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Erinner' dich an Uncle Sam

Erinner' dich an Uncle Sam

 

 

Ich hatte eine Verabredung. Natürlich war ich erneut nicht der Part, der das Lokal aussuchte. Zu gerne überlies ich diese spezielle Aufgabe den Leuten, mit denen ich den Termin ausgemacht hatte. Marc Olen war es diesmal, ein alter Freund von mir, mit dem ich garantiert seit über fünf Jahren keinen direkten Kontakt mehr gepflegt hatte. Wie durch ein Wunder hatte er sich erst unlängst bei mir gemeldet und gefragt, ob wir denn nicht auf einen Lunch bei Sobels, einem der teureren Lokale im Inneren Distrikt gehen könnten. Hätte ich etwa nein sagen sollen? Meine Güte, ich wusste nicht einmal, wie dieser großgewachsene, wasserstoffblonde und adrette Herr in meinem Alter auf die Idee gekommen war, gerade mich anzufragen. Womöglich – das ist zumindest meine Theorie in dieser Sache – hatte er davon Wind bekommen, dass ich seit Neuestem ein recht hohes Amt in der Stadtverwaltung Philadelphias bekleidete und höchstwahrscheinlich brauchte er oder seine mächtige Familie die ein oder andere Sache. Ich war eines der sechzehn Mitglieder der Distriksvertretung. Für die Geldaristokraten, Magnaten, Mäzen, Habenden und all die anderen, die diese verkommene Stadt von oben herab regierten, war ich nach wie vor wie ein Bettler, ein mühsamer Bürokrat, ein kompliziert denkender Habenichts, dessen Beruf bald gänzlich automatisiert werde. Dabei war ich in einer Position, die gewöhnliche Proletarier gar nicht erst erreichen konnten. Zumindest heutzutage nicht mehr. Früher war es wohl so, wo sich Amerika noch im Aufbau befand, aber nun? Ein Ding der Unmöglichkeit für einen Arbeiter oder Gebrandmarkten, jemals auf die andere Seite zu gelangen. Immerhin trennte der Große Wall den Inneren vom Äußeren Distrikt völlig ab. Das war eine gigantische, aus Stein und Metall bestehende Mauer, die sich teils über den Schuylkill und den Delaware River erstreckte und das Stadtzentrum auf Höhe von Fairmount im Norden und auf Höhe von Newbold im Süden zusätzlich abgrenzte. Insgesamt konnte man den Wall – wenn man ihn von der Vogelperspektive aus betrachtete – als ein riesiges Viereck bezeichnen, eine Art Gated Community, die dafür sorgen sollte, dass keiner dieser Unmenschen und Schuftenden jemals auch nur in die Nähe der Besitzenden kommen sollte. Die Regierung hatte diesbezüglich scharfe Maßnahmen getroffen, und seitdem es keine Rentenversicherung, Sozialhilfe, Mindestentlohnung, begrenzte Arbeitszeit und auch kein Medicare mehr für Leute im Äußeren Distrikt gibt, die Amtsvererbung wieder eingeführt wurde und die Grundrechte im Wesentlichen verändert und an die derzeitige Situation angepasst wurden, ist die Schere zwischen zwei – oder besser gesagt drei – Gesellschaftsschichten gewaltiger als in allen Jahren zuvor. Wenn man es ganz einfach ausdrücken will, so kann man sagen, dass es wieder Adel, Rittertum und Nicht-Adel gibt. Ich zähle mich durchaus zu den Rittern, wenngleich diese Schicht im Vergleich zu dem kaiserlichen Status der zehnten Generation Trump als äußerst minderwertig betrachtet wird – oder wie der damals ins Exil geschickte Michael Wolff heute in einem seiner Pamphlets schreiben würde: „Der Weltmonarch in seinem Fort blickt auf seine Untertanen herab als wären sie nichts mehr als Tiere. Dennoch, die Oberen braucht er, sie sind das Gehirn, die Finger an seiner starken Hand. Selbst die unteren Hunde, ja, auch die benötigt er für Krieg, Industrie und anstrengende, körperliche Knochenarbeiten. Aber die, die in der Mitte sind? Die sind für ihn nicht von allzu großer Bedeutung. Eher wie ein überflüssiges Übel, ein fünftes Rad am Kriegswagen, ein entbehrliches, rostig gewordenes Werkzeug, dessen trauriges Dasein man irgendwie tolerieren muss."

Das zweiundzwanzigste Jahrhundert ist näher denn je, und die Vereinigten Staaten sind wieder am Aufrüsten; dieses Mal für den dritten weltweiten, bewaffneten Konflikt gegen ein Bündnis aus Neu-China, der Russischen Föderation und den Rebellentrupps im Nahen Osten, die ständig gegen die amerikanischen Besatzungsmächte aufbegehren. Was für Tölpel, dieses seltsame Mischvolk... Aber mich wird dieser Krieg genauso wenig treffen wie Marc, dessen Eltern, die anderen Stadträte oder die vielen hohen Tiere dieses Landes. Nein, die Unteren kämpfen unsere Schlachten, während wir andersartig beschäftigt sind. Ich würde in Callowhill und im Stadtkern verweilen, während die breitschultrigen Kerle der Militärpolizei draußen mit Transportbussen zu deren Wohnblocks fahren würden, um sie gegen ihren Willen in die Army einzugliedern, wenn nötig auch mit vorgehaltener Waffe. Tja, was sollte ich zu der Gegend um Callowhill noch sagen? Es wurde zusammen mit Downtown zu einer unglaublichen Festung der Reichen und Mächtigen ausgebaut – ein Wolkenkratzer höher als der andere, beeindruckende Bauten, ein unheimlich komplexes Straßennetz, architektonische Meisterleistungen und überall Bildschirme und Lautsprecher, die ununterbrochen Kriegspropaganda verbreiten. Ich sagte zuvor zwar, dass kein Bewohner der Inneren Distrikts jemals selbst kämpfen würde, aber die Kriege dieses Zeitalters werden oftmals mit viel Geld gewonnen, weswegen gerade die Regierung immer neue Geldgeber sucht und durchgehend diese schrillen, bunten Filmchen ausstrahlt. Wie dem auch sei, ich habe einmal ein Bild aus dem Jahre 2024 genommen und es mit dem heutigen Philadelphia verglichen. Ich kann nur sagen, dass es damals viel mehr ein Dorf, ein einsames Kaff, eine Einöde sondergleichen gewesen ist, wenn man das jetzige Städtchen vor sich hatte. Mein Gott, was schweife ich denn wieder ab...Trotzdem, Philadelphia hat Großstädten wie New York, Washington D.C. oder Los Angeles in Sachen Prächtigkeit absolut nichts entgegenzusetzen. 

Ich war mit dem selbstfahrenden Bus der E-Linie zu dem besagten Lokal gekommen. Für gewöhnlich sah das nicht gut aus, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Hätte man das einem der Oberen gesagt, wäre man schnurstracks als Außenseiter deklariert worden und hätte jeglichen Respekt verloren. Doch waren Autos jetzt sehr teuer geworden; selbst ich konnte mit einem stattlichen Gehalt von zehntausend Dollar jeden Monat kein eigenes kaufen. Die billigsten Modelle starteten bei fünfzigtausend Dollar, und dazu war das Parken innerhalb der Stadt eine sehr, sehr kostspielige Angelegenheit. Nicht selten, dass man hundert Dollar für eine halbe Stunde zahlte. Jedenfalls brachten mich diese Verkehrsmittel viel kosteneffizienter zu jedem Ort, der mir wichtig war. Und ich wollte mich nicht mit einem Billigauto blamieren. Im Bus noch starrte ich kurzzeitig durch das Fenster auf den leicht erkennbaren Großen Wall und sagte mir selbst, wie viel Glück ich doch hatte, nicht jenseits davon meine Zeit fristen zu müssen. Als ich ausstieg, richtete ich mir meine silberne Krawatte zurecht und knöpfte den obersten Knopf meiner grauen Anzugsjacke zu, während ich im Gehen darauf achtete, mit meinen schwarzen Oxfords nicht ausversehen in Scheiße zu treten. Immerhin durfte ich Marc Olen nicht mit schlechter Optik gegenübertreten – nein, das durfte auf keinen Fall sein! Ich marschierte recht nervös über den Gehweg in Richtung Sobels, während urplötzlich mein recht teures Handy zu vibrieren anfing. Dadurch veranlasst nahm ich es aus der Innentasche des Zegna-Suits heraus, entsperrte es und las die Nachricht, die mir Marc gerade eben geschrieben hatte. Er würde es nicht rechtzeitig schaffen, meinte er. Die für ihn typische Akademikerviertelstunde, wie ich dachte. Er kam nie pünktlich. Einmal sagte er mir sogar, er tue dies absichtlich, um nicht wie ein elender Erbsenzähler zu wirken.

Und dann passierte es – von der ganzen Ablenkung krachte ich in einen dieser Gebrandmarkten! Es war ein langhaariger, großer, ziemlich stark gebauter Mann mittleren Alters, der einen ekelerregenden Bart trug und mit der typischen gelb-orangen Uniform, die jeder zur Drecksarbeit von Außerhalb geholter Arbeiter hier zu tragen hatte. Straßenkehrer. Ja, das hatte ich vergessen zu erwähnen: Hin und wieder haben die Unteren doch die Gelegenheit, die Schönheit des Stadtkerns zu betrachten. Allerdings nur dann, wenn sie entweder saubermachen, etwas bauen, jemanden bedienen oder ausgewählte Leute befriedigen. Und damit die vornehmen Personen, die nur den Inneren Distrikt kennen, zwischen Arbeitern und Oberen unterscheiden können, werden die hergeholten Tagelöhner mit einer prägnanten Tätowierung auf der Stirn – ein S für Stigmatias und eine bestimmte Zahl dahinter – versehen, zusätzlich zur Uniform. Und dieser eine, übel riechende Kerl war einer von diesen Gebrandmarkten. Er war wie ein schwarzes Schaf unter all den Anzugträgern, die auf dieser Straße herumgingen.

„Können Sie nicht aufpassen?", schrie ich ihn regelrecht an. Ich befürchtete, dass ein Schweißtropfen von seinem nassen Körper auf mich fallen oder ich etwas von seinem Gestank abkriegen könnte.

Er wirkte überrascht, als erwartete er eine Entschuldigung von mir: „Es... das... hab' ich nicht kommen sehen!", brachte er mühsam mit gebrochener Stimme heraus.

„Ach was, Sie sollten sich lieber entschuldigen, bevor ich einen vom Ordnungstrupp hole!" Ich genoss es wahrlich, mich aufzuspielen, besonders weil dieser Typ nichts gegen mich tun konnte.

„Aber Sie... Sie sind doch in mich reinge..."

„Reingerannt? Pah, hören Sie doch auf. Es ist Ihre Aufgabe, mir auszuweichen, verdammt!"

„Dann... tut es mir Leid, mein Herr!" Er sah bedrückt aus, schaute wehleidig zu Boden und kehrte dann mit dem Besen weiter.

Ich seufzte einmal laut, rollte mit den Augen und ging weiter. Schließlich hatte ich einen Termin wahrzunehmen. Nach fünf Gehminuten kam ich endlich bei Sobels an, durchtrat die Tür und setzte mich auf den Tisch beim rechten Fenster, den Marc zuvor reserviert hatte. Zirka Mittag. Das Lokal war dementsprechend voll, deswegen musste man selbst für Lunch reservieren. Der gebrandmarkte Kellner, der sich weniger aufwendig herrichtete, fragte mich, ob ich schon was bestellen würde, doch ich passte. Ich sagte ihm, ich würde noch auf einen Freund warten. Und ich belehrte ihn, dass er als gottverdammter Gebrandmarkter gefälligst zu warten hätte, bis beide Parteien am Tisch seien, bevor er auch nur darüber nachdenkt, nach der Bestellung zu fragen. Denn es war recht offenkundig, dass ich nicht alleine hier aufkreuzen würde. Der junge Kellner nickte nur und entfernte sich dann zum Glück noch bevor Marc eintraf.

Ich sah mich um. Edles Ambiente, teure Glastüren, Kronleuchter, Tische aus dunklem Ebenholz, rote Teppiche, silbernes Besteck, exklusive Trinkgläser und lauter kultivierte Menschen, die lautstark über Geschäfte, Reisen, Wertgegenstände, Besitztümer oder Einkäufe sprachen. Neben mir saß ein stadtbekannter Banker im braunen Brioni-Anzug, der sich mit einem Mitglied des Stadtrats unterhielt. Einige Tische weiter erkannte ich den Unternehmer Peter Dullyn, der den Rolls Royce mit der teuersten Ausstattung der Stadt fuhr. Er speiste zusammen mit seiner jungen, blonden und wunderschönen Geliebten, die ich mal irgendwo auf dem Titelblatt einer bekannten Modezeitschrift gesehen hatte. Dullyn aß Hummer – wie typisch -, während sie sich mit Kaviar zufrieden gab. Recht extravagant für Mittagsgerichte, aber so funktionierte das eben hier in Philadelphia. Und Philadelphia war da noch harmlos. Die inneren Distrikte in New York, Los Angeles, San Francisco, San Diego oder Chicago sind um ein Vielfaches ärger was das betrifft. 

Marc Olen traf endlich ein, nach einundzwanzig Minuten Verspätung. Er trug ein weißes Hemd der Marke Ralph Lauren, eine braune Stoffhose, blaue Slipper, hatte sich die langen, blonden Haare nach hinten gekämmt und sich seinen grünen Marken-Pullover über die Schulter gehängt. Seine Sonnenbrille hielt er lässig mit dem Mund fest und spazierte mit einem protzigen Gang in meine Richtung, nachdem er mich erspäht hatte. Ich roch das Parfüm schon aus der Ferne. Penhaligons, vermutete ich.

Er kam bei mir an: „Ah, mein alter Freund!", stieß er aus und reichte mir die Hand.

Ich stand auf: „Marc! Lange nicht mehr gesehen!" Wir gaben uns die Hände und setzten uns dann.

„Wie geht's dir denn?", fragte er mich, indes er mich genau inspizierte. „Bist du noch in der Politik tätig?"

„Ja, bin ich! Ich sitz' nun in der Distriktsvertretung!" Ich hoffte, dass ihn das irgendwie beeindrucken würde.

Aber wie faszinierte man in meiner Situation einen Mann, dessen ganze Vorfahren berühmte Geschäftsleute und Millionäre gewesen waren und der noch zusätzlich diesen Posten als Leiter des Unternehmens irgendwann erben würde, ohne auch nur für den Bruchteil einer Sekunde woanders arbeiten oder irgendwelche Leitern hochklettern zu müssen? Nun, selbst meine Eltern waren Akademiker und politisch tätig, doch befand ich mich lange nicht in der Elite dieser Welt. Im Ritterstand der amerikanischen Gesellschaft wird oft auf einen herabgesehen...

„Das ist ja toll!", rief er, aber ich merkte deutlich, dass diese vermeintliche Freude gespielt war. Ich sah förmlich die Anstrengung, die er aufwendete, als er dabei lächelte.

„Ja. Und wie geht's dir, Marc? Genießt du deine Zeit?", fragte ich.

„Und wie. Gestern erst aus dem neuen Abu Dhabi zurückgekommen mit dem Flieger. Mein Vater hat da irgendwas Geschäftliches gedreht. Außerdem wollte ich die Wüstengegend noch einmal sehen, bevor da Krieg geführt wird. Das alte Abu Dhabi haben sie ja in Mienenfeld verwandelt, die mutigen Söldner von den Blackwater Aviation Worldwide Services. Mein Vater hat da sogar Anteile. Aber halb so wild. Dieser Turm, der bloß einen Kilometer hatte, der war eh für nichts und wieder nichts. Mal sehen, was der neue Krieg mit sich bringt."

„Wir müssen zum Glück nicht dort kämpfen. Dafür aber ordentlich Geld zahlen. Kriegsanleihen sind in aller Munde. Die nerven jetzt schon mit ihren Plakaten und Sendungen... Vielleicht führen die ja sogar ein Gesetz ein, dass uns zur Zahlung zwingt! Das wäre ja mal ein Horror!"

„Pah, dir tut das vielleicht weh, aber mich kümmern diese paar Groschen gar nicht. Und die von Außerhalb, die da hingeschickt werden... Ja, auch die sind mir gleich. Schweine, sag' ich dir. Ist eben nicht jeder dazu bestimmt, zu den Gewinnern zu gehören."

Ich wusste, was ich ihm zu erzählen hatte: „Marc, einer von denen, der ist vorhin draußen in mich reingekracht! Der Idiot war mit seinen Gedanken woanders und dann... rennt der in mich rein als ob nichts wäre! Der Mistkerl!" Ich lachte kurz.

Auch Marc warf mir ein müdes Lächeln zurück: „Hast du ihm eine gegeben? Ich hoff's schon!"

„Nein, leider, wollte mir die Hände nicht wortwörtlich schmutzig machen, ha!"

„Nicht schlecht, nicht schlecht... Schade, dass die die ganzen Obdachlosen vor Jahren aus dem Stadtkern entfernt haben lassen... Als Kind konnte ich noch Verarsch-den-Penner-mit-einem-Geldschein spielen, oder Fackel-ein-Bündel-Dollar-vor-einem-Bettler... Das waren Zeiten."

„Hey!", rief ich dem Kellner zu, welcher dann herkam. „Cappuccino, Mineralwasser und einen Prosecco bitte für mich. Und zu den Tapas... Ich nehme den Quinoasalat und die gebackenen Garnelen." Man durfte nie das Billigste bestellen und auch nie nur eine einzelne Sache. Das sagte der Knigge.

„Für mich den Dom-Perignon auf ein Viertel mit Eis und ein Mineralwasser mit Zitrone. Dazu die Frühlingsrollen, die Datteln im Speck und Chorizo in Rotwein und Honig. Danke", bestellte mein Freund. Das war das Teuerste auf der Karte.

„Gerne!" Der Kellner entfernte sich.

Seltsam, Marc sah so aus, als beginne er sich zu langweilen. Er blickte immer wieder auf sein Handy, schaute sich im Lokal um oder prüfte die Uhrzeit auf seiner Breitling. Dabei hatte er das Treffen vorgeschlagen. Ich musste die Unterhaltung am Laufen halten. Ich wollte etwas Neues ausprobieren. Wieso mussten wir uns die ganze Zeit über Materielles unterhalten? Ich bin ständig von oberflächlichen Gesprächsthemen umgeben, und das so stark, dass ich es selbst oft vergesse. Aber es wäre doch mal eine Abwechslung, etwas Philosophisches anzusteuern.

„Marc, ich wollte dich da generell etwas fragen...", begann ich.

„Das wäre?"

„Ich mach' öfters so Gedankenexperimente, weißt du?' Letztens hab' ich mir vorgestellt, wir wären alle kerngesund, reich und würden nie sterben, in einer Welt, in der es keine Ländergrenzen oder Staatengebilde gibt – was wäre dann unsere ganze Bestimmung? Gäbe es Konflikte wie den dann überhaupt? Oder würden wir aktiv an unserer Selbstverwirklichung arbeiten?" Ich probierte, ihm dabei sehr tief in die Augen zu schauen, um meinen Worten mehr Kraft zu verleihen.

Aber seine Reaktion war wenig überraschend: „Pf. Was auch immer du da redest. Ergibt keinen Sinn."

Mittlerweile waren unsere Getränke angekommen. Das ging schnell im Sobels. Wir stießen an und tranken dann ein paar Schlucke.

„Ja... Ja, das stimmt. Verzeih' mir, war nur so ein Gedanke von mir..."

„An was du alles denkst..." Sein Blick ging plötzlich woanders hin. „Hey, na sieh' mal einer an, wen haben wir denn da?" Er erhaschte den Blick von irgendeinem mittelgroßen Kerl im grauen Designer-Anzug, der nach kurzem Winken unmittelbar zu unserem Tisch kam. Der junge Herr saß zuvor mit einer hübschen Dame an einem anderen Platz im Lokal.

„Wer ist das?", fragte ich leise, bevor der mir Fremde unseren Platz erreichte.

Marc gab mir keine Antwort. Nein, er sah mich nicht einmal an. Sein ganzer Fokus lag auf dem herkommenden Jungmann, der die besten Budapester trug, die ich je gesehen hatte. Dazu war sein braunes Haar stark gekürzt und sein Gesicht makellos rasiert und frei von jeglichen Hautunreinheiten oder Schönheitsfehlern. Die grünen Augen des fremden Mannes, den ich auf Mitte zwanzig schätzte, leuchteten förmlich und machten einen aufgeweckten Eindruck. Außerdem roch er stark nach Creed. Und seine perfekte Stupsnase und sein voller Mund machten ihn zu einer wahren Schönheit.

„Hey, Marc", begrüßte er meinen Freund und gab ihm die Hand.

Marc lächelte – dieses Mal authentisch – und sagte: „Schön dich zu sehen, Roy."

Roy also... Der Hinzugekommene ignorierte mich und setzte sich auf den Stuhl neben Marc. Er positionierte sich so, dass er mich nicht anschauen konnte und er ging auch auf meine Versuche, ihm die Hand zu reichen, nicht ein. Es war, als wäre ich unsichtbar für sein Auge.

„Zurück von Abu Dhabi?", fragte Roy mit seiner merkwürdig hellen und heiteren Stimme.

„Ja! Bin wohlauf. Und du? Du warst ja auf Mauritius, nehme ich an, stimmt's?", entgegnete ihm Marc.

„Das ist richtig. War dort acht Tage. Herrlich, sag' ich dir. Das Wasser ist ja mal türkis. Kennt man gar nicht von der Côte d'Azur, wo ich sonst immer hinfahre. Aber das war der siebte Urlaub den Sommer, Kumpel. Ich werd' mal ins Gebirge gehen. Hat auch was an sich. St. Moritz, zum Beispiel."

„Das klingt gut! Hast du schon eine Idee, in welches Hotel ihr da gehen werdet? Also du und deine Familie, versteht sich..."

„Schon klar... Ins neue Ritz wahrscheinlich. Oder Hilton. Weiß nicht... Ist ja mittlerweile eine richtige Stadt geworden, das kleine Dorf. Wobei... Hilton ist mir zu trocken, zu billig. Ist was für die Mittleren."

„Glaub' mir, die können sich sogar das nicht leisten. Was sind achthundert pro Nacht denn?"

„Hast auch wieder Recht, Mann. Das Ritz aber, das ist jetzt gut geworden. Früher war's schwach. Die ersten Tage werden wir vermutlich nur Schifahren. Wir werden sicherlich verschiedene Restaurants am Abend ausprobieren. Der Abschluss ist aber das neue Alain-Ducasse weiter oben. Und die restlichen Tage will ich in die Moncler- oder Stone-Island-Shops gehen. Werd' mir eine fette Daunenjacke kaufen, oder zwei."

„Oder gleich drei! Ha! Würd' ich jedenfalls so machen, he!"

„Könnte ich auch, danke für die Idee!"

Beide lachten kurz. Roy war sich eines Blickes in meine Richtung immer noch zu schade. Jetzt kam das Essen auch an. Wir wünschten uns keine Mahlzeit und starteten gleich mit dem Verspeisen.

Marc begann wieder – nachdem er fertiggelacht hatte - zu sprechen: „Achja... Wie sieht's bei euch eigentlich aus? Lässt ihr auch ein Haus in Kitzbühel bauen?"

„Werden wir sehen", meinte Roy. „Der eine Typ da, vom Leymayer-Magazin, der lässt sich eine Residenz für vierzig Millionen bauen. Sechs Millionen allein für Strom, Heizung und so einen Scheiß. Eine Million kostet das Heimkino. Und er braucht noch ein Carport für seine fünf Astons."

Wer in aller Welt gibt so viel Geld für ein Haus aus, das er alle drei Jahre einmal besucht? Das dachte ich mir zumindest in dem Moment, und ich dachte auch, dass mein Freund Marc ähnlich reagieren würde. Aber es kam anders. Natürlich kam es anders.

„Das ist nichts."

Ein verblüffter Gesichtsausdruck von Roy: „Was soll das heißen... nichts?"

„Es gibt da einen von Exxon, der hat ein schlossartiges Anwesen um die siebzig Million. Kennt mein Vater. Und er hat insgesamt zwanzig Luxus-Autos. Von Bentley bis Maybach – einfach alles. Hat dafür eine eigene Tiefgarage", meinte Marc.

„Was auch immer..." Roy sprach weiter. „Mein Vater kennt einen von Philip Morris International, der hat da in der Nähe auch ein Haus direkt neben dieser Skistrecke. Der kann diesem Hirscher-Enkel direkt in dessen dreckige Fresse schauen, wenn er durchs Ziel fährt! Das hat über hundert Million gekostet! Sein Pool hat mehr Fläche als das lokale Freibad dort. Und er hat sechs Stockwerke. Richtige Villa, nenn' ich das. Altertümlich eingerichtet, aber trotzdem alles Luxus... Angeblich kostet einer von den Kronleuchtern über fünfhunderttausend. Und ein echter Manet hängt im Foyer. Was sagst du dazu?"

So viel Gerede über Reichtum... Ich begann, mich unwohl zu fühlen. Wo war ich nur? Nein, ich musste mich am Riemen reißen. Schließlich saß ich in der Distriksvertretung. Ich war weder arm noch reich; reich wohl nur im Verhältnis zu den Unteren. Doch dieses endlose Gefasel dieses arroganten Unsympathen... Das hielt ich nicht aus. Ich musste etwas einwerfen, etwas Unvorhergesehenes.

„Aber Leute...", sagte ich. „Ihr vergesst wahrscheinlich die Arbeiter, Handwerker und Maurer, die diese Häuser aufbauen. Ja, sie gelten bei uns als gebrandmarkt, trotzdem verdankt ihr denen eure Bauten, wenn wir ehrlich sind. Deswegen stell' ich mir oft die Frage, wie man solche Menschen denn am besten entlohnen sollte? Sollten sie nicht auch ein Anrecht haben, dort zu wohnen, wo sie aktiv mitgeholfen haben? Und sollte man ihnen nicht ein klein wenig mehr geben? Nicht viel, ich rede nur von einem kleinen Bisschen."

Das erste Mal sah mich Roy an. Marc ebenfalls. Sie starrten mich wortlos für einige Sekunden an, runzelten die Stirn und es kam sogar ein Seufzer von Roys Seite. Aber dann wendeten sie sich von mir ab und sahen sich nur mehr gegenseitig an.

„Roy, Roy... Du weißt nichts... Die Frau von Franklin Cohen wird sich demnächst ein Haus am Gipfel von diesem Berg bauen. Mit dem Helikopter werden die Teile angeschleppt. Baukosten sind zirka dreihundert Million. Und von den Erhaltungskosten will ich gar nicht erst zu sprechen anfangen...", meinte Marc in einem unhöflicheren Ton als zuvor.

Es wirkte, als würden sich die beiden auf einmal streiten. Sie grinsten sich nicht mehr an, sondern saßen gegenüber wie zwei verfeindete Schachspieler.

„Ach, verpiss' dich, Marc. Ich geh' jetzt zu meinem Mädchen zurück. Ich könnt' dir noch tausend andere auflisten, aber hab' keinen Bock mehr! Bin dann mal weg, Fallschirmspringen oder so am Nachmittag!", rief der sichtlich erzürnte Roy und stand auf.

Er entfernte sich wieder zu der Blondine, bei der er vorher gesessen war. Marc schüttelte nur verständnislos den Kopf und konzentrierte sich im Anschluss erneut auf mich. Ich war wieder wichtig – besser gesagt, sichtbar - geworden. Ein kleiner Triumph.

„Nun denn..." Mein Freund legte beide Hände über den Tisch. „Was unternimmst du heute noch?", fragte er.

„Hm, schwer zu sagen", gab ich als Antwort. „Muss Dokumente ausfüllen, rechtliche Sachen abklären, einige Leute anrufen und eine Rede schreiben für nächste Woche. Außerdem arbeite ich an einem Nekrolog für meinen alten Vorgesetzten."

„Und wie kommst du jetzt nach Hause, wenn ich fragen darf?"

Komische, plötzliche Frage, die völlig am eigentlichen Thema vorbeiging. Wieso wollte er das auf einmal wissen?

„Du, also ich... hab' da einen Parkplatz weiter weg", log ich.

„Aha, wo denn?"

„Zirka einen Kilometer."

„So weit weg parkst du?"

„Ja."

„Ich hab' einen direkt neben dem Lokal."

Verdammt, dachte ich. Ich durfte mich nicht blamieren, wenn wir das Lokal verließen. Ich war mir darüber bewusst, dass er bestimmt sehen würde, wie ich in den Bus steige. Demnach musste eine Notlüge her.

„Ich... fahr'... mit dem Bus wahrscheinlich zum Parkplatz. Hä... Hätte nicht gedacht, dass so viel Parkplätze in der Nähe frei sind, deswegen hab' ich den nächsten freien genommen." Ich begann leicht an der Stirn zu schwitzen und kam ins Stottern. Das spürte ich. Unangenehm.

So ist das also." Eine enttäuschte Miene von Marc. „Hm, egal... Ich werd' jedenfalls später dann den Range Rover nehmen. Hat mir mein Daddy zum Namenstag geschenkt. Nicht schlecht, oder? Zu meinem B-day krieg' ich aber vier, ha!"

„Oh, ja, das ist wahr. Schlecht ist's nicht."

„Eben."

„Weißt du eigentlich, was Roosevelt mal gesagt hat? Nichts in der Welt ist es wert zu haben oder zu tun, solange es nicht Fleiß, Schwierigkeit und Schmerz mit sich bringt... Kann man das deiner Meinung nach auch auf die Gebrandmarkten übertragen? Oder auf die, die dieses Land aufgebaut haben?"

„Wer ist Roosevelt?" Seine Miene verriet mir, dass er in der Tat keine Ahnung hatte, wer das gewesen ist.

Ich stoppte mein Vorhaben, weiter darüber zu reden. Warum dachte ich überhaupt noch darüber nach? Über diesen Materialismus? Was war mit anderen Ideologien? Oh, der Kommunismus hat es nie weit gebracht, die Geschichte hat das gezeigt. Eine im Kern noble Anschauung, die nie funktionieren kann. Und der Kapitalismus, in dem wir leben? Ist ungerecht. Aber die ganze Welt ist ungerecht, oder? Selbst im Kommunismus gab es eine habende Elite, die sich bestimmend über die anderen stellte; was war daran dann noch klassenlos oder gemeinschaftlich? Und wieder schweife ich von meinen Prinzipien ab... Ich sollte die Frage nach Gerechtigkeit für jeden aus meinem Kopf verbannen.

„Ah, vergiss einfach, was ich eben gesagt habe..."

„Du bist irgendwie seltsamer geworden", meinte er zu mir, während er mich scharf musterte. „Ich mein', wie lange kennen wir uns jetzt schon? Zehn Jahre? Damals warst du nicht so, kommt mir vor."

„Ja, wahrscheinlich."

Er seufzte einmal laut: „Menschen ändern sich halt."

„Ist so", bestätigte ich.

„Vielleicht wäre es besser wenn ich... Oh, Moment, das gibt's ja nicht!" Marc hüpfte schnell auf und drehte seinen attraktiven Kopf in die Richtung des Eingangs.

Von dort kam eine sehr noble und schöne Dame mit braunen, langen Locken, markanten Augenbrauen, lackierten Fingernägel und höchstwahrscheinlich aufgespritzten Lippen in das Lokal, gekleidet mit pompösem Pelzmantel, sichtbar teurem Schmuck und modischen Stöckelschuhen irgendeiner Edelmarke. Sie war groß, genau wie Marc auch. Und der Blick war voller Arroganz und Überheblichkeit. Sie wollte sich zunächst zu einem Tisch setzen, auf dem bereits ein anderer Anzugträger saß, entfernte sich aber dann von diesem, als sie Marc sah, der ihr zuwinkte. Den Anzugmann, der wahrscheinlich eine Verabredung mit ihr hatte, ließ sie links liegen und ging geradewegs auf den Tisch von mir und meinem Freund zu, wo sie sich letzten Endes auch auf denselben Platz setzte, auf dem auch Roy vorhin gehockt war. Wieder begrüßte sie nur Marc mit einer langanhaltenden Umarmung und drei diskreten Küsschen – ich wurde erneut zur Gänze ausgeblendet, obwohl ich dieses Mal mehr als deutlich die Hand ausgestreckt und sie sogar mit einem höflichen „Guten Tag" angesprochen hatte. Sie nahm das nicht einmal wahr, sondern legte den Fokus – genau wie Roy – völlig auf den charmanten Marc.

„Du hier, Marc?", fragte sie ihn. „Hätte nicht damit gerechnet, dich hier anzutreffen, he!"

„Aber was, Zoe." Marc musste schmunzeln. „Ich gehe öfters hierher. Meistens für den Mittagslunch. Das ist noch das beste Restaurant in der Nähe. Und was tust du hier?"

„Hab' eigentlich eine Art Date mit diesem Typen dahinten, aber mir gefällt seine Longines nicht... Zu billig, das Ganze. Und sein schlecht sitzender Anzug, die hellblaue Krawatte, das alte Schrotthandy auf seinem Tisch, die gefälschte Aktentasche... Mag ich nicht. Hat online anders ausgesehen. Viel besser. Aber jetzt langweilt er mich nur, ich glaub', ich geh' gar nicht mehr zurück zu dem Platz. Außerdem, wie kann man einen schwarzen Anzug bei einem Date tragen? Kennt der Idiot etwa den Knigge nicht? Wie kann man so blöd sein?"

Sie klang wie eine Domina, eine vor lauter Selbstbewusstsein strotzende, junge, verwöhnte Dame, die alles geschenkt bekam, was sie sich wünschte. Und das war sie ziemlich sicher auch.

„Zoe", sagte Marc. Der Name passte gut zu ihr. „Du hast Recht. Du solltest ihn lassen. Ist sicher so einer dieser Abteilungsleiter. Einer der Mittleren. So ein Wichtigtuer, ein Hochstapler und Lügenbold. Meine Güte, die sollten eigentlich einen dritten Distrikt machen, einen Mittleren Distrikt, damit die uns nicht mehr in die Quere kommen, pah!"

Beide lachten schelmisch über das Nichtvermögen anderer – und mehr denn je fühlte ich mich angesprochen und beleidigt.

„Ja, Marc..." Sie waren fertig mit dem Gelächter. „Andere Frage... Dein Vater hat ja dieses Unternehmen, oder?" Sie war wissbegierig. Vielleicht war sie verliebt in ihn.

„Korrekt."

„Und du übernimmst das dann, oder wie?"

„Eines Tages schon. Freu' mich jetzt schon drauf. Nur auf diese ganzen Sitzungen, Besprechungen, Strategieplanungen, Konferenzen... Darauf hab' ich keinen Bock, ehrlich gesagt. Interessiert mich einfach nicht."

„Das kannst du wen anders machen lassen. Da bin ich mir sicher. Hat mein Vater auch so gehandhabt. Der hat einfach ein paar aus dem mittleren Einkommenssektor dazu delegiert, die Drecksarbeit zu machen. Und die Gebrandmarkten schuften ja sowieso." Sie grinste teuflisch dabei, als sie den Satz mit den Schuftenden aussprach. Das erschreckte mich wahrlich.

Ihr Gesprächspartner hustete kurz: „Stimmt. Werd' ich auch so machen. Ach ja, was macht dein Vater noch schnell? Gehört euch nicht dieses private Klinikum?"

„Mein Onkel, der Arzt, der hat das gegründet. Eigentlich waren wir eine Ärzte-Dynastie, bis mein Vater ins Weingeschäft eingestiegen ist. Wir sind jetzt einer der größten Weinproduzenten der Welt. In Kalifornien, Frankreich, Österreich und Italien haben wir unsere Weinbaugebiete." Die Dame klang euphorisch und aufgeweckt. „Havering ist einer der berühmtesten Weine überhaupt. Uns kennt jeder. Ja, sogar die in Sylt saufen das, obwohl eine Flasche von uns Minimum zweihundert Dollar kostet! Und das ist noch günstig. Die besseren Flaschen starten ab achthundert. Sorten haben wir jede. Von Cabernet bis Merlot, Rosé, Weiß, Rot... alles haben wir!" Sie fuhr sich durch ihr langes, dichtes Haar.

„Jetzt erinner' ich mich wieder, ha! Tja, Havering... Was soll ich dazu sagen?" Anscheinend zeigte mein Freund nicht die erhoffte Reaktion. „Trinkbar, mehr nicht. Tut mir Leid, aber bei Wein bin ich ehrlich. Ich mag lieber TignanelloRothschildChâteau MargauxDomaine DujacPetrusLe Pin und so... Haben uns einen zweiten Weinkeller anfertigen lassen in unserem achten Haus am Land. Sagenhaft ist das. Aber mit einem halbherzigen Moët braucht keiner bei uns als Gastgeschenk aufkreuzen."

„Ehrlich?" Sie wirkte bedrückt und beleidigt, versuchte das aber zu überspielen, indem sie willkürlich in ihr Handy tippte. Es war klar zu erkennen, dass sie nur sinnlos herumscrollte, da keine Nachricht bei ihr eingegangen war. „Ich weiß nicht... Eigentlich ist unser Wein schon gut." Zoe legte ihr Handy wieder beiseite.

„Vielleicht für andere. Sagen wir's mal so, es gibt Schlimmeres... Läuft das Geschäft überhaupt gut?"

„Kann kaum klagen. Uns geht's super. Wir sind ja schließlich Teil der oberen Elite... Wie du."

Es zauberte sich ein zwielichtiges Lächeln auf Marcs Gesicht. Es war abzusehen, dass er nachhaken würde: „Dann erklär' mir mal, wieso ich deinen jüngeren Bruder erst kürzlich in einem verfluchten, alten Lexus gesehen habe! Pf, du kannst mir ja nicht erzählen, dass sich jemand, der genug Kohle hat, freiwillig in so ein Gefährt setzen würde, oder? Ist ja richtig mühselig, so ein hässliches und billiges Auto zu produzieren! Wird dem nicht schlecht beim Fahren? Ha, und Holzklasse fliegt er sicher auch."

„Warte, warte, warte... Du verstehst das falsch! Wir fliegen nicht Holzklasse! Das kann man keinem antun! Außerdem, mein Vater meinte, er soll kein allzu teures Auto bekommen, wenn er gerade erst den Führerschein gemacht hat!", verteidigte sie sich gegen die Anklage des Reich-oder-Arm-Prozesses.

„Und warum wohl? Weil er sich es nicht leisten kann!"

„Hör' damit auf, Marc!"

„Ich sag' nur die Wahrheit!"

„Wie dem auch sei..." Sie sah sich kurz im Lokal um, nahm tief Luft und probierte, auf ein anders Thema auszuweichen. „Nochmal zu vorher: Der beschissene Krieg könnte uns unsere Weingebiete in Europa kosten, wenn die EU tatsächlich am Krieg teilnimmt! Das ist richtig übel!"

Marc zeigte keine Regung: „Was macht ihr alle so einen Radau deswegen? Ist ja scheiß egal, oder? Wir zahlen halt ein bisschen was, aber das tut nur denen weh, die nicht so viel haben."

„Wenn die Weingebiete zerbombt werden, verlieren wir unsere Geschäftsgrundlage!"

„Mein Gott, sind ja nur ein paar dreckige Pflanzen... Ich werd' während dem Krieg gemütlich mit meiner Familie und meinen Cousins in unserem Berghaus in der Nähe von Anchorage, Alaska abhängen. Mein Bruder und ich überlegen uns sogar, ob wir eine Wette abschließen, wer näher an den Todeszahlen dran ist, pah! Unsre Bomben haben schließlich gezeigt, wie stark sie sind, als wir vor einigen Jahren Nordkorea ausgelöscht haben!"

Meine Geduld war zu Ende. Ich wusste, dass sich diese Herrschaften in absoluter Sicherheit wogen, während es eigentlich die Gebrandmarkten waren, die für uns in die mörderische Schlacht zogen. Und während dem ganzen Treffen mit Marc wollte ich genau das in einer Form ansprechen, dass er endlich auf meinen Satz eingehen und sich eventuell sogar Gedanken machen würde.

„Du Marc", begann ich. „Es ist für dich vielleicht nicht von so großer Bedeutung, aber... ich muss gestehen, dass im Grunde jeder von uns weiß, wer in diesem Krieg draufgehen wird. Und zwar nur die Armen. Die Unteren. Sie werden eingezogen, seitdem es die Wehrpflicht nicht mehr für die Einwohner der inneren Distrikte gibt. Das war aber nicht immer so. Nein, ganz und gar nicht. Im ersten Weltkrieg, da wurden sie alle eingezogen, unabhängig von Herkunft, Elternhaus oder Stand, und sie teilten sich Schützengräben, retteten sich in den Kämpfen und krochen gemeinsam durch den Schlamm. Das war noch was... Erinner' dich an Uncle Sam und die Plakate mit seinem Gesicht drauf, wo er jeden dazu aufgefordert hatte, zur Army zu gehen. Alte Zeiten. Jetzt sieht man ihn am Broadway auf Großbildschirmen für Kriegsanleihen werben. Ich weiß ja, dass sich alles geändert hat und nichts mehr wie früher ist und man mit der Zeit zu gehen hat, aber man müsste im Hinterkopf behalten, wer für uns verblutet! Gerecht ist's nicht, ja, aber sollte man nicht wenigstens dankbar sein, dass man nicht mitkämpfen muss? Ich will gar nicht wissen, wie sich die Gebrandmarkten jetzt fühlen, just in dem Moment, wie viel Angst sie verspüren... Es ist dramatisch. Völlig absurde Realität... Wäre das denkbar gewesen damals?"

Unangenehmes Schweigen. Indes die anderen Gäste um uns herum weiterhin ungestört lautstarke Diskussionen führten, verloren wir uns in prekärer Stummheit. Ich starrte wie gebannt in die Augen meines Gegenübers, doch er uns seine schöne Freundin verzogen nur ihre Gesichter, schüttelten mit dem Kopf und sahen im Allgemeinen so aus, als säßen sie mit jemandem an einem Tisch, der weder ihre Sprache spricht noch versteht. Meine Worte waren – das merkte ich recht schnell – wieder wie in den Wind gesprochen; sie gingen ins Leere, zeigten keinerlei Wirkung bei meinen Gesprächspartnern. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen, etwas in ihnen zu bewegen, etwas an ihrem einseitigen Denken und ihrer unübertrefflichen Engstirnigkeitzu ändern. Aber wieso nehme ich selbst denn überhaupt diese gutgemeinten, anteilnehmenden und menschenfreundlichen Floskeln in den Mund? Ich sollte aufhören, ein Philanthrop zu werden, das ist keineswegs gern gesehen. Und trotzdem passiert es mir alle paar Male wieder, von meinem ureigenen Zugang abzuschweifen – dem Zugang, der hier im Inneren Distrikt vorherrschend und erwünscht ist.

„Was redest du da für einen Müll zusammen?", fragte mich Marc mit einer verständnislos klingenden Stimmlage und nahm danach einige Bissen von seinem Essen.

„Hey Marc, die Weinbaugebiete sind uns wichtig, verstehst du das denn nicht?", sprach die Schöne weiter.

Ein weiteres Mal wurde meine Person nicht im Entferntesten beachtet. Ich aß einfach weiter.

„Deine scheiß Weinflächen kannst du dir in die Haare schmieren, wenn du so willst, Zoe! Ich hab' kein Interesse dran, okay? Meine Großvater hat bereits so viel guten Wein gekauft und bunkern lassen, dass wir das nächste Jahrhundert noch auskommen werden! Ist die Schuld von deinem komischen Vater, dass er gerade jetzt in dieses Business einsteigt! Was hat er sich davon bitte erhofft, hm? War ja abzusehen, dieser Krieg!"

Zoe nahm ihr Handy, zog ihre Pelzjacke wieder an, fuhr sich einige Male durch die Haare, hängte sich ihre Designertasche um die linke Schulter und erhob sich letztlich vom Platz.

„Mir reicht's. Du brauchst dich nicht mehr bei mir melden! Ich hau' ab!", schrie sie ihn an. Die anderen Besucher von Sobels führten ihre überraschten Augen für einen kurzen Moment zu der Szenerie, wendeten sich des mangelnden Interesses wegen aber alsbald wieder ab.

Und wie sie es gesagt hatte, geschah es auch. Das schöne Mädchen verließ das Lokal schnellstens, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen.

„He, zahlen wir?", wollte Marc wissen.

„Ähm... Ja, okay. Zahlen wir."

Er winkte dem gebrandmarkten Kellner zu, der sich anfangs bei mir diesen grausamen Fauxpas erlaubt hatte. Sofort kam der Bursche her, offenbar eingeschüchtert durch die noch überheblichere Ausstrahlung meines Gegenübers. Die Getränke waren mittlerweile ausgetrunken – außer das Mineralwasser von ihm – und das Essen war auch zum größten Teil weggegessen.

„Sie wünschen?", fragte der junge Kellner nervös wirkend.

„Zahlen."

„Okay. Getrennt oder zusammen, mein Herr?"

„Getrenn...", sagte ich, aber ich wurde im Satz unterbrochen.

„Zusammen!", meinte Marc.

„Oh, danke! Aber das ist doch nicht nötig!" Ich mochte es nicht, wenn man mich einlud.

„Ist in Ordnung." Er wandte sich wieder dem Ober zu. „Was kriegen Sie?"

„Das macht insgesamt... hunderteinunddreißig Dollar!"

Lässig zückte er die Brieftasche, nahm einen dicken Fünfhunderter heraus und überreichte ihm diesen. „Sagen wir zweihundert Dollar."

So viel Trinkgeld gibst du diesem Gebrandmarkten?" Ich war baff.

„Natürlich. Bin ja fast ein Wohltäter, oder?", lachte Marc.

Der Kellner freute sich sichtlich und gab ihm das Wechselgeld. „Ich danke Ihnen vielmals, mein Herr!"

Da nahm ich den jungen Ober mal genauer unter die Lupe. Es war ein mittelgroßer Jüngling, der kurzgeschorene Haare hatte, ziemlich dünn, gezeichnet und bleich erschien und garantiert durch eine oder mehrere Höllen gegangen war, nur um im Inneren Distrikt für ein paar Dollar mehr weiter zu schuften. Narben überall, müde Augen, verwegenes Gesicht und ein leicht trauriger Blick seinerseits. Und vielleicht konnte er – im starken Gegensatz zu den Leuten, die auf demselben Tisch wie ich gesessen hatten – einige meiner schwülstigen, philosophisch klingenden Sätze, die ich Marc, Roy und Zoe ins Gesicht sagte, hören, als er andere Gäste an den Nebentischen bedient hatte. Und möglicherweise machte er sich auch selbst Gedanken über das von mir Gesagte. Das verriet mir sein Blick. Was, wenn er mir geantwortet hätte? Ja, du hast Recht. Die Zeiten von Uncle Sam waren auch nicht besonders gut, aber die Oberflächlichkeit hatte noch nicht die endgültige Macht übernommen. Auch ich denke, dass man einen Menschen nicht nach dem zu beurteilen hat, was er besitzt und was nicht, doch die Zeiten sind dunkel für die, die nichts haben. Das wäre eine gute Antwort gewesen, die mich zufriedengestellt hätte. Pah, wie gerne hätte ich in diesem Moment die höchstwahrscheinlich tiefgründige Bedienung gegen den inhaltslosen Marc getauscht... Aber an was denke ich denn wieder?

„Jaja, ist okay, jetzt geh' mir aus der Sonne", war Marcs Verabschiedung an den dankenden Burschen.

Wir beide standen nun auch auf, packten unsere Sachen und gingen zusammen durch die edle Glastür ins Freie. Am Gehsteig fanden wir uns wieder, vor uns hunderte fahrende Nobelwagen.

„Tja, war ein angenehmer Mittag", sagte er zu mir und sah mich dabei an. „Ich werd' mich jetzt wieder meinem Freizeitprogramm widmen, und du? Ich hoffe, du hast noch viel Unterhaltsames heute Nachmittag vor."

„Das hab' ich... Das hab' ich...", war meine gelogene Antwort.

„Nun denn..." Ein schwarzer Maybach kam, fuhr über den Randstein und hielt unmittelbar vor Marc an. Ein scheinbarer Chauffeur zeigte sich, welcher dann ausstieg und das Auto seinem Eigentümer – in diesem Falle Marc – überließ und dann hinten einstieg.

„Gestatten, das ist mein persönlicher Fahrer. Der bringt mein Auto immer zu jedem Parkplatz der Stadt. Ich tu' mir das ja nicht an, selbst einen zu suchen." Er deutete auf den älteren Mann, der keine Haare mehr hatte, aber die ganze Zeit künstlich grinste und elegant angezogen war. Auch eine Tätowierung. Wieder einer dieser Menschen von Außerhalb.

Marc stieg schlussendlich auch ein, ohne mich auch nur zu fragen, ob er mich wo hinführen könnte und ließ im Auto sitzend noch die Scheibe runter, um mir irgendetwas zuzurufen. „Hey, Kumpel! War nett! Vielleicht sieht man sich wieder. Halt' die Ohren steif!"

„Mach' ich...", kam von mir zurück.

Er zwinkerte mir zu, ehe die Scheibe wieder raufging und er mit einem lauten Kickstart losfuhr. Der Motor machte einen unverkennbaren, imposanten Ton, den sicherlich die ganze Gegend hier hören konnte. Es dauerte nicht lange, bis der schwarze Maybach im prägnanten Straßennetzwerk dieses Großstadtdschungels verschwand. Ich stand nun alleine da, mit meinem guten Anzug und hatte keinen Chauffeur, der mich überall hinbrachte. Trotzdem, meine Beine führten mich zur Station vom E-Bus, der mich auch hergebracht hatte, aber ich nahm extra einen Umweg, damit mich die Gäste vom Sobels nicht auf diese Busstation zugehen sahen. Das wäre immerhin eine Schmach gewesen, für die ich mich definitiv geschämt hätte. Auf dem Weg dorthin steckte ich mir auch meine Kopfhörer in die Ohren und spielte mit meinem Gerät ein recht modernes Lied ab. Ein letztes Mal dachte ich über Marcs wenig tief reichenden Geist und seine spürbare Oberflächlichkeit nach. Dann warf ich auch einen Blick auf die gigantische City Hall, dem Sitz der Mächtigen, auf dessen Spitze die amerikanische Flagge wehte. Und ab da fiel es mir wieder ein, was mir für einige Momente innerhalb des Lokals entgangen war. Nämlich dass man in dieser Stadt, diesem Land, dieser Welt nur etwas aus sich machen kann, wenn man genug Geld, Macht und Einfluss hat. Mehr interessiert nicht. Alles andere ist überflüssig. Es gibt keinen Platz für Mitgefühl, Güte oder Bescheidenheit.

Fast war ich bei der Haltestelle. Weil ich mein Haupt gehoben hatte, um diesen Turm in seiner vollen Pracht zu bewundern, sah ich nicht, was vor mir war und so krachte ich erneut in einen dieser Unteren, dieser Gebrandmarkten. Ein Anderer war es, ein noch schmutzigerer. Sein Bart war lang und ungepflegt, seine Haare fettig, sein Körper gebrechlich, sein Gesicht mitgenommen und seine orange, ihn als Gebrandmarkten auszeichnende Kleidung war ihm zu groß. Er hatte eine kleinere Holzkiste getragen, die ihm durch diesen Zusammenstoß auf den Boden fiel. Sie ging dabei auf und man erkannte am Boden nur mehr einige zerbrochene Glühbirnen, die sich darin befunden hatten. Der ältere Gebrandmarkte kniete sich anschließend nieder, blickte auf die kaputten Teile hinab und begann, enttäuscht und traurig dreinzuschauen. Ich glaube, dass auch eine Träne seine rechte Wange runterlief.

Meine Kopfhörer gab ich für einen Augenblick raus: „Dein Herr wird sich darüber nicht freuen...", sagte ich möglichst kalt zu ihm und ging weiter, die zwei Teile wieder in meine Ohren steckend.

Ich erreichte die Haltestelle gerade rechtzeitig und stieg in den ankommenden Bus ein. Sofort setzte ich mich in die erste Reihe, auf den Fensterplatz, um genauer zu sein. Es nahm nicht so viel Zeit in Anspruch, bis der Bus losfuhr. Während ich aus dem Fenster starrte, begann ich damit, meine selbstlosen und gutherzigen Ausrutscher von vorhin zu bereuen. Alle hohlen Äußerungen, die ich meinem Freund an den Kopf geworfen hatte, bedauerte ich.

Was für ein Glück. Ich dachte wieder rational.

 

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2019

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