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Kapitel 1: Bizarres

Gewiss ist es ein knappes Jahrzehnt her. So viel lässt mir mein mitgenommener, getrübter Verstand noch in Sachen Zeitgefühl zu. Die Gier, Abenteuerlust und Dummheit hat mich in dieses einsame Kapitel meines Lebens befördert. Keinesfalls will ich behaupten, dass das Schicksal, welches ich erleiden musste, ein einfaches oder leicht ertragbares ist, und ich will auch nicht so weit gehen, die These aufzustellen, dass man mir in irgendeiner Form neidisch sein könnte, aber ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass ich das, was ich gesehen, gehört und gefühlt habe auf Papier bringen muss. Nicht der Angeberei, der Vermarktung oder der Heroik halber tue ich mir das selbst an. Nein, viel mehr kann man das von mir Verfasste als ein Überbleibsel, als Fragmente der Erinnerungen meines jetzigen Ichs bezeichnen, die als eine Form des Vermächtnisses fungieren sollen. Viel ist passiert, viel Unnatürliches. Eine Vielzahl an Dingen, die man konkret und rational nicht erklären kann. Etliche Eindrücke haben sich in mein Gedächtnis gebrannt, die ein Mann des Alltags wohl nie sehen wird. Wenn auch nur ein einzelner Erdenbürger in den Besitz dieses Schriftstückes gelangen würde, so wäre ich dem sehr dankbar, falls dieser letztlich mein Wissen teilt, wenngleich sich unsere beiden Wege wohl nie kreuzen werden. Es ist eine Genugtuung, sollte jemand diesen Text je lesen können, denn dadurch wird das Verständnis leichter, was die Natur von Monumenten überdimensionaler Größe in höchstmystischen, versteckten Ortschaften, die von den groteskesten und unglaublichsten Entitäten bevölkert sind, angeht. Es war eine Reise in einen tiefen Abgrund der Unverständlichkeiten, dennoch bin ich bereit, diese Geschichte zu erzählen.

Wenn mir mein Vater in unserem wohlen Zuhause in South Dakota von dem Treiben der Deutschen Anfang der 30'er Jahre erzählte, hielt ich ehrlich gesagt relativ wenig davon. Ich war ein jugendlicher, ahnungsloser und von der unsrigen Propaganda geblendeter, kleiner Bengel, dem die Worte eines Kriegsveteranen des Ersten Weltkrieges quasi an den Ohren vorbeigingen. Für mich gab es damals nur den guten Roosevelt, Uncle Sam und die „Remember the 7th December“-Plakate, die an jedem Supermarkt oder andersartigem Geschäft aufgehängt worden waren und an Tojo Hidekis Himmelfahrtskommandos erinnern sollten. Man muss natürlich auch zugeben, dass unser Informationszugang allgemein sehr beschränkt war; gerade deshalb, weil sich die Nachrichten und Zeitungen kaum mit dem Faschismus in Europa zu jener dunklen Zeit beschäftigten. Wie hätte ein amerikanischer Bürger wie ich es war so viel von den grausamen Taten, die die Nationalsozialisten unter ihrem Diktator und dessen ausgeklügelter Propagandamaschinerie begingen, denn wissen können, könnte man fragen. Wie hätte ich wissen sollen, was Nazi-Größen wie Heydrich, Himmler, Eichmann, Kaltenbrunner, Seys-Inquart, Göring oder wie sie auch alle hießen gegen ihr eigenes Volk unternommen hatten? Nun, mein geliebter Vater war kein einfacher Schütze im ersten weltweiten bewaffneten Konflikt gewesen. Er war ranghoher Offizier des amerikanischen Geheimdienstes, der zu alt für die Army geworden war. Doch jemand, der noch immer mit den alten Hasen und oberen Tieren der Regierung des Öfteren gemeinsam am Tisch saß und teuren Wein trank, der besaß Informationen. Vater wusste genau, was sie taten, wie sie vorgingen, welche teuflischen Pläne sie schmiedeten und was die Staaten von einem Eingriff in den bevorstehenden Krieg in Europa hielten. Sehr oft erwähnte er auch die okkulten, geheimnisvollen und bizarren Unterfangen, die die Schutzstaffel und andere mörderische Verbände angeblich betrieben, um den germanischen Kult ihrerseits global auszuweiten und endgültig in die Geschichte einzumeißeln. Ich tat all dies als sinnentleertes Geschwätz eines senilen, alten Mannes ab, der allmählich paranoid, gar abergläubisch geworden war.

Einige Jahre später aber bewahrheiteten sich seine Bedenken und Ankündigungen. Mit der Kriegserklärung an Nazi-Deutschland wurde ich durch einige Kontakte unserer Familie erfolgreich in die Airbourne einberufen, den Fallschirmjägerregiment. Ich wurde erst zu einem sehr späten Zeitpunkt des Krieges in die Armee eingegliedert, nämlich Ende '44. Nach einer mehrwöchigen harten Ausbildungsphase wurde ich mit vielen Kameraden über der Normandie abgesetzt. Wir hielten uns nicht lange dort auf und kamen direkt nach Holland und über Holland zu den Ardennen, wo ich für viele Wochen sah, was Krieg wirklich bedeutete. An dieser Stelle muss ich aber loswerden, dass ich im Vergleich mit vielen anderen Soldaten sehr viel Glück hatte – den D-Day verpasste ich, Operation Market Garden auch, die blutigsten Schlachten blieben mir erspart und ich stand die Monate bis zur Kapitulation Deutschlands ohne eine einzige Verwundung durch. Zwar sah ich viele Kameraden, Feinde und Zivilisten sterben und die Zeit war sicherlich nicht angenehm, aber es war tragbar. Mein älterer Bruder hatte mehr Pech; er verlor einen Arm in Palermo, Italien, als er Anfang '44 einrückte. Er wurde zwar früher nach Hause bestellt, konnte aber nie mehr seinen alten Lebensstil leben. Als ich selbst wieder zuhause ankam, war mein alter Vater verstorben. Sie meinten, es wäre ein Schlaganfall gewesen – ein Gefäß in seinem Hirn platzte angeblich ganz spontan von einer Nacht auf die Andere. Es war eine schreckliche Zeit, viel schrecklicher als der Krieg, den ich erlebt hatte. Meinen verkrüppelten Bruder und meine über den Tod Vaters weinende Mutter zu erblicken war hart. Man traf selbst kerngesund zuhause ein, aber erkannte, dass man doch viel zu lange weg war. Dinge änderten sich. Umstände änderten sich. Nichts war mehr wie früher.

Eines Tages, vier Jahre nach der Beisetzung Vaters, standen uniformierte, breitschultrige, angsteinflößende, respektvolle Männer der Militärpolizei vor unserer Tür. Ich war inzwischen dreiundzwanzig Jahre alt. Die drei kräftigen Kerle meinten, dass sie alle militärischen Gegenstände und Besitztümer, die mein Erzeuger Zeit seines Lebens angesammelt hatte, konfiszieren müssten, da diese Objekte wieder in die Obhut der Army übergehen würden. Sie sagten mir und Mutter, dass die besagten Sachen innerhalb von vier Werktagen der nächsten Dienststelle zu überbringen seien, ansonsten drohe eine etwaige Durchsuchung des kompletten Hauses. Am selben Nachmittag teilte mir meine Mutter mit, dass ich diese Arbeit zu erledigen hätte – sie selbst konnte es nicht ertragen, Dokumente, Orden, Pistolen, Uniformen, Abzeichen, Stiefel und so weiter zusammenzusammeln, da diese sie zu sehr an sein Schaffen als Offizier erinnern würden. Nun denn, die Medaillen und Kleider hatte ich schnell beisammen und in eine Holzkiste gepackt, aber die vielen Dokumente und Papiere, die mein Vater stets in einer verschließbaren Truhe versteckt hielt, die waren mühsam zu finden. Ich wusste, wo die Kiste war – sie stand in einem Hohlraum hinter einem Gemälde – und ich wusste auch ungefähr, wo sich der Schlüssel zu dieser befand. Vater trug stets einen Schlüsselbund mit sich, wo sich um die zwanzig verschiedenen Schlüssel befanden, und ich musste nur durchprobieren, bis einer passen würde. Das tat ich auch, und irgendwann konnte ich das Teil mit einem davon aufkriegen. Was ich sah, als ich meinen Kopf über die Kante der Truhe beugte, war ein richtig unschöner Stapel an Blättern, die mit einer Schnur lieblos zusammengebunden waren. Ich nahm den gesamten Inhalt dieser Kiste mit mir und breitete jedes einzelne Papier auf meinem Schreibtisch und Bett aus. Es interessierte mich sehr, was mein Elternteil in seiner Zeit als Geheimdienst-Offizier so dokumentierte. Allgemein war ich ein sehr, sehr neugieriger Mensch geworden, seit er tot war. Wenn eine gewisse Sache mein Interesse weckte, so konnte mich meine Kraft der Welt aufhalten, dem Ding auf den Grund zu gehen, selbst wenn mich meine Fährte bis in die dunkelsten Ecken der Hölle führt. Es war wie eine Sucht, ein Verlangen nach der Wahrheit. In meiner Jugend war ich viel zu desinteressiert, zu faul, zu ahnungslos. Nie wieder wollte ich unwissend sein. Nein, das wollte und konnte ich mir nicht antun. Hätte ich bloß gewusst, dass es oftmals besser ist, sein gesamtes Leben lang in absoluter Finsternis zu tappen, als über die tiefsten Abgründe der Menschlichkeit Bescheid zu wissen.

Wie dem auch sei, wenn ich einem fremden Mann sagen würde, ich hätte beim Durchsuchen der dutzenden, dutzenden Akten einen mysteriösen Hinweis auf den Verbleib einiger vermeintlicher  Goldreserven der nationalsozialistischen Prominenz im Nordwesten Russlands, genauer neben Mezhdurechye in der Nähe von Murmansk, gefunden, so würde mich jener Genosse für einen schwindligen Gaukler halten, der womöglich so ominös wie sein ungestutztes Haupthaar wäre. Dieses Faktum war mir bewusst, als ich dieses eine, mit Kaffeeflecken gezierte Blatt sah, das in Sepia gehalten war und viele Risse aufzuweisen hatte. Ein Jeder hätte mich entweder für einen geschickten Fälscher oder einen simplen Wahnsinnigen gehalten, hätte ich ihm dieses Dokument gezeigt – selbst meine nahestehenden Freunde. Alle außer einer, Kenneth P.B. Bloom. Ein Kamerad aus dem Krieg, mit dem ich in Foy gemeinsam in dreckigen Schützengräben gehockt bin. Der Kerl war zwei Jahre älter als ich, blond, athletisch groß – und vor allem war er ähnlich wissbegierig wie ich, mit der kleinen Ausnahme, dass er in New Hampshire einen winzigen Laden besaß, der sich mit allerhand abergläubischem Kram auseinandersetzte. Er war ein Sammler alter, mystischer Landkarten, codierter Bücher, bizarrer Zeichen und weltfremden Skulpturen nebulöser Vodoo-Kreise. Da es nicht nur in Amerika eine gigantische Anzahl derartiger Spinner gab, konnte er von dem Tauschgeschäft, welches er in dem Handel betrieb, relativ gut leben. Selbst im Krieg faselte er ständig über die Runen eines alten Hexer-Kults, der sich laut ihm noch in den Weiten von Kaliforniens Wäldern herumtreiben sollte und angeblich menschliche Körperteile zur Genüge verzehre.

Das Dokument, welches ich vor meinen Augen hielt, zeigte nämlich einige Zeilen willkürlich angeordnete Zeichen, die scheinbar eine Art Code darstellten. Mittig von dem einzelnen Blatt sah man eine verzerrte, unscharfe Momentaufnahme einer Bohrung inmitten einer kargen, öden Gegend, die dem Bild dieses Teiles von Russland sehr entsprechen würde. Darunter befand sich ein weiterer, kleiner Text, der wie folgt lautete: Fund als wahrscheinlich gemeldet. Quelle ist ein Datenarchiv der deutschen SS-Totenkopfstandarte Kirkenes unter SS-Obersturmbannführer Reitz. Objekt wird als mehrerer hundert Quadratmeter Oberfläche messender Bohrungsturm beschrieben, unter dem eine bis zu mehreren Kilometern tiefgehende Bohrung stattgefunden haben soll. Laut den Berichten zweier unserer Mittelsmänner soll sich dort neben vielen Kunstwerken eine große Anzahl an entwendetem oder geschmolzenem Gold der Deutschen befinden. Objekt an sich wird als gefährdet eingestuft, Glaubwürdigkeit des Berichts bleibt weiterhin zweifelhaft. Keine offizielle Bestätigung der Umstände. Datum: 21.04.1940, South Dakota. Gezeichnet: Peter F.M. Cromwell.

Es brauchte nicht einmal drei volle Tage, da war ich der nicht in Worte zu fassenden Neugier wegen bereits per Zug auf den Weg zu meinem alten Freund Kenneth und dessen kleinen Laden in der Berkeley Street Nummer Fünfundzwanzig inmitten der großartigen Stadt Manchester. Ich schlenderte im lauwarmen Sommerregen des Augusts mit meinem bereits hochgekrempelten Regelmantel und mit einem ausgeweiteten Schirm in der rechten Hand haltend durch die Straßen jener Straße, indes die Passanten mit ihren griesgrämigen Gesichtern und niedergeschlagenen Mienen an mir vorbeigingen. Irgendwann erreichte ich die von mir als Ziel angestrebte Nummer Fünfundzwanzig; es war ein Handel, über dessen Eingangstür ein Schild stand, von welchem man „Kenneth's Finest" ablesen konnte und der ein großes Fenster besaß, durch das man neugierige Blicke in das Interieur warf. Durch jene Glasscheibe sah ich mehrere Theken, Kästen und Läden, auf denen seltsame Sachen, Figuren, Kerzen, Pfeile, Ritualsmesser, Papiere, eingravierte Eisenteile, Holzpuppen, Kräuter, Karten, Antiquitäten, Schmuckstücke, Luxusklunker, Steinskulpturen, Technikgeräte, Fotos, Bücher und dubiose Ratgeber verschieden verteilt und mit den jeweiligen Preisschildern lagen. Auch konnte ich Kenneth selbst sehen, als ich noch immer patschnass im Freien stand. Er hatte sich hingehockt und schmückte gerade eine der vielen Theken mit weiteren komischen Gegenständen. Das blonde Haar blieb ihm, ebenso wie seine dünne, aber athletische Erscheinung. Lediglich sein Bart war stark gewachsen – er sah deutlich älter aus.

Nachdem ich die schwere Türe jenes Ladens durchtrat, begrüßte mich mein alter Weggefährte alsbald mit einer großartigen Umarmung während er meinen Namen laut ausrief. Er schien sich in der Tat sehr darüber zu freuen, einen ehemaligen Kameraden der Schlachtfelder wiederzusehen, und mich freute es auch, weshalb ich ihn mich so viel umarmen ließ, wie er wollte. Natürlich muss ich an dieser Stelle zugeben, dass ich zwar höchsterfreut darüber war, dass er mich so wohlwollend aufnahm, ich aber im Hinterkopf dennoch den praktischen Nutzen dieses Treffens in Erinnerung behielt. Keiner hätte mir mehr geglaubt als Kenneth und auch hätte mich keiner für wirres Geschwätz weniger verurteilt als er. Diese Charakteristika schätzte ich an ihm sehr. Wir führten zu allererst eine lange andauernde Unterhaltung über unser bisheriges Leben nach dem Krieg, wie wir in der Zivilisation zurechtkamen, an was wir uns am meisten von der erlebten Zeit erinnerten und, und, und. Dafür bot mir Kenneth einen türkischen Kaffee und einen Sitzplatz auf einem kleinen Esstisch hinter der Theke an – zu dieser Tageszeit kamen kaum Besucher, die uns eventuell bei unserer Konversation gestört hätten. Wie auch immer, irgendwann kam ich auf das besagte Dokument zu sprechen, das ich von Vater in Besitz gebracht hatte. Das merkwürdige, dreckige Sepia-Blatt, das einen Bohrturm und andere kuriose Sätze beherbergte. Ich überreichte es ihm und der neugierige Kenneth bekam sofort große Augen, als er es sich hastig durchlas. Für einige, wenige Minuten war Schweigen eingekehrt – es schien, als müsste sich der Herr bei seiner Lektüre extrem konzentrieren, was auch letztlich der Fall war, denn er erkannte schleunigst, dass die codierten Zeilen Teil einer Geheimschrift waren, von der er Bescheid wusste. Nach dieser kurzen Sprechpause fing er damit an, ein Papier und einen Kugelschreiber zu zücken und etwas aufzuschreiben. Er brauchte ein wenig, aber bald war er fertig und gab mir dieses Papierstück. Darauf zu sehen waren Koordinaten. Das muss es gewesen sein, was mein Vater codiert hatte. Ich fragte Kenneth, wie er denn so schnell eine Geheimschrift entschlüsseln konnte, und er antwortete mir, dass er seit Kriegsende genug Zeit hatte, sich mit Kryptographie zu beschäftigen. Manche Verschlüsselungsverfahren seien im Kopf zu lösen, meinte er, und dazu zählte auch die Methode, die Vater offenbar benutzt hatte. Wenig später nahmen wir uns eine Weltkarte, breiteten diese auf einer größeren Tischfläche aus und ermittelten den genauen Standort, den die Koordinaten aufzeigten.

Wie bereits zuvor gesagt, fanden wir im Zuge unserer Recherche den Ort Mezhdurechye bei Murmansk, im Nordwesten Russlands. Eine kalte, unschöne, karge, wenig fruchtbare Gegend, die kaum bevölkert wurde. Wie man aus dem Dokument entnehmen konnte, hatten die Deutschen bei ihrem Vorstoß nach Russland Anfang der Vierziger-Jahre auch zahlreiche Bohrungen in diesen Gegenden unternommen. Überwiegend des Öls wegen, wie wir durch andere Bücher in Kenneths hauseigener Bibliothek in Erfahrung bringen konnten. Aber als sich zeigte, dass der Angriffskrieg zum Scheitern verurteilt war, so nutzten große Teile der nationalsozialistischen Führungsriege jene tiefen Löcher, um in diesen Tiefen ihre gestohlenen Wertgegenstände und kostbaren Materialien zu verstecken, da man oftmals kleinräumige Bunker innerhalb dieser Bohrungen errichtete. Auch das fanden wir heraus, indem wir einige gesammelte Botschaften von ehemaligen Geheimdienst-Leuten der US-Army lasen. Kenneth kam über verschiedene Händler der Szene in Berührung mit diesen Papieren, die ähnlich wie die meines Vaters waren. Oft handelte es sich um die Überbleibsel getöteter Spione während dem zweiten Weltkrieg, die gefunden wurden, indem wissbegierige Zivilisten oder Soldaten deren Leichname durchsucht hatten.

Ich blieb mit meinen mitgenommenen Siebensachen gleich die ganze Woche bei Kenneth, und bald schon stand fest, dass wir uns zu zweit auf die Suche nach diesem Bohrturm machen würden. Dazu mussten wir nur über den Atlantik gelangen, was sich zu der damaligen Zeit als sehr kostspieliges und umständliches Vorhaben herausstellte. Wir durchforsteten Zeitungsartikel, riefen bei Reedereien oder Schifffahrtsgesellschaften an, fragten bei Häfen nach, doch wurden nicht fündig. Es dauerte eine weitere Woche, bis sich ein einzelner Seemann, den wir durch eine Anzeige in einer Zeitschrift gefunden hatten, dazu bereit erklärte, uns zwei Interessierte in diese weit entfernte Gegend zu befördern. Wir telefonierten des Öfteren mit diesem Seefahrer, der sich als Charlton Erland vorstellte und von sich selbst behauptete, zu Kriegszeiten ein verwegener Leutnant zur See gewesen zu sein. Da er in den Häfen New Yorks aufwuchs, unternahm er bereits im jungen Alter zahlreiche Schiffsfahrten. Er meinte am Telefon, dass ihn das Erkunden unbekannter und gefährlicher Gewässer immer schon fasziniert und dass er schon des Öfteren seltsame Persönlichkeiten zu beliebigen Orten rund um den Globus gebracht hätte. Er behauptete von sich, bereits mörderische Fahrten nach Sri Lanka, Madagaskar, Palau, Yuk, Lucira, Santa Cruz, Barentsburg und zur Antarktis gemacht zu haben. Außerdem verlangte der Kerl jeweils nur dreitausend Dollar für diese Irrfahrt. Man konnte sicherlich behaupten, dass keine andere Reisegesellschaft oder eine Privatperson so wenig Geld für eine so lange Reise forderte. Es war ein wahres Schnäppchen, das wir mit Chartlon Erland gefunden hatten, und wir mutmaßten, dass für ihn wohl das zu erlebende Abenteuer die vermeintliche Bezahlung sein würde. Hätte der Seemann bloß gewusst, was ihn erwartete.

Noch eine Woche und zwei Tage verstrichen, bis wir in den Docks von New York eintrafen, mit einem großen Teil unseres Hab und Guts, und Charlton mitsamt seiner sechsköpfigen Crew erspähten. An unserem Treffpunkt – einer der Anlegestellen für einen kleinen Dampfer – sahen wir Charlton zum ersten Mal persönlich. Und es stellte uns die Haare auf, als wir das taten: Der Mann war in seinen späten Vierzigern, hatte schon teils graues Haar, einen langen Bart, Augenringe, eine braungebrannte Haut, blaugraue Augen, löchrige Lippen, einen recht muskulösen, großgewachsenen Körperbau und eine ernste, verwegene Miene. Er sah aus wie der Abenteurer, den man in diversen Hollywood-Filmen betrachten konnte. Zudem hatte er sich seine weiße Kapitänsmütze aufgesetzt und den langen Seemanns-Mantel angelegt. Die Mitglieder seiner Crew sahen nicht weniger arg aus: Ein schwarzer Muskelmann, ein glatzköpfiger, kleiner Pole, eine mäßig aussehende Dame, die aber kräftig genug wirkte, ein rothaariger, dickerer Ire, ein älterer Herr mit langen Haaren und ein rothäutiger, bartloser und extrem großer Indianer. Kapitän Charlton sagte uns, dass seine Mannschafft extrem geübt sei und dass sie anfangs noch ganze zwanzig Leute waren, von denen jedoch nur mehr sie überblieben. Als Kenneth fragte, ob diese Mitglieder denn einen anderen Job gefunden hätten und deswegen ausschieden, lachte Charlton laut und teuflisch und zeigte dabei erstmals seine gelben Zähne. Er lachte zu Ende und erzählte dann meinem Freund, dass all diese Menschen auf den dutzenden Fahrten gestorben wären. Ertrinken, Durst, Hunger, Unfälle, Tierangriffe... Alles Mögliche sei dabei gewesen, meinte er. Die Verwegenheit konnte man dem werten Herrn am Gesicht ablesen; die vielen Narben sprachen mehr als tausend klar verständliche Worte und bezeugten die abenteuerreiche Geschichte des Seemanns. Einer bestimmten, ganz besonderen Gattung Mensch gehörte er an – Genossen, die selbst nach fünfzig erschöpfenden Jahren auf stürmischer See, in dunklen, gefährlichen Wäldern oder auf den Gipfeln lebensbedrohlicher Berge nicht einmal annähernd genug hätten und die verstrichene Zeit an derartigen Ortschaften nur als Genuss betrachteten. Hätte dieser Narr nur gewusst, auf was er sich eingelassen hätte, dann wäre er umgehend umgekehrt und geradewegs ins sichere Zuhause gelaufen - um sein verfluchtes Überleben gelaufen.

Unsere Taschen mit Jacken, Hosen, Socken, Pullovern, Decken, Zahnbürsten, Rasierzeug, Nagelscheren, Schuhen, Hauben, Nahrungsrationen, Medikamenten, Papieren, Reisedokumenten, Karten, Trinkflaschen und Handschuhen lagerten wir in das untere Deck des kleinen Dampfers, auf den um die zehn Personen gepasst hätten. Zusammen waren wir neun, also reichte es gerade noch für genügend Schlafplätze. Das Schiffsmodell war ein sehr altes, rostiges, vom Zahn der Zeit mitgenommenes Teil aus dem Zweiten Weltkrieg. Es schien einst ein Begleitboot oder etwas in der Art gewesen zu sein. Nach einigen Routenbesprechungen, der Bezahlung und anderen bürokratischen Angelegenheiten lief das Schiff endlich aus dem Hafen aus. Unsere Reise nahm ihren Anfang. Die Wolken waren trüb, es war früh morgens, die Sonne war noch nicht zur Gänze aufgegangen und ein dichter, beängstigender, verschlingender, prächtiger Nebel machte sich über der gesamten Meeresoberfläche breit.

Stunden brauchte es, bis wir vom New Yorker Hafen weg waren, Tage brauchte es, bis wir uns im richtigen Ozean befanden und eine ganze Woche brauchte es, bis wir inmitten des Atlantiks vor uns hinvegetierten und auf dem Deck ungeduldig auf die Ankunft in Russland warteten. Charlton hatte des Öfteren gemeint, dass es einen Kanal nördlich von Murmansk gäbe, an dem man andocken könnte. Genug Treibstoff hatte der Schwarze, dessen Name Tomaa lautete, zusammengesammelt und in Form von zwölf großen Kanistern als Reserve ins untere Deck am Heck platziert. Der große, glatzköpfige, starke, muskulöse Afroamerikaner sprach unsere Sprache nur sehr gebrochen, doch man konnte den Kerl trotz Allem relativ mühelos verstehen. Die unschöne Frau, die Elra hieß, hatte so kräftige Arme, dass sie den Anker beinahe selbst hätte ziehen können. Die eine Woche, die wir nun unterwegs waren, unterhielten wir uns nicht allzu viel mit den ganz suspekten Persönlichkeiten. Lediglich mit Charlton und dem Iren Benjamin konnte man halbwegs normal reden, alle anderen verstanden entweder unsere Sprache nicht oder waren im Allgemeinen unsympathische, abweisende Einzelgänger, die nur des wenigen Geldes wegen ihr Dasein auf einem elenden, schwimmenden Wrack wie diesem hier fristeten, weil sie nichts anderes als das konnten. Benjamin war nicht nur mir ein Rätsel, denn dieser Mann wirkte gebildet, kulturinteressiert, war belesen, kannte sich in den diversesten Wissenschaften aus und drückte sich äußerst kultiviert aus, was uns sehr verwunderte. Er zeigte reges Interesse an Kenneths Besitzstücken, unserem Vorhaben und der Mystik an sich. Stundenlang unterhielten sich Kenneth und er. Warum in aller Welt sollte ein solch intellektueller Kerl auf so einem Schiff verweilen? Das war eine Frage, die definitiv noch offen war.

Der Älteste am Deck, der mit langen, grauen Haaren bestückte Bartträger namens Eric Groomfield zuckte immer wieder sinnlos und unergründlich mit seinen Schultern und Fingern, auch blinzelte er insbesondere mit seinem rechten Auge in Abständen von jeweils drei Sekunden. Der Herr war zwar alt und gezeichnet, aber noch in recht guter körperlicher Verfassung und übernahm den Steuerraum. Trotz Allem war er ein äußerst unfreundlicher, stiller, nervöser und komischer Kamerad gewesen. Ich mochte ihn nicht; ich mochte auch Tomaa, Elra, den namenlosen Polen und den Indianer nicht. Den Namen des Indianers kannten sie ebenfalls nicht, die Anderen nannten ihn nur abwertend Cherokee, was wohl von seiner Abstammung rührte.

Kapitel 2: Stürmische See

Ewig zog sich die Reise zu unserem Bestimmungsort schon. Über das Europäische Nordmeer waren wir bereits gekommen, womit wir uns bereits inmitten der Barentssee befanden. Ein Sturm auf hoher See war unlängst aufgekommen, und dieser war heftiger als ich es mir in meiner Fantasie je hätte erdenken können. Gigantische Wirbelstürme, die sich zu unseren Gunsten zu weit weg befanden, als dass sie uns hätten verschlingen können. Trotzdem regnete und gewitterte es auf eine sehr heftige Weise; selbst die Wellen waren viel zu ungleichmäßig und hoch. Während dieser langen Prozedur des Seegewitters schwankte unser Schiff so stark, dass die Seekrankheit bei manch einem bald einsetzte. Kenneth war der Erste, der nachgeben musste und seinen Mageninhalt in das tiefe Meer entleerte. Ihm folgte die unschöne Dame Elra und auch ich konnte dem Brechreiz nicht lange standhalten. Es war für Männer des Festlandes kein leicht zu bewältigender Ort und es brauchte jahrelange Gewöhnung, um unter solchen Umständen keine Seekrankheit zu bekommen. Charlton indes lief mit seinem schützenden Regenmantel auf dem komplett nassen, sich ständig hebenden und senkenden Oberdeck herum und schien irgendetwas aus der Ferne zu beobachten. Ich lernte den Kapitän in diesen Wochen etwas besser kennen und konnte deswegen darauf spekulieren, dass irgendetwas Besonderes in sein Blickfeld gekommen sein muss, das ihn festhielt. Keiner von uns hätte sich bei dieser Witterung jemals ins Freie getraut, aus reiner Furcht, man würde in das eiskalte, beißende Wasser fallen und elendig ertrinken oder erfrieren. Doch für Charlton war diese nichtig; sie war nonexistent für ihn. Keine Angst, keine Bedenken, keine Regung, keine Emotion zeigte er, als er selbstbewusst auf dem Deck auf und ab ging, als würde ihn der Sturm nicht im Ansatz kümmern, was wohl auch der Fall war.

Minute für Minute kämpfte ich mit mir selbst. Die Neugier hatte es erneut geschafft, mich in ihre grässlichen und gefährlichen Griffe zu kriegen. Ich fragte mich ständig selbst, ob ich denn nicht einfach nach draußen zu Charlton gehen und von ihm den Grund seines gebannten Starrens in Erfahrung bringen sollte. Einerseits fürchtete ich mich vor dem Sturm und dem Abstürzen ins Wasser, andererseits wollte ich unbedingt wissen, was der Herr gesehen hatte. Also legte ich sehr zur Überraschung der anderen ebenfalls mein Regengewand bestehend aus Mantel, hohen Stiefeln, Stoffhose, Kapuze und Handschuhen an, durchtrat die Tür des Steuerraums und ging vorsichtig auf den Kapitän zu, dabei darauf achtend, nicht vom Schiff zu fallen.

Irgendwann hatte ich es geschafft, ihn zu erreichen, auch wenn es gefühlte Ewigkeiten dauerte. Er stand ganz am Bug des Schiffes und umklammerte mit seinen Händen das Geländer. Der Blick wich immer noch nicht. Er erschrak kurz, als er mein plötzliches Erscheinen bemerkte. Noch nie hatte ich Charlton nervös erlebt, aber nun schien er es definitiv zu sein. Ich fragte diskret, was es denn gewesen wäre, was er gesehen hatte, und er sagte zu mir, dass er zum einen die Küste Russlands ausmachen konnte. Dies bedeutete, dass wir immer näher an unserem Ziel angelangt waren. Aber er sagte mir auch, dass er in all den Jahren, die er schon auf hoher See verbracht hatte, nie Angst verspürte. Außer jetzt. Er erzählte mir, dass er mehrere hundert Meter vor unserem Schiff eine Kreatur sah, die ähnlich wie ein Delfin unglaublich hoch aus dem Wasser sprang und im Anschluss wieder eintauchte. Nur war dieses Tier offenbar gewaltiger als ein Pottwal, erreichte eine Sprunghöhe von fast fünfzig Metern und ähnelte keinem bekannten Meerestier. Es hatte laut Charltons Aussage nach eine grünliche Hautfarbe, wies tausende Hörner und Augen auf, besaß einen gewaltigen Mund, der voll mit gefährlichen Beißzähnen gewesen ist. Darüber hinaus schien das Ding keine Flossen oder Ähnliches zu besitzen, sondern riesige Treter und Arme wie die einer Echse oder eines sonstigen Reptils. Charlton versicherte mir, es stamme unter Garantie aus einer anderen Welt, und der Kapitän war alles, nur kein abergläubischer Mensch. 

Als ich nach einem kurzen Gespräch zusammen mit ihm zurück ins Unterdeck zu den Kajüten marschierte, sahen wir dort angekommen die Anderen, wie sie im Kreis um einen am Boden Liegenden standen. Verwundert über diesen plötzlichen Umstand näherten wir uns direkt an. Dass es nichts Gutes war, das konnten wir erahnen, ja. Auch dass es erst kürzlich passiert sein musste, das war uns ebenfalls bewusst. Und als wir den Kreis an schaulustigen Stehenden durchbrachen, erkannten wir, auf was sie da alle tatenlos herabblickten – es war der leblose Körper Benjamins. Er lag am Boden neben seiner Kajüte, blutverschmiert und vollkommen blass im Gesicht. Der Ire hatte sich die Pulsadern erfolgreich und in Längsseite mit einem scharfen Rasiermesser aufgeschnitten. Der Tod schien erst vor einiger Zeit eingetreten zu sein. Ein leicht erkennbarer Suizid. Noch auf seinem Bett und um seinen Leichnam verteilt lagen merkwürdige Schriften in geheimer Sprache und abstruse Zeichnungen einer weltfremden Erscheinung, die Ähnlichkeit mit der von Charlton beschriebenen Figur hatte. Ich war entsetzt, ebenso die anderen und allen voran der Kapitän selbst. Ihn schien der plötzliche, unangekündigte und überraschende Tod seines langjährigen Gefährten sehr mitzunehmen, was mehr als verständlich war. Immerhin war das harte Äußere unseres Kapitäns nur eine fragile Fassade, die jederzeit zu Fall gehen konnte.

Als man seine Leiche bereits zugedeckt in einen anderen Raum getragen hatte, war ich so dreist und hob ungesehen einige der Papiere auf, der Neugierde halber. Was hätte man bei der Verwerflichkeit, die in mir schlummerte, sonst erwartet? Mysteriöse Tode hinterlassen Fragen. Ich wollte dem doch nur auf den Grund gehen. Wer hätte mich dafür verurteilen können? Die Geheimschriften konnte ich selbst nicht entschlüsseln; dazu hätte ich wohl Kenneth gebraucht, doch auch den hatte ich nicht vor zu stören. Vor allem nicht nach dieser Tragödie. Einer der Zettel fiel mir besonders ins Auge, da er zwar in einer äußerst hässlichen Handschrift verfasst, jedoch keine Geheimsprache war.

Agartha ist unfern. Das wundersame Land ist näher als sonst. Hier gibt es viele Öffnungen zur Außenwelt. Verflucht sei das, was aus Agartha zu unserer Welt kommt. Hütet euch. Lauft weg. Flieht, solange ihr noch könnt. Ich habe sie gesehen. Gestern Nacht, als alle geschlafen hatten. Sie haben mit mir gesprochen, mir gedroht. Gott hat uns verlassen. Es gibt kein Entkommen mehr, wenn ihr dort seid, genau wie es für mich keines mehr gibt.

Bewusst zeigte ich keinem meiner Kameraden dieses halb-zerrissene Blatt Papier. Keiner hätte mir Glauben geschenkt, das war offenkundig. Wahrscheinlich hätten sie mich der Fälschung bezichtigt, um Angst unter den Schiffkameraden zu stiften. Darüber hinaus wollte ich auch nicht, dass jemand anders davon erfährt. Was ist ein Geheimnis, was hat es noch für Werte, wenn es letztlich jeder weiß? Aber Agartha... Diesen Namen hatte ich schon gehört. Öfters sogar. Ich las davon in Artikeln umstrittener Autoren, die von verschiedensten Boulevardblättern als wahnsinnig eingestuft und als vermeintlichen Humbug abgetan wurden. Agartha sollte eine fremde Welt sein, die unmittelbar unter der unseren läge, erinnerte ich mich gelesen zu haben. Den Zettel, den steckte ich kurzerhand in meine Jacke.    

 

Kapitel 3: Der Abstieg

 

Endlich war es soweit! Wie lange hatten wir – und insbesondere ich – auf diesen einen Moment gewartet? Nach Tagen der höllischen Seefahrt und eines ungeklärten, seltsamen Todes kamen wir sicher im Hafen von Mishukovo an – ein winziger, trostloser und sehr einsamer Hafen in einer ebenso gottverlassenen Gegend. Ich erinnere mich noch, dass starker Nebel vorherrschend war, als wir von Bord stiegen. Außerdem wehte ein beängstigender, peitschender Wind zu jener frühen Morgenstunde. Nachdem meine Beine den Steg des Hafens erreichten, merkte ich erst, wie müde ich eigentlich war. Und als ich die Gesichter der Anderen sah, erkannte ich, dass auch diese niedergeschlagen und teilweise müde waren, allen voran Kenneth. Wir hätten nicht mit einer so frühen Ankunft gerechnet, aber aus irgendeinem Grund hatte sich Kapitän Charlton sehr beeilt. Wie dem auch sei, einige russische Hafenarbeiter halfen uns beim Andocken und nach einigen Stunden kam es zu einem Gespräch zwischen mir, Kenneth und Charlton. Wir diskutierten darüber, ob es der Seefahrer mitsamt seiner Crew hier im Hafen ausharren sollte, bis wir sicher von unserem kleinen Ausflug zurückkämen oder ob sie uns begleiten. Innerlich hofften wir, dass der Kapitän sich für Letzteres entscheiden würde, da wir durch die jüngsten Ereignisse doch ziemlich abgeschreckt waren. Und das Glück war uns zu diesem Zeitpunkt hold – er gab uns seine Zusage. Allerdings ließ er den Greisen Eric Groomfield, den jeder aufgrund seiner komischen Art mied, beim Schiff zurück, um zumindest einen zu haben, der das Schiff eventuell wieder zurück nach Amerika führen könnte. Wahrscheinlich war das eine gute Entscheidung, denn wir wussten nicht, wie viel körperliche Leistung für das Erreichen unseres Ziels vonnöten war.

Zu Fuß wanderten wir einige Kilometer über das wellige Gelände zu dem besagten Ort Mezhdurechye. Zur Sicherheit nahmen wir neben unseren Rucksäcken und Gegenständen auch Kletterseile und Haken mit, die Charlton im Inneren seines Boots aufbewahrt hatte. Der Marsch zu diesem verwahrlosten Ort war eine Tortur. Ich hing der Gruppe an stark gebauten Menschen hinterher und konnte kaum Schritt halten. Selbst die Dame Elra und der kleine Pole überholten mich ständig. Und während der Pole stets zu mir zurückging und mich ständig fragte, weshalb ich so schwach sei, bemerkte ich erst seine geringe Körpergröße und seinen unverkennbaren Schnurbart. Das war für mich dann natürlich noch demütigender. Aber was hätte ich sagen sollen? Es war ursprünglich meine Idee gewesen, diese Reise ins Unbekannte zu starten, und ich konnte froh darüber sein, dass diese Mannen mich überhaupt begleiteten. Alleine hätte ich es nie geschafft, auch nur in die Nähe dieses Ortes zu kommen. Die ganze mühselige Wanderung über hielt der fitte und in erster Reihe gehende Kenneth nur diese eine Karte mit der Markierung des angeblichen Bohrturms in seinen Händen und führte mit Kenneths Hilfe die gesamte Gruppe in diese Richtung. Beide waren sie geographisch begabt und der ehemalige Leutnant zur See kannte sich bedingt durch sein Schaffen als Militant bestens mit dem Finden von bestimmten Ortschaften auf Karten aus. Nach einigen Pausen und einigen Stunden des Gehens erreichten wir das, was wir die ganze Zeit gesucht hatten: Den Bohrturm, wie er von meinem Vater einst beschrieben wurde. Er ragte aus dem Boden dieser kargen, öden Landschaft, wirkte wie ein viereckiger Leuchtturm und das nächste bewohnte Haus war etwa einen Kilometer entfernt. Der Nebel war noch immer nicht verschwunden. Ganz im Gegenteil, er war dichter geworden mit jedem Meter, den wir zurückgelegt hatten. Da war eine metallene Tür am Bohrturm, und wir mussten diese nur aufbekommen. Bevor wir uns aber daran machten, sie aufzubrechen, warf ich noch einmal – ohne dass die anderen es merkten – einen Blick auf den Zettel, den der tote Benjamin hinterlassen hatte. Die Angst kam kurzzeitig in mir hoch und ich dachte, dass es nun kein Zurück mehr gäbe, wenn wir erstmal im Inneren angelangt waren. Aber nach diesem kurzen Augenblick schwand sie wieder, da ich das, was ich so sehnlichst erwartet hatte, nun direkt vor meiner Nase hatte. Charlton war der Erste, der die Tür probierte aufzukriegen. Er scheiterte. Tooma, Cherokee und Elra machten sich danach gemeinsam an die Aufgabe, diesen Metallklotz aufzubekommen, indem sie immer wieder zusammen dagegen traten, bis ihre gewaltsamen Aktionen schließlich zum erhofften Erfolg führten. Das Tor war offen. Kenneth aktivierte seine Taschenlampe und leuchtete als Erster ins Innere dieses Bauwerks. Man konnte nicht viel sehen, nur einen sehr, sehr großen Aufzug, der offenbar für das Transportieren für Maschinen und Arbeiter gedacht war. Es war selbstverständlich kein moderner Lift, sondern einer, den man eventuell von Baustellen oder eben anderen Bohrtürmen kennen würde. Und er war rostig, staubig und mit vielen, vielen Spinnweben geziert. Eigentlich war dieser bereitgestellte Aufzug das Einzige, was es hier gab. An der Wand hing nur ein Schild, auf dem in deutscher Sprache geschrieben stand: „Maximalgewicht siebenhundert Kilo; im Brandfall nicht zu benutzen!“ Eine simple Warnung, die uns nicht weiter interessierte.

Unsere gesamte Gruppe platzierte sich auf die breite Fläche dieses Lifts. Es gab keine Wände, die dieses Teil umgaben, sondern nur ein liebloses Geländer, und so konnte man – sofern man sich traute, sich über das Geländer zu beugen - deutlich in die schwarze Tiefe starren, in der wir alsbald abtauchen würden. Es roch seltsam hier; der typische Geruch von Höhlen oder Stollen. Und die Temperatur selbst sank rapide ab, war es doch vorher schon relativ kalt gewesen, froren wir nun regelrecht. Aber ich muss zugeben, dass mich die erschreckende Endlosigkeit unter meinen Füßen mehr Sorgen bereitete. Es waren sicherlich mehrere Kilometer, die da gebohrt wurden, und ich war mir nicht einmal sicher, wie heiß es denn da unten werden konnte. Ich hörte einst, dass mehrere hundert Grad Celsius vorherrschend sein konnten, wenn man ganz tief ging. Das hätte ein Mensch nie überlegt. So gesehen basierte unser Projekt auf einem Himmelfahrtskommando, einem selbstmörderischen Unterfangen. Andererseits dachte ich mir, dass wenn die Deutschen ihr gesamtes Hab und Gut nach unten verfrachtet hatten, es sehr wohl möglich sein sollte, dort zu überleben.

In die Hölle fahren wir, hatte Charlton gemeint, als er den Hebel betätigte, der den Aufzug dazu bringen würde, zu sinken. Und als er das tat, wurde mir sehr mulmig. Was, wenn es nicht mehr möglich ist, nach oben zu kommen? Sind wir dann verdammt, hier zu sterben? Fragen über Fragen… Aber als ich mich umsah und meine Begleiter inspizierte, sah ich, wie selbst der bis dato so kühne Indianer Cherokee wie ein kleines Kind zitterte. Elra klapperte mit den Zähnen und mein Freund Kenneth wurde blasser als er es ohnehin schon war. Der Aufzug indes führte seinen Weg nach unten fort. In schauerlich schnellem Tempo, wohl gemerkt. Teilweise kam es mir so vor, als befänden wir uns im freien Fall, so rasch zogen die alten Seile dieses rostige Metallgerüst weiter runter. Langsam bekam ich es richtig mit der Angst zu tun. Desto weiter wir abstiegen, desto heißer wurde es zudem, was mich noch viel mehr beunruhigte. Die Kälte verschwand sehr schnell und wurde immer mehr zur brodelnden Gluthitze. Mein Puls und meine Atmung wurden schneller, genauso wie der Niedergang jenes Aufzugs schneller wurde. Meine schlimmste Befürchtung – nämlich die, dass wir durch die Hitze sterben würden – wurde langsam, aber sicher realistischer, was mich in einen Zustand entsetzlicher Angst versetzte. Das Gefühl, einer Situation ausgeliefert zu sein, in der man nichts gegen den sicheren, tödlichen Ausgang unternehmen konnte. Ach, was war ich für ein Narr gewesen. Wieso musste diese Reise sein? Meine Neugier hatte mich getötet, ja, das war es, an das ich dachte – das war es, das mich nicht mehr los lies, dieses grauenvolle Wissen im Hinterkopf. Nichts konnte mich noch retten aus dieser misslichen Lage, also warf ich mich elendig zu Boden und vergrub mein weinendes Gesicht in meinen beiden Händen, während ich merkte, wie der Aufzug sein Tempo erneut erhöhte.

Kapitel 4: Agartha

Was für ein Schreck! Es krachte ordentlich, und meine Ohren waren fast taub geworden, aber der Aufzug setzte sehr unsanft auf irgendeinem Boden ab. Ohnmacht über mich, urplötzlich. Dann aber dauerte es nur einige Sekunden, bis ich mein Bewusstsein wieder erlangte. Zunächst war ich allerdings eher damit beschäftigt, zu überprüfen, ob ich überhaupt noch lebte oder mich schon im Jenseits befand. Hatte mich der Aufprall getötet? Oder war es wie durch ein Wunder doch noch gut ausgegangen? Ich rappelte mich nach einigen Minuten des Nachdenkens über mein Überleben oder meinen Exitus aber langsam wieder auf, sah mich um und erkannte, dass wir in einer Art Höhle angelangt waren. Die anderen um mich herum hatten sich - ähnlich wie ich - ebenfalls auf den Boden geworfen, da vermutlich auch sie eine Bruchlandung des Aufzugs erwartet hatten. Und ja, im Zuge des Sinkens wurde es wärmer - sehr schnell wärmer sogar. Aber in meiner Panik und Angst hatte ich übersehen, dass es dann langsam wieder weniger wurde mit der Hitze, bis die Temperatur einen normalen, ja fast angenehmen Grad erreicht hatte, sofern man das so bezeichnen kann. Genauso war es auch hier, wo wir jetzt waren, der Fall. Nun jedoch, nachdem ich allmählich realisiert und mich selbst davon überzeugt hatte, dass ich wahrlich – und zu meinem Glück - am Leben war, stellte sich mir eine andere, bedeutsamere Frage: Wo sind wir? Was ist das für ein… Ort?

Denn ich habe bis jetzt vergessen, eine recht wichtige Sache zu erwähnen – in dieser Höhle, da sah man ein Licht an ihrem Ende. Woher dieses stammte, konnte sich keiner von unserer Gefolgschaft erklären. Es war an uns, dem auf den Grund zu gehen. Doch wir hatten einen Verlust zu beklagen. Der Indianer, Cherokee. Alle anderen waren irgendwann zu sich gekommen und konnten mittlerweile wieder normal gehen und stehen, aber der Indianer blieb am Boden, völlig starr, ebenfalls mit den Händen im Gesicht und zeigte keinerlei Reaktion. Wenn ich mich recht erinnere war er am ängstlichsten, als wir uns zu dem Aufzug begeben hatten. Da hatte er schon gezittert und geschwitzt. Wir versuchten ihn jetzt zu wecken, anzureden, aufzurütteln, der Pole schubste ihn sogar und gab ihm mehrere sanftere Ohrfeigen, doch es half nichts. Seine Augen blieben zu. Als wir eine halbe Stunde dazu aufgewendet hatten, ihn aus seiner vermeintlichen Schockstarre freizukriegen, gaben wir es auf. Der Indianer war gestorben. Die Angst war es, wie Charlton meinte. Die Furcht vor dem scheinbar sicheren Tod. Derartige Fälle gab es ja, und diese wurden sogar nachweislich dokumentiert. Ich meine, einmal gelesen zu haben, dass selbst Papst Urban der Dritte aus Schreck starb, als ihn die heftige Nachricht über die Eroberung Jerusalems erreicht hatte. Wir mussten demnach ohne ihn weitermachen.

Konnte einer rational erklären, wie es möglich sein konnte, so tief im Erdinneren ein starkes Licht am Ende einer Höhle zu erspähen, wenn man Halluzinationen, Einbildungen oder Hirngespinste außer Acht ließ? Wohl kaum. Die angeblichen Goldschätze und Wertgegenstände aus jüdischer Hand, die laut Dokument hier verstaut sein mussten, interessierten jetzt keinen mehr. Wir liefen nur regelrecht auf dieses weit entfernte Funkeln zu, alles andere um uns ignorierend. So unterschiedlich, so anders waren wir alle… Jeder Einzelne verfolgte ursprünglich seine eigenen Interessen, seine eigenen Ziele, doch in diesem Moment, da waren sich alle endlich einig, gemeinsam und möglichst rasch in dieselbe Richtung zu laufen. Und das taten wir, ja, das taten wir. Ich erinnere mich noch gut, dass Tooma am vordersten rannte, und sein zielstrebiger, fixierter Blick wich nie von seinem fest ins Visier genommenen Ziel ab - niemals. Es war wie unser innerstes Gebot, weiterzulaufen, bis wir schlussendlich ankämen, und dieser Gedanke an diese einzige Mission schwand nicht aus unseren Schädeln.

Dann war es soweit! Das Licht am Ende jener dunklen, seltsamen Höhle erreichten wir, selbstverständlich hechelnd und schwer atmend, aber dennoch waren wir angekommen – das war vorerst das Wichtigste. Die Höhle ließen wir hinter uns und gingen ins Freie, wo wir uns auf einem Felsvorsprung wiederfanden. Das war garantiert der atemberaubendste Anblick meines Lebens und der meiner Kameraden sicher auch. Viel zu lange fristete ich meine Zeit in meinem wenig abwechslungsreichen, einsamen und grauen Alltag, aber nun, da erkannte ich, was wahre Schönheit, wahre Ästhetik, wahre Perfektion wirklich bedeutete.

Agartha. Weite Landschaften voll von grünem Gras, streckenweise bunte Blumen jeglicher Art, türkis-blaue Flüsse, von genialer Hand erbaute, weiße Aquädukte, monumentale Bauten unvorstellbarem Ausmaßes, wortwörtlich goldene Tempel und Paläste, üppige, fruchtbare Wälder, die direkt an diese wundervolle, nahe Stadt angrenzten und hohe, markante Berge und Hügel, die diese letztlich umgaben. Der prachtvolle Himmel selbst, wie soll ich es am besten beschreiben… Es gab tatsächlich eine eigene Sonne hier im Erdinneren, und alles war blau und mit wenigen Wolken besetzt, wenngleich man ganz oben mit Mühe die Schicht sehen konnte, die unseren eigentlichen Erdboden bildete. Ich weiß, es klingt unglaublich und ist schwer vorstellbar, aber sollte ich lügen? Nach all dem?

Und als ich meinen Kopf aufrichtete und zu jener Schicht aufsah, dachte ich kurzzeitig an die vielen Morde, die unzähligen Gräueltaten, die die Menschen untereinander begingen… Sekunde für Sekunde, und das direkt ober mir. Ich dachte an die tausend Kriege, die Millionen Leben, Ideale und Träume, die auf diesem Boden für alle Zeiten zugrunde gingen. Die endlosen Intrigen, die hinterlistigen Verbrechen, die erbarmungslosen Missetaten, die dreisten Lügen und die leeren, nicht eingehaltenen Versprechungen… Ein verkommener Platz, unsere Welt. Und dann war da Agartha, der Ort, wo alles perfekt und vollkommen schien. Und dieses Agartha war keinesfalls fern. Nein, es lag direkt vor uns – einige Schritte hätte es nur mehr gebraucht, um ins Paradies zu gelangen. Wir glaubten, so bin ich mir sicher, unser persönliches Utopia hier gefunden zu haben. Und mein Gott, es befand sich die ganze Zeit unter unseren Füßen.

Könnte man mich dafür kritisieren, so gedacht zu haben? Hätte ich geahnt, was uns erwarten würde, hätte ich nie so schnell ein solch positives Urteil gefällt. Aber wenn selbst der stets pessimistisch und kühl erscheinende Charlton leuchtende und große Augen wie die eines faszinierten, kleinen Kindes bekam, so muss man mir doch Glauben schenken, dass es in der Tat ein Fleck war, der jedermann alle Schrecken der Welt für einige Sekunden vergessen hätte lassen. So weit weg von jeglicher Rationalität… Allein die Tatsache, dass es eine Sonne unter den ganzen Erdmänteln gab, sprach gegen jede naturwissenschaftliche Lehre, die mir je erläutert wurde. Das jedoch… Wen interessierten die Gesetze der Natur zu diesem Zeitpunkt noch? Die vielen Sprüche und Formeln, die die Professoren aus ihren uralten Skripten vorgetragen haben, verschwanden urplötzlich aus meinem Kopf. Was war auf einmal eine Lehrmeinung, wenn man etwas in dieser Form vor sich hatte? Ich glaube stark daran, dass keinen von unserer Gefolgschaft die Meinung irgendeines Wissenschaftlers kümmerte, während wir da gebannt in die Ferne starrten, mit offenen Mäulern und geweiteten Pupillen. Es war buchstäblich atemberaubend.

 

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2019

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