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Klempnerei, die Leiden schafft

 

Artur Instein ist Klempner aus Leidenschaft, mit Herz und Seele, ein wahrer Vollblut-Installateur. Er liebt seinen Beruf, ihm ist nichts zuwider, er kennt keine Hemmungen – egal wie verdreckt sein Einsatzort auch sein mag. Allerdings ist er dennoch auf Hygiene und den Eigenschutz vor Keimen bedacht. Ohne spezielle Kleidung ist er bei der Arbeit nicht anzutreffen. Auch jetzt trägt er zusätzlich zum Overall eine blaue Schürze. Die Hände stecken in extralangen Gummihandschuhen. Seinen Atemapparat schützt er mit einer FFP2-Maske und die Augen mit einer Sicherheitsbrille. Über den Schädel hat er sich eine Haube gezogen. Artur arbeitet schließlich mit schwer ätzenden Chemikalien – wenn es der Fall erfordert.

Er beugt sich über die Toilettenschüssel, um eine erste Einschätzung vorzunehmen und kommt zu dem Schluss, dass bei diesem Einsatz leichte Artillerie völlig ausreicht. Er schiebt die Bürste beiseite und greift nach der Essigflasche. Großzügig verteilt er die Flüssigkeit im Objekt. Beiläufig summt er leise ein paar Töne und lässt die Melodie sacken. So ganz zufrieden ist er allerdings nicht damit. Nun nimmt er den knallroten Pömpel zur Hand, um die Verstopfung zu bekämpfen, setzt ihn mit gezielten und kräftigen Bewegungen auf den Abfluss des Tiefspülers und drückt ihn nach unten. Dann zieht er den Pömpel schnell nach oben, um einen Unterdruck zu erzeugen und den Verstopfungspunkt aufzubrechen. Artur wiederholt diese Bewegungen mehrmals, wobei er professionelle Vorsicht walten lässt, um nicht zu viel Druck auszuüben und seine Bemühungen ins Kontraproduktive zu verkehren. Ruhig und routiniert arbeitet er weiter. Intensiv lässt er sich eine neue Idee für seine vorhin abgebrochene Melodie durch den Kopf gehen, wobei er aufmerksam die Kloschüssel beobachtet. Er schüttet etwas Wasser nach. Allmählich tragen seine Bemühungen Früchte. Die Verstopfung löst sich und auch Artur entspannt sich, während er sich gegen die gegenüberliegende Fliesenwand lehnt. Nun fließen ihm die Noten wie von selbst  durchs Hirn. Man muss wissen: Artur Instein ist nicht nur Klempner, sondern auch Komponist. Meistens übt er diese Passion während seiner Arbeit aus. Er hat bereits ein ansehnliches Portefeuille an Notenblättern zuhause in seinem Musikzimmer angehäuft. Sein Œuvre umfasst hauptsächlich Sonaten; er liebt Sonaten. Und gerade hat er den Einstieg in ein neues wundervolles Werk erschaffen. Der Titel steht ihm bereits vor Augen: Sonatine für Pömpel und Essig in C-Dur Opus 13, Nummer 1.

Obendrein ist Artur aber auch noch sein eigener (... wohlwollender) Kritiker. Schon schießt ihm der passende Text zu seinem Werk durch die grauen Zellen:

»Die Sonatine für Pömpel und Essig in C-Dur von Artur Instein ist eine ungewöhnliche und bemerkenswerte Komposition, die mit den traditionellen Konventionen der klassischen Musik bricht und nebenher zahlreiche Fragen aufwirft und den Hörer mit einem Gefühl der Neugierde und des Staunens zurücklässt. Instein, der bekannte zeitgenössische Komponist, hat einen einzigartigen Ansatz gewählt, um unerwartete Klänge und unkonventionelle Instrumente zu integrieren. Die Wahl des Pömpels und des Essigs als Hauptinstrumente ist eine außergewöhnliche Entscheidung, die die Grenzen dessen, was als ›musikalisch‹ betrachtet wird, sprengt.

Die Sonate besteht aus drei Sätzen, die jeweils verschiedene Stimmungen und Klanglandschaften erkunden. Der erste Satz eröffnet mit einer reizvollen Melodie, die von den Klängen des Pömpels getragen wird. Seine sanften Töne erzeugen eine mysteriöse Atmosphäre, die den Zuhörer in den Bann zieht. Der Essig tritt als rhythmische Ergänzung auf und fügt dem Stück eine überraschende ›Schärfe‹ hinzu.

Im zweiten Satz erkundet Instein die klanglichen Möglichkeiten des Essigs. Durch geschicktes Experimentieren mit verschiedenen Techniken und Spielweisen erzeugt er eine Vielzahl von Geräuschen und Texturen, die es dem Hörer ermöglichen, in eine surreale Klangwelt einzutauchen. Der Essig, mit seiner flüssigen Konsistenz, erzeugt ein charakteristisches Geräusch, wenn er auf verschiedene Oberflächen trifft. Es ist ein scharfes, prickelndes Geräusch, das an das Zischen von Blasen erinnert, die plötzlich aufplatzen. Jeder Tropfen Essig, der auf den Boden oder andere Oberflächen trifft, erzeugt in der Verknüpfung mit den Schlägen des Pömpels eine individuelle Klangtextur. Ein Cello tritt dabei als melodisches Element hinzu und ergänzt den Essig auf subtile Weise. Das plötzliche Einsetzen einer Scheuerbürste bewirkt eine unerwartete, raue ... fast kratzende Strukturierung, die einen melodiösen Aspekt einflicht, manchmal aber auch in einer Art schabender Dissonanz interagiert.

Der dritte Satz bringt die beiden Hauptinstrumente in harmonischer und kontrapunktischer Weise zusammen. Hier entsteht gewissermaßen eine Einheit zwischen dem impulsiven, perkussiven Pömpel und dem Essig, während sie sich in einem luftigen Dialog miteinander verwickeln. Der punktuelle Einsatz einer Klarinette erzeugt melodische Passagen und rhythmische Muster, die dem Werk eine dynamische und lebendige Qualität verleihen.«

In der Toilettenschüssel gluckert das Wasser und weckt Artur aus seinen Überlegungen. Vor lauter Übermut pumpt er jetzt, vielleicht ein wenig zu nachdrücklich, mit dem Pömpel. Wasser schwappt über den Rand der Schüssel. Artur ist reichlich verärgert, insbesondere über sich selbst. Er kann gerade noch einen Fluch unterdrücken, denn die Frau des Hauses, eine gute und langjährige Kundin, möchte er jetzt keinesfalls auf den Plan rufen. Mit den Tüchern aus seinem Eimer wischt er flugs die Überschwemmung auf. Dabei kommt ihm der Gedanke, ob er seine Sonatine um einen Gesangsteil ergänzen könnte. Er denkt dabei an ein schreiendes Fluchen als drastische Akzentuierung, welches durch sein unvermitteltes, emotionales Erscheinen die Intensität verstärkt: Wut, Schmerz oder Frustration, rohe, expressive Energie.

Artur packt sein Werkzeug zusammen, reinigt den Einsatzort und legt die Schutzmontur ab. Für das Büro seiner Firma füllt er schnell den Arbeitszettel mit den geleisteten Tätigkeiten aus und übergibt den Durchschlag der geduldig in der Küche wartenden Kundin, die bereits eine Kanne Kaffee gekocht und etwas Marmorkuchen für sich und den fleißigen Handwerker bereitgestellt hat.

Die Idee mit dem Schreigesang hat Artur mittlerweile ad acta gelegt. Er käme einer Provokation gleich, wäre ein exaltierter Kontrast zu traditionellen Gesangsstilen, der den Hörer zu einer unnötigen Erfahrung herausfordern würde. Später im Treppenhaus fällt Artur mit einem Mal etwas anderes ein: eine Reinigungswelle. Die Verwendung des drehenden Kreischens einer Reinigungswelle als Schlusselement könnte durchaus zur Gesamtaussage der Komposition beitragen und als Metapher für den Abschluss einer Transformation dienen, quasi das Ende eines Zyklus symbolisieren und...

Artur Instein hat inzwischen seinen am Straßenrand geparkten Lieferwagen erreicht. Er öffnet die Hecktür und verstaut seine Utensilien fein säuberlich auf der Ladefläche. Als er das Lenkrad umfasst, lässt er noch einmal seine Komposition und die fabelhafte Rezension Revue passieren. Artur ist mit der Tiefe und Subtilität, der Authentizität und Originalität, der Frische und den avantgardistischen Ansätzen hochzufrieden und fädelt aufgewühlt in den langsam fließenden Verkehr ein.

 

ENDE

 

Impressum

Texte: Alberto Bronca
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2023

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