In einer Welt, in der Langeweile die Überhand gewonnen hat und Alltagstristesse regiert, erhebt sich die Geschichte von »Seine Majestät« und ein Funken des Ungewöhnlichen bricht sich plötzlich Bahn. Doch wer hätte gedacht, dass dieser Funke ausgerechnet von einem fast normalen, alten Kerl - mit einer verrückten Idee - entfacht werden würde? Jan-Pieter van Sindkaerts, als der er in der Nieuwe Melissegaarde bekannt war, erklärte sich eines Tages zur Königlichen Hoheit. Aber nicht irgendeine Hoheit – nein, er war überzeugt davon, dass er der König von Casablanca war. Warum ausgerechnet Casablanca? – er wusste es selbst nicht, denn er war nie weiter gereist als bis zu einer Eisdiele am Nordseestrand, und selbst das lag bis weit in seine Kindheit zurück.
Morgens kurz vor sechs erwachte Jan-Pieter und empfand einen unerklärlichen Drang zu royalem Gebaren. Dass ihm kein livrierter Lakai in den Bademantel half und er sich sein frugales Frühstück selbst zubereiten musste, erfüllte ihn mit größter Säuernis. Sein Missfallen wurde durch die obligatorische kalte Dusche in seinem schmalen, weißgekachelten Badezimmer noch gesteigert. Am Vormittag suchte er in seinen Schubladen und Regalen, fand einige alte Zeitschriften und bastelte sich kurzerhand eine extravagante, farbenfrohe Papierkrone, die Queen Elizabeth II. zur Ehre gereicht hätte, davon jedenfalls war Jan-Pieter fest überzeugt.
Ein Narr der Fantasie, so prächtig, als könne er die Schwerkraft des Verstandes aufheben, behütet mit seiner royalen Kopfbedeckung, beschloss er, dass es an der Zeit sei, sein Königreich zu erweitern. Und wohin sollte ein extravaganter König schon reisen, wenn nicht von Casablanca nach Las Vegas?
Also machte sich Jan-Pieter auf den Weg, die teure Papierkrone kerzengerade auf dem Kopf sitzend und im Besitz einer Karte, die mehr einer Kinderzeichnung glich, als dass sie nach einer Navigationshilfe aussah. Die Reise verlief nicht frei von Turbulenzen, er irrte durch unbekannte Straßen, begegnete unerwartet Wüstenskorpionen – oder waren es vielleicht nur streunende Katzen gewesen? Wer konnte das schon mit Sicherheit sagen?
Doch Jan-Pieter ließ sich nicht aus dem Tritt bringen. Er glaubte fest daran, dass glorreiche Zeiten auf ihn warteten, sobald er Las Vegas, die glitzernde Stadt, erreichen würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit, betrat er mit schmerzenden Füßen und einem gequälten Lächeln ein erstes Casino. ›Showtime‹, dachte er sich und war bereit, sein königliches Glück am Spielautomaten zu versuchen.
Während er die Walzen in Gang setzte, flüsterte der Wind ihm abstruse Geheimnisse zu. Okay, vielleicht war es nicht der Wind, sondern eher eine Klimaanlage, aber es klang definitiv nach Geheimnissen. Und was wäre ein königliches Abenteuer ohne eine Prise Mysterium? Leider war Seiner Majestät das Spielglück nicht hold. Der Zeremonienmeister des »Sun Palace Speelparadijs« empfahl ihm noch einen Drink und beförderte den mitleiderregend maulenden Jan-Pieter mit sachtem Druck vor die Tür.
Voller Elan und mit einem Hauch von geheimnisvoller Aura umgeben, entschied Jan-Pieter, die Gröne Peper Straat zu erkunden, von der ihm zuvor ein merkwürdiger Typ in der Casinolobby erzählt hatte. Und so wandelte er nun auf einer Straße voller exotischer Düfte und einem Haufen verrückter Straßenkünstler. Wer hätte gedacht, dass er plötzlich im Apollo-Theater landen würde, auf dessen primitiver Bühne es von Jongleuren und Tänzern wimmelte, und wo ein Papagei Shakespeare-Verse rezitierte?
Jan-Pieter fand sich nur mäßig unterhalten und meinte, dass es eigentlich an der Zeit sei, seinen Trip fortzusetzen – er hatte schließlich nicht weniger als sein Königreich Casablanca verlassen, um auf dem Weg nach Vegas die Welt zu erobern, und bei diesem Unterfangen war er gerade einmal bis ins Apollo-Theater gelangt, wo er nun seine kostbare Zeit vertändelte.
Doch wie es bei königlichen Ausmärschen manchmal so ist, kam es auch bei diesem folgerichtig zu einem Überraschungseffekt.
Im schimmernden Licht drückte sich Jan-Pieter eben aus dem Plüschsessel und warf einen vermeintlich letzten Blick auf die Bühne, als er die schwarze Zauberkunst förmlich in der Luft spürte und von einem Magier, der – in einen exzentrischen Frack gehüllt – mit exaltierten Gesten agierte, auf die Bühne gezogen wurde. Der Große Zambaldini war berüchtigt für seine verrückten Darbietungen – zumindest beim Stammpublikum des Theaters.
Jan-Pieter wusste nicht wie ihm geschah, er stand plötzlich im Mittelpunkt des Geschehens. Zambaldini ließ ihn eine Spielkarte ziehen und bat ihn, sie zu unterschreiben. Dann, mit einem schnellen Wisch seines Umhangs, flatterte die Karte wie ein Nachtfalter und verschwand, um kurz darauf unter Jan-Pieters Krone wieder zum Vorschein zu kommen. Doch das war erst der Anfang. Zambaldini wuchtete eine riesige, leere Truhe auf die Bühne und lud Jan-Pieter ein, hineinzuklettern. Der richtete verdattert seine Krone, worauf die wenigen Gäste amüsiert den Kopf schüttelten. Zögernd setzte Jan-Pieter einen Fuß nach dem andern in die Truhe, und ehe er sich versah, wurde sie geschlossen.
Angespannt verharrte Jan-Pieter im Dunkeln. Plötzlich vermeinte er zu schweben. Ein wundersam duftender Rauch zog durch die Truhe. Jan-Pieter fühlte sich angenehm benebelt. Als der Kasten aufsprang, machte er große Augen. Er befand sich anscheinend nicht mehr im Apollo-Theater, sondern in einem glitzernden Wald, wo ihn grell leuchtende Blumen und tanzende Tiere begrüßten. Wie war das möglich? Seine Majestät konnte es kaum fassen. Zambaldini tauchte just neben ihm auf und flüsterte ihm mit einem unverschämten Grinsen zu, dass er nun in der Welt der Illusionen sei.
Eine wunderliche Reise begann durch surreale Landschaften, wo Bäume aus Bonbons wuchsen und der Himmel aus schimmernden Seifenblasen bestand. Jan-Pieter keckerte wie irre vor Freude, während er auf einem fliegenden Teppich durch die Lüfte zu gleiten schien.
Dann wurde ihm schwarz vor Augen, er spürte einen Würgereiz und schließlich kehrte er wieder auf die Bühne zurück, wo er mit einem tosenden Applaus empfangen wurde. Jan-Pieter hatte nicht nur an einem Zaubertrick teilgenommen, sondern war Teil einer illusionsgeladenen Reise durch seine Fantasie geworden, wenngleich Zambaldini mit einer diffusen chemischen Substanz dabei kräftig nachgeholfen hatte. Wieder festen Boden unter den Füßen spürend, galt Jan-Pieter dieser magische Moment im Apollo-Theater als Meilenstein auf seiner Exkursion nach Vegas – ein erstes Abenteuer, das seine wilde Lockenpracht vor Staunen unter der Papierkrone sich aufrichten ließ.
Noch etwas benommen torkelte Jan-Pieter von der Bühne. Hilfreiche Hände stützten ihn. Man geleitete den willenlosen Alten zum Ausgang, klopfte ihm dankbar auf die Schulter und gab ihm einen leichten Schubs, der seine müden Füße in Gang brachte. Mit einem Seufzen verabschiedete sich Jan-Pieter, wobei er salbungsvoll mit der Hand winkte. Seinen Heimweg fand er instinktiv und ganz allein.
Und so kehrte Seine Majestät, Jan-Pieter van Sindkaerts, zurück – nicht nach Casablanca und auch ohne Vegas gesehen zu haben – nicht als König, sondern als ein einfacher Bürger, mit einer Papierkrone, die zerknautscht aus seiner Hosentasche lugte, und einer unvergesslichen Geschichte versehen, die im Moment mehr zählte als alles Gold der Welt.
Ende
Texte: Alberto Bronca
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 15.08.2023
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