Früher Abend. Ein lauwarmer Sommerregen trieb sein Unwesen in dieser verkommenen Stadt. Es schien fast so, als würde es ständig regnen, und die stets grauen Wolken schwanden auch nie, völlig egal, wie sehr man darauf hoffte. Patschnass an den Schuhen und der Hose marschierte er dennoch mit recht heiterer Stimmung und aufrechter Körperhaltung durch die dreckigen, elenden Straßen. Von Russell Quincy war die Rede, der vor drei Tagen seinen siebenunddreißigsten Geburtstag „gefeiert“ hatte und nun vom Rathaus unmittelbar zur Station des Gemeinschaftsbusses ging. Gelegentlich kam ihm ein kalter, unangenehmer Schauer über den Rücken, wenn er die ausgehungerten toten oder halbtoten Körper von Menschen oder Tieren am Straßenrand liegen sah, doch selbst an einen derartigen Anblick konnte man sich gewöhnen. Trotzdem lagen die Toten wie zu Cäsars Belagerung Alesias buchstäblich zu hunderten vor den Toren. Nun, in harten Zeiten wie diesen mussten sogar hochangesehene Regierungsbeamte wie er die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen – und der Begriff mussten ist in diesem Falle tatsächlich wortwörtlich gemeint, zumal der Staat seinen Bürgern bedingt durch den lange andauernden Konflikt die Gehälter eklatant gekürzt hatte. Denn durch die Verstaatlichung sämtlicher Betriebe und die faktische Abschaffung des Privaten konnte die Regierung gänzlich über Löhne entscheiden. Es gab lediglich Staatsarbeiter, wie es durch die Gesetzesverlautbarungen geschönt wurde, und Kämpfer, die an die vorderste Front geschickt wurden. Die Demokratischen Staaten von Amerika schickten Frauen, Männer und Jugendliche über sechzehn Jahren ins Getümmel, dabei keineswegs auf eine eventuelle Untauglichkeit achtend. Verzweifelte Taten in einer hoffnungslosen Auseinandersetzung, die nie hätte stattfinden dürfen. Einmal wöchentlich gab es in jedem Stadtkern, der noch unter ihrer Kontrolle war, eine Nahrungsausschüttung. Breitschultrige Militärpolizisten positionierten sich dort auf Wällen oder Podesten und warfen Brot, Flaschen, Räucherfleisch, Konservendosen, Medizin, pornographische Magazine, Groschenromane, Hetzschriften, Bandagen, Zigaretten und andere Sachen aus Kisten in die Menge unter ihnen. Die Menschen prügelten und schlugen sich teils zu Tode, um an ihre ureigenen Bedürfnisse zu kommen. Und überall – an Wänden, am Boden, auf Bildschirmen – sah man das typische Gesicht von Uncle Sam, der zu Propagandazwecken das Volk das erste Mal dazu aufrief, nicht gegen einen ausländischen Feind, sondern gegen einen Teil des eigenen Landes in den Krieg zu ziehen. Auch wenn man den allbekannten Aufforderungen dieser Plakate möglicherweise entnehmen konnte, dass der Einzug in den innerstaatlichen Konflikt gar auf freiwilliger Basis geschehen würde, war das in der Tat die Unwahrheit. Selbstverständlich wurden die Bürger und Bürgerinnen mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sich in Transportbussen einzufinden, die sie zu den verschiedensten Schauplätzen des Mordens führen sollten.
Es stellt sich die Frage, was denn eigentlich geschehen war. Die Antwort dazu kann man im Wesentlichen nur so kurz wie möglich fassen, da die Gründe für die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft äußerst komplex und zahlreich sind. Trotzdem lässt sich im Großen und Ganzen sagen, dass das Volk erheblich unter der autoritär gewordenen Regierung der damals siebten Generation Trump gelitten hatte. Durch Intrigen, illegale Verfassungsänderungen, Bestechungen und anti-demokratische Aktionen schaffte man es, das Amtserbe wieder einzuführen und die Machtfülle des Präsidenten in großem Ausmaß auszuweiten. Im zehnten Jahr nach diesen radikalen Änderungen entstanden bereits die ersten Unruhen, die die Aufstände in Los Angeles 1992 und 1965 bei Weitem übertrafen. Die republikanische Partei wurde stets konservativer, nationalistischer und radikaler, und ging mit schärfsten Mitteln gegen die steigende Anzahl der Protestanten und Regimekritiker vor. Als in der zuvor erwähnten siebten Amtszeit schließlich der Vize-Präsident Jeffrey Pence einen mit aller Kraft zu führenden Nuklearkrieg gegen den verfeindeten Asiatischen Staatenbund ankündigte, brachen bürgerkriegsähnliche Zustände aus. Das Weiße Haus wurde schließlich von Aufständischen – die unter der Führung ehemaliger demokratischer und liberaler Politiker standen – besetzt, der amtierende Präsident Martin Trump hingerichtet und die Verfassung öffentlich verbrannt. Kurz danach taten sich die demokratischen Staaten und einige Swing-States wie Pennsylvania zu den Demokratischen Staaten von Amerika zusammen und erklärten ihre Loslösung von ihrem bisherigen Mutterland. Jeffrey Pence, der sich währenddessen im sicheren Camp David aufhielt, übernahm kurzerhand die Führung der Republikaner und integrierte alle roten Staaten schließlich in die Republikanisch-Konservativen Staaten. Nach einigen Tagen wurde der Bürgerkrieg offiziell erklärt und forderte binnen kürzester Zeit tausendfach Todesopfer.
Im Laufe der Zeit, nach Jahren des sinnentleerten Kämpfens, dem Rausschmiss der USA aus allen westlichen Handelsbündnissen und der daraus resultierenden Isolation, konnten die Republikaner Gebiet für Gebiet erobern und sichern. Statt wie geplant mit den Asiaten zu kämpfen, entschieden sie sich, als Ersatz für die Westmächte Handelsbeziehungen mit ihnen einzugehen, um den ständigen Nachschub an Ressourcen für den Krieg sicherzustellen. Da die Demokraten bedingt durch ihre geringe wirtschaftliche Stärke dieses Privilegium nicht genossen und die asiatischen Länder sie quasi ignorierten, schwand ihre Stärke schnell, bis sie nur mehr einige wenige Bundesstaaten an der Ostküste und das stark umkämpfte Kalifornien im Westen innehatten. Das führte dazu, dass der Wohlstand in den roten Staaten erheblich anstieg, in den blauen folglich aber drastisch sank. Und der Frust, die Verzweiflung und die Angst waren von den griesgrämigen Gesichtern der Bürger dieser Staaten abzulesen. Da half auch die halbherzige Propagandamaschinerie des selbsternannten „wahren“ Demokraten-Präsidenten Arthur Warrens nichts, der selbst immer mehr zum blutigen Diktator verkam, der seine Untertanen sinnlos in den Tod schickte, und das in einem Krieg, der längst verloren war.
Und nun befand sich Russell Quincy eingeengt in diesem ruckelnden Gefährt zwischen übel riechenden Arbeitern und deprimierten Hausfrauen. Als Staatsbeamter trug er als Einziger dieser Leute einen halbwegs eleganten, grauen Anzug und eine Aktentasche aus Leder, wenngleich er mit diesen Kleidungsstücken wohl kaum einen Modewettbewerb gewonnen hätte. Der Bus machte in der Nähe seiner winzigen Wohnung in einem der vielen Hochhäuser Halt und der großgewachsene, schwarzhaarige, frisch rasierte und recht attraktive Familienvater stieg aus, um über die endlosen Treppen zu seiner Frau und seinen Kindern zu gelangen. Vor fünfzig Jahren hätte er mit diesem Beruf ein kleines Vermögen verdienen können, doch heutzutage musste er sich mit dieser elenden Drei-Zimmer Wohnung zufrieden geben. Dabei war das noch im Vergleich zum Rest der Bevölkerung ein wahrer Luxus. Außerdem schützte ihn sein Beruf fürs Erste vor dem Einzug in den Krieg. Er konnte sich also getrost glücklich schätzen über sein weniger miserables Leben. Und dennoch – es kränkte ihn jedes Mal, wenn er daran dachte, wie gut es noch seine Ur-Ur-Ur-Großeltern hatten. Als er den fünften Stock erreichte, grüßte er den in prägnanten orangen Farben gekleideten Ordnungsmann, der mit einem prächtigen Knüppel ausgestattet war. Der Name von diesem war Paul. Ein ständig rauchender, ekelerregender Mann mit langem Bart und dickem Bauch. Trotzdem musste Paul da sein, im Haus. Immerhin wurde Untreue gegenüber dem Regime ebenso wie bei den Republikanern hart geahndet. Jedes dieser gigantischen Hochhäuser hatte also solche Wachmänner intus.
Russell öffnete die knirschende Tür seines Appartements, durchtrat sie und fand sich direkt in seinem engen Wohnzimmer wieder, das gleichzeitig als Schlafraum für seine beiden Töchter – Zoe und Rachel – diente. Seine brünette, schlanke und hübsche Ehefrau, Martha, las gerade irgendein von der Regierung erlaubtes Buch, während die jungen Kinder mit ihrem Spielzeug spielten. Russell legte den Aktenkoffer zur Seite, begrüßte seine Gattin mit einem Kuss und umarmte liebevoll seine Mädchen, ehe er sich im Schlafzimmer umzog. Die Wände hier waren von Schimmel befallen, das Bett an sich fleckig und der Boden hatte genügend Kratzer und Löcher zu bieten. Keine schöne Wohnung, die man in irgendeinem Prospekt für einen gewissen Preis anbieten würde. Selbst die Vorhänge waren teilweise zerrissen. Nachdem er sich seine Hauskleidung angezogen hatte, marschierte er wieder ins Wohnzimmer und setzte sich auf das alte Sofa.
Der mühselige Arbeitstag im Rathaus war zu Ende, und jetzt war es an der Zeit, die Frontnachrichten im Fernsehen zu schauen. Dass diese Berichterstattung in weiten Bereichen zu Zwecken der Propaganda verfälscht worden war, kümmerte ihn kaum. Das war ein Teil seines Berufs, für das Staatsfernsehen echte Kriegsberichte zu verfälschen und fiktive Siege zu formulieren und den Wahrheitsgehalt von diesen mit angeblichen Indizien zu verstärken.
„Du schaust dir diesen Blödsinn tatsächlich noch an?“, fragte ihn seine Frau, die sich zu ihm auf das Sofa gesellte, während die zwei Kinder immer noch lautstark spielten.
„Mhm, tja, ich will sehen, ob ich ganze Arbeit geleistet hab‘ oder nicht. Heute sind gleich vier Städte zerbombt worden von den Roten. Carson City, Reno, Fernley und Mesquite. Das hat’s noch nie gegeben – an einer Front vier Orte zerstört von den Schweinen! Dabei hat unser Heer mit dutzenden Verlusten diese vier Gegenden gerade noch einnehmen können, und die lassen einfach ihre Flieger los, egal, ob dabei ihre eigenen Typen draufgehen… Es ist dramatisch, ich sag’s dir… Nevada ist die reinste Hölle! Kalifornien ist unsre letzte Hochburg und deswegen schicken die von dort aus jeden, der aufrecht gehen kann, in diese Wüste rein. Aber ist ja klar, dass die ihr Gebiet nicht so einfach hergeben wollen…“, gab Russell als Antwort ab und wurde mit jedem Satz leiser.
Marthas Gesichtsausdruck war kein wirklich erfreuter: „Und… wie konntet ihr das bitte noch ausbessern? Schweigt ihr die Niederlagen einfach tot, oder wie? Und erfindet ihr da andere Siege?“, wollte sie wissen.
„So in etwa, ja. Das heute aber war ein richtig schwieriger Fall… Schließlich reden die Leute. Kein Volk kann so dumm sein und alles glauben, was die in den Medien zu hören kriegen. Du wirst es eh jeden Moment selbst im Fernsehen sehen. Die Niederlagen haben wir zwar teilweise eingestanden, aber dafür das Faktum erfunden, dass wir angeblich Unterstützung aus Kanada kriegen würden… Die Fassade muss aufrecht bleiben. Die Bürger sollen denken, wir würden durch viel Blut, Schweiß und Tränen am Ende doch noch gewinnen. Am meisten tun mir die Leid, die das wirklich glauben… Irgendwann wird er kommen, der Bombenschlag, und wir sind alle dahin. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das passieren wird.“
Der Fernseher indes startete die Frontnachrichten und es die Informationen wurden genauso geschildert, wie es Russell seiner Frau angekündigt hatte.
„Nun ja, Russell…“ Seine Gattin näherte sich ihm an und streichelte ihn am Kopf. „Wenigstens musst du durch deinen Job nicht in den Krieg! So musst du auch denken! Und die Kleinen geht’s gut und bei uns, das ist das Wichtigste! Wir haben’s besser als die meisten anderen! Oder würdest du gerne in diesen Viehställen leben wie die Staatsarbeiter?“
„Natürlich nicht. Und dass es uns – zumindest den Umständen entsprechend – gut geht, hab‘ ich nie bezweifelt.“
„Na also!“ Martha fuhr sich durch ihre langen, welligen Haare und dachte dabei kurz nach. „Was wohl Michael Wolf heute in seinen Pamphlets schreiben würde, wenn er noch leben und damals nicht ins Exil geschickt worden wäre?“
„Ich bin mir sicher, dass er sich nicht mal mehr mit seinen Demokraten-Freunden identifizieren könnte… Allein schon unser Bürgermeister ist ein machthungriger Bastard, dem jedes Mittel recht ist… Und der schimpft sich einen aufrichtigen Demokraten. Mpf, was für eine dreiste Lüge…“ Russell seufzte. „Hab‘ ich dir schon erzählt, was sich unsere Partei jetzt wieder für ein Spektakel ausgedacht hat?“ Er führte seine Augen vom Bildschirm weg zu denen seiner Gattin.
Sie wirkte überrascht: „Was denn?“
„Da gibt’s in der Nevada-Wüste, ziemlich in der Nähe vom Amargosa Valley, einen großen Beobachtungsturm. Turm Nummer Elf ist das. Dann gibt’s einen weiteren Turm, etwa zweihundert Meter weiter – Turm Nummer Zehn. Der ist noch ein bisschen höher als der andere. Das waren wahrscheinlich mal Außenposten oder so, jetzt sind sie jedenfalls verlassen. Die ganze Gegend dort ist vereinsamt. Und unsere Regierung plant dort eine unglaubliche Propagandaaktion zu drehen.“
„Stimmt das? Was planen die?“
„Du kennst ja diesen zwei Meter großen, muskulösen und glatzköpfigen Joss Clark, der fast jeden Abend im Fernsehen ausgestrahlt wird und sozusagen als der Beste Kämpfer der Republikaner bekannt ist, ne?“
„Huh? Du meinst den Scharfschützen, der angeblich eine ganze Truppe von unseren Soldaten im Alleingang von einem Berghang aus abgeschossen haben soll? Oder der auf sich gestellt mit einem Jagdflugzeug eine ganze Reihe von unseren Fliegern runtergebracht hat?“
Russell nickte: „Genau der. Seine unschöne Fratze kennt ja echt jeder. Was weiß ich, was die sich immer für Geschichten einfallen lassen… Er soll ja auch angeblich der wahre Drahtzieher hinter der ganzen republikanischen Regierung sein. Alles Unfug. Den Kerl gibt’s nicht mal. Ist ein Schauspieler, sogar mit echter militärischer Ausbildung. War mal ein Sergeant, soweit ich weiß. Und die Demokraten haben ihn über Jahre hinweg immer durch Falschberichte als den absoluten Bösewicht, den heimlichen Anführer der Roten dargestellt, nur um jetzt für einen Aufschrei zu sorgen.“
„Und der Aufschrei sieht wie aus?“
„Es ist eigentlich ganz simpel… Die setzen Clark – oder besser gesagt seinen Darsteller - jetzt in diesen elften Turm rein. Dann soll eine größere Gruppe aus Bürgern jeder Schicht als Krieger in den zehnten Turm platziert werden. Aus jeder Metropole ein Soldat zirka. Die angebliche Vorgeschichte wird sein, dass Clark einen unserer wichtigen Außenposten besetzt und alle dort befindlichen Soldaten alleine getötet haben soll. Nun soll er wie ein Irrer mit seinem Scharfschützengewehr von dort aus jeden abknallen, der sich dem Turm nähert. Der Auftrag soll sein, ihn zu erledigen. Wie das alles endet, ist offenkundig: Die Gruppe wird Clark irgendwann umbringen, egal wie. Es ist nur wichtig, dass es geschieht und einige von den ahnungslosen Bürgern überleben, um dann als zurückgekehrte Helden ihren Mitmenschen in den Städten zu berichten, wie sie den schlimmsten Feind unseres Landes besiegt haben! Clark muss sich nur töten lassen, darf aber nicht zu sanft mit denen umgehen, damit keiner skeptisch wird. Er wird also tatsächlich auf die Angreifer schießen. Alles muss authentisch bleiben. Aber dennoch, mit diesem Schritt will die Regierung die Moral der Bevölkerung enorm steigern und die durchgesickerte Information, dass Clark nichts als eine Inszenierung ist, soll damit als unwahr deklariert werden!“
„Das heißt, dass die losgeschickten Krieger wirklich selbst handeln und sich gegenseitig absprechen müssen?“
„Ja. Keiner von denen, nicht einmal der Kommandant, wird in den Plan eingeweiht sein. Nur Clark, der dann im anderen Turm hockt.“
„Hm, er opfert also sein Leben, stellt sich als Feind dar und will so seinem eigenen Land helfen? Als Märtyrer?“
„Martha, ich glaube nicht, dass der Darsteller von dem Typen eine Wahl gehabt hat. Die haben ihn gezwungen.“
„Das könnte sein…“
Und jedes Mal, wenn man sich in absoluter Sicherheit wiegt, geschieht etwas Unvorhersehbares. Das ist das System, nach dem das Schicksal arbeitet. Ein Knall ertönte. Es war die Haustür, die von dem staubigen Treppenhaus direkt in Russells Wohnung führte. Der Familienvater stand sofort auf, indes seine Frau wegen dem großen Schreck nur lautstark loskreischen konnte. Man konnte sehen, wie der Ordnungsmann Paul von vorher die Tür einigen großgewachsenen Militärpolizisten aufhielt. Russell stellte sich blitzschnell schützend vor seine beiden, am Boden spielenden Kinder. Jetzt konnte der Vater erkennen, dass es vier Armeeleute waren, die ihre Sturmgewehre über den Rücken gehängt hatten. Sie inspizierten die Wohnung nicht mal, sondern stellten sich nur demonstrativ gegenüber vom Familienvater hin. Einer der Männer trug keine Tarnkleidung, sondern einen billigen Anzug, der dem von Russell glich. Es war ein älterer Herr, Ende fünfzig vermutlich, der kaum mehr Haare und einige Falten im Gesicht hatte. Er sah nicht aus wie jemand, der im Dreck saß und Feinde aktiv bekämpfte. Nein, er erweckte mit seinen kalten, berechnenden Gesichtszügen eher den Eindruck eines reuelosen Schreibtischtäters, der nur Anweisungen an seine Untergeordneten gab.
„Was ist hier los? Was suchen Sie hier?“, schrie Russell diesen Anzugträger an, der sich deutlich vor die vier Militärpolizisten stellte. Martha wurde fürs Erste ignoriert. Sie saß mit bleichem Gesicht da und hatte den Mund wortwörtlich offen.
„Russell - Mr. Quincy -, Sie müssen verstehen, wir sind dazu angehalten, Sie mitzunehmen. Bitte tun Sie uns den Gefallen und wehren sich nicht. Die Männer führen Sie unverzüglich zu dem Transportwagen, der unten steht. Ich kann Sie beruhigen – Sie sind nicht der Einzige, der heute noch aus diesem Haus abgeholt wird.“ Die Stimme des alten Mannes klang angenehm, ruhig und war völlig frei von jeglichem Akzent. Aber sie hatte unstrittig etwas Teuflisches an sich, etwas Boshaftes.
Russell starrte den noch immer die Tür aufhaltenden Ordnungsmann Paul an: „Du hast sie reingelassen, Paul! Wieso nur?“ Die Augen des Familienvaters wurden langsam feuchter.
„Tut mir Leid, Mann… Du weißt ja, wie das läuft… Mir waren die Hände gebunden!“, rechtfertigte sich der dicke Ordner. „Was hätt‘ ich’n machen sollen? Sie aufhalten? Nein. Das geht nicht.“
Der halbkahle Herr räusperte sich und erhob wieder das Wort: „Würden Sie jetzt mitkommen bitte?“
Ein klares „Nein!“ warf ihm Russell entgegen. „Ich bin Regierungsbeamter! Es wurde mir zugesichert, dass weder ich noch meine Familie in den Krieg müssten! Wir sind ausgenommen davon!“, schrie er.
Seine Kinder, die hinter ihm saßen, weinten bereits. Offensichtlich bekamen sie halbwegs mit, was nun geschehen würde. Die Auffassungsgabe solcher Minderjähriger ist oftmals nicht zu unterschätzen; manches Mal kann man gar von einem natürlichen Gespür für Ungutes reden.
„Die Gesamtlage hat sich drastisch geändert. Wir brauchen jeden verfügbaren Mann am Ort. Auch Sie, Russell. Dafür bleibt die Familie hier im Haus – vorerst zumindest. Das haben Sie Ihrer eifrigen Arbeit für die Regierung zu verdanken!“
„Sie Schwein, Sie elendes! Ich lass‘ meine Familie nicht im Stich! Wer soll denn jetzt noch Geld oder Essen nach Hause bringen? Und wer soll sie vor Schlägern oder Vergewaltigern schützen? Ich muss hier bleiben! Verstehen Sie das doch!“
„Das ist keineswegs unser Problem. Kommen Sie endlich mit!“ Einer der Militärpolizisten näherte sich dem Mann gefährlich an.
Russell schüttelte den Kopf und ging resigniert in sich zusammen: „Das gibt’s nicht… Seit mehr als fünfzehn Jahren arbeite ich für den Staat, und jetzt nehmen Sie mich einfach mit? Als ob ich ein Niemand wäre? Als ob alles für gar nichts war?“
„Sie sind ein kleiner Fisch, mehr nicht, und das wissen Sie ganz genau. Führt ihn ab. Ich muss noch andere Leute über ihre neue Lage belehren. Das ist zum Beispiel meine Aufgabe als Regierungsbeamter, Russell. Keine Ahnung, was Ihre Aufgabe ist – oder war, besser gesagt.“
„Dann hoffe ich, dass man Sie auch bald abführen wird!“ Zwei Soldaten begannen damit, den sich stark wehrenden Vater festzuhalten. „Ja, Sie sollen auch rein! Das ist fair!“
„Oh…“ Der Anzugmann weitete seine graublauen Augen. „Für die Frechheit werde ich Sie an einen ganz besonderen Ort schicken!“ Er ging zu dem Soldaten mit dem ranghöchsten Abzeichen und flüsterte diesem etwas ins Ohr, ehe er sich wieder entfernte.
Russell hörte schließlich auf, sich zu wehren, wurde aus dem Zimmer geführt und blickte dabei noch ein letztes Mal auf seine zutiefst schockierte Familie: „Ich komm‘ wieder, das ist sicher! Ich liebe euch!“, rief er ihnen zu, bevor er komplett ins Stiegenhaus geschleppt wurde.
Die Militärs gingen nicht sorgfältig mit dem rebellischen Russell um, sondern schliffen ihn buchstäblich über die steinernen Treppen, bis sie irgendwann unten vor dem Haustor angelangt waren. Der Abgeführte sah jetzt, dass zahlreiche andere Männer und Frauen in einen großen, grünen Militärbus gezerrt wurden, teils gefesselt. Der eine Soldat, dem der Beamte vorher was ins Ohr geflüstert hatte, verpasste nun auch Russell eine Handschelle, aus Sicherheitsgründen, wie er sagte.
„He, was hat Ihnen der alte Mann denn gesagt wo ich hinkomme?“, fragte Russell diesen. „Sie müssens’s mir sagen! Bitte! Ich fleh‘ Sie an!“
„Mpf, soll ich dir das verraten?“, war dessen Antwort.
„Ja!“
„Nevada. Zehnter Turm. Joss Clarke wartet dort auf dich. Der Teufel höchstpersönlich. Wünsch‘ dir viel Spaß beim Sterben, du Arschloch!“
Nachdem der Bus fast vollgefüllt war, stießen die Militärpolizisten auch Russell ins Innere und verschlossen dann die beiden Hintertüren. Der Wagen fuhr ab.
Früher Abend. Ein lauwarmer Sommerregen trieb sein Unwesen in dieser verkommenen Stadt. Es schien fast so, als würde es ständig regnen, und die stets grauen Wolken schwanden auch nie, völlig egal, wie sehr man darauf hoffte. Patschnass an den Schuhen und der Hose marschierte er dennoch mit recht heiterer Stimmung und aufrechter Körperhaltung durch die dreckigen, elenden Straßen. Von Russell Quincy war die Rede, der vor drei Tagen seinen siebenunddreißigsten Geburtstag „gefeiert“ hatte und nun vom Rathaus unmittelbar zur Station des Gemeinschaftsbusses ging. Gelegentlich kam ihm ein kalter, unangenehmer Schauer über den Rücken, wenn er die ausgehungerten toten oder halbtoten Körper von Menschen oder Tieren am Straßenrand liegen sah, doch selbst an einen derartigen Anblick konnte man sich gewöhnen. Trotzdem lagen die Toten wie zu Cäsars Belagerung Alesias buchstäblich zu hunderten vor den Toren. Nun, in harten Zeiten wie diesen mussten sogar hochangesehene Regierungsbeamte wie er die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen – und der Begriff mussten ist in diesem Falle tatsächlich wortwörtlich gemeint, zumal der Staat seinen Bürgern bedingt durch den lange andauernden Konflikt die Gehälter eklatant gekürzt hatte. Denn durch die Verstaatlichung sämtlicher Betriebe und die faktische Abschaffung des Privaten konnte die Regierung gänzlich über Löhne entscheiden. Es gab lediglich Staatsarbeiter, wie es durch die Gesetzesverlautbarungen geschönt wurde, und Kämpfer, die an die vorderste Front geschickt wurden. Die Demokratischen Staaten von Amerika schickten Frauen, Männer und Jugendliche über sechzehn Jahren ins Getümmel, dabei keineswegs auf eine eventuelle Untauglichkeit achtend. Verzweifelte Taten in einer hoffnungslosen Auseinandersetzung, die nie hätte stattfinden dürfen. Einmal wöchentlich gab es in jedem Stadtkern, der noch unter ihrer Kontrolle war, eine Nahrungsausschüttung. Breitschultrige Militärpolizisten positionierten sich dort auf Wällen oder Podesten und warfen Brot, Flaschen, Räucherfleisch, Konservendosen, Medizin, pornographische Magazine, Groschenromane, Hetzschriften, Bandagen, Zigaretten und andere Sachen aus Kisten in die Menge unter ihnen. Die Menschen prügelten und schlugen sich teils zu Tode, um an ihre ureigenen Bedürfnisse zu kommen. Und überall – an Wänden, am Boden, auf Bildschirmen – sah man das typische Gesicht von Uncle Sam, der zu Propagandazwecken das Volk das erste Mal dazu aufrief, nicht gegen einen ausländischen Feind, sondern gegen einen Teil des eigenen Landes in den Krieg zu ziehen. Auch wenn man den allbekannten Aufforderungen dieser Plakate möglicherweise entnehmen konnte, dass der Einzug in den innerstaatlichen Konflikt gar auf freiwilliger Basis geschehen würde, war das in der Tat die Unwahrheit. Selbstverständlich wurden die Bürger und Bürgerinnen mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und sich in Transportbussen einzufinden, die sie zu den verschiedensten Schauplätzen des Mordens führen sollten.
Es stellt sich die Frage, was denn eigentlich geschehen war. Die Antwort dazu kann man im Wesentlichen nur so kurz wie möglich fassen, da die Gründe für die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft äußerst komplex und zahlreich sind. Trotzdem lässt sich im Großen und Ganzen sagen, dass das Volk erheblich unter der autoritär gewordenen Regierung der damals siebten Generation Trump gelitten hatte. Durch Intrigen, illegale Verfassungsänderungen, Bestechungen und anti-demokratische Aktionen schaffte man es, das Amtserbe wieder einzuführen und die Machtfülle des Präsidenten in großem Ausmaß auszuweiten. Im zehnten Jahr nach diesen radikalen Änderungen entstanden bereits die ersten Unruhen, die die Aufstände in Los Angeles 1992 und 1965 bei Weitem übertrafen. Die republikanische Partei wurde stets konservativer, nationalistischer und radikaler, und ging mit schärfsten Mitteln gegen die steigende Anzahl der Protestanten und Regimekritiker vor. Als in der zuvor erwähnten siebten Amtszeit schließlich der Vize-Präsident Jeffrey Pence einen mit aller Kraft zu führenden Nuklearkrieg gegen den verfeindeten Asiatischen Staatenbund ankündigte, brachen bürgerkriegsähnliche Zustände aus. Das Weiße Haus wurde schließlich von Aufständischen – die unter der Führung ehemaliger demokratischer und liberaler Politiker standen – besetzt, der amtierende Präsident Martin Trump hingerichtet und die Verfassung öffentlich verbrannt. Kurz danach taten sich die demokratischen Staaten und einige Swing-States wie Pennsylvania zu den Demokratischen Staaten von Amerika zusammen und erklärten ihre Loslösung von ihrem bisherigen Mutterland. Jeffrey Pence, der sich währenddessen im sicheren Camp David aufhielt, übernahm kurzerhand die Führung der Republikaner und integrierte alle roten Staaten schließlich in die Republikanisch-Konservativen Staaten. Nach einigen Tagen wurde der Bürgerkrieg offiziell erklärt und forderte binnen kürzester Zeit tausendfach Todesopfer.
Im Laufe der Zeit, nach Jahren des sinnentleerten Kämpfens, dem Rausschmiss der USA aus allen westlichen Handelsbündnissen und der daraus resultierenden Isolation, konnten die Republikaner Gebiet für Gebiet erobern und sichern. Statt wie geplant mit den Asiaten zu kämpfen, entschieden sie sich, als Ersatz für die Westmächte Handelsbeziehungen mit ihnen einzugehen, um den ständigen Nachschub an Ressourcen für den Krieg sicherzustellen. Da die Demokraten bedingt durch ihre geringe wirtschaftliche Stärke dieses Privilegium nicht genossen und die asiatischen Länder sie quasi ignorierten, schwand ihre Stärke schnell, bis sie nur mehr einige wenige Bundesstaaten an der Ostküste und das stark umkämpfte Kalifornien im Westen innehatten. Das führte dazu, dass der Wohlstand in den roten Staaten erheblich anstieg, in den blauen folglich aber drastisch sank. Und der Frust, die Verzweiflung und die Angst waren von den griesgrämigen Gesichtern der Bürger dieser Staaten abzulesen. Da half auch die halbherzige Propagandamaschinerie des selbsternannten „wahren“ Demokraten-Präsidenten Arthur Warrens nichts, der selbst immer mehr zum blutigen Diktator verkam, der seine Untertanen sinnlos in den Tod schickte, und das in einem Krieg, der längst verloren war.
Und nun befand sich Russell Quincy eingeengt in diesem ruckelnden Gefährt zwischen übel riechenden Arbeitern und deprimierten Hausfrauen. Als Staatsbeamter trug er als Einziger dieser Leute einen halbwegs eleganten, grauen Anzug und eine Aktentasche aus Leder, wenngleich er mit diesen Kleidungsstücken wohl kaum einen Modewettbewerb gewonnen hätte. Der Bus machte in der Nähe seiner winzigen Wohnung in einem der vielen Hochhäuser Halt und der großgewachsene, schwarzhaarige, frisch rasierte und recht attraktive Familienvater stieg aus, um über die endlosen Treppen zu seiner Frau und seinen Kindern zu gelangen. Vor fünfzig Jahren hätte er mit diesem Beruf ein kleines Vermögen verdienen können, doch heutzutage musste er sich mit dieser elenden Drei-Zimmer Wohnung zufrieden geben. Dabei war das noch im Vergleich zum Rest der Bevölkerung ein wahrer Luxus. Außerdem schützte ihn sein Beruf fürs Erste vor dem Einzug in den Krieg. Er konnte sich also getrost glücklich schätzen über sein weniger miserables Leben. Und dennoch – es kränkte ihn jedes Mal, wenn er daran dachte, wie gut es noch seine Ur-Ur-Ur-Großeltern hatten. Als er den fünften Stock erreichte, grüßte er den in prägnanten orangen Farben gekleideten Ordnungsmann, der mit einem prächtigen Knüppel ausgestattet war. Der Name von diesem war Paul. Ein ständig rauchender, ekelerregender Mann mit langem Bart und dickem Bauch. Trotzdem musste Paul da sein, im Haus. Immerhin wurde Untreue gegenüber dem Regime ebenso wie bei den Republikanern hart geahndet. Jedes dieser gigantischen Hochhäuser hatte also solche Wachmänner intus.
Russell öffnete die knirschende Tür seines Appartements, durchtrat sie und fand sich direkt in seinem engen Wohnzimmer wieder, das gleichzeitig als Schlafraum für seine beiden Töchter – Zoe und Rachel – diente. Seine brünette, schlanke und hübsche Ehefrau, Martha, las gerade irgendein von der Regierung erlaubtes Buch, während die jungen Kinder mit ihrem Spielzeug spielten. Russell legte den Aktenkoffer zur Seite, begrüßte seine Gattin mit einem Kuss und umarmte liebevoll seine Mädchen, ehe er sich im Schlafzimmer umzog. Die Wände hier waren von Schimmel befallen, das Bett an sich fleckig und der Boden hatte genügend Kratzer und Löcher zu bieten. Keine schöne Wohnung, die man in irgendeinem Prospekt für einen gewissen Preis anbieten würde. Selbst die Vorhänge waren teilweise zerrissen. Nachdem er sich seine Hauskleidung angezogen hatte, marschierte er wieder ins Wohnzimmer und setzte sich auf das alte Sofa.
Der mühselige Arbeitstag im Rathaus war zu Ende, und jetzt war es an der Zeit, die Frontnachrichten im Fernsehen zu schauen. Dass diese Berichterstattung in weiten Bereichen zu Zwecken der Propaganda verfälscht worden war, kümmerte ihn kaum. Das war ein Teil seines Berufs, für das Staatsfernsehen echte Kriegsberichte zu verfälschen und fiktive Siege zu formulieren und den Wahrheitsgehalt von diesen mit angeblichen Indizien zu verstärken.
„Du schaust dir diesen Blödsinn tatsächlich noch an?“, fragte ihn seine Frau, die sich zu ihm auf das Sofa gesellte, während die zwei Kinder immer noch lautstark spielten.
„Mhm, tja, ich will sehen, ob ich ganze Arbeit geleistet hab‘ oder nicht. Heute sind gleich vier Städte zerbombt worden von den Roten. Carson City, Reno, Fernley und Mesquite. Das hat’s noch nie gegeben – an einer Front vier Orte zerstört von den Schweinen! Dabei hat unser Heer mit dutzenden Verlusten diese vier Gegenden gerade noch einnehmen können, und die lassen einfach ihre Flieger los, egal, ob dabei ihre eigenen Typen draufgehen… Es ist dramatisch, ich sag’s dir… Nevada ist die reinste Hölle! Kalifornien ist unsre letzte Hochburg und deswegen schicken die von dort aus jeden, der aufrecht gehen kann, in diese Wüste rein. Aber ist ja klar, dass die ihr Gebiet nicht so einfach hergeben wollen…“, gab Russell als Antwort ab und wurde mit jedem Satz leiser.
Marthas Gesichtsausdruck war kein wirklich erfreuter: „Und… wie konntet ihr das bitte noch ausbessern? Schweigt ihr die Niederlagen einfach tot, oder wie? Und erfindet ihr da andere Siege?“, wollte sie wissen.
„So in etwa, ja. Das heute aber war ein richtig schwieriger Fall… Schließlich reden die Leute. Kein Volk kann so dumm sein und alles glauben, was die in den Medien zu hören kriegen. Du wirst es eh jeden Moment selbst im Fernsehen sehen. Die Niederlagen haben wir zwar teilweise eingestanden, aber dafür das Faktum erfunden, dass wir angeblich Unterstützung aus Kanada kriegen würden… Die Fassade muss aufrecht bleiben. Die Bürger sollen denken, wir würden durch viel Blut, Schweiß und Tränen am Ende doch noch gewinnen. Am meisten tun mir die Leid, die das wirklich glauben… Irgendwann wird er kommen, der Bombenschlag, und wir sind alle dahin. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das passieren wird.“
Der Fernseher indes startete die Frontnachrichten und es die Informationen wurden genauso geschildert, wie es Russell seiner Frau angekündigt hatte.
„Nun ja, Russell…“ Seine Gattin näherte sich ihm an und streichelte ihn am Kopf. „Wenigstens musst du durch deinen Job nicht in den Krieg! So musst du auch denken! Und die Kleinen geht’s gut und bei uns, das ist das Wichtigste! Wir haben’s besser als die meisten anderen! Oder würdest du gerne in diesen Viehställen leben wie die Staatsarbeiter?“
„Natürlich nicht. Und dass es uns – zumindest den Umständen entsprechend – gut geht, hab‘ ich nie bezweifelt.“
„Na also!“ Martha fuhr sich durch ihre langen, welligen Haare und dachte dabei kurz nach. „Was wohl Michael Wolf heute in seinen Pamphlets schreiben würde, wenn er noch leben und damals nicht ins Exil geschickt worden wäre?“
„Ich bin mir sicher, dass er sich nicht mal mehr mit seinen Demokraten-Freunden identifizieren könnte… Allein schon unser Bürgermeister ist ein machthungriger Bastard, dem jedes Mittel recht ist… Und der schimpft sich einen aufrichtigen Demokraten. Mpf, was für eine dreiste Lüge…“ Russell seufzte. „Hab‘ ich dir schon erzählt, was sich unsere Partei jetzt wieder für ein Spektakel ausgedacht hat?“ Er führte seine Augen vom Bildschirm weg zu denen seiner Gattin.
Sie wirkte überrascht: „Was denn?“
„Da gibt’s in der Nevada-Wüste, ziemlich in der Nähe vom Amargosa Valley, einen großen Beobachtungsturm. Turm Nummer Elf ist das. Dann gibt’s einen weiteren Turm, etwa zweihundert Meter weiter – Turm Nummer Zehn. Der ist noch ein bisschen höher als der andere. Das waren wahrscheinlich mal Außenposten oder so, jetzt sind sie jedenfalls verlassen. Die ganze Gegend dort ist vereinsamt. Und unsere Regierung plant dort eine unglaubliche Propagandaaktion zu drehen.“
„Stimmt das? Was planen die?“
„Du kennst ja diesen zwei Meter großen, muskulösen und glatzköpfigen Joss Clark, der fast jeden Abend im Fernsehen ausgestrahlt wird und sozusagen als der Beste Kämpfer der Republikaner bekannt ist, ne?“
„Huh? Du meinst den Scharfschützen, der angeblich eine ganze Truppe von unseren Soldaten im Alleingang von einem Berghang aus abgeschossen haben soll? Oder der auf sich gestellt mit einem Jagdflugzeug eine ganze Reihe von unseren Fliegern runtergebracht hat?“
Russell nickte: „Genau der. Seine unschöne Fratze kennt ja echt jeder. Was weiß ich, was die sich immer für Geschichten einfallen lassen… Er soll ja auch angeblich der wahre Drahtzieher hinter der ganzen republikanischen Regierung sein. Alles Unfug. Den Kerl gibt’s nicht mal. Ist ein Schauspieler, sogar mit echter militärischer Ausbildung. War mal ein Sergeant, soweit ich weiß. Und die Demokraten haben ihn über Jahre hinweg immer durch Falschberichte als den absoluten Bösewicht, den heimlichen Anführer der Roten dargestellt, nur um jetzt für einen Aufschrei zu sorgen.“
„Und der Aufschrei sieht wie aus?“
„Es ist eigentlich ganz simpel… Die setzen Clark – oder besser gesagt seinen Darsteller - jetzt in diesen elften Turm rein. Dann soll eine größere Gruppe aus Bürgern jeder Schicht als Krieger in den zehnten Turm platziert werden. Aus jeder Metropole ein Soldat zirka. Die angebliche Vorgeschichte wird sein, dass Clark einen unserer wichtigen Außenposten besetzt und alle dort befindlichen Soldaten alleine getötet haben soll. Nun soll er wie ein Irrer mit seinem Scharfschützengewehr von dort aus jeden abknallen, der sich dem Turm nähert. Der Auftrag soll sein, ihn zu erledigen. Wie das alles endet, ist offenkundig: Die Gruppe wird Clark irgendwann umbringen, egal wie. Es ist nur wichtig, dass es geschieht und einige von den ahnungslosen Bürgern überleben, um dann als zurückgekehrte Helden ihren Mitmenschen in den Städten zu berichten, wie sie den schlimmsten Feind unseres Landes besiegt haben! Clark muss sich nur töten lassen, darf aber nicht zu sanft mit denen umgehen, damit keiner skeptisch wird. Er wird also tatsächlich auf die Angreifer schießen. Alles muss authentisch bleiben. Aber dennoch, mit diesem Schritt will die Regierung die Moral der Bevölkerung enorm steigern und die durchgesickerte Information, dass Clark nichts als eine Inszenierung ist, soll damit als unwahr deklariert werden!“
„Das heißt, dass die losgeschickten Krieger wirklich selbst handeln und sich gegenseitig absprechen müssen?“
„Ja. Keiner von denen, nicht einmal der Kommandant, wird in den Plan eingeweiht sein. Nur Clark, der dann im anderen Turm hockt.“
„Hm, er opfert also sein Leben, stellt sich als Feind dar und will so seinem eigenen Land helfen? Als Märtyrer?“
„Martha, ich glaube nicht, dass der Darsteller von dem Typen eine Wahl gehabt hat. Die haben ihn gezwungen.“
„Das könnte sein…“
Und jedes Mal, wenn man sich in absoluter Sicherheit wiegt, geschieht etwas Unvorhersehbares. Das ist das System, nach dem das Schicksal arbeitet. Ein Knall ertönte. Es war die Haustür, die von dem staubigen Treppenhaus direkt in Russells Wohnung führte. Der Familienvater stand sofort auf, indes seine Frau wegen dem großen Schreck nur lautstark loskreischen konnte. Man konnte sehen, wie der Ordnungsmann Paul von vorher die Tür einigen großgewachsenen Militärpolizisten aufhielt. Russell stellte sich blitzschnell schützend vor seine beiden, am Boden spielenden Kinder. Jetzt konnte der Vater erkennen, dass es vier Armeeleute waren, die ihre Sturmgewehre über den Rücken gehängt hatten. Sie inspizierten die Wohnung nicht mal, sondern stellten sich nur demonstrativ gegenüber vom Familienvater hin. Einer der Männer trug keine Tarnkleidung, sondern einen billigen Anzug, der dem von Russell glich. Es war ein älterer Herr, Ende fünfzig vermutlich, der kaum mehr Haare und einige Falten im Gesicht hatte. Er sah nicht aus wie jemand, der im Dreck saß und Feinde aktiv bekämpfte. Nein, er erweckte mit seinen kalten, berechnenden Gesichtszügen eher den Eindruck eines reuelosen Schreibtischtäters, der nur Anweisungen an seine Untergeordneten gab.
„Was ist hier los? Was suchen Sie hier?“, schrie Russell diesen Anzugträger an, der sich deutlich vor die vier Militärpolizisten stellte. Martha wurde fürs Erste ignoriert. Sie saß mit bleichem Gesicht da und hatte den Mund wortwörtlich offen.
„Russell - Mr. Quincy -, Sie müssen verstehen, wir sind dazu angehalten, Sie mitzunehmen. Bitte tun Sie uns den Gefallen und wehren sich nicht. Die Männer führen Sie unverzüglich zu dem Transportwagen, der unten steht. Ich kann Sie beruhigen – Sie sind nicht der Einzige, der heute noch aus diesem Haus abgeholt wird.“ Die Stimme des alten Mannes klang angenehm, ruhig und war völlig frei von jeglichem Akzent. Aber sie hatte unstrittig etwas Teuflisches an sich, etwas Boshaftes.
Russell starrte den noch immer die Tür aufhaltenden Ordnungsmann Paul an: „Du hast sie reingelassen, Paul! Wieso nur?“ Die Augen des Familienvaters wurden langsam feuchter.
„Tut mir Leid, Mann… Du weißt ja, wie das läuft… Mir waren die Hände gebunden!“, rechtfertigte sich der dicke Ordner. „Was hätt‘ ich’n machen sollen? Sie aufhalten? Nein. Das geht nicht.“
Der halbkahle Herr räusperte sich und erhob wieder das Wort: „Würden Sie jetzt mitkommen bitte?“
Ein klares „Nein!“ warf ihm Russell entgegen. „Ich bin Regierungsbeamter! Es wurde mir zugesichert, dass weder ich noch meine Familie in den Krieg müssten! Wir sind ausgenommen davon!“, schrie er.
Seine Kinder, die hinter ihm saßen, weinten bereits. Offensichtlich bekamen sie halbwegs mit, was nun geschehen würde. Die Auffassungsgabe solcher Minderjähriger ist oftmals nicht zu unterschätzen; manches Mal kann man gar von einem natürlichen Gespür für Ungutes reden.
„Die Gesamtlage hat sich drastisch geändert. Wir brauchen jeden verfügbaren Mann am Ort. Auch Sie, Russell. Dafür bleibt die Familie hier im Haus – vorerst zumindest. Das haben Sie Ihrer eifrigen Arbeit für die Regierung zu verdanken!“
„Sie Schwein, Sie elendes! Ich lass‘ meine Familie nicht im Stich! Wer soll denn jetzt noch Geld oder Essen nach Hause bringen? Und wer soll sie vor Schlägern oder Vergewaltigern schützen? Ich muss hier bleiben! Verstehen Sie das doch!“
„Das ist keineswegs unser Problem. Kommen Sie endlich mit!“ Einer der Militärpolizisten näherte sich dem Mann gefährlich an.
Russell schüttelte den Kopf und ging resigniert in sich zusammen: „Das gibt’s nicht… Seit mehr als fünfzehn Jahren arbeite ich für den Staat, und jetzt nehmen Sie mich einfach mit? Als ob ich ein Niemand wäre? Als ob alles für gar nichts war?“
„Sie sind ein kleiner Fisch, mehr nicht, und das wissen Sie ganz genau. Führt ihn ab. Ich muss noch andere Leute über ihre neue Lage belehren. Das ist zum Beispiel meine Aufgabe als Regierungsbeamter, Russell. Keine Ahnung, was Ihre Aufgabe ist – oder war, besser gesagt.“
„Dann hoffe ich, dass man Sie auch bald abführen wird!“ Zwei Soldaten begannen damit, den sich stark wehrenden Vater festzuhalten. „Ja, Sie sollen auch rein! Das ist fair!“
„Oh…“ Der Anzugmann weitete seine graublauen Augen. „Für die Frechheit werde ich Sie an einen ganz besonderen Ort schicken!“ Er ging zu dem Soldaten mit dem ranghöchsten Abzeichen und flüsterte diesem etwas ins Ohr, ehe er sich wieder entfernte.
Russell hörte schließlich auf, sich zu wehren, wurde aus dem Zimmer geführt und blickte dabei noch ein letztes Mal auf seine zutiefst schockierte Familie: „Ich komm‘ wieder, das ist sicher! Ich liebe euch!“, rief er ihnen zu, bevor er komplett ins Stiegenhaus geschleppt wurde.
Die Militärs gingen nicht sorgfältig mit dem rebellischen Russell um, sondern schliffen ihn buchstäblich über die steinernen Treppen, bis sie irgendwann unten vor dem Haustor angelangt waren. Der Abgeführte sah jetzt, dass zahlreiche andere Männer und Frauen in einen großen, grünen Militärbus gezerrt wurden, teils gefesselt. Der eine Soldat, dem der Beamte vorher was ins Ohr geflüstert hatte, verpasste nun auch Russell eine Handschelle, aus Sicherheitsgründen, wie er sagte.
„He, was hat Ihnen der alte Mann denn gesagt wo ich hinkomme?“, fragte Russell diesen. „Sie müssens’s mir sagen! Bitte! Ich fleh‘ Sie an!“
„Mpf, soll ich dir das verraten?“, war dessen Antwort.
„Ja!“
„Nevada. Zehnter Turm. Joss Clarke wartet dort auf dich. Der Teufel höchstpersönlich. Wünsch‘ dir viel Spaß beim Sterben, du Arschloch!“
Nachdem der Bus fast vollgefüllt war, stießen die Militärpolizisten auch Russell ins Innere und verschlossen dann die beiden Hintertüren. Der Wagen fuhr ab.
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2019
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