Ich saß schon geraume Zeit dort oben in den Wipfeln und bewunderte den wolkenlosen Himmel, dessen Bläue kristallklar zu sein schien. Dann senkte ich den Blick auf die Laubkronen der Pappeln und ließ meine Augen ziellos durch das satte Grün wandern. Nach einiger Zeit bemerkte ich es dann. Hinter dem dichten Zweigwerk hockte es regungslos, ein Schaf, und starrte mich unverwandt an. Unmerklich erschrak ich, erwiderte aber stoisch den Blick. Ich fragte mich nicht, wie das Tier dorthin gelangt sein konnte, sondern warum es offensichtlich die Absicht besaß, mich paralysieren zu wollen. Die Stille wurde plötzlich durch ein knatterndes Motorengeräusch unterbrochen. Vom Horizont her näherte sich eine Gestalt auf einem Moped, das eine schwarze Rauchwolke hinter sich herzog. Ich öffnete meine Feldtasche und holte den lichtstarken Zeiss Feldstecher hervor, um den Fahrer besser in Augenschein nehmen zu können. An der Pappel angelangt, auf der das Schaf saß, kantete der Mann das Vorderrad seiner Zündapp Combinette am Stamm auf und fuhr dem Uhrzeigersinn folgend zum Wipfel hinauf. Ständig musste er den Kopf einziehen, um den Zusammenprall mit dicken Ästen zu vermeiden. Zwei aufgescheuchte Elstern protestierten laut krächzend gegen die Störung. Beim Schaf angekommen, würgte der Mann den Motor ab, schwang sich behände vom Sattel und bückte sich sogleich. Ächzend kam er wieder nach oben, wobei er ein Metallrohr, dem Bügel einer Mausefalle ähnlich, mit dem linken Arm in die Höhe drückte. Blitzschnell packte er sich das Schaf, das sich instinktiv seinem Zugriff entziehen wollte und schüttelte es solange, bis es schlussendlich seine gesamte Wolle verloren hatte. Behutsam setzte der Mann das Tier zurück auf seinen Platz und ließ den Bügel wieder hinunter, um es wieder zu fixieren. Die Wollknäuel sammelte er mit flinken Händen auf und verstaute sie in den Satteltaschen seiner Zündapp, wobei er ab und an ein Niesen nicht unterdrücken konnte. Anschließend holte er einen kleinen Kasten hervor und entnahm ihm ein halbes Dutzend Negerküsse. Zu jener Zeit entsprach deser Terminus durchaus noch dem üblichen Sprachgebrauch und "Political Correctness" war noch nicht en vogue. Der Mann fütterte das Schaf mit den Süßigkeiten und trank selbst eine Flasche Kräuterbier. Zufrieden schaute er sich zu guter Letzt noch einmal gründlich um, stieg rülpsend auf das Moped und sauste zum Erdboden zurück. Bald war er wieder hinter dem Horizont verschwunden. Nur übel stinkender Rauch hielt sich noch lange hartnäckig in meiner Nase.
ENDE
Texte: Alberto Bronca
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 16.04.2023
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