An einem sonnigen Montagvormittag schlendert ein Mann durch eine Straße. Er wendet den Blick nicht hierhin, nicht dorthin. Seine Augen sind starr nach vorne gerichtet, als ob er von etwas Wichtigem abgelenkt wird. Seine Schritte sind gleichmäßig und unbeeindruckt von der Umgebung; diesen Weg ist er schon hunderte Male gegangen. Dabei gäbe es viel zu betrachten. Die Straße ist sanft geschwungen und von sauberen Bürgersteigen flankiert. Dicht belaubte Bäume spenden einen wohltuenden Schatten. Es gibt Geschäfte mit interessanten Schaufensterauslagen und Häuser mit pittoresken Fassaden. Alles bleibt von ihm unbemerkt. Nichts schenkt er seine Aufmerksamkeit, seine Gedanken sind offenbar woanders.
Die Menschen, denen er auf seinem Weg begegnet, sind ihm nicht bekannt. Niemand grüßt ihn. Er scheint sich in einer anderen Welt zu befinden – seine Gedanken tief in seinem Inneren vergraben.
Mit einem Mal bleibt er abrupt stehen, das geschäftige Treiben jedoch geht weiter. Der Mann bleibt unberührt von der Welt um ihn herum.
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Am nächsten Morgen wacht der Mann wie gerädert auf. Nach der dritten Tasse Kaffee erinnert er sich an den Traum, der ihn in der Nacht unablässig gequält hat. Er träumte von jenem Schaukelpferd aus Kindertagen und die glückliche Zeit, die er auf diesem Spielzeug verbracht hat. Er schwelgt in Erinnerungen an die Stunden, die ihm halfen, seine Ängste und Sorgen zu überwinden und sehnt sich danach, wieder den Hals des Pferdchens zu umarmen.
Aufgewühlt fährt er hoch, macht sich fieberhaft auf die Suche nach dem Schaukelpferd. Er durchsucht die Kellerräume und den Speicher seines Hauses, aber es ist nirgends zu finden. Beinahe selbstquälerisch beginnt er, alte Fotoalben durchzublättern. Schließlich entdeckt er ein Foto, auf dem er als Kind auf dem Schaukelpferd sitzt und ein fröhliches Lächeln auf dem Gesicht hat.
Der Wunsch, wieder ein solches Spielzeug zu besitzen, lässt seine Sinne in einem dichten Nebel versinken. Entgegen seiner sonstigen Angewöhnung verlässt er energisch und nahezu freudig gestimmt sein Haus. Er streift durch die Straßen der Nachbarschaft und betritt ein Spielwarengeschäft, an dem er sonst immer achtlos vorbeigegangen ist.
Mit Argusaugen hält er Ausschau nach dem zwanghaft herbeigesehnten Spielzeug. Mehrere Male schreitet er die Gänge auf und ab, späht nach oben in die Regale, kramt in den unteren Reihen – ohne Erfolg. Mittlerweile pressiert es ihm, er kann und will jetzt nicht mehr länger warten. Er lässt seinen Blick wandern, bis er eine ihm genehme Verkäuferin entdeckt. Dann fasst er sich ein Herz und spricht sie an, obwohl ihm seine Schüchternheit eigentlich dabei im Wege steht. Die freundliche ältere Dame hört ihm aufmerksam zu und nickt wissend. Er folgt ihr auf dem Fuße. Sie durchsucht ein dicht gefülltes Regal, schüttelt mit dem Kopf, geht weiter und entdeckt schließlich unter einem abseitigen Träger ein leicht verstaubtes Paket.
Der Mann ist überglücklich, als er das auf dem Karton abgebildete Schaukelpferd sieht und bedankt sich – für seine Verhältnisse überschwänglich – bei der Verkäuferin für ihre Hilfe. Die Frau lächelt und meint: »Ihr Enkelkind wird sich sicher riesig freuen. Eigentlich fragt heutzutage niemand mehr nach so etwas.« Verlegen greift er sich das Paket und ist eilig auf dem Weg zur Kasse.
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Zuhause angekommen, verschließt der Mann alle Türen, zieht sogar die Fenstervorhänge zu und dreht dann das Radio an. Ungeduldig öffnet er die Verpackung und stellt das Schaukelpferd vorsichtig auf dem Teppich ab. Dann setzt er sich auf den Sattel und teilt einen sanften Stoß mit den Sporen aus, worauf das Schaukelpferd in einen leichten Trab verfällt. Der Mann spürt, wie ihm die Erinnerungen an längst vergangene, unbeschwerte Kindertage zurückkehren und wie sich seine Sorgen und Ängste für einen Moment in Luft auflösen.
Eine sentimentale Melodie erklingt aus dem Radio; sie spendet ihm zusätzlichen Trost.
Er ist im sicheren Glauben, das Hin und Her der Bewegungen müsse ihm helfen, sich zu entspannen und seine Gedanken zu ordnen. Doch stattdessen scheint er im Kreis zu reiten, ohne eine Lösung für seine Probleme zu finden. Er kann keinen klaren Gedanken fassen, fühlt sich leer und traurig. Seine Hoffnung droht, wie eine Seifenblase zu platzen.
Der Mann fühlt sich krank und steigt vom Schaukelpferd herunter. Er setzt sich still vor den Fernseher, ohne wirklich darauf zu achten, was auf dem Bildschirm läuft. Sein Kopf pocht und ihm ist übel. Er versucht, sich auf seine Atmung zu konzentrieren, um die Übelkeit zu lindern. Der Raum wirkt immer dunkler und leerer. Schließlich döst er ein und wird erst kurz vor Mitternacht wieder wach.
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Der Mann hebt langsam seinen Kopf und schaut auf den Bildschirm. Es läuft ein Western mit John Wayne. Der Mann verfolgt, wie der Cowboy auf seinem Pferd durch die staubigen Straßen reitet und sich gegen seine Feinde zur Wehr zu setzen weiß.
Der Film fesselt den Mann. Er versinkt in der Geschichte. John Wayne spielt einen Kerl, der kühlen Kopf bewahrt und tapfer allen Widrigkeiten entgegentritt.
Nach und nach entkrampft sich der Mann. Sein Kopf pocht nicht mehr so stark wie zuvor. Er lehnt sich zurück und vergisst seine eigene Realität. Als der Abspann läuft, spürt er, wie seine eigene Kraft und Stärke wieder zurückkehren.
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Am folgenden Nachmittag betritt der Mann erneut das Spielzeuggeschäft. Die alte Verkäuferin nickt lächelnd. Er geht auf sie zu und sagt: »Guten Tag. Sie erinnern sich bestimmt, ich war gestern schon hier. Heute möchte ich gerne noch etwas anderes kaufen. Nämlich einen Spielzeugrevolver und einen Cowboyhut.«
Die Verkäuferin schaut ihn aufmunternd an und fragt: »Oh, das freut mich zu hören. Dann hat Ihrem Enkelkind das Schaukelpferd also gut gefallen? Was für einen Spielzeugrevolver hätten Sie denn gerne?«
«Am besten einen, der besonders echt aussieht«, erwidert der Mann.
Die Verkäuferin nickt, geht zu einem Regal und kommt mit einer kleinen Auswahl zurück. »Ich denke, ich habe hier etwas Passendes«, sagt sie und reicht ihm einen Revolver. »Dieser hat sogar Zündplättchen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob so etwas tatsächlich in kleine Kinderhände gehört.«
Der Mann überhört den Einwurf, wiegt den Revolver in der Faust und ist zufrieden. »Perfekt! Und bitte noch ein Halfter dazu«, sagt er und geht zum Regal mit den Cowboyhüten. Er nimmt einen Hut, der ihm offensichtlich viel zu klein ist, setzt ihn auf den Kopf und betrachtet sich in einem Spiegel. Die Verkäuferin stimmt kichernd in seine plötzliche Heiterkeit ein.
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Als er die Sachen bezahlt hat und das Geschäft verlässt, setzt er den Cowboyhut auf seinen Kopf und geht zufrieden nach Hause. Einige Passanten schauen ihm kopfschüttelnd hinterher.
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Im Wohnzimmer steht das Schaukelpferd noch an der gleichen Stelle wie am gestrigen Abend. Er geht sofort hinüber und legt den Spielzeugrevolver an. In Windeseile schwingt er sich in den Sattel. Als er die Augen schließt, stellt er sich vor, auf einem wilden Pferd durch die weite Prärie zu reiten. Dann dringt ihm das sanfte Quietschen des Schaukelpferds in die Ohren und er öffnet wieder die Augen. Er spürt ein Gefühl der Erholung und der Beglückung, das er schon lange nicht mehr empfunden hat.
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Langsam setzt die Dämmerung ein und der Mann genießt den warmen Schein der Abendsonne auf seinem Gesicht. Er weiß nicht, wie lange er schon auf der Terrasse sitzt. Er schließt wieder die Augen und summt die Klänge einer Westernmelodie, die ihm in den Sinn kommt.
Er tritt in sein Wohnzimmer und sieht den Spielzeugrevolver und den Cowboyhut auf dem Teppich liegen. Er hebt den Hut auf und setzt ihn sich noch einmal auf den Kopf. Dann steigt er langsam auf das Schaukelpferd, blickt in die Ferne und reitet in seinen imaginären Sonnenuntergang.
ENDE
Texte: Alberto Bronca
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2023
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