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DER 70. GEBURTSTAG

 

 

Durch die großen Glastüren des eleganten Salons fällt gleißendes Sonnenlicht, der Blick geht in den verwilderten Garten, auf dessen ›rau-romantischen Charakter‹ die Besitzerin strengstens Wert legt und der ihr ganzer Stolz ist. Elsbeth-Theresa, verwitwete ›Frau Professor‹ von Planckhorst, feiert heute ihren 70. Geburtstag. Ihr Gatte, den sie vor nunmehr drei Jahren zu Grabe trug, war bis zu seinem Tode leitender Direktor des renommierten Privatklinikums Malevonte in der Nähe des Genfer Sees gewesen. Sein Fehlen versetzt ihr einen quälenden Stich. Sie betrachtet sich über einer dekorativen Standuhr hinweg in dem opulenten Kristallspiegel und mustert sich selbst. Ihr Gesicht hat sie in undurchdringliche Selbstberrschung gehüllt: eine Mimik, die sie auf Knopfdruck abrufen kann. Vor den Fenstern wehen in einer leichten Brise duftige Seidenvorhänge, der Parkettboden wird von schweren Teppichen geziert, antike Möbelchen flankieren - von kunstvoll gedrechselten Stühlen umstanden - die Wände. Das Sammeln von Antiquitäten gehörte zur großen Passion von Professor von Planckhorst. In der Mitte des Salons ist die festliche Tafel bereits gestern von der eigens georderten Küchenbrigade hergerichtet worden. Feinstes Porzellan, edle Gläser und ein uraltes, auf Hochglanz poliertes Silberbesteck sind professionell auf den blütenweißen Damasttischdecken nach einer imaginären Kompassnadel drapiert. Im Zentrum prunkt ein Tischaufsatz mit einem pompösen Blumenbukett. Elsbeth-Theresa ruht in sich selbst, während sie ein letztes Mal den Zustand der Räumlichkeiten inspiziert; die ersten Gäste werden in weniger als dreißig Minuten erwartet. Unvermittelt verkündet ein dezentes Räuspern die Ankunft eines menschlichen Wesens. Die Jubilarin wendet den Kopf und gewahrt ihren Enkel Henri, das schwarze Schaf der Familie. Sie beäugt ihn vom Scheitel bis zur Sohle, ihr Blick verharrt sekundenlang auf dem roten Fleck, der die weiße Smokingjacke ihres Kindeskinds verunstaltet. »Henri, ich hatte doch ausdrücklich...«, weiter kommt sie nicht mit ihrer vorwurfsvollen Entrüstung. »... um geschmackvolle Garderobe gebeten«, fällt ihr der junge Mann ins Wort. »Ich weiß, liebe Großmama, gerade deshalb!« Henri verfällt in eine entschuldigende Verbeugung. »Das Jackett nach dem Kochunfall zu wechseln, wäre ein Frevel gewesen, wo ich doch so viele gute Gewürze in der Tomatensoße verwendet habe...« Wie zum Beweis kratzt er mit dem Fingernagel eine Kostprobe aus der Soßenkruste, um sie genüsslich zum Mund zu führen.

 

ENDE

Impressum

Texte: Alberto Bronca
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2023

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