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DIE GRÜNEN SCHAFE

 

    Im Schatten unter den Ulmen betete der Schäfer, der vor vielen Jahrzehnten auf den Namen Raimundo getauft worden war, einen Rosenkranz. Seine wettergegerbte Hand glitt sanft über die glänzenden Perlen, während seine Lippen stumm die Gebete formten. Die Andacht wurde nur von den Rufen seiner Herde, gelegentlichem Vogelgezwitscher und dem sanften Summen der Bienen durchbrochen, die sich an den Blüten der bunten Blumen labten.

    Als Raimundo ein letztes ›Ehre sei dem Vater‹ gemurmelt hatte, ließ er den Rosenkranz in seine Tasche gleiten und griff stattdessen nach seiner Mandoline. Sein Herz begann im Takt der Natur um ihn herum zu pulsieren, und er konnte die Freude in dem milden Wind perzipieren. Mit einem leidenschaftlichen Zupfen riss er alle Saiten gleichzeitig an und erzeugte einen rauen, aufgeregten Klang, der jäh durch die Stille schnitt.

    Die grünen Schafe, die ein wenig abseits auf der gelben Wiese die Halme ausrupften, hoben kurz den Blick. Ihre bernsteinfarbenen, von der Sonne gewärmten Augen, betrachteten den Schäfer neugierig. Sie blökten, schrien mäh und bäh und grasten dann zufrieden weiter, als hätten sie den Beginn des Musizierens genehmigt. Die eigenartige Farbe der Schafe verlieh diesem abgeschiedenen Tal ihre besondere Mystik. Ihre grüne Färbung war ein Geheimnis der Natur, das die Bewohner von Cruz d'Olmo seit Generationen faszinierte. Der Sage zufolge waren die Schafe einst aus den Träumen der Elfen entsprungen und trugen deshalb dieses ungewöhnliche Fell. Raimundo glaubte fest an jene alten Geschichten; ein Zauber ging von diesen Tieren aus, die im Einklang mit der Natur und den Melodien seiner Mandoline lebten.

    Raimundo hatte den näheren Umkreis von Cruz d’Olmo sein Lebtag nie verlassen und sich trotzdem nie von der Welt dort draußen entfremdet gefühlt. Er war ja schließlich ein Teil davon, treu verbunden mit der Heimaterde und den Tieren, die sein Leben begleiteten.

    Nachdem er die Mandoline gestimmt hatte, begann er seine Melodie zu spielen: souverän, impulsiv und rasant erklang eine Weise seines Heimatdorfes Cruz d'Olmo. Die Noten tanzten wie Schmetterlinge in der Abendbrise und verliehen der Landschaft einen Hauch von Magie.

    Langsam neigte sich die Sonne hinter dem sanften Hügel, dessen Farben mit denen des Himmels verschmolzen, die von Orange zu Pink und schließlich zu Dunkelblau wechselten.

    Raimundo spielte weiter, unterbrochen von kurzen Pausen, in denen er etwas Weißbrot und Schafskäse aß und den Geschmack seines Rotweins genoss. Sein Herz begleitete jede Note, seine Seele jeden Akkord. Raimundos Finger glitten über die Saiten, wie wenn sie ein Eigenleben führten. Sein Instrument schien mit ihm zu sprechen: die Melodien erzählten von Liebe, Verlust und den unaufhörlichen Erschütterungen des Lebens.

    Schon lange hatten sich die Schafe um ihn versammelt, als ob sie die Musik verstünden. Ihre Augen hatten nichts mehr von bloßer Neugier, sondern hingen gebannt an den Lippen des Schäfers, als könnten sie die Geschichten in den Liedern mitfühlen.

    Die letzten Strahlen der Sonne verschwanden und die Gestirne am Himmel leuchteten auf. Raimundo beendete sein Spiel auf berührend intime Art. Die Mandoline verhallte ganz sachte, und in der Stille, die folgte, war die Welt im Einklang. Raimundo fühlte sich in diesem Moment eins mit allem, was ihn umgab. Er schloss die Augen, atmete tief ein und aus und dankte dem Universum für diesen Augenblick der Harmonie. Die grünen Schafe schienen seine Dankbarkeit zu spüren, denn sie verharrten regungslos und ihr Blick war von einer tiefen Herzensruhe erfüllt.

    Andächtig unter den Ulmen, im Schatten der Nacht, saß der Schäfer Raimundo. Sein Herz sang leise weiter, während die Welt um ihn herum in friedlicher Besinnlichkeit ruhte. Wenn der Mond durch das Laub der Ulmen blinzelte, erstrahlten die grünen Schafe wie leuchtende Sterne. Auch die Menschen dort unten in Cruz d'Olmo wussten, dass sie ein wertvolles Geschenk der Natur in ihrem Tal besaßen.

   

ENDE

Impressum

Texte: Alberto Bronca
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2023

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