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AUF DER EISENBAHN UND ANDERE BEGEBENHEITEN

 

Vor dem Spiel- und Schreibwarengeschäft „Stoffels Ri-Ra-Rutsch“ wartet die schmucke, alte Spiel-Dampflok samt ihrer zwei Anhänger auf die Abfahrt. Herrlich glänzt der gelbe Dampfkessel im gleißenden Sonnenlicht. Hinten im blauen Waggon sitzt eine junge Mutter, vorn sind ihre Kinder, ein Mädchen und ihr jüngerer Bruder, intensiv mit dem Spiel als Lokführer beschäftigt, unablässig ertönt ihr munteres Geplapper. Urplötzlich springt das Mädchen wie ein Blitz aus dem Führerstand und erklärt dem Rest der Familie: »Ich muss jetzt noch die Fahrkarten kontrollieren.« Mit strenger Miene wendet sie sich an ihre einzige Passagierin. Die Mama kramt Verzweiflung vortäuschend in ihrer Handtasche und bittet mit feuchten Augen die energische Schaffnerin um etwas Geduld, sie sei sich sicher, den Fahrschein gleich zu finden. Intensiv durchwühlt sie den Tascheninhalt, atmet schließlich spürbar erleichtert auf und fördert eine Handvoll Bonbons zu Tage, die von der Billeteurin fröhlich kichernd akzeptiert werden. Schnell ist eine Himbeersüßigkeit in den Mund geknipst. Inzwischen hat der Knabe die Lok verlassen und begonnen die Räder und Kolbenstangen mit fachmännischen Handgriffen auf ihren ordnungsgemäßen Zustand zu überprüfen. Es dauert nicht lange, da klettert er zufrieden  wieder in den Lokführerstand zu seiner Schwester. Eine Weile kabbeln sich die beiden noch um die Vorherrschaft über Steuer und Hebel, bevor sich der Kleine den Kürzeren ziehend in sein Schicksal als „Heizer“ fügt. Während seine Schwester in Gedanken die Dampfpfeife zieht, dreht er sich nach hinten und ruft über den Tender hinweg seiner Mutter zu: »Mama, wir fahren schon!« Sogleich beginnt die junge Frau auf der Sitzbank hin- und herzuschaukeln, als würde sie bei rasender Fahrt auf holprigen Schienen kräftig durcheinandergerüttelt. Bald haben die Drei ihr Ziel erreicht. Jetzt gibt es noch viel zu erzählen und heiter schwatzend verlassen sie den Bahnhof in Richtung der besten Eisdiele der Stadt.

 

 

An Schlössern, adeligen Landsitzen oder sonstigen herrschaftlichen Häusern bewachen oft Skulpturen in Gestalt von Löwen die Treppenaufgänge zu den imposanten Tür- und Toröffnungen. In abgewandelter Form drapiert sich heute vor dem Eingang zur Stadtsparkasse, welche ebenfalls über einen zehnstufigen Aufgang verfügt, ein älteres Pärchen, das aufgrund seiner Gesichtszüge der Gilde der Schnapsdrosseln zuzuordnen ist. Mit teils interessiertem (sie), teils phlegmatischem (er) Ausdruck beobachten sie die vorbeischlendernden Passanten, wobei »sie« immer ein wachsames Auge auf ihre neben sich deponierten und in der Sonne glitzernden Doornkaat-Flachmänner hat und »er« selig in anderen Gefilden zu schweben scheint.

 

In Zeiten der ständig davongaloppierenden Preise spricht man jüngst in diesem Kontext viel von der Gesellschaftsgruppe der Rentner und Rentnerinnen, die besonders häufig als Opfer der Inflation genannt wird. Doch nicht allen geht es offensichtlich ungestüm ans Portemonnaie. Schlendert man an diesem sonnigen Morgen, einem profanen Donnerstag, an diversen Lokalen mit Außengastronomie vorbei, entdeckt man an den gutbesetzten Tischen fast ausnahmslos Herrschaften aus jener besagten Schicht. Gutsituierte ältere Menschen, meist weiblichen Geschlechts, haben – in gepflegte Sommergarderobe gehüllt – dort ihren Platz gefunden. Obligatorisch gehört für sie um halb zehn Uhr ein oppulentes Frühstück zum guten Ton. Die Teller sind reichlich beladen mit Brötchen, Wurst und Käse – auch ein Ei darf nicht fehlen. Hier und da lässt man sich auch ein Glas Sekt oder Orangensaft munden oder schaufelt ein leckeres Fruchtmüsli in sich hinein. Fröhlich klappern die Kaffeetassen, es herrscht ein munteres Plaudern im Kreise der Gleichgesinnten und Gleichgestellten. Nicht allen der vorbeieilenden Passanten ist ein »Guten Appetit und wohl bekomm's« vom Gesicht abzulesen.

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Tag der Veröffentlichung: 24.11.2022

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