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Der Duft des Grases

 

Annabelle, die elegante Boutiquebesitzerin um die vierzig, verließ an diesem Sonntagnachmittag ihre schicke Eigentumswohnung,  stieg in ihr Mazda Cabrio und steuerte hinaus aufs Land, um dem Trubel der Stadt zu entkommen. Die frische Luft und die (hoffentlich) malerische Landschaft sollten ihre Seele beruhigen. Sie passierte die geschäftigen Straßen der Innenstadt, die von hohen Gebäuden umstanden und von erlebnishungrigen Menschen bevölkert waren. Die Geräusche von Autos und der allgemeine Stadtlärm erfüllten die Luft. Allmählich begann sich dann die Umgebung zu verändern. Es domininierten nicht mehr Beton und Glas. Die Häuser wurden weniger, die Straßen wurden schmaler und von Bäumen gesäumt. Nach und nach wich die Hektik der Stadt der Ruhe und Gelassenheit der Natur. Mit jedem Kilometer nahm die Landschaft einen mehr und mehr malerischen Charakter an. Annabelle passierte sanft geschwungene Hügel und Felder, in denen das goldene Licht der Sonne die Halme des Getreides zum Leuchten brachte. Hin und wieder durchquerte sie auch kleine, pittoreske Dörfer mit traditionellen Häusern und blühenden Gärten. Der Himmel über ihr wurde weiter und klarer. An einem leeren Parkplatz legte sie eine kurze Pause ein und lauschte den unbekannten Vogelstimmen, während sie genüsslich ein Sandwich verspeiste und an dem alkoholfreien Prosecco nippte. Schließlich erreichte Annabelle die ländliche Landschaft in ihrer vollen Pracht. Weite Felder breiteten sich vor ihr aus, in denen Kühe friedlich grasten. In der Ferne erkannte sie Pferde. Die Umgebung war von einer friedvollen Stille erfüllt, nur unterbrochen vom sanften Rauschen des Windes und dem Zwitschern der Vögel. Annabelle fühlte sich von der Schönheit der Natur überwältigt und ergötzte sich in dieser unberührten Landschaft, einem Ort der Ruhe und des Friedens. Die Fahrt von der Stadt aufs Land hatte sie wie gewünscht in eine völlig andere Welt geführt.

 

Mit einem Mal stottert der Motor ihres Autos, dann bleibt es mit einem Ruck stehen. Annabelle umklammert entgeistert das Lenkrad. »Oh nein. Das darf nicht wahr sein!« ruft sie laut aus. Mehrmals dreht sie den Schlüssel im Zündschloss, doch der Wagen startet nicht. Genervt zieht sie den Hebel unter dem Armaturenbrett, um die Motorhaube zu entriegeln und steigt aus. Ratlos blickt sie in den Motorraum und sieht sich dann in der Umgebung um. In unmittelbarer Nähe grasen seelenruhig einige Kühe, sich nicht um die Besucherin kümmernd. Etwas abseits zieht ein Traktor seine Bahnen. Annabelle rudert wild mit den Armen und ruft lautstark um Hilfe. Der Traktor stoppt, wendet und tuckert langsam auf sie zu.

»Goden Dag! Bruukt di Help?« fragt der Bauer mit einem Lächeln auf seinem sonnengebräuntem Gesicht, nachdem er bedächtig aus der Fahrerkabine geklettert ist. Annabelle schätzt sein Alter auf zirka 60 Jahre. Auf den ersten Blick wirkt er etwas plump, aber sein kräftiger Körperbau strahlt die Kraft und Ausdauer eines Mannes aus, der sein ganzes Leben auf dem Land gearbeitet hat. Er schiebt seine Mütze aus der Stirn. »Ik heet Hinnerk.«

»Guten Tag Hinnerk. Ich bin Annabelle. Nett von Ihnen, dass Sie gleich herübergekommen sind. Ich bin einfach mal raus aus der Stadt und dachte, ich erkunde ein wenig das Landleben und urplötzlich gibt der Motor meines Autos den Geist auf. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll...«

»Freit mi, Annabelle«, unterbricht Hinnerk Annabelles Redeschwall und mustert ihre schlanke Figur und das schicke Outfit. »Laat mi mal kieken, wat mit dien Auto los is.«

Er stützt sich mit seinen von Schwielen und Narben gezeichneten Pranken auf die Karosserie und kratzt sich am Haaransatz. »Mit so'n neumodisch Kraam kenn ik mi leider nich ut.«

»Oh, tatsächlich«, säuselt Annabelle und zupft an ihrer Hochsteckfrisur. »Ich hatte gehofft, dass Sie...«

»Wenn du mit en Trecker liggenbleven weerst, wüss ik wiss, woneem ik ansetten müss. Ik schätz, du musst doch den Punndeenst anropen, Annabelle.«

Annabelle lässt den Kopf sinken und atmet tief ein. »Was ist das mit einem Mal für ein intensiver Geruch hier?« wendet sie leicht angeekelt an den Landwirt.

Hinnerk lacht und wedelt den Geruch beiseite. »Oh, dat is de Duft vun dat Landleven, mien Deern! Dat is dat natürliche Arom vun dat Graas, nadem Bertina, mien Prachtkuh dar baven, darop strullt harr. Toeerst bruukt dat sien Tied, aver dat is een Deel vun dat Landleven.«

Annabelle verzieht leicht das Gesicht und schaut skeptisch. »Ich weiß nicht, Hinnerk. Das riecht unfassbar stark. Kann man sich wirklich daran gewöhnen?«

Hinnerk nickt und lächelt. »Man seker, Annabelle, man kann sik dar an wennen. Fakt! Veel Lüüd, de op dat Land leevt, hebbt sik in Wahrheid en starken Vörleefnis för den Röök entwickelt. Dat hett wat rohig un authentisch. Dat erinnert an dat oorsprüngliche, an dat eenfach Leven.«

Annabelle zögert einen Moment, dann lässt sie ihre Hand von ihrer Nase sinken. Tief atmet sie ein und versucht, den Duft des benetzten Grases bewusst wahrzunehmen. Sie muss es sich eingestehen, irgendwie ist da etwas Faszinierendes daran: eine Verbindung zur Natur, die sie in der Stadt so oft vermisste.

»Hmm«, murmelt sie und lächelt leicht. »Sie haben Recht, Hinnerk. Es ist zwar ungewöhnlich, aber es hat auch etwas Einzigartiges. Es gemahnt mich daran, wie wichtig es ist, mit der Natur verbunden zu sein.«

Hinnerk nickt zufrieden. »Jüst, Annabelle! So as Natuur ehr egen Sprak hett, hett se ehr egen Düft. Dat is schöön, dat du dat utmaken kannst. Af un to mööt man sik darop inlaten un de Schönheit in de eenfach Saken opdecken.«

Annabelle richtet den Blick wieder auf die Weide, auf der Bertina gerade ihr großes Geschäft erledigt. Sie saugt den Duft ein und merkt, dass er tatsächlich etwas Magisches hat. Es ist ein unverwechselbarer Teil des Landlebens, den sie zu schätzen beginnt.

 

Annabelle und Hinnerk plauderten munter weiter, genossen den Duft des Grases und der Natur um sie herum. Annabelle vergaß derweil den Anruf beim Pannendienst und Hinnerk, dass er noch einige Hektar Acker bearbeiten wollte. Beide erkannten, dass das Landleben mehr zu bieten hatte als nur malerische Landschaften und Ruhe.

 

ENDE

Impressum

Texte: Alberto Bronca
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2023

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