatsächlich über die wohnungseigene Treppe in sein Kinderzimmer ging, marschierte das Trio möglichst unauffällig über den Korridor in das angrenzende Büro des Wasser-Tycoons. In diesem befanden sich selbstredend keine Gäste, weswegen sie dort ungestört sprechen konnten.
Ben trat als Letzter in das elegante, hochmoderne Büro ein und schloss die Tür hinter sich. Dann setzte sich Benjamin auf die Couch inmitten des Büros, vor der ein kleinerer Glastisch stand. Auch Ben und Arno setzten sich dort hin, während Benjamin den beiden jeweils ein Whiskyglas einschenkte.
„Endlich können wir normal sprechen... Ist ja nicht auszuhalten, diese Geheimniskrämerei", sagte Benjamin, nachdem er fertig eingeschenkt hatte.
„Wohl wahr. Aber es ist wichtig, dass sie denken, wir würden uns nur rein geschäftlich kennen."
„Das weiß ich."
„Hält sich dein Sohn Blake auch dran?"
„Ja. Er ist ein braver Junge. Mein wertvollster Schatz... Ehrlich wahr, ich hab' so viele Reichtümer über die Jahre angeschafft, aber nichts macht einem Sohn wie ihm Konkurrenz", schwärmte Benjamin.
Ben musste kurz schmunzeln. Die beiden älteren Herren bekamen davon nichts mit.
„Also ich kann mich mit meinem Ben auch glücklich schätzen. Selbst wenn er nicht mein leibliches Kind ist..." Arno klopfte stolz seinem neben ihm sitzenden Ziehsohn auf die Schulter und lächelte.
Dieser setzte auch kurzzeitig ein Lächeln auf. „Ja. Ich kann viel von Vater Arno lernen. Ich bin froh, dass er mich damals aus den Trümmern, die meine Eltern begraben hatten, geholt hat. Sonst hätte ich mich wohl selbst umgebracht", sagte Ben stolz.
„Du hast einen Glücksfang mit Ben hinbekommen." Benjamin nahm einen Schluck vom starken Whisky. „Ein intelligenter, zäher Bursche. Ich bin zwar mit Blake mehr als zufrieden, aber ich hätte mir auch gewünscht, so früh einen passenden Sohn zu bekommen..."
„Ja, ich weiß, du hattest einige Schwierigkeiten..."
„So ist es..." Benjamin seufzte. „Dieser Franklin... Ein Taugenichts, der von meiner kranken Frau ermordet wurde. Und all die anderen... Naja. Jetzt habe ich zwar Blake, aber ich bis er ein ausgewachsener Mann ist, bin ich vermutlich schon tot."
Nun musste sogar Ben etwas einwerfen. „Hast du nicht mal etwas von einem Roger Timothy erzählt, Onkel? Wenn wir schon dabei sind..."
„Ja, ich bilde mir auch ein, dass das mal ein Thema bei einem unserer Abendessen gewesen ist...", setzte Arno interessiert fort. „Was ist aus dem Jungen geworden? Es wird höchste Zeit, dass du ihn mir mal präsentierst."
„Ach, der Junge... Roger..." Benjamin sah überrascht aus.
Es war ihm sichtlich unangenehm, dass er von den beiden darauf angesprochen wurde. Er schluckte seinen Whisky schnell herunter.
„Roger Timothy... Er war unpassend. Völlig unpassend. Er hätte mein Erbe nie antreten können."
„Wieso das, wenn ich fragen darf?" Ben sah neugierig aus.
„Wenn ein kleines Kind bereits derartig früh damit beginnt, sich seinem Vater zu widersetzen, was wird dann in zwanzig Jahren passieren? Außerdem hätte er Blake nur Schwierigkeiten bereitet... Ich habe es mit aller Gewalt unterbunden, dass sie sich jemals begegneten."
„Benjamin, was hast du mit dem Jungen angestellt?", wollte nun Arno von seinem Quasi-Bruder wissen.
„Keine Sorge. Er ist am Leben. Glaube ich zumindest. Ich hab' ihn einer anderen Familie geschenkt, die ihn freundlicherweise aufgenommen hat", log Benjamin.
Er verschwieg bewusst die Tatsache, dass er den armen Roger einfach auf die Straße zum Sterben gesetzt hatte.
„Nun, das ist gut. Nur darfst du nie vergessen, dass er sich auf ewig daran erinnern wird, Benjamin", warnte Arno seinen engsten Freund. „Und irgendwann wird er zurückkehren."
„Das weiß ich. Doch ich hab' ihn so früh abgegeben, dass er gar nicht mehr viel weiß von seinem alten Leben." Benjamin sah zu Boden. „Aber solche Sorgen müsste ich mir theoretisch bei jedem Kind machen, das ich gezeugt habe. Du weißt, wie viele außereheliche Mädchen und Burschen es von mir in der Stadt gibt."
„Das weiß ich. Und ich weiß auch, wie viele ich von ihnen bereits auf deine Bitte hin umbringen hab' lassen."
„Eben."
Arno beugte sich vorsichtig hin zu seinem Freund. „Soll ich Roger nicht auch für dich töten? Wäre das nicht klüger?"
„Nein... Er ist zu jung. Die anderen Bastarde, die ich durch dich töten hab' lassen, waren wesentlich älter. Ich bin doch kein Kindermörder."
„Wie du meinst, Benjamin. Sag' es mir, wenn du deine Meinung doch ändern solltest."
„Und was ist mit dir, Arno? Hast du wirklich keine ungewollten Kinder, so wie ich?"
„Ich halte nicht viel von Frauen, also nein. Ich hab' nur Ben. Das reicht mir."
„Weise, weise..." Der glatzköpfige Benjamin schenkte sich neuen Whisky ins Glas ein. „Du, Ben? Hast du dich schon mit unseren Fabriken vertraut gemacht?"
„Sehr wohl", antwortete Ben stolz. „Ich war in jeder einzelnen. Sogar in denen am Stadtrand. Seckbach, Offenbach, Bergen-Enkheim... Die Gegenden, wo kaum mehr ein Mensch wohnt."
„Gut. Weißt du, Ben? Unsere Hauptfabrik im Zentrum ist natürlich der Kern unserer Wirtschaft. Aber ohne unsere Außenstellen ist der Konzern wertlos. Dort wird – wie du weißt – das gesamte Gerät produziert, welches wir letztlich für die Wasserumfüllung und Entsalzung in der Hauptfabrik einsetzen. Das sind wichtige Zahnräder in unserem System", belehrte der Tycoon den Jüngling.
„Hat schon mal jemand versucht, das anzugreifen?"
„Natürlich. Aber das sind richtige Festungen. Die Rocker und Arnos Leute sind dort viel zu präsent. Außerdem setze ich dort auch die GSG-9-Kerle von diesem Alexy ein. Rassistisches Schwein, aber er hält sein Wort."
„Hoffen wir mal, dass die Sicherheit aufrecht erhalten bleibt...", äußerte Ben.
„Hm" Der Tycoon hielt inne. „Aber jetzt, meine Herren, stoßen wir auf meinen Geburtstag an! Mögen wir lange leben!"
„Auf deinen Geburtstag!", rief Ben.
„Auf dass wir ewig auf der Erde weilen!", stieß letztlich Arno aus.
Sie stießen mit ihren Whisky-Gläsern an – auf ein langes Leben in Frieden und Glückseligkeit.
Kapitel 28: Schlechte Aussichten für das Vaterland
Für ihn war das Mädchen einer der Gründe, die ihn am Leben gehalten hatten. Die anderen waren Rache am Vater, die Rebellion und sein bester Freund Can, wenngleich er das mit der Vergeltung am eigenen Erzeuger im Laufe des Kampfes mehr oder weniger verworfen hatte. Dennoch: Yamina stand für eine ehrliche, aufrichtige und unbeugsame Frau. Sie verwirklichte sein Wunschbild einer Frau. Es war weitaus mehr als das schöne, exotisch angehauchte Gesicht von ihr. Nein, es war, als wären sie seelenverwandt gewesen. Als hätte das Schicksal es so gewollt, dass sie sich in ihrem Leben begegneten. Von Hass zerfressen war er, als ihn Benjamin Brookshields auf die Straße gesetzt hatte. Dieser Zorn wurde bloß furchtbarer, als ihm die Zieheltern, die er nur kurz für sich hatte, von diesem Vollstrecker seiner Zeit weggenommen wurden. Wieder war das indirekt das Werk seines verhassten Vaters. So viel Wut hatte er über all die Jahre angestaut, so viel Terror musste er bereits als kleines Kind erleben. Und doch vermochte die gleichaltrige Dame es auf wundersame Art und Weise, ihn zu sänftigen, ihm klar zu machen, dass es auf der Welt nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Sie und Can brachten ihm bei, dass das Leben durchaus Momente zu bieten hat, die es letztlich wieder lebenswerter machen. Ohne Eltern wuchsen die drei Kinder auf, und gegenseitig ersetzten sie sich die Wärme, die ihnen stets fehlte.
Und mit einem heftigen, brutalen Schlag wurde diese Welt in ihm gerade dann zerstört, als es am schönsten für ihn war. Sie hatte ihm ihre Liebe gestanden, er ihr ebenso. Nur wenig später war sie tot. Nicht mal mehr genug Zeit war geblieben, sie vernünftig zu beerdigen.
Nichts interessierte Paul in den nächsten Tagen. Die zugrunde gehende Rebellion? Sie war ihm egal. Die tausend Bürger, die Angst bekamen und von Blakes Söldnerarmee versklavt wurden? Sie waren ihm egal. Die ganzen Kämpfer, die einst auf seine vielversprechenden Worte vertraut hatten und nun elendig wegstarben? Sie waren ihm egal. Der schwindende Mut seiner Anhängerschaft? Es war ihm egal. Der ausgeklügelte Plan, die gestohlene Stadt wieder den Bürgern zurückzugeben? Er war ihm egal.
Er hatte nach Yaminas Tod einen Nervenzusammenbruch erlitten und musste von Toninos Leuten in einen Wagen getragen werden, der ihm zu einer weiter nördlich gelegenen Unterkunft brachte. Ein graues Reihenhaus am Stadtrand, wo die Rebellen mitsamt ihren verbliebenen Leuten flüchteten. Dort verbrachte er die folgenden Tage. Er wusch sich nicht, er aß kaum, er war bleich im Gesicht, Augenringe zeichneten ihn und auch ein terrorisierter Blick war da, der einfach nicht verschwinden mochte. Ben übernahm fürs Erste das Kommando, da der eigentliche Anführer dazu nicht mehr in der Lage war. Überhaupt hätte ihn gewiss keiner als den furchtlosen Kommandanten, der er gewesen war, wiedererkannt. Er war nicht mehr als ein Wrack, das über den Tod seiner Geliebten kaum hinwegkam.
Es war Abend. Zum ersten Mal seit fast einer Woche trat Paul aus seiner selbstgewählten Isolation im Keller des Hauses nach oben in das Wohnzimmer, das als provisorisches Besprechungszimmer diente. Eine brüchige Treppe in den ersten Stock, ein viereckiger Esstisch in der Mitte des Raumes, mehrere verstaubte und dreckige Holzmöbel – ein durchschnittliches Reihenhaus eben. Unauffällig, aber effizient.
Am Tisch saßen bereits Tonino der Prinz, einige seiner Leute, Ben Wolff und andere hohe Tiere der Rebellion. Sie tranken und speisten irgendwas und besprachen die weitere Vorgehensweise. Blitzartig standen sie auf, als ihr Anführer aus dem Keller zu ihnen stieß.
„Paul!", rief einer der Rebellen – ein etwas stämmigerer - und lächelte dabei zufrieden.
Sein Lächeln schwand aber schnell, als er sah, wie gebrochen Paul wirkte.
Paul blickte nur zum Boden hinab und ließ sich auf einen der Stühle am besagten Esstisch fallen. Er nahm sich ein Glas und schenkte sich von einer dort stehenden Wasserflasche etwas ein. Dabei zitterte seine Hand. Ben setzte sich direkt neben seinem Schützling hin und klopfte ihm liebevoll auf die Schulter. Tonino saß gegenüber, am Kopf des Tisches.
Er sieht übel aus...
„Wie geht es dir heute, Paul?", fragte er ehemalige Vollstrecker mit seiner weichsten Stimme. Es war merkwürdig, ihn so zu hören.
„Nicht gut...", stieß der Angesprochene nur leise aus. Man konnte die Niedergeschlagenheit vernehmen.
Es war sehr still am Tisch geworden. Ihr lautstarkes Gespräch hatten die Damen und Herren in dem Raum mit Pauls Eintreffen eingestellt.
„Wie ist... die Lage?", erkundigte sich der Bürgerkönig.
„Schlecht", antwortete Ben. „Blake hat uns ziemlich stark zurückgedrängt. Er hat sich zusätzliche Söldner aus dem Ausland gekauft und dringt mit ihnen gemeinsam vor. Westend ist so gut wie verloren und auch Toninos ehemaliges Viertel ist dahin. Wir haben fast nur mehr den Norden."
„Und...", sprach der sogar jetzt noch gut gekleidete Italiener Tonino, neben dem seine wunderschöne, lockige Lebensgefährtin saß, weiter. „Unser Feind hat ausnahmslos jeden der Bosse töten lassen. Keiner hat's überlebt. Seb, Juri, Yuma, Momo... Alle tot. Ermordet in nur einer Nacht."
„Wa... Das ist krank... Was geht hier nur vor?" Paul kannte sich nicht aus. Alles schien den Bach herunter zu gehen. „Es wird ständig schlimmer..."
„Ja. Der Commander hat's durchgeführt, genau wie bei..." Ben wollte den Namen von Yamina aussprechen, aber ließ davon ab, als er den traurigen Blick von Paul sah. Er wusste, wie sehr ihn das mitnahm.
Generell war sogar Ben seit Yaminas Tod und seiner Rache an Can viel ernster geworden als zuvor. Das merkte man an seinem Gesichtsausdruck. Keine zynische Art mehr, keine oberlustigen Sprüche mehr, kein aufgedrückt arrogantes Getue mehr... Er dachte nur mehr kalkulierend und vorausschauend. Unnötige Phrasen ließ er bleiben. Sie hatten keinen Zweck, außer weh zu tun.
„Ist das... gut für unsere Sache? Wenn die tot sind?" Normalerweise hätte Paul erleichtert sein sollen, doch er merkte, dass das keine sonderlich gute Nachricht gewesen ist.
Was für eine Wendung. Niemals hätte er geglaubt, dass das Ableben dieser Mörder jemals ein Nachteil sein sollte.
„Nein, ist es nicht", sagte Tonino enttäuscht klingend und trank dabei billigen Weißwein. Auch er sah ernster aus. „Das war für Blake nur ein weiterer Weg zur Macht. Er hätte diese Kerle nur für einen Rundumschlag gegen uns gebrauchen können, aber da er uns durch Cans Informationen an unseren Schwachstellen treffen konnte, wurden sie überflüssig für ihn. Sahid war ebenfalls ein Verräter, der unnötig wurde."
„Ich weiß, ich weiß... Sahid wurde doch vom Commander erledigt, nicht wahr?"
„Ja", meinte Ben. „Und das, obwohl ihm Blake Bornheim versprochen hatte... Nicht, dass ich dieses Verräterschwein Sahid irgendwie gutheißen möchte, aber daran sieht man, was für ein krankes Wesen dieser Bastard ist. Er tötet jeden, den er nicht mehr braucht."
Er war immer schon schlimmer als sein Vater. Ich frag' mich bloß, wann er den Commander umbringen wird.
„Can hat Sahids Arbeit scheinbar vorweggenommen...", sagte Paul gebrochen.
Er verspürte gegenüber Can so gesehen keinen Hass. Es war mehr eine reine Verständnislosigkeit. Er verstand nicht, wie sein bester Freund ihm das nur antun konnte.
„Außerdem...", setzte er fort. „Ben, ich hab' gehört, du warst viel unterwegs die letzten Tage? Wo warst du bitte?"
„Ja. Ich war viel unterwegs, das stimmt..."
Ich muss es ihm endlich sagen. Ich kann das nicht geheim halten. Das bin ich ihm schuldig.
„Paul?" Ben stand von seinem Platz auf, legte beide Hände über die Schultern von Paul und sprach weiter. „Ich habe Can einsam und verlassen in einem alten Schulgebäude aufgefunden."
„Du hast... was? Du hast ihn gefunden? Was hast du mit ihm... gemacht?" Paul wirkte verstört. Seine Augen wurden größer. Sein Mund ging auf.
Ben antwortete nicht, sondern starrte Paul nur wortlos ins Gesicht. Er nickte leicht. Das reichte aus, um zu verstehen, was er sagen wollte.
„Nein... Nein! Sag', dass du das nicht getan hast! Nein!" Paul wurde lauter. „Das... kannst du nicht ernst meinen! Wieso hast du das getan?"
Die Wut kam empor. Paul sprang von seinem Stuhl auf, schupfte Ben von sich weg und entfernte sich einige Schritte.
„Du hast ihn getötet? Wieso nur? Wieso hast du ihn nur umgebracht?" Der Anführer begann, laut zu weinen. „Du Bastard!"
„Paul, hör' zu, er war ein Verräter! Wegen ihm ist Yamina gestorben! Wegen ihm mussten anschließend hunderte andere ihr Leben lassen! Er hat's verdient!", verteidigte sich Ben.
Tonino und die anderen Anwesenden im Raum sahen dabei nur kommentarlos zu.
„Du Schwein, er war trotzdem mein bester Freund!" Paul knickte zusammen.
„He, Paul... Ich helf' dir..." Ben ging langsam auf Paul zu, um ihn zu stützen, aber dieser entfernte sich nur noch mehr von ihm.
„Bleib' weg! Ich will dich hier nicht mehr sehen!"
„Versteh' mich doch, ich hab' das für uns getan! Für unsere Sache! Mach' dir das mal bewusst!"
Für uns, nicht nur für dich, Paul. Für uns alle!
„Du hättest ihn nicht... töten müssen! Du hättest ihn herbringen können, ihn einsperren können... Alles Mögliche, aber doch nicht ermorden!"
„Das hätte ich tun können, ja! Jedoch glaubst du etwa, ich hatte keine Wut, keinen Hass auf ihn? Du hast es mir vielleicht nicht angesehen, aber ich hab' gelitten wie du, als sie gestorben ist! Als ich euch beide da am Boden liegen sah und du ihren toten Körper gestreichelt hast, während bittere Tränen deine Wangen runterliefen... Das hat mir im Herzen wehgetan! Versteh' mich doch endlich! Ich konnte das nicht einfach ignorieren, ich konnte das nicht wegdenken! Das letzte Mal habe ich so eine Trauer verspürt, als ich die Leichen meiner Eltern, vergraben vom Schutt des Hauses, sehen musste!"
Komisch genug, auch ich hatte Yamina inzwischen in mein Herz geschlossen. Ich kämpfe längst nicht mehr für mich selbst und meine Freiheit. Ich kämpfe für die Stadt. Für unsere gestohlene Stadt.
Paul atmete schwer und weinte unaufhörlich. Das ging einige Zeit so. Gebeugt stand er da und griff sich mit beiden Händen auf den Bauch. Der ganze Frust hatte starke Bauchschmerzen erzeugt.
„Ich will, dass du dich verziehst..." Paul sah Ben bösartig an. „Und das verdammte Vermögen in Arnos Tresor, das benutz' ich, um diese scheiß GSG-9 selbst zu kaufen! Am Ende aber werd' ich den Commander selbst töten lassen! So soll's passieren!"
Weil die anderen Leute – eingeschlossen Tonino – im Raum standen, brach Paul damit das Versprechen, niemandem was von der geheimen Kriegskassa zu erzählen. Sie alle staunten nicht schlecht, als sie das hörten. Besonders Ben.
„Idiot! Wir haben gesagt, dass das keiner erfahren darf! Außerdem ist das völlig krank, was du vorhast! Du redest komplette Scheiße!", schrie Ben nun.
„Sei still! Ich werd' das tun... Bis dahin... Machen wir gar nichts... Das ist ein Befehl! Du bist nicht mehr auf unserer Seite, Ben..."
Paul drehte sich um und ging – jetzt noch gebrochener als vorher – mit gebückter Haltung zur Kellertür, durchschritt sie und machte sie hinter sich fest zu. Er schien sich wieder in seine Isolation zu begeben.
Ben sah fertig aus und schüttelte verständnislos den Kopf. Selbst ihm war eine winzige Träne während des Streitgespräches gekommen, die er schleunigst wegwischte. Die anderen am Tisch schienen ziemlich schockiert zu sein.
„Ben, der Junge ist fertig mit den Nerven. Er braucht Zeit, sich zu erholen", sagte Tonino. „Zurzeit redet er nur wirres Zeug zusammen. Das ist normal bei der psychischen Belastung."
Der Vollstrecker setzte sich wieder und nahm einen großen Schluck Wein. Obwohl er Alkohol sonst weniger gern mochte, tat ihm das in dem Moment mehr als gut.
„Ja. Wann wirst du mich nach dem Tresorraum fragen?"
Ben erwartete schon, dass irgendwer sich über den ominösen Tresor erkundigen würde, den der Bürgerkönig soeben offenbart hatte.
„Ich hab' immer schon geahnt, dass Arno seinen Reichtum irgendwo lagern würde... Mich überrascht's nicht sonderlich."
„Nur er und ich kennen den Ort. Jetzt will dieser Trottel damit GSG-9 kaufen? Er scheint durchzudrehen..."
„Der Schmerz der letzten Tage hat seine Sinne getrübt. Ist in dem Tresor überhaupt genug drinnen, um so eine Söldnerarmee zu kaufen? Das kann ich mir nämlich schwer vorstellen."
„Nein. Das meiste ist bereits verwendet worden für die Rebellion... Du weißt schon, für Waffen, Ausrüstung, Medizin, Nahrung und so... Viel ist nicht mehr drin."
„Hm, verstehe..." Tonino grübelte. „Wir sind ziemlich am Ende mit der Revolution, stimmt's?"
„Das weißt du selber besser als ich. Wenn wir so wie jetzt weitermachen, sind wir spätestens nächste Woche erledigt."
„Eben. Aus eigener Kraft heraus schaffen wir das nicht mehr."
„Nein, das tun wir nicht... Keiner aus diesen anderen scheiß Städten oder Ländern würde uns zur Hilfe kommen..."
„Verständlich, irgendwie, Ben. Wer zieht freiwillig in einen Krieg, der einen nichts angeht?"
„Hast Recht... Ein Krieg, der einen nichts angeht... Hilfe von außen..." Ben schien selbst auch nachzudenken.
So schaffen wir es nie. Es muss einen Helfer von außerhalb geben... Und Tonino könnte mir dabei sogar behilflich sein, wenn ich so darüber nachdenke.
„Tonino?"
„Ja, Ben?"
„Yuma Aido... Die japanische Clanchefin... Die hatte doch immer einen... Bruder im Verteidigungsministerium von Japan, oder?"
„Das ist richtig, ja. Wieso?"
„Sanji Aido, hm?"
„Genau. Japan ist eines der wenigen Länder, die noch ein reguläres Heer und einen halbwegs funktionierenden Staat haben. Aber was bringt dir das? Glaubst du etwa, Japan würde uns helfen oder was?"
„Japan nicht... Aber Sanji vielleicht... Ich appelliere an seine Liebe zu seiner ermordeten Schwester."
„Das wäre eine Überlegung wert. Immerhin ist sie auch immer nach Japan geflogen und mit einer Menge Waffen und Munition zurückgekehrt."
„Apropos Fliegen..." Der Vollstrecker krempelte sich seinen blauen Pullover auf. „Arno sagte Mal, dass ihr Bosse Mal auf einer Feier in Sanjis Palast eingeladen wart. Wie seid ihr dorthin gekommen?"
„Mit einem Flugzeug natürlich... Wenige gibt's davon in Deutschland. Die nächsten stehen in Hanau, auf so einem Hangar. Kostet aber ein halbes Vermögen, so eine Reise nach Japan."
„Mit dem letzten bisschen in Arnos Tresor sollte sich eine Hin- und Rückfahrt ausgehen!"
So wird das wenigstens sinnvoll eingesetzt! Es ist unsere letzte Chance!
„Du hast echt vor, das zu tun, Ben?" Tonino sah verwundert aus. „Du kommst doch nicht mal ran an den Kerl! Der wird von tausenden Soldaten bewacht, rund um die Uhr! Wie stellst du dir das vor? Dass du da einfach reinmarschieren kannst in den königlichen Palast und eine Audienz bei ihm kriegst?"
„Nein. So nicht. Aber... stell' dir mal vor, wir erwarten ihn in seinem Haus. Ihr habt die Feier bei ihm geschmissen, wo wohnt er denn?"
Tonino sah nun wirklich stutzig aus. „Das kann ich dir später gerne detaillierter aufschreiben... Doch das funktioniert nicht so leicht! Selbst wenn du dich an seinen Personenschützern vorbeischleichen kannst, wie willst du ihn davon überzeugen, dass er uns helfen soll? Und wenn du ihm sagst, dass Blake seine Schwester getötet hat, wie willst du es ihm beweisen?"
„Ganz einfach, Yuma hat Kameras in ihrem Haus... Ich war dort mit Arno einmal... Dieser Commander hat die sicher nicht vernichtet. Er hätte ja keinen Grund dazu. Sie sind also noch aktiv... Ich werd' mir die Bänder organisieren, mich ins internationale Kriegsrecht einlesen und mitsamt Paul nach Japan fliegen. Und da knöpf' ich mir diesen Typen mal vor!" Ben wirkte stolz, als er das hastig heruntersagte.
Ein anderer Rebell – eine blonde, dickere Frau mit lauter Pickel im Gesicht - mischte sich ein. „Wie willst du den jetzt noch überzeugen, mitzukommen? Laut ihm bist du ja nicht mal mehr Teil unserer Bewegung!"
„Dann wird er wohl mitkommen müssen", sagte Ben abschließend.
„Interessante Sache...", meinte Tonino.
Indem ich unsere Sache damit vor dem Untergang rette, wirst du mir hoffentlich verzeihen, Paul..., dachte sich Ben indes.
Kapitel 29: Friedenskämpfer
Ben Wolff benötigte zwei ganze Tage, um sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Höchst motiviert und mit größter Vorsicht fuhr er mit dem Motorrad zu Yumas Residenz, in der die elegante Dame zu Tode gekommen war und die zwischenzeitig gänzlich leer stand. Dort angekommen fand er neben ihrer mittlerweile übel riechenden Leiche auch einen kleineren Raum, wo sich eine Art Computer befand, auf dem die Aufnahmen der hauseigenen Überwachungskamera überspielt wurden. Auf diesem Computer konnte man auch alte Aufzeichnungen abrufen und sogar ausschneiden. Es erforderte viel Mühe und Zeit und es war eine richtige Sisyphusarbeit, die Stellen zu finden, in denen der Commander mitsamt seinem Team ins Haus eindrang. Nach zwei mühsamen Stunden fand Ben die erhofften Szenen, die eindeutig den Mord an der wehrlosen Yuma im Wohnzimmer zeigten. Er schnitt diese Stellen mithilfe dieses Computers aus und übertrug sie auf eine Filmrolle. Der Computer hatte dafür eine eigene Funktion vorgesehen, die genau dies ermöglichte.
Mit dem fertigen Band in der Hand marschierte Ben wieder nach draußen und fuhr über einen großen Umweg zur geheimen Kriegskassa, die sich in dieser alten, verlassenen Bank inmitten von Westend befand.
Das war ein heißes Pflaster, und der Vollstrecker musste extrem gut aufpassen, weil Westend beinahe in Blakes Hand war. Die Gegend war noch immer ziemlich stark umkämpft. Die ansässigen Bürger wehrten sich mutig gegen Blakes ständige Angriffe, und Ben merkte während seiner hastigen Fahrt, dass die Moral der Bevölkerung hier am Boden war. Er selbst trug eine Sturmmaske und eine kugelsichere Weste, um für einen von Blakes GSG-9-Söldner gehalten zu werden, was ihm quasi Anonymität verschaffte. Keiner traute sich, ihn anzugreifen.
Vor dem Bankgebäude wartete bereits ein ominöser Lastwagen auf ihn, in dem ein älterer Mann mit Brille und Schnurbart saß. Ben stellte das Motorrad ab und sah, wie zirka zehn stämmige Kerle aus dem Bankgebäude dutzende Wertgegenstände wie Standuhren, Gemälde, Goldbarren, Öl und so weiter in diesen Laster stellten. Und Ben lächelte. Der von ihm bereits gestern getroffene Deal schien zu funktionieren. Er hatte den Betreiber des Flughafens in Hanau über den Standort der Goldgrube informiert und ihm den gesamten Inhalt versprochen, wenn er ihn und Paul nach Japan hin und zurück bringen würde. Der Flughafenbetreiber hatte nicht lange gebraucht, um dem zuzustimmen.
„Wie ich sehe, läuft's ziemlich gut bei euch...", sagte Ben zu dem Brillenträger am Lenkrad des Lastwagens. Dabei hatte sich Ben kurzzeitig die Maske abgezogen.
„Oh, ja. Unser Chef sagt, Sie hätten mit ihm eine Flugreise vereinbart?", antwortete der Mann am Lenker.
„So ist es. Hören Sie, ich wollt' nur sichergehen, dass der Transport geklappt hat... Und dass Sie sich auf mich verlassen können. Voraussichtlich werde ich übermorgen nach Japan reisen. Das, was sich in dem Tresor befindet, sollte den hohen Preis decken."
„Das kann ich nur bestätigen. Ist 'ne richtige Schatzkammer."
„Kann man so sagen... Hören Sie, ich denke, Sie wissen, wer ich bin."
„Glaube ich auch..." Sogar der etwas einfach gestrickt aussehende Lastwagenfahrer erkannte Ben offenkundig.
„Eben. Ich muss daher weiterziehen. Vielen Dank, und passen Sie auf, dass Sie auf dem Weg zurück nicht auf Blakes Leute stoßen!"
„Dafür ist gesorgt. Diese Burschen da tragen auch Waffen unter ihren Shirts."
„Sehr gut."
Ben nickte dem Transporteur zu und setzte sich dann wieder auf sein Motorrad, wo er schließlich die Sturmhaube anzog. Danach fuhr er rasant weiter.
Auf seinem Weg zurück ins Hauptquartier konnte Ben deutlich sehen, was Blake mit Westend und der Stadt an sich angerichtet hatte. Hilflose Bürger wurden auf offener Straße niedergeschossen, Wohnungen wurden lautstark geplündert, auf den Bürgersteigen stapelten sich die Leichen, ganze Häuserblocks wurden einfach gesprengt, von überall hörte man qualvolle Schreie, kleine Kinder rannten auf den brennenden Straßen herum und suchten mit verzweifelten Blicken ihre vermutlich gestorbenen Eltern... Kriegszustand. Westend war im Begriff, von Blake komplett eingenommen zu werden. Lange sollte es nicht mehr dauern, bis jeder Rebell vertrieben oder tot sein würde. Und was Ben beim Anblick dieses Elends am meisten störte war, dass er im Moment nicht eingreifen konnte. Er sah mehr als deutlich, wie Pauls Idee einer freien Stadt mit den Todesschreien der sterbenden Bürger langsam, aber sicher in Luft aufgelöst wurde.
Schlussendlich schaffte es Ben endlich, sogar unversehrt ins Hauptquartier zurückzukehren. Sein Ausflug war gewiss kein risikoloses Unterfangen gewesen, das wusste er auch. Es musste dennoch bewusst in Kauf genommen werden, der Freiheit aller wegen. Außerdem wusste er auch ganz genau, dass sie nur so eine minimale Chance auf einen Sieg haben würden.
Den restlichen und kompletten folgenden Tag nutzte Ben schließlich, um einerseits den Deal mit dem Flughafenbetreiber per Telefon weiter abzuwickeln und andererseits sich ins Völkerrecht einzulesen. Besonderen Fokus legte er dabei natürlich auf das Recht internationaler Beziehungen und das Kriegsrecht. Sanji Aido war kein Mafioso, sondern ein Staatsmann. Er würde gewiss nichts tun, was im Widerspruch zu den Normen des internationalen Rechts stehen würde – völlig irrelevant, wie viele untergegangene Staaten es auf der Welt gab. Die nötigen, uralten Lehrbücher hatte sich Ben aus der Goethe-Universität stehlen können. Sonderlich weiterentwickelt hatte sich das Völkerrecht natürlich nicht.
Am dritten Tag war es schließlich so weit. Paul hatte die Zeit wieder einmal nur in seiner selbstgewählten Isolation im Keller des Reihenhauses verbracht und war maximal zum Essen nach oben gekommen. Es war nun bereits kurz vor Mitternacht, und auf einmal stieß Ben mit einem heftigen Tritt das Schlafzimmer von Paul auf.
„He! Was soll das?" Der eigentlich schlafende Paul wurde aus seinen Albträumen gerissen und schrie auf. „Was suchst du hier?"
Ben stand bereits mit einem großen Rucksack über den Schultern, einer schwarzen Stoffhose und einem braunen Mantel vor ihm. Die Frisur hatte er sich auch schon gemacht.
„Jetzt heißt's mitkommen!"
„Was? Was mitkommen? Was redest du? Ich hab' dich verbannt, Ben! Hilfe!"
„Vertrau' mir, die anderen sind eingeweiht..." Der Vollstrecker kam dem verschreckten Burschen näher. „Sie wissen von dem, was wir tun werden."
„Fick' dich! Red' keine Scheiße, Mann! Was hast du vor?"
Es war offenkundig, dass Paul sich zutiefst fürchtete. Das war irgendwie sogar verständlich, jedoch durfte Ben dem Jungen nichts von seinem Plan verraten. Er hätte es nie akzeptiert. Er hätte das Vorhaben völlig zurecht für absolut wahnsinnig bezeichnet. Und das war es so gesehen auch. Ben setzte alles auf eine Karte, und würde Sanji nicht sein Einverständnis geben, wäre der Kampf gegen Blake verloren.
„Wir werden eine kleine Spritztour zu unserem Freund in Japan unternehmen. Das Vermögen im Tresor hab' ich dafür verwendet. Alles ist vorbereitet. Wir müssen nur zum Hangar in Hanau fahren. Wir benutzen mein Motorrad."
„Sag' mal, bist du völlig irre geworden? Was fällt dir nur ein, mit meinem Geld zu hantieren und es für so eine Scheiße auszugeben? Das im Tresor war alles, was wir noch hatten! Du dreckiger Vollidiot, du Bastard!" Nun stand Paul wutentbrannt auf und versuchte, Ben zu schlagen, was diesem aber nicht viel tat. „Du hast uns ruiniert! Das ist das Ende, wir sind verloren! Wir haben nichts mehr!", schluchzte er.
„Nein, ist es nicht", erwiderte Ben mit neutraler Miene. „Außerdem vergisst du, dass es auch mein Vermögen war. Schließlich gehörte es Arno und eigentlich wäre ich der Erbe... Aber egal. Du wirst schon verstehen, wenn es so weit ist."
Damit Paul sich nicht mehr unnötig wehren würde, holte Ben aus und schlug Paul bewusstlos. Danach zog er ihm seine schönsten Kleidungsstücke an und packte ebenfalls dessen wichtigste Sachen in seinen Rucksack. Anschließend nahm er den leichtgewichtigen Jungen auf die Schulter und spazierte mit ihm zusammen zu seinem Motorrad, das vor dem Haus stand.
Tonino und andere Rebellen hatten sich dort bereits versammelt. Sie wussten selbstverständlich, was Ben vorhatte. Ben positionierte den bewusstlosen Paul am Vordersitz, und zwar so, dass er immer noch problemlos fahren konnte. Zudem hatte Ben sich selbst und Paul jeweils eine Sturmhaube aufgesetzt, damit sie keiner erkennen würde.
„Hey, Ben!", sagte der im eleganten Wollmantel gekleidete Tonino zu dem Vollstrecker.
„Was gibt's, Tonino?"
„Hat denn alles geklappt? Das Ganze mit dem Flughafentypen und den Bändern?"
„Ja. Hab' alles im Rucksack. Der Kerl erwartet mich am Hangar bereits. Danke übrigens für deine Hilfe mit dem Transport und den Koordinaten von Sanjis Haus!"
„Keine Ursache... Das war so ein pompöses Haus in Tokio... Völlig unmöglich, das je zu vergessen."
„Glaube ich dir sofort."
„Ben..." Tonino sah auf einmal wieder trauriger drein.
„Was ist denn?"
Tonino griff den ehemaligen Vollstrecker auf die Schulter. „Ich weiß, ich hab' mich schon mal entschuldigt, aber... Tut mir Leid... Alles, was passiert ist. Das mit Arno werde ich nie mehr gutmachen können. Mein Gott, ich war so geblendet..."
Auch Ben klopfte dem Italiener kurz auf die Schulter. „Es ist nie zu spät, sich zu ändern."
Und mit diesen Worten fuhr er mitsamt dem widerwilligen Teilnehmer Paul davon. Tonino und die anderen Rebellen sahen ihren Anführern nur mehr hoffnungsvoll hinterher. Alles, was ihren miserablen Krieg jetzt noch retten würde, befand sich in Bens Rucksack.
Es dauerte eine Weile, bis Ben auf dem Flughafen außerhalb Frankfurts angekommen war. Hanau war eine gottverlassene Ortschaft. Sie lebte ausschließlich von dem privatisierten Flughafenbetrieb, den jedes Jahr nur durchschnittlich hundert Leute in Anspruch nahmen, aber dafür horrende Summen zahlten. Paul war inzwischen natürlich wieder zu Sinnen gekommen, aber er war noch immer so verwirrt und schläfrig, dass er sich kaum bewegte.
Am Flughafen selbst, der zurzeit völlig menschenleer war, fuhr Ben nach einer schnellen Identifikation als Klient über ein Sicherheitstor zum gemieteten Flugzeug. Dieses stand außerhalb eines Hangars, und neben dem kleinen Privatjet standen drei uniformierte Bedienstete. Zwei Männer, eine Frau. Ben stieg vom Motorrad ab und zerrte den müden Paul hinter sich her.
„Guten Abend, Herr Wolff", begrüßte einer der Bediensteten – ein Mann mit schwarzer Pilotenuniform und einem roten Bart. „Ich bin Michael Lurger, Kapitän der Maschine!" Er reichte Ben die Hand.
„Sehr erfreut..." Ben nahm die Hand entgegen.
„Sie haben eine Hin- und Rückreise bestellt... Das Ziel ist Japan. Mit unserem Chef haben Sie ja schon gesprochen, oder?"
„Ja, habe ich. Es sollte bereits alles bezahlt sein."
„Perfekt. Wir werden den Flug durchführen." Er zeigte auf den Mann, der neben ihm stand, ein etwas jüngerer Herr mit heftigen Geheimratsecken und dünnem Körperbau. „Dies ist mein Co-Pilot, Helmut Koziol. Und das ist Frau Lisa Reiher, unsere Navigatorin." Die brünette Dame sah ziemlich hübsch aus.
„Können wir einsteigen?"
„Ja, nur zu. Wir werden lange fliegen, machen Sie sich es also gemütlich."
Den beiden Gästen wurde die Tür geöffnet und sie begaben sich in den äußerst luxuriösen Gästebereich des Privatjets. Die Tür wurde schließlich von innen geschlossen und die drei Piloten gingen ins Cockpit. Die Maschine hob relativ schnell ab. Auf irgendwelche besonderen Start- oder Landeerlaubnisse musste nicht gewartet werden.
Stunden vergingen, während denen Paul hauptsächlich mit Schlafen beschäftigt war. Irgendwann aber, zirka in der Mitte des Fluges, wurde er aber gänzlich wach und realisierte langsam, wo er sich befand.
„Ben... Was für eine verrückte Scheiße geht hier vor sich?", fragte er müde klingend. „Wo sind wir?"
Der Vollstrecker reichte dem Jungen eine eiskalte Wasserflasche, die sich an der hochexklusiven Bar des edlen Jet-Interieurs befand. „Im Flugzeug. Noch nie geflogen?"
„Dumme Frage, natürlich nicht!"
„Oh, ich auch nur einmal. Mit Arno war das. Da haben wir uns den Osten mal angesehen. Ich war ungefähr zwölf oder so. Richtig beeindruckend. Natürlich sind die Staaten dort korrupt und die Regierungen sind faktisch außer Kraft gesetzt, aber weil's in diesen Gegenden eine Spur kälter ist als bei uns, gibt's da richtige Wunder. Unis, Schulen, Golfplätze, Banken, Ressorts, Kampfschulen und so..."
„Halt' dein scheiß Maul, Ben... Wo bringst du mich hin?"
„Wie gesagt, es geht nach Japan."
„Du hast die Scheiße ernst gemeint?" Paul seufzte laut und ließ sich im sündhaft teuren Ledersitz sinken. „Für was, bitte? Sollen wir jetzt etwa fliehen? Ich lasse meine Stadt nicht im Stich, verdammt! Und ich hab' dich verstoßen, weißt du das nicht mehr?"
„Ruhig, ruhig... Paul, glaub' mir, wir tun das Richtige. Um ehrlich zu sein, das ist überhaupt unsre letzte Chance, diesen Kampf zu gewinnen."
„Wie meinst du das?"
„Hör' zu, ich hab' in Yumas Haus geschnüffelt und Videobänder von ihrer Ermordung durch Blakes Söldner mitgenommen. Dann hat mir Tonino noch genau aufgezeichnet, wo ihr Bruder Sanji, der bekanntermaßen in Japan den Verteidigungsminister stellt, wohnt."
„Hm, ich verstehe..."
„Was werden wir denn jetzt damit tun?", prüfte Ben seinen Schützling.
Der Bürgerkönig, der noch immer total fertig und ungepflegt aussah, nahm einen Schluck vom Wasser. „Sanji Aido konfrontieren, denke ich?"
„Genau das werden wir machen."
„Abartiger Plan... Völlig irre... Offiziell wird er uns doch kaum empfangen, oder?"
„Eh nicht. Deshalb begegnen wir ihm in seinen Gemächern."
„Okay, okay... Und was willst du dann von ihm?"
„He, Paul" Ben setzte einen ernsteren Blick auf. „Wir, nicht ich. Wir wollen, dass er uns mit militärischen Mitteln hilft."
Nun musste der Bürgerkönig ein wenig schmunzeln. Selbst er verstand nicht, wie sein Begleiter das alles nur ernst meinen konnte.
„Wie stellst du dir das bitte vor? Dass er mit der japanischen Armee in Deutschland einmarschiert und für Ruhe und Ordnung sorgt, nur weil der große Vollstrecker Ben Wolff ihm ins Gewissen reden?"
„Nein. Eine Sache muss er uns schuldig sein. Ich konnte mich dran erinnern, dass mir Benjamin Brookshields vor langer Zeit mal erzählt hat, wo die Schwachstellen des Unternehmens liegen würden."
„Welche sind das?"
„Die Fabriken außerhalb der Stadt. Bis jetzt waren sie unmöglich einzunehmen. Zu stark bewacht. Aber sie sind wichtig für den Konzern... Ohne die Außenstellen funktioniert der Hauptbetrieb nicht, und so verliert Blake wichtige Ressourcen. Sanji soll diese einfach mit gezielten Luftangriffen vollständig vernichten, zusätzlich zu den ganzen Waffenlagern am Stadtrand."
„Wow. Das klingt heftig. Damit töten wir auch die, die wir befreien wollen, nämlich die armen Arbeiter in den Fabriken!"
„Nein. Denn wir verlangen, dass er die Angriffe nachts durchführt, wo alle schlafen."
„Gut, gut... Nur wie willst du ihn von all dem bitte überzeugen?"
„Indem ich ihn auf seine völkerrechtlichen Verpflichtungen hinweise."
Wieder musste Paul kurz lachen. Er fand das ein wenig lächerlich.
„Ben, nimm's mir nicht übel, aber du bist ehemaliger Vollstrecker, kein Gelehrter."
„Würd' ich nicht so unterschreiben..."
Der frühere Exekutor nahm seinen Rucksack zur Hand und packte einige dicke Lehrbücher der bedeutendsten Persönlichkeiten auf dem Gebiet des internationalen Rechts heraus und präsentierte sie Paul.
„Paul, du hast mir mal, als wir in eurem alten Lager waren, erzählt, dass man alles stehlen könnte – selbst Wissen. Ich habe das nun getan."
Paul begutachtete die dicken, tausendseitigen Werke. „Nicht schlecht, nicht schlecht..."
„Hör' gut zu: Die UNO gibt's zwar so gesehen noch, aber sie ist für nichts. Die Japaner hingegen haben eine ganz strikte Staatenpraxis und würden – pflichtbewusst wie sie sind – alles tun, um den Grundsätzen der UNO gerecht zu werden."
„Das bedeutet für uns was?"
„Man spricht im Völkerrecht vom Prinzip der Schutzverantwortung... Nach diesem Konzept ist ein Staat zunächst selbst dafür verantwortlich, Krieg und Elend im eigenen Land zu verhindern. Wenn das der Staat aber nicht schafft, muss die internationale Gemeinschaft eingreifen. Und das notfalls im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheiten..."
„Was zur Hölle ist das bitte?"
„Das ist ein System, das die UNO vor langer Zeit entwickelt hat. Damit kann man das Gewaltverbot umgehen. Wenn ein Staat eben so einen innerstaatlichen Konflikt hat, wie es bei uns in Frankfurt gerade der Fall ist, dann kann man mit Genehmigung des UNO-Sicherheitsrates mit militärischen Mitteln eingreifen."
„Okay, das klingt ja plausibel, aber reicht da Blakes Söldnergruppe aus? Ich denke mir, dass das ja erst bei regulären Einheiten geht, oder?"
„Strittig. Laut diesen Büchern sind als Kombattanten auch jene zu sehen, die in einem Failed-State wie Deutschland die Funktion der staatlichen Organe übernehmen. Und das tut Blake mit seinen Söldnern. Sie sind keine Plünderer oder einfachen Schläger. Nein, sie sind organisiert, haben eine eindeutige Befehlskette und sind zahlreich genug. Blakes Söldner und die Fabriken stellen also konkrete militärische Ziele dar. Und er bricht aktiv Kriegsrecht, indem er die Zivilbevölkerung versklavt und systematisch ausrottet... Wir hingegen kämpfen für den Frieden. Wir sind Friedenskämpfer."
„So weit, so gut... Aber wie in aller Welt sollen wir die Zustimmung des Sicherheitsrates kriegen?"
Der Junge denkt tatsächlich mit.
„Japan führt aktuell den Vorsitz im Sicherheitsrat. Wenn sie dort urgieren, werden die anderen Mitglieder dem ziemlich sicher zustimmen. Schließlich wäre das der erste richtige Militärschlag seit fast hundert Jahren! Andere Länder, insbesondere Deutschland, wären froh, wenn endlich mal Hilfe von außen kommen würde!"
Paul sah langsam zufriedener aus. Seine vorherige Wut auf den Vollstecker wurde geringer, da er allmählich erkannte, dass der Plan von Ben zwar mehr als gewagt, jedoch trotzdem die letzte Hoffnung für sie war. Erneut nahm er einen Schluck vom Wasser. Ben trank währenddessen Kaffee und schaute aus dem Fenster des Flugzeuges auf das Wolkenmeer.
„Jetzt versteh' ich es langsam... Tut mir Leid, wegen dem Ganzen...", äußerte Paul und sah nach unten.
„Auch ich habe mich zu entschuldigen", sagte Ben. „Ich hab' Can kaltblütig ermordet. Es tut mir Leid. Das war nicht richtig von mir. Mein Hass war zu groß... Ich konnte mich nicht mehr kontrollieren."
Man sah anhand des Gesichtsausdrucks von Ben, dass es ihm tatsächlich sehr Leid tat. Die Reue war ihm förmlich abzulesen. Selten genug.
„Ich werd's akzeptieren, aber niemals vergessen."
„Danke, Paul..."
„Außerdem, Ben... Da wäre noch was..." Paul griff zu seiner auf einem anderen, freien Stuhl liegende Jacke und packte aus deren Innentasche etwas aus. „Das hier... Das ist das letzte Andenken, das ich an Yamina habe... Ich hab's ständig in meiner Jacke."
Paul zeigte den Entwurf eines Flugblattes, den Yamina kurz vor ihrem Tod gezeichnet hatte. Darauf war eine wunderschöne Zeichnung einer weißen Taube zu sehen. Das war das Erkennungsmerkmal der Bürgerbewegung in Frankfurt. Jedoch konnte dieses neue Design wegen ihres Todes nie vervielfacht werden. Er gab das Flugblatt Ben.
„Wunderschön", meinte dieser, als er sich es näher ansah.
„Sie hat es gezeichnet. Bis jetzt waren unsere Flugblätter immer nur voll mit Parolen und Sprüchen... Aber ich denke, ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Die Einwohner Frankfurts kennen unser Zeichen."
„Was hast du damit vor?"
„Die Fabriken und Waffenlager hochjagen alleine wird nicht reichen. Wir müssen der Bevölkerung neuen Mut geben. Sanji soll tausende Kopien davon herstellen und diese Flugblätter mit seinen Militärjets über ganz Frankfurt abwerfen, damit auch jeder diese Nachricht kriegt..."
„Das ist genial... Daran hab' ich gar nicht gedacht..."
„Somit zollen wir ihr auch Tribut. Ihr Werk soll nicht umsonst sein."
„Aber damit das alles funktioniert, brauche ich dich als unseren Anführer. Du kannst gut Leute überzeugen. Jetzt ist es an dir, Sanji Aido auf unsere Seite zu ziehen, Paul!", meinte Ben und sah seinen Schützling voller Hoffnung an.
Das wird deine schwierigste Aufgabe werden...
Der Jüngling nickte. „Ich werde mein Bestes geben!"
Kapitel 30: Spaziergänge
Der zweite Tag, seitdem Ben und Paul gemeinsam nach Japan geflogen waren. Während die zwei Leitfiguren der Frankfurter Rebellion bereits im prächtigen Ausland angekommen waren, übernahm hier in der Stadt Tonino der Prinz interimistisch die Führung. Die Erlaubnis hierfür hatte er sich von Ben vor dessen Reiseantritt ausdrücklich einholen lassen. Es tat dem Vollstrecker im Herzen weh, gerade einem der Meuchler von Arno das Zepter in die Hand zu legen – auch wenn es nur vorübergehend sein sollte. Dennoch war es relativ klar, dass er für diese Aufgabe am besten geeignet war. Er hatte ja bereits reichlich Erfahrung als Bezirkshalter und ehemaliger Mafia-Boss gesammelt, wieso sollte sich dieses Wissen nicht auch auf eine Organisation mit edleren Motiven adaptieren lassen?
Natürlich verstanden wenige Anhänger der Bewegung den Grund für den Weggang ihrer eigentlichen Anführer. Das war vorauszusehen – und nachvollziehbar. Was ist ein Feldherr, der mitten in der eigenen Schlacht von dannen zieht? Natürlich tat Tonino alles, den verbliebenen Kameraden zu erklären, wieso sie diesen Schritt wagten und dass das letztendlich nur dem Sieg dienen sollte. Viel dafür übrig hatte der Großteil der Rebellen nicht. Es war sogar so schlimm, dass eine Vielzahl an Bürgern ebenso das Weite suchte.
Überhaupt stand es gar nicht gut um Pauls Freiheitsbewegung. Mit jedem Tag vergrößerte Blake Brookshields sein Territorium, und es sollte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch der Norden unter seiner Herrschaft stünde. War zum Beispiel Westend vor einigen Tagen trotz harter Kämpfe noch einigermaßen autonom gewesen, war es nun ein weiterer Distrikt, der von Blakes Söldnerarmee eiskalt annektiert worden war. Und zusätzlich verschärfte der junge Brookshields-Erbe seine Doktrin, gegen unliebsame Einwohner vorzugehen. So wurde jeder, der auch nur im Entferntesten eine Nahebeziehung zu den Rebellen oder zu irgendeiner anderen Gesinnung pflegte, auf der Straße symbolisch aufgehängt. Andere wiederum wurden zwangsweise in die Fabriken eingegliedert und mussten dort praktisch umsonst bis zum Umfallen schuften. Dies alles trieb auch das Unternehmen wieder ins Plus. Noch nie hatte Brookshields Limited derartig schöne Zahlen schreiben können. Das merkten auch die anderen Gesellschaften außerhalb Frankfurts, weswegen ein regelrechter Handelsboom mit Brookshields entstand. Andere führende Lebensmittelhersteller oder Trinkwasserkonzerne wurden allmählich vom Markt gedrängt.
Und das Beste für Blake in dieser Situation? Es gab keine Clans mehr. Keine schwindeligen Bosse oder zwielichtige Gestalten, mit denen er seinen Profit teilen musste. Keine Gewinne mussten mehr abgedrückt werden, um den vermeintlichen Schutz durch irgendwelche kriminelle Strukturen zu genießen. Er hatte so gesehen das erreicht, was er wollte: Seine absolute Freiheit und die Macht, über das von ihm so verhasste Frankfurter Mischvolk zu gebieten wie es ihm beliebte.
Paradox war es hingegen für Tonino. Früher hatte er zusammen mit den anderen Bossen am runden Tisch über Benjamin Brookshields bestimmt, als wäre er ein Zirkustier gewesen. Wie viel drückt er uns diese Woche ab? Wie können wir seine Produktion noch besser für uns nutzen? Wie lenken wir ihn am besten? Damit war Schluss. Nun war das exakte Gegenteil eingetreten. Blake hatte die Mafia in Frankfurt besiegt, und sich selbst als Unternehmer mit moralisch verwerflichen Methoden etabliert. Letzten Endes war er aber Mafia und Unternehmer in einem.
Der Prinz verbrachte die letzten Tage viel mit einer wunderschönen, braunhaarigen Slowakin, die er unter den Rebellen kennenlernte. Der Frauenheld unternahm – wenn er nicht gerade mit seiner Aufgabe als provisorischer Anführer beschäftigt war – etliche Spaziergänge in Gegenden, die noch hinreichend unter ihrer Kontrolle standen. Er empfand das als wohltuend, sich in den kühleren Abendstunden die Beine zu vertreten. Dabei fühlte er sich noch besser, wenn ihn eine schöne Dame begleiten würde. Dank seines Charmes und seines guten Aussehens fiel ihm die Eroberung derartiger Schönheiten relativ leicht.
Heute war er ebenfalls unterwegs. Das Abendrot war faszinierend und die Hitze nahm zu dieser Tageszeit wieder ab. Mit seiner original-italienischen Vespa fuhr er so weit in den Norden, wie es nur möglich war, während seine dunkelhäutige Begleiterin namens Leyla am Hintersitz saß. Auf Leibwächter verzichtete er hier bewusst. Angezogen war Tonino wie immer in edler Montur – weißes Seidenhemd der Marke Brioni, braune Stoffhose von Boss, schwarze Oxfords, eine Patek-Philippe auf der linken Hand und ein Familienring auf dem Ringfinger. Nun erinnerte er sich, während er diesen für einen flüchtigen Moment ansah, an den Anfang zurück: Tonino war mit dabei, als am runden Tisch beschlossen wurde, dass Brookshields Familienring an ihn zurückgehen sollte. Wer hätte jemals gedacht, dass sich das Ganze so entwickeln würde?
Schließlich kam das Liebespaar in Eschersheim an, das wirklich sehr weit nördlich lag. Einige hundert Meter weiter westlich befand sich quasi das Meer, welches man von hier aus förmlich rauschen hören konnte. In dieser Gegend gab es einige dreckige Siedlungen und sonst lediglich selbstgebaute Häuser aus alten Autoteilen, Metallplatten oder Holzkonstruktionen. Sehr viele Obdachlose hausten hier im sandigen Eschersheim, und auch sah Tonino in der Ferne, wie sich eine kleinere Gang glatzköpfiger Neonazis – vermutlich die Aryan Brotherhood – mit irgendwelchen scheinbaren Arabern prügelten. Er ignorierte sie, genauso wie die vielen streunenden Huren in diesem Viertel, und stellte sein Moped schlussendlich bei einer zerbröckelten Mauer ab; hier würde es niemand stehlen. Er und seine Freundin stiegen vom Gefährt ab und gingen Hand in Hand über die Straße.
Angst hatte er keine. Die meisten Leute wussten, wer er war, und außerdem befand sich ein Revolver unter seinem Hemd. Und die paar herumirrenden Verrückten kümmerten ihn wenig. Das war man in Frankfurt sowieso gewohnt.
„Ich find' solche Spaziergänge immer wieder aufs Neue angenehm, muss ich ehrlich sagen...", schwärmte der Italo-Deutsche und lächelte seine Freundin dabei an.
Sie beide gingen ziemlich ziellos durch die Gegend und sahen sich um. Hier am Stadtrand gab es sogar einige Palmen, die aus dem Boden ragten. Das hätte an sich etwas Schönes sein können, wenn nicht so viel Plastikmüll überall herumgelegen wäre, der die Ästhetik zunichtemachte.
„Ja... Tonino, du bist so ein Romantiker!", sagte die hübsche Leyla mit einem leichten slowakischen Akzent. „Du hast jedes Mal gute Ideen!"
„Danke, meine Dame." Er wirkte selbstzufrieden. „Ich muss dir ja schließlich was bieten, nicht?"
Sie lachte verliebt und fuhr sich mehrfach durch die Haare.
Tonino gefiel das. „Bin ich froh, dich an meiner Seite zu haben. Ich hätte nie geglaubt, dass ich meine Traumfrau ausgerechnet in der Rebellion kennenlernen würde..."
„Zufälle gibt's, nicht?"
„Wohl wahr..." Er dachte kurz nach. „Dabei war ich eigentlich vor ein paar Wochen noch der Feind dieses Jungen. Interessant, wie schnell man seine Meinung ändern kann."
„Es kommt oft anders..."
„Ich hab' recht früh die Funktion meines Vaters in der Familie übernommen und wurde zum Patron. Ich hab' den Rauschgifthandel in meinem Viertel mit aller Härte vorangetrieben. Das hat die Leute verdorben, ehrlich jetzt. Überall liefen nur mehr Junkies oder hauchdünne Mädchen herum, die anschaffen gingen. Und ich? Ich genoss den Reichtum und die Macht, die ich hatte. Mir waren die Einwohner scheiß egal, bis dieser Bursche gekommen ist..."
„Meinst du, er hätte dich verändert?"
„Mehr oder weniger schon, ja. Weißt du, das hat sich ziemlich schnell verbreitet in der Stadt... Das mit der Freiheitsbewegung und so. Das hat sich überall ausgewirkt, ja sogar in Momos Gebiet. Die Bürger fingen an, das System zu hinterfragen, ihre Abhängigkeit zu kritisieren."
„So ähnlich war's bei mir auch... Ich bin in Seb Kints Viertel groß geworden. Diese Rocker waren richtige Mistkerle. Als die drei Kinder das alles gestartet haben, hat plötzlich jeder am Esstisch darüber geredet, wie man sich am besten von den Clans lösen kann. Das war vorher nie Thema, aber sie haben bewiesen, dass es möglich ist!"
„So ist es, Leyla. Deshalb musste ich auch nachgeben. In meinem Viertel haben die Leute schon getobt, richtig randaliert. Die haben mit Molotows auf Häuser geworfen, meine Dealer abgestochen oder meine Lieferungen sabotiert... Ich bin dem zuvorgekommen, indem ich verkündet habe, in Zukunft auf der Seite des Bürgerkönigs zu stehen."
„Hoffentlich kommt er bald zurück..."
„Das wird er, glaub' mir, das wird er..."
Die beiden marschierten gerade an einer kleineren Gruppe von drei heruntergekommenen Rockern vorbei. Gerade eben hatten sie über Sebs Motorrad-Gangster gesprochen, und nun begegneten sie solchen Personen.
„He, ihr Arschlöcher da...", sagte einer von ihnen. Er war fett und hatte neben der typischen Lederjacke und den Ketten noch einen überaus hässlichen Bart. „Stehen bleiben!"
Die Rocker versperrten dem Paar den Weg. Tonino und Leyla hielten an.
„Freunde, Freunde... Wir tun nichts. Wir gehen hier nur durch", sagte Tonino.
Der zweite Rocker – ein ebenfalls unschöner Kerl mit Halbglatze und einem Spinnennetz-Tattoo im Gesicht – bewegte sich hinter den Italiener, um ihn offenkundig beim Fliehen zu hindern.
Der dritte Kerl, der merkwürdig blonde Locken hatte, kam stetig näher. „Ihr Wichser, ihr bleibt schön mal stehen, okay?"
Leyla sah ziemlich verängstigt aus und brachte kaum ein Wort raus.
„Kollegen." Tonino hingegen war da mutiger. „Wisst ihr eigentlich, wen ihr vor euch habt? Macht, dass ihr Leine zieht, ihr Landstreicher. Seitdem Seb tot ist, seid ihr Rocker eh nichts mehr wert..." Ihn nervte die plötzliche Störung sehr.
„Prinz, du wirst uns schon noch Respekt zollen...", drohte wieder der erste Rocker.
Der Gangster packte ein langes Messer aus seiner Lederjacke und fuchtelte damit herum.
„Soll mir das jetzt Angst machen, oder wie?", entgegnete Tonino darauf.
„Nein", sagte eine sehr dunkle, gefährliche Stimme, die offenbar von hinten kam. „Aber vor mir sollst du dich fürchten..."
Es zeigte sich der Commander, der offenbar alleine unterwegs und in zivil gekleidet war. Er trug eine dunkle Hose und einen schwarzen Pullover, durch den man seine massiven Muskeln deutlich sehen konnte.
Der Commander packte Tonino kurz von hinten und nahm ihm den versteckten Revolver geschickt ab. Dann hielt er diesen selbst in der Hand und entfernte sich einige Schritte vom Prinzen.
„Was in aller Welt..." Nun war der Prinz extrem schockiert. Den Commander vor seinen Augen zu haben bedeutete in der Regel nichts Gutes. „Wie... konntest du mich finden? Zum Teufel noch mal, wie?"
Der Söldnerführer antwortete nicht wirklich auf die Frage seines Gegenübers, sondern inspizierte den Revolver von Tonino genauer. „Ihr Italiener seid ein verräterisches Volk... Habgier und Lust bestimmen, wem eure Treue gilt. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wären die Bosse am Ende, und was machst du? Du wechselst die Seiten."
„Nei... nein!", stotterte Tonino. „Du hast keinen blassen Schimmer davon, zu was wir im Stande sind!"
Der Commander lachte kurz. „Ihr? Ihr habt fast jedes Gebiet verloren. Und dann lassen euch eure kühnen, furchtlosen Anführer einfach im Stich. Und du hättest dir mal eine deutsche Pistole organisieren sollen. Diese italienischen Billigprodukte taugen nichts."
„Nochmal... Wie konntest du mich finden, Alexy?" Tonino wollte eine präzise Antwort hören.
Währenddessen entfernte sich Leyla ganz langsam von ihrem Freund. Sie zeigte sich nicht mehr wirklich schockiert, sondern eher so, als wäre sie eingeweiht.
„Leyla!" Tonino sah zu seiner Freundin, die sich bewusst hinter den Commander stellte. „Was geht hier vor sich? Sag's mir! Sofort!" Er ahnte schon, was los war.
„Tut mir Leid, Tonino... Ich hab' ihnen verraten, wo wir heute Abend hingehen..."
„Du elende Hurentochter..."
Der Commander setzte seinen Satz fort. „Diese drei Herren um dich werden nicht zulassen, dass du fliehst." Er sah ziemlich unbeeindruckt aus.
„Du Schwein, hast du die gekauft, oder was?"
„Gekauft? Was will ich von solchen ekelhaften Rockern? Sie sind Überbleibsel von Sebs Gefolgschaft, die von Blake aufgenommen wurden und daher... gezwungenermaßen meine Verbündeten. Und immerhin tun sie das, was ich ihnen sage."
Nun bekam es der Prinz wahrlich mit der Angst zu tun. Er war sich darüber bewusst, dass es keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. Und auch ein direkter Kampf gegen Alexy wäre ein blanker Selbstmord gewesen. Egal, was er getan hätte, es hätte in seinem Tod geendet. So betrachtet wusste er, dass es keinen Ausweg gab. Heimtückisch verraten von einer vermeintlichen Liebschaft. Das hätte sich der Frauenheld in seinen schlimmsten Albträumen nie gedacht.
„Wieso nur, Leyla?", verlangte er von seiner vorgeblichen Freundin, während er nur resigniert das Haupt gesenkt hatte, wissend, was bald folgen würde.
„Ich hab' dich wirklich gemocht, Tonino. Aber sie haben ein Kopfgeld auf dich gesetzt... Da hab' ich mir gedacht, ich tu' es. Ich muss für meine Familie sorgen...", sagte die Dame mit einer traurigen Stimme.
„Italiener...", sprach der Commander weiter. „Allein, dass ich problemlos durch eure Viertel durchfahren konnte zeigt, wie schwach ihr seid. Es gibt nur eine Möglichkeit, hier lebend rauszukommen: Gib als nunmehriger Anführer deine Kapitulation ab. Dann darfst du als Hund weiterleben."
Der Italiener schloss die Augen, kniete sich hin, knöpfte sich sein Seidenhemd bis nach oben zu und formte seine Hände zu einem Gebet. Einige Sekunden vergingen, in denen er offensichtlich tatsächlich zu einem vermeintlichen Gott betete. Dann öffnete er wieder die Augen.
„Eher sterbe ich, als mich geschlagen zu geben. Es war sowieso schon an der Zeit. Juri, Seb, Momo, Yuma, Arno... Ich bin wohl der Letzte vom runden Tisch, der dran glauben muss... Sei's drum, mein Leben war schön. Ich sterbe, trotzdem bin ich der glücklichste Mensch der Welt, denn durch Ben Wolff und den Bürgerkönig bekomme ich meine Rache."
„Ah. Für einen Italiener bist du ziemlich ehrenvoll. Als Belohnung dafür wird dein Tod ein schneller werden." Der Commander gab sich zufrieden.
„Bring's hinter dich und rede nicht so viel."
Erneut schloss Tonino seine Augen. Der Commander zückte den zuvor abgenommenen Revolver und schoss dem Prinzen zweimal direkt durch den Schädel. Er flog mit dem durchlöcherten Kopf nach vorne in den sandigen Boden. Das war es mit dem Leben des Italieners. Damit war Pauls Bewegung nun gänzlich ohne Anführer.
Die umstehenden Rocker lachten, und auch Leyla setzte ein Grinsen auf. Sie wandte sich nun direkt an den Commander, der gerade gehen wollte.
„Wann bekomme ich jetzt meine Bezahlung? Das Kopfgeld, das ausgeschrieben war?", fragte sie in der Hoffnung, dass der Söldnerführer sie nun reichlich entlohnen würde.
Aber es kam anders. Der Commander ignorierte sie und ging weiter weg.
„He, was ist mit dir falsch? Ihr habt mir was versprochen!", fluchte sie mit lauterer Stimme.
„Oh, ja..." Der Commander drehte sich um und ging auf die ihn verfolgende Dame zu. „Das hätte ich doch glatt vergessen... Danke, dass du mich noch dran erinnerst!"
„Schon gut... Ich will nur die versprochene Golduhr und das war's..."
„Die kannst du natürlich haben..."
Der Commander griff in seine Hosentasche. Doch anstatt einer goldenen Uhr zückte er nur ein Klappmesser, mit welchem er mehrfach auf die Dame einstach. Zuerst rammte er das Messer mehrere Male in ihren Bauchbereich und anschließend richtete er ihr Gesicht damit zu. Sie schrie qualvoll und keuchte, aber Alexy hörte nicht auf, auf sie einzustechen. Bald schon war sie tot und hinterließ ein wahres Blutbad am Boden. Sie war nicht mehr wiederzuerkennen, so übel hatte sie der Commander verunstaltet.
Er blickte auf sein neuestes Opfer mit einem arroganten Blick hinab. „Tz, erbärmlich...", meinte er schließlich, ehe er weiterzog.
Die drei Rocker verfrachteten die Leichen der beiden einfach in die nächste Mülltonne.
Kapitel 31: Eine andere Welt
Es war, als wären Ben und Paul in eine gänzlich andere Welt eingetaucht. Während sie vom Tokio-Flughafen aus mit einer Bahn quer durch die Hauptstadt fuhren, sahen sie die Prächtigkeit dieser Metropole. Natürlich hatte man sich ständig erzählt, wie toll alles im asiatischen Raum sei, doch nie hätten sie sich erwartet, dass es ein derartiges Ausmaß annehmen würde.
Ihre beiden Augen blieben weit offen, als sie die höchstkomplexen Straßennetzwerke sahen. In der Dunkelheit der Nacht schimmerte die Stadt förmlich wegen der beleuchteten Fenster der zahlreichen, weit über einen Kilometer reichenden Wolkenkratzer. Dann waren da noch die tausend Werbebildschirme, Scheinwerfer, Aquädukte, Grünflächen, Parks, riesige Kühlungsanlagen, die über die Straßen angenehmen Wasserdampf sprühten und somit die elende Hitze tilgten… Autos fuhren hier nach eindeutigen Straßenverkehrsregeln, es gab Polizisten, die für Ordnung sorgten, anzug- oder blusentragende Passanten marschierten in Massen über die gigantischen Fußgängerwege und am Himmel flogen Flugkörper, die die beiden Deutschen zuvor noch nie gesehen hatten. Es gab hier keinen einzigen Bettler, Drogensüchtigen, Dealer, Zuhälter oder Gangster und auch keine Huren am Straßenrand. Außerdem sahen die Menschen allgemein glücklicher aus. Sie waren zivilisierter, gingen offenkundig allesamt einer ordentlichen Arbeit nach und sorgten in ihrer Gesamtheit für eine funktionierende Volkswirtschaft. Dies merkte man nach außen hin. Sie waren bei weitem nicht so niedergeschlagen oder deprimiert wie es bei der Bevölkerung in Deutschland der Fall war. Eltern mit Kinderwagen oder händchenhaltende, alte Ehepaare, die auf Straßenbänken saßen und sich gegenseitig anlächelten… Es war das Paradies schlechthin für jeden, der nur die Trostlosigkeit des Westens gewohnt war.
Auch der Sternenhimmel wirkte in Japan klarer. Selbst der kühne Vollstrecker Ben Wolff fühlte sich wie ein fasziniertes Kleinkind, als er hie und da nach oben blickte und das Meer aus fremden Himmelskörpern bewunderte. Bei all dieser Schönheit hätten sie um ein Haar ihren eigentlichen Auftrag vergessen. Für einen Moment wollten die Herren tatsächlich nicht weg. Sie hätten sich gewünscht, auf ewig hier zu bleiben, weit weg von dem Trubel in ihrer Heimat. Aber es gab eine Sache, für die sie einstanden und bei der sie sich geschworen hatten, sie bis zum bitteren Ende durchzuziehen.
Somit erreichten sie ihr Ziel. Das pompöse Haus des Verteidigungsministers lag exakt am anderen Ende der Stadt, am äußeren Rand Tokios. Ben und Paul mussten also stundenlang mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dorthin reisen, weswegen es mittlerweile Mitternacht geworden ist.
Am hügeligen Stadtrand dominierten die typischen japanischen Gärten und Schreine, die vor allem als Wohnorte der Reichen und Mächtigen dienten. Selbstverständlich waren diese Wohnsitze äußerst gut gesichert. Der riesige Schrein des Verteidigungsministers war umgeben von einem gigantischen Garten, in dem es zahlreiche kleinere Teiche und Pavillons gab. Viele Wachleute patrouillierten dort, doch der geübte Ben konnte sich problemlos zusammen mit Paul an ihnen vorbeischleichen. Einer der Wächter hätte ihn fast entdeckt, aber Ben reagierte schnell und versetzte ihm zwei gezielte Schläge, die ihm das Bewusstsein raubten. Tonino hatte Ben noch vor der Abreise erzählt, dass der Minister stets um Mitternacht ein kurzes Training im hauseigenen Dojo betrieb. Dies immer unmittelbar vorm Schlafengehen. Also schlichen sich die zwei Eindringlinge in gebückter Haltung vor das Fenster zum besagten Dojo.
„Ist der Typ schon drinnen?“, fragte Paul im Flüsterton.
Ben sah gerade unauffällig durch das offene Fenster. „Ja… Er trainiert grade.“
Tatsächlich vollzog der Verteidigungsminister Sanji Aido gerade seine Katas. Sein Pensum, wie er selbst zu sagen pflegte. Das Dojo war ziemlich groß. An den Wänden hingen Katana, Wurfmesser, Äxte, Speere, Klingen, Nunchakus, Sai-Gabeln, Sode Garami und andere Utensilien. Sanji selbst war in seiner typischen Karate-Montur bekleidet. Sein schwarzer Gürtel war bereits so abgenutzt, dass er fast wieder weiß war, was schon viel Aussagekraft besaß. Dem Karateka Sanji wurde vor einiger Zeit der zehnte Dan, der sogenannte Judan, verliehen. Angesichts seines jungen Alters war das eine beinahe unmögliche Leistung. Neben Karate beherrschte der Kampfsport-Profi noch Kendo, Aikido, Judo, Jiu Jitsu, Nanbudo und Iaido.
Sanji selbst sah gefährlich aus. Eher geringere Körpergröße, dafür umso breiterer Körperbau, kein Bart, feste, kurze Haare – er sah in etwa aus wie der junge Minoru Suzuki, nur in stärker und schöner.
„Soll’n wir jetzt dann rein?“, erkundigte sich der nervöse Paul, der nun auch leicht durchs Fenster blickte. „Immerhin sieht der Kerl brutal aus. Der könnte uns wohl in der Luft zerreißen.“
„Wenn wir’s nicht ausprobieren, erfahren wir’s nie, oder?“, antwortete Ben.
Er ergriff die Initiative und sprang durch das geöffnete Fenster ins Innere des Trainingsraumes. Paul folgte ihm wenige Sekunden später. Sie hätten dies ohnehin früher oder später tun müssen.
Anstatt dass Sanji in irgendeiner Form schockiert wirkte, führte er seine Kata weiterhin aus. Dennoch äußerte er etwas.
„Ich hab‘ euch zwei Deutsche schon vor fünf Minuten bemerkt. Erst bring‘ ich meine Kata zu Ende. Dann werde ich euch töten.“
Sanji sagte das in einer solchen Authentizität und Gefährlichkeit, dass es sogar Ben kurzzeitig in Schrecken versetzte. Die zwei Eindringlinge warteten also eine Minute und sahen zu, wie der Japaner seine Übung mit einem Kampfschrei vollendete. Dann erst drehte er sich zu den beiden.
„Nun…“, sagte Sanji. „Für euch sollten ein paar gute Handgriffe reichen…“
„He, Sanji!“ Ben versuchte, den sich annähernden Sanji an seinem Vorhaben zu stoppen. „Wir kommen nicht mit schlechten Absichten!“
„Ja! Wir haben dir etwas mitzuteilen!“, setzte Paul fort.
„Ihr mir etwas mitteilen? Ihr seid Einbrecher, die mich während meines heiligen Trainings stören, und dafür werdet ihr von mir persönlich hingerichtet.“
Es schien kaum möglich, den Japaner irgendwie aufzuhalten. Also musste Bens Notfallargument her.
“Es geht um Yuma!”, rief Ben, bevor Sanji zum Schlag ausholte.
„Um Yuma also…“ Der Minister ging aus seiner Kampfhaltung zurück. „Wer in aller Welt seid ihr? Und woher wisst ihr von meinem Haus?“
Jetzt war es an Paul, seiner Aufgabe nachzugehen. Er war stets derjenige gewesen, der die Leute für die Rebellion rekrutierte. Seine Überzeugungskraft war normalerweise sehr hoch. Nur ob dies bei einem solchen Staatsmann wie Sanji reichen würde, war fraglich.
„Sanji, das klingt alles natürlich sehr abgedroschen und verrückt, aber du musst uns glauben!“
„Rede nicht mit mir, als wäre ich dein Freund. Für dich bin ich immer noch Minister Aido. Verstanden?“
„Okay, okay, tut mir Leid…“ Paul war das sichtlich peinlich. „Minister Aido, um es ganz kurz zu fassen: Ihre Schwester wurde bedauerlicherweise ermordet. Kaltblütig ermordet.“
Der Japaner zeigte keine wirkliche Regung.
„Das wurde mir bereits aus Deutschland kommuniziert“, sagte Sanji trocken. „In ihr Haus sollen ein paar Wildlinge eingebrochen sein. Tragisch, aber man kann nichts machen… Seid ihr also nur dafür angereist? Um mir etwas zu sagen, was ich schon längst weiß?“
In der Tat hatten die zwei Deutschen nicht damit gerechnet, dass ihr Missionsziel bereits über den Tod seiner Schwester im Bilde war. Allerdings war ihm offenkundig eine falsche Todesursache übermittelt worden. Sicherlich bewusst. Es war offenkundig, dass Blake absichtlich eine Falschinformation an Yumas Bruder weitergeleitet hatte, um nicht seine eigenen Handelsbeziehungen zu japanischen Konzernen zu gefährden.
„Genau deshalb sind wir hier. Um Ihnen zu sagen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist“, sagte Paul.
„Was soll das heißen, nicht die ganze Wahrheit?“
„Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, hat Blake Brookshields, das ist der Sohn von…“
„Ich weiß, wer das Balg ist“, unterbrach Sanji den Jungen, der noch immer ziemlich fertig aussah.
„Oh, okay…“, sprach der Bursche weiter. „Jedenfalls hat Blake Brookshields eine Söldnertruppe angeheuert und mit deren Hilfe die Stadt gewaltsam unter seine Kontrolle gebracht. Mein Begleiter und ich leiten aktuell eine Untergrundbewegung, die gegen Blakes Herrschaft ankämpft. Um seine Macht zu stärken, hat Blake jeden Frankfurter Boss durch seine Söldner töten lassen. Auch Ihre Schwester. Das, was er Ihnen da erzählt hat, von wegen, irgendwelche Wildlinge seien das gewesen… Alles erstunken und erlogen, um bei seinen japanischen Geschäftspartnern kein schlechtes Bild zu erzeugen.“
Sanji nickte nur verstehend, sah aber dennoch nicht wirklich so aus, als würde er den Worten des Jungen Glauben schenken.
„Du willst mir also sagen, der Sohn dieses Geschäftsmannes hätte meine Schwester in ihrem Haus ermorden lassen, um seine Macht auszuweiten?“
„Exakt das will ich Ihnen sagen, weil es nämlich die Wahrheit ist.“
„Das klingt für mich ziemlich unrealistisch… Drehen wir das doch mal etwas um: Was ist, wenn ihr Wildlinge versucht, mich gegen Blake Brookshields aufzuhetzen?“
„Das ist Unfug!“, meinte Ben. „Wir haben Beweise für unsere Version!“
Paul griff in Bens Rucksack und holte die Filmrollen heraus.
„Wie mein Begleiter gerade gesagt hat, haben wir eindeutige Beweise. Und zu Ihrer anderen Frage: Tonino Esposito hat uns verraten, wo Sie wohnen. Er war mal bei Ihnen zu Gast.“
Der Junge überreichte dem skeptisch aussehenden Japaner die besagten Filmrollen. Sanji nahm sie in die Hand und schaute sie sich genauer an.
„Interessant…“ Er drehte die Teile und hielt sie sogar ins Licht. „Es könnte sein, dass ihr Recht habt. Gehen wir in mein Heimkino und sehen uns das an. Wenn da nicht das drauf ist, was ihr behauptet hab, werde ich euch jedoch den Kopf abschneiden. Ist das in Ordnung für euch?“
„Ist okay.“
Sanji gab den Weg vor und führte die beiden Herrschaften in den Keller des Gebäudes, wo er ein kleineres Heimkino mit großem Bildschirm und einigen Sitzen anfertigen hat lassen. Dort legte er die Filmrollen in einen dafür passenden Überträger. Dann forderte er die beiden auf, sich zu setzen. Danach tat er es ihnen gleich. Die drei sahen sich den Streifen an, der die Aufzeichnungen von Yumas Überwachungskamera zeigte.
Von einer Ecke des Wohnzimmers aus wurde die ganze Tragödie gefilmt. Man konnte deutlich sehen, wie die maskierten Männer der GSG-9-Eliteeinheit über die Terrasse ins Innere des Gebäudes stürmten und die Personenschützer ausschalteten. Dann sah man, wie Yuma von der Treppe heruntergerannt kam und bereits die auf sie zielenden Gewehre erkannte. Sie setzte sich in den Schneidersitz, murmelte etwas und schloss die Augen, bis die maskierten Männer sie schließlich töteten. Man konnte den Commander erkennen, der vor ihrem Leichnam stand, seine Maske abnahm und abfällig auf sie hinabblickte.
Der an sich so kühn wirkende Sanji brach während des Films in Tränen aus. Er schrie. Und in diesen Schreien konnte man zeitgleich die unglaubliche Wut, den tiefsitzenden Schmerz und die enorme Trauer heraushören. Es war unverkennbar. Für die beiden anwesenden Deutschen war es ebenso schwierig, nicht am Leid ihres unfreiwilligen Gastgebers teilzuhaben. Aber sie kannten das Gefühl, das er just in dem Moment verspürte, nur zu gut.
Ich weiß, wie das ist. Zu sehen, wie die liebsten Menschen vor den eigenen Augen sterben… Es ist grausam.
Es nahm beinahe eine halbe Stunde in Anspruch, bis Sanji, der sein Gesicht in seinen Händen vergraben hatte, wieder zu sich kam. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Kampfanzugs die Tränen vom Gesicht und ging auf die zwei Besucher zu.
„Schlimm genug, das sehen zu müssen…“, gab er mit einer brüchigen Stimme von sich. „Dennoch danke ich euch dafür, dass ihr mir Wahrheit gezeigt habt. Sie wird sich am Ende des Tages immer durchsetzen.“
Das wird sie, Sanji Aido… Das wird sie.
„Blake hat eine Herrschaft des Terrors aufgebaut. Seine Leute versklaven Frankfurts Bevölkerung und reißen Familien auseinander… Yuma ist nicht die einzige, die er getötet hat. Nein, viel mehr hat er auf dem Gewissen…“, sagte Paul und dachte dabei kurzzeitig an seine geliebte Yamina.
„Was wollt ihr, dass ich tue? Ich weiß, dass ihr deswegen hier seid… Und ich muss etwas tun. Den Mord an meiner Schwester kann ich nicht ungestraft lassen. Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“
„Ein Militärschlag. Ein Luftangriff auf Blakes Fabriken am äußeren Stadtrand, und das zu einem Zeitpunkt, wo keiner dort ist. Wir müssen der Welt zeigen, dass wir anders sind als er. Wir nehmen keine unschuldigen Leben.“
„Das ist eine große Bitte… Ein militärisches Eingreifen in ein fremdes Land ist keine Bagatellangelegenheit.“
„Und da wir wissen, dass Sie ein redlicher Staatsmann sind, haben wir uns auch überlegt, wie sie das Gewaltverbot umschiffen können… Japan hält sich bekanntermaßen sehr streng daran.“
„Wohl wahr. Was ist euer Vorschlag?“
Ben musste sich räuspern und sein in den letzten Tagen gesammeltes Wissen stolz präsentieren. „Das System kollektiver Sicherheit. Wenn wir damit argumentieren, dass Blakes Söldner bereits den Status staatlicher Akteure oder Kombattanten angenommen haben, die in großem Stile Kriegsverbrechen begehen, erscheint ein Hinweis auf das Prinzip der…“
„Schutzverantwortung“, vollendete der Japaner den Satz des Vollstreckers. „Ich weiß schon, auf was ihr hinauswollt… Ihr kennt euch gut aus.“
„Lässt sich das realisieren?“, wollte Paul wissen.
„Ja. Den Vorsitz im Sicherheitsrat haben wir. Es sollte ein Leichtes sein, die Zustimmung der anderen Hohlköpfe zu kriegen. Sie haben eventuell selbst ein Interesse an der Zerschlagung dieses Regimes…“ Sanji ließ sich wieder auf einen Sitz im Heimkino fallen und wirkte resigniert. „Dieses elende Drecksbalg… Ich habe ihn vor vielen Jahren gesehen, als ich bei einer Feier in deren Domizil war. Da war er noch ein kleiner, unschuldiger Bengel. Und nun ist er der Mörder meiner Schwester. Wie schlimm man sich bloß entwickeln kann…“
„Ich kann mich erinnern. Ich war ebenfalls auf diesem Fest“, sagte Ben. „Wir sind uns schon einmal begegnet.“
„Ah…“ Der Japaner erinnerte sich dunkel. „Der Ziehsohn von Arno Klien, nicht? Yuma hat mir viel über dich erzählt. Sie meinte, du wärst sehr treu gewesen. Das hat sie stets an dir geschätzt. Schade, dass alles so kommen musste… Tut mir Leid, dass Arno gestorben ist. Ich weiß, dass Yuma daran beteiligt war.“
Und dafür hat sie den Tod verdient, Japaner. Du bist mir also ohnehin etwas schuldig.
„Das ist eh schon Vergangenheit.“
„Nun gut…“, sprach Sanji weiter. „Eurer Bitte sollte ich nachkommen können…“ Der Verteidigungsminister wollte schon wieder aufstehen.
„Eine Sache wäre da noch!“, rief Paul.
„Was denn, Jüngelchen?“
Der Junge zeigte dem Japaner das von Yamina gemalte Flugblatt, das die famose Friedenstaube zeigte.
„Das hat meine große Liebe gezeichnet, bevor Blake auch sie umbringen hat lassen. Ich denke, man könnte ihr damit Tribut zollen, indem man davon etliche Kopien anfertigt und sie über Frankfurt abwirft. Damit wäre unserer Rebellion gut getan…“
Sanji nahm das Flugblatt an sich und nickte – diesmal zustimmend.
„Gut. Ich verspreche dir, dass ich das machen werde. Es wird etwas dauern, aber es ist machbar.“
„Danke.“
„Ich danke euch. Bleibt am besten hier… Es gibt ein Gästezimmer im oberen Stock. Sobald ihr es wollt, organisiere ich euch einen passenden Rückflug. Lasst uns außerdem den Militärschlag oben näher besprechen…“, meinte Sanji abschließend und begleitete die nunmehrigen Gäste nach oben.
Und damit hatten die Reisenden ihr Ziel tatsächlich erreicht.
Kapitel 32: Nicht für diese Welt gemacht
Blake durfte um die elf Jahre alt gewesen sein. Lange Zeit, bevor er die faktische Kontrolle über die Stadt erlangte.
Etwas anderes als den Turm war der kleine Bengel gar nicht gewohnt. Natürlich, hie und da unternahmen er und sein Vater Benjamin einige kleinere Ausflüge, jedoch waren das keine großartigen Reisen. Meistens endeten diese Exkursionen in den konzerneigenen Fabriken oder den übrigen Liegenschaften in und außerhalb Frankfurts, die selbstverständlich voll und ganz dem Brookshields-Geschäftsführer gehörten. Ferner dienten diese Besuche nicht etwa dem Vergnügen des kleinen Sohnes, sondern sollten ihn vielmehr auf sein künftiges Erbe vorbereiten.
Mehr oder minder harrte der junge Blake in seinem riesigen, goldenen Käfig aus. Luxusgüter um ihn herum, dutzende Räumlichkeiten, die teuersten Privatlehrer, die besten Sommerinternate, die exklusivsten Sporttrainer, die fähigsten Mediziner, die seine Gesundheit stets im Auge behielten… Der alte Benjamin Brookshields glaubte fest, dies sei das Einzige, was er bräuchte, und dass er dem Burschen – und somit sich selbst – einen großen Gefallen damit tun würde. Nur fehlte es dem Jungen an ganz anderen Dingen, die jedoch für seine Entwicklung hin zu einem empathischen Menschen wesentlich gewesen wären.
Nie hatte Blake die Möglichkeit, Freundschaften außerhalb des Turms zu schließen. Jede angefangene Bekanntschaft bei kurzzeitigen Aufenthalten an anderen Orten wurde von seinem Vater bewusst verhindert. Nicht mal einen Bruder gewährte ihm sein Vater, da er Roger Timothy – also Paul – mutwillig versteckt gehalten und schlussendlich ausgesetzt hatte. Ja, sogar seine Mutter wurde ihm vom Vater weggenommen, die der skrupellose Benjamin schlicht in einen dunklen Kerker gesperrt hatte. Blake Brookshields hatte also von Kindheit an niemanden, dem er sich hätte anvertrauen können. Er hatte niemanden, dem er seine Sorgen hätte erzählen können. Er hatte niemanden, von dem er wahre Gefühle hätte kennenlernen können. Die einzigen Personen, die in seiner Nähe waren, waren Benjamin Brookshields und dessen kalte Geschäftspartner. Keine sonderlich guten Vorbilder. Hätten sie ihm etwa die Fähigkeit zur Empathie vermitteln sollen? Wohl kaum. Und das taten sie auch nicht. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil – Blake wurde nur beigebracht, dass Macht das Wichtigste sei. Macht, Einfluss, Herrschaft über die Schwachen. Die Schwachen da unten, die für die Leute im Main-Tower keinerlei Menschen waren.
So befand sich Blake in diesem zarten, jungen Alter erneut im Turm, genauer gesagt im gigantischen Wohnbereich. Kieferholzmobiliar, Marmorboden, Plattenspieler aus vergangenen Zeiten, Plasmabildschirme… So viele wertvolle Dinge, doch kein einziges Spielzeug hatte ihm Benjamin je gekauft. Also improvisierte Blake und spielte mit den Luxusuhren oder den vielen Sonnenbrillen. Zwar waren die Versuche des Jungen, daran Spaß zu haben, niedlich mitanzusehen, doch innerlich machten sie Blake fertig. An diesem Tag langweilte ihn das elendige, tägliche improvisierte Spielen so sehr, dass er sogar den Tränen nahe stand und aus Wut die Uhren und Brillen zerstörte.
Wieso ist hier keiner?
Es war Mittagszeit, und demnach war keine Person da, als Blake sich im gesamten Stockwerk umblickte. Nicht mal eine Haushaltshilfe oder etwas Derartiges. Der Junge wusste jedoch, dass sein Vater nur unweit von hier entfernt in seinem Büro verweilen wurde. Und da er ohnehin seit Längerem einen Spaziergang mit seinem Vater Benjamin machen wollte, entschied er sich kurzerhand dafür, mit dem Lift in die untere Etage zu fahren, wo sich das Hauptbüro des Vaters befinden sollte.
Der Junge kam nach kurzem Gang im Geschäfts-Stockwerk des Main-Towers an. Hier gab es zahlreiche Büros und viele herumgehende, anzugtragende Menschen. Blake wurde von den hübschen Sekretärinnen am Welcome-Desk mit einem künstlichen Lächeln empfangen und auf seinem Weg zum Büroraum des Vaters begrüßten ihn lauter schmierige Manager.
„Grüß‘ dich, Blake!“, sagte einer.
„Ah, hallo lieber Blake!“, gab ein anderer von sich.
Blake ignorierte sie und ging auf die Tür jenes Büros zu, in dem sein Vater eigentlich arbeiten sollte. Ohne großartig zu klopfen öffnete der Junge die Tür, trat hindurch und erblickte den damals schon ziemlich gezeichneten Benjamin.
„Oh, Blake, mein Sohn!“, meinte dieser.
Er war überrascht worden und wischte sich gerade das Kokain, das er just in dem Moment zu sich genommen hatte, von der Oberlippe. Auch er setzte ein falsches Grinsen auf, als würde er sich darüber freuen, dass ihn sein Sohn besuchen kommt. Was für eine Unwahrheit.
„Was… tust denn du hier?“, wollte der Vater wissen. „Du solltest auf deinem Zimmer sein.“
Blake ging nach vorne und legte sich frech auf die elegante Couch. Mitsamt seinen Schuhen. Benjamin dachte im Traum nicht daran, seinen Sohn in den Arm zu nehmen oder sich überhaupt zu ihm zu setzen. Er blieb auf seinem Chefsessel und starrte ihn nunmehr böse an.
„He, ich hab‘ dir doch gesagt, du sollst da nicht mit den Schuhen rauf! Mach‘, dass du anständig sitzt!“, befahl Benjamin seinem Kind in einem autoritären Ton.
Da das dem Sohnemann wahrlich Angst machte, befolgte Blake die Ansage. „Tut mir Leid, Papa…“, gab er schüchtern von sich und korrigierte seine Sitzhaltung.
„Ist okay. Du sollst doch lernen, dich wie ein Mann zu benehmen. Du weißt, welche große Aufgabe eines Tages auf dich zukommen wird. Da kann man nicht wie einer von den Unteren einfach mit den Schuhen auf einer so teuren Couch liegen! Willst du etwa so sein wie die?“
„Arno hat mal gesagt, du wärst auch von unten gekommen…“, warf Blake ein.
„Irrelevant… Die da unten sind wir nicht, verstehst du das, Blake?“ Benjamin schärfte seinen strengen Blick. „Wir sind nicht gemacht für diese Welt… Diese Welt von ihnen.“
Sind wir das, Papa?
„Okay, Papa…“
„Gut. Also, komm‘ schon, was brauchst du jetzt von mir?“
„Ich wollt‘ dich nur fragen, Papa, ob wir jetzt unseren Spaziergang machen würden, über den wir schon so lange reden. Heute ist es sehr schön draußen. Nicht zu heiß. Das wäre doch perfekt, oder?“ Der Junge lächelte. Aber ehrlich. Keine Schauspielerei.
Doch der Vater entgegnete der Bitte seines Sohnes nur mit einem abfälligen Seufzer und einem genervten Augenrollen.
„Siehst du nicht, dass ich gerade beschäftigt bin? Später vielleicht, wenn du deine Mathematik-Aufgaben machst…“
Das sagt er jedes Mal. Jedes einzelne Mal. Nie hält er sein Versprechen ein.
„Aber Papa… Die hab‘ ich doch schon längst fertig! Und den Deutschaufsatz auch!“
Das Gesicht des Jungen wurde trauriger. Er war wahrlich enttäuscht von der erneuten Absage. Und er wusste genau, dass sein Vater auch später nicht mit ihm spazieren gehen würde.
„Ach, mein Gott, dann verbesser‘ halt dein Wissen im Rechnungswesen. Da bist du noch ziemlich ausbaufähig.“
Tatsächlich hatte Benjamin dem Jungen die komplexe Materie des Rechnungswesens bereits in dem frühen Alter aufgezwungen. Es plagte Blake, diese trockenen Seiten täglich durchzulesen, aber er musste es. So es sein Vater wollte.
„Ich mag das nicht immer lernen… Es macht keinen Spaß! Ich hasse Rechnungswesen, Papa!“, lamentierte der Sohn, der nun – wie es sein Erzieher befohlen hatte – aufrecht dasaß.
„Du weißt, dass mir das relativ gleich ist, ne?“
„Ja…“
„Find‘ dich damit ab. Gibt genug Sachen, die ich auch hasse. Das Leben ist unangenehm, lern‘ das“, war der frustrierende Ratschlag von Benjamin an seinen scheinbar geliebten Sohn.
Jedermann wusste jedoch, dass diese Liebe erst in zweiter Linie väterlich und in erster Linie geschäftsorientiert war. Sein großes Erbe musste irgendwie nach seinem Tod weiterbestehen.
„Wann kann ich eigentlich Mama sehen? Das hast du mir auch versprochen“, verlangte der Sohn.
„Wenn die Zeit reif ist.“
„Hm… Wann wird das sein?“
Darauf gab es keine Antwort.
Auf einmal klopfte es wie wild an der Tür, die Blake bei seinem Eintritt geschlossen hatte. Benjamin und Blake schauten erschrocken auf.
„Herein!“, rief Benjamin, der sehr unruhig aussah.
Es traten daraufhin zwei arabisch-aussehende Männer mit Vollbart, kurzen Haaren und schwarzen Lederjacken ein. Sie rochen komisch, wirkten unsympathisch und stampfen mit einer solchen Selbstverständlichkeit ins Büro des Tycoons, dass Benjamin nervös wurde. Es war offensichtlich, dass diese zwei ungebetenen Gäste Nasser und Arafat Al-Hadad waren. Arafat war der Vater des späteren Bosses, Momo Al-Hadad, und er führte mit seinem Bruder Nasser eine Art „geteilte Herrschaft“. Dies endete später im Brudermord.
Blake kannte diese seltsamen Gäste, die seinen Vater ständig besuchten. Sie waren anders als die gepflegten Anzugträger. Früh schon erkannte Blake, dass die Bosse der Gangs unorthodoxer agierten. Und dass Benjamin vor ihnen Angst hatte.
„Oh, meine sehr verehrten Herren! Patron Nasser und Patron Arafat! Setzen Sie sich doch bitte!“, sagte er – diesmal nicht gespielt – freundlich zu ihnen.
Die zwei unangenehmen Araber weigerten sich jedoch, sich zu setzen.
„Wir werden nicht lange hierbleiben, Fettsack“, meinte Nasser abwertend.
„Ja, Mann. Wir haben dir deine Schulden von diesem Ex-Geschäftspartner eingetrieben. Wo sind unsere versprochenen Goldbarren?“, wollte Arafat wissen. „Oder sollen wir dir die Kehle durchschneiden? Du weißt, dass wir das schon längst gemacht hätten, wenn dein Arno nicht hinter dir stehen würde.“
„Ah, selbstverständlich…“ Der eingeschüchterte Benjamin kratzte sich am Hinterkopf. „Die gebe ich Ihnen, und zwar jetzt!“ Er schwitzte sogar stark.
Der Tycoon bewegte sich auf einen im Büro stehenden, kleinen Tresor zu und holte von dort zwei große Goldbarren heraus, die er dann den Arabern überreichte.
Blake war verwundert über diese plötzliche Gemütsänderung seines Vaters. Er schien den unguten Männern gegenüber viel freundlicher aufzutreten als ihm zuvor.
„Papa…“, sagte er. „Bei diesen Männern hältst du dein Versprechen ein… Und bei mir nicht? Obwohl ich dein Sohn bin?“
Wieso tust du das? Ich verstehe dich nicht!
„Was will dein kleiner Drecksbengel, Benjamin?“ Der von Grund auf aggressive Nasser drehte sich zu dem Kind und schaute es böse an. „Hast du deinen scheiß Sohn nicht unter Kontrolle, oder was? Wird der jetzt frech?
„Blake! Rauf‘ mit dir ins Zimmer, und zwar sofort!“, rief Benjamin.
„Wieso denn?“, erwiderte Blake.
„Weil ich es sage! Raus aus meinem Büro!“, schrie er diesmal.
Der verängstigte Blake stand hastig von der Couch auf und ging schnurstracks aus dem Büro raus und anschließend wieder in den Wohnbereich des Towers.
Es war nicht so, als hätte er solche Szenen nicht schon hunderte Male erlebt. Immer wieder bekam sein Vater „Besuche“ von den Bossen der Clans, und der Junge realisierte, wie sehr sein Vater vor diesen Gestalten knien musste und Sachen abdrückte. Und das führte dazu, dass sein Hass auf seinen Vater und dessen Unterwürfigkeit stets größer wurde. Wie auch jetzt. Dies war ein neuer Punkt in seinem Leben, der den Zorn nur wachsen ließ.
Wieso bist du so gut zu diesen Menschen und zu mir nicht? Was bist du bloß für ein Vater?, dachte sich Blake auf seinem Weg nach oben.
Ich will nie so werden wie du. Ich will mich nie von jemanden bedrohen lassen. Ich bin nicht für diese Welt gemacht…
Kapitel 33: Patron Blake
Morgensonne. Fünf Uhr in der Früh. Ein ganz gewöhnlicher Mittwoch, ein weiterer, schrecklicher Werktag in der von Blake Brookshields unterdrückten Stadt Frankfurt am Main. Das Gemüt der dort ansässigen Bevölkerung hatte sich in den letzten Tagen stetig verschlechtert. Das war natürlich verständlich – verständlich angesichts des vielen physischen sowie psychischen Leids, das die Menschen hier ertragen mussten. Zwar hatte Blake mit der Präsenz von tausenden hinzugekommenen Söldnern und aufgekauften, ehemaligen Mafia-Soldaten ein System der Ordnung geschaffen, doch war das im Grunde nur ein Polizeistaat, der sich in Sachen Grausamkeit kaum von der vorherigen Anarchie unterschied. Im Gegenteil, denn das, was Blake hier praktizierte, war im Ergebnis sogar noch schlimmer als alles, was Frankfurt bis dato gesehen hatte. In vielen Gegenden gingen die Bürger so weit, dass sie sich das alte Mafia-Spektakel zurückwünschten.
Denn damals hatte man sie wenigstens nur indirekt mit dem Einsatz dieser Darlehen zur Zwangsarbeit gezwungen. Heute holte man sie tagtäglich ab und deportierte sie förmlich in die zahlreichen Fabriken, wo sie bis zum Umfallen schuften mussten. Vor Alter oder Geschlecht nahm Blake keinerlei Rücksicht. Regimekritische, Aufständische, Untaugliche, Behinderte, Schwache, Homosexuelle oder Andersdenkende wurden systematisch ausgeforscht, abgeholt und bei der nächstbesten Gelegenheit an die Wand gestellt. Blake hatte zusammen mit dem Commander nämlich die nächste Stufe eingeleitet, welche darin bestehen sollte, ein „reines Untertanentum“ zu schaffen. Die Menschheit solle eine neue Ebene ihrer Entwicklung erreichen, indem man alle, die ihnen nicht ins Bild passten, aus dem Weg räumte. Schwäche sollte ausgemerzt werden, um dem Ideal eines gesunden, starken Menschen als dominierende Spezies näher zu kommen. So gesehen ähnelte ihre Maschinerie einem ultrafaschistischen System, das das arme Volk effektiv mit Gewalt und Spionage unter Kontrolle hielt und gründlich die Zahl der Bevölkerung dezimierte. Jedes Mittel war ihnen dabei Recht.
Spontane Hausdurchsuchungen, Enteignungen im großen Stil, stundenlange Verhöre mit willkürlich ausgewählten Personen, Anbringen von riesigen Propaganda-Plakaten und das Aussenden von manipulativen Ansagen durch die großen Sendemasten, die überall in der Stadt angebracht waren, zusätzlich zu den vielen vergossenen Tränen, den verzweifelten Schmerzensschreien oder der allgegenwärtigen Angst vor dem Tod – das war der neue Alltag. Die Furcht brannte sich ins Gedächtnis der Leute. Die Grenzen der Stadt wurden abgesperrt und scharf kontrolliert. Keine Information über das Unheil durfte in die Außenwelt gelangen, zumal die anderen Städte und Länder im guten Glauben waren, dass Blake hier ein einziges Paradies geschaffen hätte.
Vor einiger Zeit hatte Benjamin Brookshields bekanntermaßen den Sender Ageloin1 aufgekauft, und Blake nutzte nun die Möglichkeit, um inszenierte Werbesendungen über das vermeintlich schöne Frankfurt in aller Welt auszustrahlen. In diesen Spots wurde das neue Frankfurt als eine Idylle verkauft, wo die Mafia besiegt sei und die Menschen nun endlich in Frieden und Harmonie miteinander leben würden. Vorbildfunktion für andere, von der Anarchie zerfressene Metropolen. Was für ein Unfug, doch die Geschäftspartner von außerhalb fielen auf diese gut produzierten Streifen herein und bettelten förmlich um eine geschäftliche Zusammenarbeit mit Brookshields Ltd. Besser konnte es für Blake also nicht kommen, wirtschaftlich wie auch machttechnisch.
Und die Rebellen? Sie vermochten es nicht, überhaupt irgendeine Botschaft nach außen zu schicken. Ihre Mittel gingen zur Neige, ihre Anhänger starben wie die Fliegen und ihr Gebiet wurde von Tag zu Tag kleiner gemacht. Der Zusammenhalt war gebrochen, die Moral dahin und überhaupt fühlten sie sich von ihren eigentlichen Anführern im Stich gelassen. Selbstverständlich kannte die Spitze der Rebellion den mörderischen Plan des Bürgerkönigs und des Vollstreckers, doch da sie bereits tagelang nichts mehr von ihnen gehört hatten, gingen sie von ihrem Scheitern aus. Zudem war mit Tonino dem Prinzen die Person, die noch einigermaßen über Führungsqualität verfügt hatte, gestorben. Es schien, als würde das Kartenhaus alsbald zusammenfallen.
Herrlich, dachte sich Blake. Ich sagte doch, irgendwann bestimme ich nach Belieben über dieses seltsame Mischvolk. Frankfurt ist mein. Deutschland ist als nächstes dran.
Der junge Geschäftsmann stand vor den breiten Fenstern seines Büros in der obersten Etage des Main-Towers und blickte auf die Stadt hinab. Der Himmel hatte wegen der aufgehenden Sonne einen roten Farbstich erhalten. Heute würde garantiert ein sehr heißer Tag werden, da keine einzige Wolke weit und breit zu sehen war. Und bald schon würden die Städter aus ihrem Schlaf gerissen und zur Zwangsarbeit transportiert werden. Nur mehr eine knappe Stunde sollte es dauern, bis die Uhren sechs schlagen und der Arbeitstag beginnen würde.
Blake selbst stand stets um diese frühe Uhrzeit auf und hatte es sich zur Morgenroutine gemacht, die Stadt zu begutachten. Seinen Kleidungsstil hatte er über die Tage geändert. War er vorher eher elegant-leger gekleidet, trug er jetzt nur mehr graue Maßanzüge mit Krawatte und Stecktuch. Die vormals langen, braunen Haare hatte er nun ebenfalls geschnitten und mit viel Gel nach hinten gekämmt. Er kratzte sich an seinem spitzen Kinn und inspizierte mit seinen scharfen, grünen Augen die einzelnen Distrikte von der Vogelperspektive aus. Nun wirkte er tatsächlich wie ein typischer Geschäftsmann ohne Gewissen und Empathie. Und das war er genau genommen auch. So hatte sich sein Vater ihn immer vorgestellt, doch hätte er nicht damit gerechnet, dass er sein Ende bringen würde.
„Guten Morgen, Blake Brookshields…“, sagte eine vertraute, dunkle Stimme hinter ihm.
Blake drehte sich kurz um und sah hinten im Büro den Commander, der gerade an einer Wand lehnte und zu Boden sah. Er hatte seine Alltagskleidung an – ein grauer Pullover, eine schwarze Chinohose und braune Schuhe. Der blonde Muskelprotz war genauso ein Frühaufsteher wie sein Auftraggeber. Er biss sich hin und wieder auf seine dicken Lippen.
„Ah, Alexy, schön, Sie zu sehen“, erwiderte Blake mit neutraler Miene und widmete sich wieder seinem Panorama. „Die Stadt… Sie sieht fantastisch aus in diesem Rot-Ton, oder?“
„Das tut sie.“ Der Commander näherte sich seinem Auftraggeber langsam an. „Sie haben wirklich was auf die Beine gebracht, das muss ich Ihnen lassen, kleiner Mann.“
„Ich danke Ihnen. Ohne Ihre Hilfe wäre das nicht zustande gekommen. Ihre GSG-9 hat ganze Arbeit geleistet. Wie sieht’s mit den jämmerlichen Rebellen aus? Sind die nun endgültig abgekratzt?“
Viele Sorgen mach‘ ich mir nicht mehr um die… Ben und Roger sind immerhin abgehauen, die Feiglinge.
„Es sieht gut aus. Wir werden gewinnen. Nur mehr ein paar Tage, und dann ist jeder Rebell unterm Boden.“
„Fein. Roger und Ben Wolff sind sie mehr aufgetaucht, nicht wahr?“
Man merkte anhand von Blakes Stimmlage, dass er sich tatsächlich wenig darum scherte. Er hatte die beiden, in seinen Augen lächerlichen Gestalten beinahe vergessen.
„Nein. Die in Hanau haben irgendwas von einem Flugzeugtrip berichtet… Die Zwei hätten angeblich ihr letztes Hab und Gut für eine Flucht ins Nirgendwo verschwendet.“
Typisch. Hätte mich gewundert, wenn ihr euren Mann gestanden und wie Helden untergegangen wärt. Aber das kann man von euch nicht erwarten. Ihr schafft es doch nicht mal, eure Freundin zu retten. Wie wollt ihr also eine ganze Stadt befreien?
„Pf, wie erbärmlich. Anstatt dass sie mit ihrer angefangenen Sache gemeinsam sterben, verkriechen sie sich und lassen ihre armen Anhänger die Schlachten austragen, die sie sowieso nicht mehr gewinnen können.“
„So ein Verhalten gibt’s oft. Mich wundert’s jedoch eher, dass gerade Ben Wolff als reinrassiger Deutscher so viel Feigheit an den Tag legt“, lamentierte der Commander, der seine rassentheoretischen Ideologien in jeder Situation zum Besten geben musste. „Schäbiger Haufen…“
„Ich bin dabei, dein verlangtes Projekt umzusetzen: Die Schaffung einer neuen, arischen Elite.“ Blake zog sich die Krawatte zurecht und lächelte den Blondling an.
Dieser antwortete – selten genug – ebenso mit einem zufriedenen Lächeln. „Perfekt… Irgendwann müssen wir die ganzen Araber und Asiaten loswerden. Die haben über Jahre hinweg unsere Kultur verpestet.“
„Keine Sorge, die setze ich primär zur Knochenarbeit ein. Die werden als erstes dahinsterben, wie vereinbart.“
„Wunderbar.“
Der Commander hatte große Teile seiner Bezahlung gegen die Umsetzung seiner rassistischen, radikalen Weltanschauung getauscht, und Blake war das mehr als Recht.
„Wissen Sie…“, meinte der Commander. „Ich habe Sie tatsächlich unterschätzt. Grundsätzlich verachte ich Amerikaner. Auch Ihren Vater habe ich nicht sonderlich gemocht, und als Ihr Vorstandsmitglied bei mir aufkreuzte wegen des Auftrages, da war ich sehr skeptisch.“
„Aber?“
„Aber Sie haben mich positiv überrascht, junger Mann. Trotz Ihrer amerikanischen Wurzeln sind Sie ein Ehrendeutscher in meinen Augen.“
Blake schmunzelte. „Haben Sie vielen Dank.“ Der Commander hatte noch nie jemandem offen ein Kompliment gegeben.
„Gerne.“
„Der Italiener ist auch tot, nehme ich an?“
„So ist es. Hat nicht viel entgegenhalten können, der selbsternannte Prinz.“
„Das wird ja immer besser.“
„Das tut es. Ist es falsch, wenn ich Sie nun als Patron Blake anspreche? Immerhin ist das Bündnis zerstört, und da alle Schutzherren der Stadt im Jenseits sind… erscheint diese Anrede vermutlich angebracht.“
Blake drehte sich zum Commander und steckte seine Hände in die Taschen seiner Anzughose. Er sah stolz aus. „Patron Blake Brookshields… Was für ein Name. Es gibt allerdings keine Schutzherren neben mir. Nur mich gibt’s an der Spitze, gefolgt von meinem Vorstand, Ihnen als meinen General und meiner Privatarmee. Der Rest ist einfaches Fußvolk, nicht der Rede wert und zum Dienen geboren.“
„Sie sind besser als Ihr Vater.“
„Das bin ich, das bin ich…“
So zu sein wie mein Vater wäre für mich das Schlimmste. Es gibt keinen, der mir irgendwas sagen kann.
„Aber sehen Sie sich doch mal die Prächtigkeit dieser Stadt an, Alexy… Sie ist wunderschön, und sie ist mein…“, schwärmte Blake, indes er seine Augen wieder auf die Fenster und somit auf Frankfurt richtete.
„Ja…“, stimmte der Commander zu.
Doch selbst für Machtmenschen wie Blake währen die schönen Momente des Lebens nur kurz...
Auf einmal ertönten mehrere seltsame, völlig ungewöhnliche Geräusche. Ein überaus lauter Brummton, der offenbar von weiter Ferne daherkam. Es war so laut, dass es sogar Blake in dem an sich schallgeschützten Büroraum hören konnte.
Was ist das?
Es wurde lauter und lauter, mit jeder Sekunde. Selbst der Commander schien verblüfft zu sein. Dann, einige Sekunden später, zeigte sich ein prächtiger Kampfjet, der direkt über den Main-Tower flog.
„Ein Kampfjet! Scheiße, was soll das?“, rief der erschrockene Blake, der seinen Augen nicht trauen konnte.
Der Jet flog in Blitzgeschwindigkeit über die Stadt und vollführte einige offenbar geplante Wendungen. Wenige Momente später folgten drei weitere Kampfjets. Blake konnte ihren Kurs über das breite Fenster gut mitverfolgen. Und er sah, wie die Kampfjets sich aufteilten und jedes davon in die Richtung einer seiner Fabriken am Stadtrand steuerte.
„Was haben die vor, verdammt?“ Der junge Geschäftsmann verlor von einer Sekunde auf die andere seine Gelassenheit. „Alexy, was geht hier ab?“
„Keine Ahnung! Kampfjets! Die waren seit Jahrzehnten nicht mehr über Deutschland!“
Es war so weit. Mehrere Knalltöne. Explosionen. Flammen so groß, dass man sie sogar vom Main-Tower aus deutlich sehen konnte. Der Boden bebte wegen den Erschütterungen. Blake und der Commander duckten sich. Die Erschütterungen waren so heftig, dass ein Kronleuchter von der Decke fiel. Und noch immer waren die jeweiligen Explosionsflammen zu sehen, die sich in der Luft ausbreiteten und die Stadt erhellten. Nach dem Beben stand der Brookshields-Erbe wieder auf und begutachtete die Szenen.
Einer von Blakes anzutragenden Vorstandsmitgliedern kam ins Büro gestürmt, um eine Botschaft zu verkündigen.
„Herr Brookshields! Sie haben unsere Fabriken am Stadtrand in die Luft gejagt! Alle!“, teilte ihm der unruhige Mann mit.
„Nein! Das ist unmöglich! Was ist das für ein krankes Spiel?“ Blake fasste sich auf den Schädel. Sein Mund blieb weit offen.
„Kampfjets, scheinbar aus Japan! Vor wenigen Minuten hat der Sicherheitsrat diese Angriffe angekündigt!“
„Scheiße!“, schrie Blake vor Verzweiflung. „Das waren sie! Die Bastarde, sie haben sich nach Japan zu diesem Minister verpisst und ihn überredet!“
Blake nahm ein am Bürotisch stehendes Wasserglas und schmiss es so fest gegen die Wand, dass es in hundert Einzelteile zerbrach. Danach schlug er mit voller Wucht auf einen der Computer ein und zerstörte ihn dadurch.
„Sie haben es tatsächlich getan! Das ist ein Albtraum! Ein einziger Albtraum! Und sie haben’s gerade jetzt hochgejagt, weil sie wussten, dass da noch keine Menschen drinnen sein würden!“
„Blake, beruhigen Sie sich endlich…“, meinte der Commander. „Selbst wenn unsere Fabriken zerstört sind, ändert das nichts an der Machtlage.“
„Seien Sie still, Alexy! Ohne die Fabriken sind wir auf lange Zeit gesehen geliefert! Außerdem werden diese Arschlöcher in der ganzen Welt verbreitet haben, wie es hier zugeht! Ich werde als Lügner dastehen und alle Geschäftspartner verlieren! Und das mit dem Sicherheitsrat… Das war auch geplant! Eine Ankündigung nur wenige Minuten vorm Angriff, damit man sich nicht vorbereiten kann! Rechtlich legitim, und es fickt mich trotzdem komplett!“
„Keine Sorge, wir kriegen das wieder hin… Bewahren Sie Ihren kühlen Kopf!“
„Wie denn?“
Schweres Atmen setzte bei Blake ein. Er fühlte sich nun wahrlich nervös. So viele Wege hatte er sich ausgemalt, für so viele Eventualitäten hatte er eine passende Lösung parat – doch niemals hätte er damit gerechnet, dass seine Erzfeinde einen solch weitreichenden Schritt wagen würden. Überhaupt hatte Blake den Tod von Yuma als reine Bagatellangelegenheit abgetan und geglaubt, ein einfacher, gefälschter Bericht an ihren mächtigen Bruder würde ausreichen, um die Wogen zu glätten... Aber Bilder sprachen letztendlich doch mehr als tausend Worte, und die beiden Rebellen hatten es geschafft, einen wertvollen Freund zu gewinnen.
Dann zeigte sich ein weiteres Kampfflugzeug. Kein Jet, sondern ein gigantischer Transportflieger. Blake und der Commander richteten ihre Augen gespannt auf dieses riesige Flugobjekt. Unmittelbar als der Flieger die Grenzen der Stadt überflogen hatte, öffnete er seine hintere Tür zum Laderaum. Doch anstatt, dass Bomben aus dem Flugzeug kamen, ließ es scheinbar unendlich viele Flugblätter regnen. Geschickt flog er einige Kreise, um die Blätter auch möglichst in jeder Ecke der Stadt zu verteilen.
Papiere? Was soll das bezwecken? Sind das etwa alte Geldscheine? Flugblätter mit irgendeiner Botschaft?
Schlussendlich überflog das Flugzeug den Main-Tower und versorgte auch diesen mit den ominösen Papierstücken.
„Ich geh‘ aufs Dach und seh‘ mir an, was die da runterfallen lassen!“, kündigte Blake an.
Er rannte förmlich über die Treppen und letztlich über eine Luke auf das Dach des Main-Towers, wo sich ein Helikopter-Landeplatz befand. Der Commander und das Vorstandsmitglied folgten ihm.
Am Dach angekommen lagen bereits einige von diesen seltsamen Karten am Boden verteilt. Hastig schnappte sich Blake ein Flugblatt und sah es sich näher an. Er erkannte die famose weiße Friedenstaube – das inoffizielle Erkennungszeichen der Rebellion.
Und zum aller ersten Mal in seinem gesamten Leben verspürte Blake Brookshields Angst. Tiefsitzende Angst.
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2019
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