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Das älteste Ding der Welt

 

Kapitel 1: Die drei Zeichen

Es war an einem deutschen Fluss – sagen wir an der Lahn – und in einem Städtchen, das man sich wie Limburg vorstellen mag. In den tiefen Buchenwaldungen der Umgebung ging der achtzehnjährige Harald von Calmus, einziger Sohn des bejahrten, aber geistig noch regen Reichsfreiherrn von Calmus-Dunkelstedt – Kammerherr und pensionierter Offizier – sehr gern spazieren.

Wie schon öfter, war es Harald durch eine kleine Finte gelungen, seinen Hauslehrer abzuschütteln, der an einem sonnigen Samstagnachmittag bereits auf Montags-Lektionen erpicht war, denn er bereitete den Schüler auf die Maturitätsprüfung vor.

Harald ging allein durch die Felder auf das Pfaffenwäldchen zu. In ungestörtem, trächtigem Frieden reifte die kommende Ernte dem Herbst entgegen. Jeder Atemzug war Frieden. Die Lerchen, wie Punkte ins weite Blau gestreut, tröpfelten friedliche Triller hernieder. Der Wind umschmeichelte das fahle Grün der strotzenden Saat wie mit trägem, von Frieden erschlafftem Fächer. Insekten schrillten und summten; ihr Getön verwob sich zu feinmaschigem Netz von Lauten, sanft auf alle Daseinsängste sinkend. Irgendwo blinkte ein Teich hervor und spiegelte winzige weiße Wolken; gab dem hellen Blau funkelnde Verklärung zurück. Die Oberfläche dieses Teiches zitterte leise wie die Haut eines großen Tieres in Wollust der Ruhe.

Während Harald so schritt, machte er sich keineswegs Gedanken über die bevorstehende Prüfung, sondern er trug, ganz für sich, seine Andacht dahin zu den großen und stillen Linien, zu der strotzenden Natur; und in ihm fand jeder wispernde Ton des sich erfüllenden Wachstums dankbar liebevolles Echo.

Er geriet, wie oft bei solchen Wanderungen, in eine Art entrückten Zustandes, der ihn für Stunden gefangennehmen konnte gleich sanfter Hypnose durch brennende Farben, einlullende Lieder.

Das Hemd stand ihm offen auf der Brust, der weiche Kragen war zurückgeschlagen. Aus den kurzgeschnittenen Ärmeln pendelten die gebräunten Arme lässig zu seinen Seiten, und seine blauen, halb zugekniffenen Augen spähten in die Ferne, ohne doch etwas Bestimmtes zu sehen. Er war selbst zu einem Stück der Natur geworden, wie er so wunschlos einhertrottete ohne Bedürfen. Eines wusste er: dass er sich unendlich wohlfühlte; dass nichts ihm übelwollte, und dass er von Talenten und Möglichkeiten trächtig sei wie dieser von Keimen und fruchtbaren Zersetzungen erfüllte Boden.

Die von jungem Blut prall durchpulsten Lippen hielt er halb geöffnet in dem warmen Dunst und schlürfte die Luft, die ihn durchdrang wie Wein. Eine Mütze trug er nicht, das bräunlich goldene Haar wurde frei von jedem Wind durchwühlt. Heute hing es ihm halb in die Stirn, und er warf es zuweilen mit zuckender Bewegung des Nackens hinters Ohr.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen.

Ein grauer Stein fiel aus der Luft herab. Hierauf erhob sich ein Wogen der Halme und wildes Rascheln dort, wo er eingeschlagen war. Als ob ein kleiner Wirbelwind an jener Stelle entstehe, sträubten sich die Ähren. Er hörte klatschendes Geräusch, schnell mehrmals wiederholt; zwei quiekende Töne – und nach kurzer Zeit arbeitete es sich aus den Ähren hervor, um in trägem Flug ein kleines Wesen davonzuschleppen, was noch zuckte, quer eine Gasse nach dem Wald zu in das Getreide peitschend: ein mächtiger Habicht, der einen Junghasen in den Krallen trug, eng an sein mörderisches Herz gepresst. Harald stürzte zur Einschlagstelle und sah mohnblumenrote Tröpfchen im Umkreis verspritzt. Er suchte nach einem Stein, gab es bald auf und ging mit zielbewussteren Schritten weiter.

Das Pfaffenwäldchen, ein größerer Buchenbestand, nahm ihn auf. Er folgte ungefähr der Richtung, die der Habicht genommen hatte; doch der hier unebene Boden gestattete kein gerades Vorwärtsdringen.

Er hatte kaum hundert Schritte in den Wald hinein getan, als die Klänge der sommerlichen Felder hinter ihm verschollen. Ab und zu war es noch, als trage ein warmer Windstoß eine Welle von Insektengezirpe herbei, dies hielt sich jedoch nur flüchtig im Ohr und verebbte wie ein zarter Aufschrei.

Es war tempelstill. Er sah nichts als grüne Dämmerung, wellig bewegten Boden, von stillen Lichtern gesprenkelt. Seine Tritte versanken im Moos oder stießen hart auf hervorbrechende Steine, und als er um die große Eiche bog, die auf einer kleinen Lichtung etwa in der Mitte des Wäldchens stand, geschah ein Zweites.

In spindelförmigen Drehungen glitten zwei braune Körper um einen knorrigen Ast. Dazwischen blitzte es gelb von schlangenhaft gewundenem Leib: ein Edelmarder. Wie ein zuckender Bausch von brauner Watte fuhr kurz vor seiner Nase der Schwanz eines Eichhörnchens hinweg. Sie stoben um den Baum: Verfolgtes und Verfolger. Rindenfetzen regneten herab. Oben aus turmhoher Spitze schossen sie durch ein Stück Blau wie Flieger, und man sah, dass der schwerere Körper mit größerer Schnellkraft den kleineren überholte. Man hörte ein gleichzeitiges Aufschlagen beider am nächsten Stamm, knirschendes Geräusch, einen Ton wie einen Pfiff, und dann Stille.

Harald eilte hinzu. Noch sah er nichts. Zunächst kamen noch ein paar Rindenstückchen – dann taumelten in sachten Schwingungen braune Haarflöckchen herab... Plötzlich fuhr er zusammen und erschrak im Tiefsten.

Es war, als ob ein leiser Finger ihn an der Schulter rühre, die aus dem geöffneten Hemd geglitten war. Er starrte darauf hin: ein Tropfen Blut saß auf seiner weißen Haut und sickerte, seine Rinnen entfaltend, die Brust hinab. Er wischte es aufatmend mit dem Hemd weg, etwas Angstvolles trat in seinen Blick, für den Moment Ratloses – dann, in seinem Unvermögen, des Mörders habhaft zu werden, peitschte er mit einem Zweig wütend auf den Stamm los.

Langsam ging er weiter. War er in eine Gegend geraten, in die er sich so selten begab, dass sie ihm fast unbekannt erschien? Es waren zwar immer Bäume, Moos, Steine, kleine Klüfte; aber es schien, als sei er nun in einem Bereich, der sonst gemieden wurde. Vorjähriges und vorvorjähriges Laub schwärte, von fauligem Wasser durchsetzt, in Löchern, die keinen Abfluss gestatteten. Der Boden trug das Gepräge vulkanischer Zerrissenheit, soweit ein sanftes deutsches Waldbild diese Form entwickelt.

Er erkannte, dass hier ein Sumpfgebiet war, das man ungern durchschritt; es war zwar nicht gefährlich, aber es ermüdete und führte zu keiner Entdeckung. Besser, man streifte am Rand dieses Teiles entlang, bis man auf die Straße zurückkam.

Aber er war nun einmal schon fünfzig Schritte hineingeraten, und er fand nicht den Entschluss, wieder umzukehren – mit einem Mal seltsam davon überzeugt, er werde noch auf etwas Bestimmtes oder Besonderes stoßen; worauf, das wusste er nicht. Er sprang über die moorigen, von schlammigem Humus erfüllten Löcher, kam dann wieder auf trockene Stellen und merkte auf einmal an dem Ansteigen des Bodens, dass er an das »Hünengrab« gelangt sein müsse.

Dies war ein Hügel, den man in der Gegend so nannte, obwohl Untersuchungen der Oberfläche längst festgestellt hatten, dass von einem Grab keine Rede war. Nur die seltsam spitzige Form des Hügels hatte den Namen entstehen lassen. Außerdem knüpfte sich, wie ihm jetzt einfiel, lächerlicher Aberglauben an diesen Hügel. Da er im Freien lag, so hatte sich wohl vor Jahrhunderten ein Wirrkopf, der hier eingeschlafen war, einen Sonnenstich geholt und allerhand gefaselt, was recht gut in den Rahmen durch Foltern erpresster Berichte gepasst haben mochte.

Eine andere Tatsache, die den Ort im Volksmund verfemte, war die, dass die hier wachsenden Pilze einen »Hexenring« bildeten – einen Ring, dem Bannkreis entsprossen, den dunkler Künste Fähige hier gezogen hatten. Harald stand in praller Sonne dicht vor diesem »Hexenring«. Ja, da war er; Hunderte von Fliegenpilzschirmen leuchteten aus dem Gras hervor – wie Blutspritzer..

Ihn fröstelte. Wie kam ihm nur der Gedanke an Blut so ständig wieder in den Sinn?! – Zwei Morde hatte er erlebt, ja, da war's: alltägliche Morde, versteckte, lächerliche und belanglose Morde, die in den Kreislauf gehörten wie alles andere. Und doch scheute er sich, mit dem Fuß den Ring zu stören, sondern setzte mit breitem Schritt darüber hinweg in das Innere. Da er sich außer Atem fühlte, ließ er sich auf einem Stein nieder und blickte nachdenklich vor sich hin.

Plötzlich regte sich etwas im Gras. In rasenden Sprüngen, wie es sonst ganz gegen die Gewohnheit solcher Amphibien ist, durchquerte ein großer, brauner Frosch vor ihm das Gras. Er war unablässig beschäftigt, seine Schenkel zu gebrauchen, und längst auf der anderen Seite entschwunden, als der züngelnde Kopf einer mächtigen, meterlangen Ringelnatter auftauchte und sich schwarzäugig und zuckend umherdrehte. Dann schoss sie davon wie ein grauer Pfeil.

Jäher Impuls riss den Jungen empor: Hier endlich, hier, beim dritten Mal, dass er einen Mord sah, ergab sich die Möglichkeit diesen zu verhindern. Wie rasend suchte er nach einem passenden Stein. Endlich, als es gerade noch Zeit war, gelang es ihm, ein mäßig großes Stück herauszubrechen. Er stürzte der Natter nach und zermalmte sie damit in der Mitte des Leibes. Sie wandte ihm den Kopf zu, mit geöffnetem Rachen, eifrig weiterzüngelnd; – dann versteinte diese Gebärde. Der Schwanz zuckte; dann verlor sich das Leben. Harald sank ins Gras nieder und sah, wie das anklagend geöffnete schwarze Mäulchen ruckweise zurückfiel.

Wie war das? – Er hatte etwas verhindern wollen, und nun hatte er es selber getan! Das Verhinderte hatte Sinn gehabt; das, was er getan hatte, war sinnlos. Was ging ihn der Frosch an! Wirre Gedanken, mit einer halben Schläfrigkeit verknüpft, kreuzten seinen Kopf. Dass er nicht weiterging, daran war wohl noch diese leichte Müdigkeit schuld...

Als der Stein die Schlange zerquetscht hatte, war ein seltsamer Ton zu hören gewesen, wie wenn man mit einem Hammer an Metall schlägt. Er untersuchte den Fleck, und seine Finger erfassten etwas Hartes, von Sonne stärker Durchhitztes. Kein Zweifel: hier sah ein Stückchen Metall, hellgrau, und von kleinen Zacken besetzt, aus dem Boden hervor. Er bemühte sich, es herauszureißen, doch schürfte er sich nur die Finger daran wund.

Mit einem Mal erfasste ihn so tiefe Schläfrigkeit, vermischt mit seltsam abwehrenden Gedanken an das Blut an seinen Fingern und an die blutroten Pilze ringsum.

›Ich glaube, ich mache mich in den Wald zurück‹, dachte er. Doch es gelang ihm nicht mehr, den Vorsatz auszuführen; er sank mit dem Kopf auf den Rasen mitten zwischen eine Gruppe von Pilzen, die mit kühler Berührung seine erhitzte Wange streichelten. Dann war er traumlos entschlafen.

Er schrak empor. Es war halb finster. Die Sonne war gesunken. Er riss seine Uhr heraus, doch sie war stehengeblieben. Mit Mühe erhob er sich und ging auf der anderen Seite des Hügels in den Wald hinab, wo er des ungewissen Lichtes halber öfters stolperte und bis zum Knie in schlammige Mulden einsank.

Ein glühendroter Abendhimmel verblutete hinter den Stämmen am Rand, dort, wo die Straße war. Es war schwül, kein Lüftchen regte sich. Endlich hatte er aus dem wässerigen Bezirk herausgefunden und war auf festen Boden gelangt. Es kam ihm unbegreiflich vor, dass er von zwei Uhr nachmittags bis zum Sonnenuntergang unterwegs gewesen und einen so großen Teil dieser Zeit verschlafen haben sollte.

 

 

Kapitel 2: Verhext

Er stand auf der Straße. Die Abendglut war erstorben, und klarer Sternenhimmel wölbte sich über ihm.

Während er vorwärts ging, spürte er, dass er keine Eile mehr habe, heimzukommen; ja es schien, als sei er durch irgendeine Behinderung gezwungen, seine Schritte mit weit größerer Gemächlichkeit zu setzen, als er es sonst zu tun pflegte, wenn er von ausgedehnten Spaziergängen abends zurückkehrte. Es war beinahe, als müsse er im selben Tempo, wie er vor Stunden in der Sonnenglut in den Wald hineinspaziert war, auch den Heimweg machen; und dies fiel ihm leicht; denn jedes Bedürfnis war ausgelöscht, schnell nach Hause zu kommen.

Der Gedanke an sein Zuhause widerte ihn auf einmal an. Dort drüben, wo der zackige Schattenriss des Städtchens von Lichtern bestreut in den Himmel schnitt, lauerte ein Gefängnis auf ihn. Hier draußen war es frei und kühl. Er verspürte die Weite und bedurfte zu diesem plötzlichen Glück nichts anderes als Ungebundenheit.

Von oben aus dem silbernen Geflecht schienen sich magische Fäden herabzuspinnen. Fäden, die ihn emporhoben und sanft dahintrugen. Was war das für eine Abgelöstheit, für ein seltsames Entrücktsein?... Es war wie ein Schreiten, wie ein sachter Tanz durch Luft, genienleicht. [Anm.: Genien = dämonische Beschützer]

Je näher er dem Städtchen kam, desto dumpfer hauchten die Wände ihn an. Ja, als er gar in die Schatten der alten Basteien trat, wehte ihm jene selbe wie aus erwärmten Kellern streifende Schwüle entgegen, die ihn auf seiner Flucht aus dem Wald mit Herzklopfen bedrängt hatte.

Es war Neumond, es herrschte nur dieses stille, unbeirrte, kalte, flirrende Licht der Sterne, die doch in ihrer Gesamtheit nur schwachleuchtenden Nebel zustande brachten. Dann wichen die schwachen Lichteffekte der grellen Glut einer Bogenlampe.

Er ging eine leichthügelige, schlecht gepflasterte Straße hinauf, von der aus wie scharf einschneidende Schluchten samtschwarze Nebengassen abzweigten; – bog dann selbst um die Ecke, erblickte ein rötliches Licht über einer altmodischen Haustür und verlangte Einlass mit dem Klopfer.

Obwohl es noch ziemlich früh sein musste, waren die Gassen doch ungewohnt still. Nach der Zeit, die er vom Wald hierher gebraucht hatte, konnte es höchstens neun Uhr sein, und trotzdem dauerte es eine Weile, bis er drinnen den schlurfenden Schritt der Magd hörte und ihm die Tür entriegelt wurde.

Sie starrte ihn etwas erstaunt – so erschien es ihm – an, machte aber keine Bemerkung außer der, dass seine Eltern bereits ins Bett gegangen seien und sich verwundert hätten, wo er so lange bliebe. Mitternacht sei längst vorüber.

Er versuchte, dies als einen Scherz abzuwehren und ein kurzes Gelächter dagegenzusetzen.

»Sie träumen wohl, Mechtild!«

Doch dann fielen ihm die anderen Anzeichen auf, die ihre Behauptung beweiskräftig machten, und sie brauchte kaum nach der Standuhr im Vorplatz zu deuten, um ihn von der Wahrheit zu überzeugen.

Er ging in sein Zimmer, schloss die Tür und entfachte die Öllampe auf seinem Schreibpult. Mechanisch zog er sich aus, ohne im Geringsten müde zu sein; und doch war es ihm zum Sammeln seiner Gefühle ganz erwünscht, dass er jetzt in seiner vertrauten Bude saß. Nackt ging er im Zimmer umher und sah sich von einem Empirewandspiegel zurückgeworfen. Dort bewegte sich sein Körper weiß wie Papier und sein Gesicht erschien ihm seltsam verblasst; – ja, es bestand nicht der geringste Kontrast in Farben. Sein braunes Gesicht, seine roten Wangen schienen ihm kalkfarben, als sei er durch eine große Prüfung hindurchgegangen, die er sich nicht enträtseln konnte.

Er erschrak darüber flüchtig, doch diese offenbare Sinnestäuschung machte ihm nicht weiter zu schaffen. Nur als er jetzt in der Mitte des Zimmers stand, unschlüssig, ob er noch etwas lesen solle oder sich hinlegen, war ihm auf einmal, als trete alles, was er sah, der vertraute Stuhl, das Ledersofa, sein Pult mit dem Spiegel darüber und das Bett, von ihm in eine Entfremdung und Entfernung zurück... ähnlich so, wie man Dinge erblickt, wenn man ein Opernglas verkehrt herum ans Auge bringt.

Er schüttelte den Kopf, und müde, ja angewidert durch die aufdringliche Halluzination, ging er zu seinem Bett. Es schien ihm Minuten zu dauern, bevor er es erreichte. Endlich lag er drin und schloss die Augen; doch von Schlaf war vorerst noch keine Rede.

Die Türklinke ging, er öffnete die Lider und sah seine Mutter vor sich stehen. Er beschloss, sich sofort wieder schlafend zu stellen, merkte aber durch die fast geschlossenen Wimpern hindurch, wie sie sich aufmerksam mit ihrem streng geschnittenen kleinen Gesicht über ihn beugte. Er hörte sie noch wie aus weiter Ferne im Zimmer umhergehen und die Lampe mit leisem Klirren löschen. Dann ging die Klinke ein zweites Mal, und sie war draußen.

Er fühlte förmlich ihre Gedanken, mit denen sie den Gang zurückschlich; sah sie im Geist durch Mauern hindurch den silbernen Scheitel schütteln und vernahm halb geflüsterte Sorgen, die sich über ihre schmalen Lippen drängten. Die rasselnde Stimme seines Vaters stellte noch vorübergehend einige Fragen und gebrauchte dazwischen ein heftiges Wort.

›Sie halten mich offenbar für berauscht‹, dachte er. ›Das wird morgen Kanzelton beim Frühstück geben.‹

Dann versuchte er einzuschlafen, und ihm war dabei, als blicke er durch die Dunkelheit plötzlich in den Sternenhimmel hinein. Decke und Dach schienen gewichen, er schwebte irgendwo im Raum. Er starrte in ein Gewimmel von Welten, runden Kolossen aus Silber, von unfassbarem Rhythmus bewegt. Eine seltsame Gletscherstarrheit hielt sie trotzdem gebunden, und der Begriff »Raum« überfiel ihn einen Sekundenbruchteil lang, als sei seine Seele bloßgelegt und empfange Lichthiebe, so ungeheuer scharf und kurz, wie nie zuvor gekannten Schmerz. Ja, es schien sich ein klirrendes Pathos von diesem Horizont von Welten her auf ihn zu wälzen, als sei er von so ungeheurem Getöse umhüllt, dass seine irdischen Ohren nicht mehr imstande seien, es wahrzunehmen, sondern nur seine Seele diesen Urlärm als gespenstische Vergewaltigung empfinde.

Die plötzliche Überbrückung nie ermessener Entfernungen war fürchterlich. Er wurde in den großen Strudel kosmischen Geschehens hineingezogen und geriet fast in einen Zustand, wo das Denken ihn im Stich ließ, in eine Angst vor plötzlichem Wahnsinn, dem er sich nähere wie unentrinnbaren Katarakten [Anm.: Stromschnellen].

Ja, das war, als ob er für Augenblicke sein eigenes Alter nach Lichtjahren zu messen habe und von einer Kälte, die in kaum ausdrückbaren Graden herrsche, tödlich verbrannt werde. Einer der Himmelskörper, der kupfern glühte und einen dunklen Ring wie einen Nebel um sich rotieren ließ, wuchs auf ihn zu wie ein Alpdruck. Sein Leib auf dem Bett bäumte sich, seine Brust tat angstvolle Atemstöße, und mit einem Schrei fuhr er empor.

Was ihm geschehen war, wusste er nicht; nur dass er eines unsagbar Grauenhaften gewärtig gewesen war, einen bizarren Traum lang.

Die Kammer war hell. Es herrschte erstes Morgenlicht.

Er erhob sich schwankend aus dem Bett und trat ans Fenster.

Noch lag das Städtchen tot. Auf einmal hörte er donnernden Hufschlag über das Pflaster, und zugleich das Gerassel eines wütend dahingewirbelten Wagens. Er beugte sich vor, doch er konnte nur noch den hinteren Teil einer einzelnen Droschke wahrnehmen, die im gemächlichsten Tempo der Welt hinter einer Straßenbiegung verschwand.

Er rieb sich die Stirn und hörte ein schrilles Gezirpe. Waren das die Schwalben? Er blickte nach dem Turmdach; da sah er zuckende schwarze Linien, wie von Peitschenschnüren geformt, umherfahren; und vernahm dabei das pausenlose unablässige Schrillen.

›Bin ich verrückt?‹, dachte er entsetzt, schlug mit der Stirn gegen die Wand und krampfte die Fäuste zusammen.

Beim nochmaligen Hinspähen entdeckte er die Schwalben wie zu jeder Morgenstunde zwitschernd um den Turmknauf streichen. Doch ihre Flugbahnen hatten nichts Beschleunigtes mehr, er konnte die weißen Brüstchen mit dem rostbraunen Fleck und ihre segelnden Schwingen scharf und deutlich erkennen. Auch brach jetzt mit funkelnder Plötzlichkeit eine Garbe von Sonnenlicht hervor. Es schien, als habe die Sonne in einer Viertelminute einen kleinen Ruck über den Horizont getan, den sie doch gerade erst mit sanften Rosen zu bestreuen begonnen hatte.

Mit äußerster Kraftanstrengung vergegenwärtigte er sich, dass dies alles Hirngespinste seien, kippte ein Glas kalten Wassers herunter, und während er sein übernächtiges Gesicht scharf im Spiegel betrachtete, gelang es ihm, wieder klar zu denken.

Er versuchte jetzt, auf dem Sofa sitzend, den Ursachen all dieser Seltsamkeiten auf die Spur zu kommen. Er erinnerte sich auf einmal des gestrigen Nachmittags, ja alle Einzelheiten jenes scheinbar absichtslosen Spazierganges traten ihm mit unglaublicher Schärfe wieder ins Bewusstsein. Er erinnerte sich der drei Morde, die er erlebt hatte, des verfemten Hügels und der Pilze.

›Ha‹, fiel es ihm ein, ›diese Pilze! Habe ich nicht mit dem Kopf mitten zwischen ihnen geschlafen? Hat man schon je davon gehört, dass Pilze eine vergiftende Atmosphäre verbreiten können, ähnlich der von giftig-süßen Blumen im geschlossenen Zimmer? Das ist doch unmöglich! Oder habe ich einen Sonnenstich erlitten, während ich schlief? Das muss es sein; aber das kann man kurieren!‹

Logisch war es nicht, dass er seinen Zustand mit diesen Geschehnissen in Verbindung brachte; doch eine innere Stimme zwang ihn dazu. Er ging an den Waschtisch und reinigte die Narben, so gründlich es ging. Schmerzen verspürte er keine.

›Ich muss mich doch irgendwie vergiftet haben‹, dachte er mühsam. ›Aber die Wirkung muss jetzt vorüber sein.‹

Er kleidete sich an und ging hinunter. Am Frühstückstisch erklärte er mit gewöhnlicher unbefangener Stimme, er sei gestern im Wald eingeschlafen, vielleicht übermüdet durch große Hitze, und habe dann in der Dunkelheit nicht sofort den Weg auf die Straße gefunden.

»Ausflüchte, Verehrter, Ausflüchte«, schnarrte der alte Freiherr und zog die zottigen, weißen Brauen hoch in die Stirn, wobei ein scharfer Zug an die Nüstern seiner Nase trat, die dem Schnabel eines Raubvogels entfernt verwandt schien. Doch die Güte seiner alten Augen machte gut, was die Nase verdarb. »Du hast getrunken, gestehe es, Sohn! Wenn du es gestehst, bin ich der Letzte...«

»Aber ich schwöre dir, Vater, es war so!«

»Nun...«, machte der Freiherr abwehrend, lachte kurz und rasselnd und vertiefte sich in seine Zeitung.

Die Mutter mischte sich ins Gespräch. Sie sei der Ansicht, dass Harald vollkommen nüchtern gewesen sei. Der arme Junge sei nur sehr erschöpft gewesen und habe wie ein Toter geschlafen.

»Man darf sich nie in die Sonne legen«, meinte sie besorgt. »In welcher Gegend hast du dich denn herumgetrieben?«

»Ach, dort hinten bei dem alten Hünengrab, oder wie man es nennt.«

Hier, wie mit einem Zauberschlag, sank die Zeitung aus der zitternden, alten Hand des Freiherrn. Die Mutter setzte die Tasse klirrend wieder hin, und beide starrten ihn an, als habe ein Blitz vor ihnen eingeschlagen.

»Das Hünengrab?« sagte der Freiherr endlich rasselnd, wie aus gedrängter Brust heraus. Er wechselte einen Blick des Einverständnisses mit der Mutter. Beide beherrschten sich im selben Moment, doch Harald hatte die erschreckten Gebärden bemerkt.

»Es wird so allerhand dummer Aberglaube darüber verzapft, nicht wahr?« meinte er und begann mit gesundem Appetit zu frühstücken.

»Ganz richtig«, bekräftigten beide Eltern im Chorus, »ganz richtig. Dummer Aberglaube...«

 

Die folgenden Tage verrannen, und an Haralds Leben änderte sich nichts. Sein Hauslehrer, ein schwadronierender alter Student, der sich in der Nähe von Adeligen am besten gefiel, nahm ihn oft so sehr in Anspruch, dass er nicht viel über das Erlebnis hätte nachdenken können. Doch wenn seine Hausarbeiten fertig waren und er sich selbst überlassen war, befiel ihn zuweilen die Erinnerung, so, wie wenn man sich einer Gefahr erinnert, der man knapp entronnen ist.

Das Tückische an dieser Erinnerung war, dass die Gefahr sich nicht mehr definieren ließ und dass ihr Nachklang darum ungelöst im Hirn schmerzte. Im Allgemeinen schüttelte er mit einiger Willensanstrengung die Erinnerung daran ab und las viel in Büchern, aus denen heraus die abgeklärte Vernunft eines philosophischen Betrachters unserer Lebensumstände ihn beruhigte. Obgleich er noch sehr jung war, griff sein unreifer Geist derartige Gedankengänge instinktiv auf, wie wenn man nach einem Rettungsgürtel fasst, und was ihm daran unverstanden blieb, schien trotzdem fassbar: irdische Materie, an die man sich halten konnte. Zudem trieb er sich viel in Gesellschaft Gleichaltriger herum, was ihn ablenkte. Sein Benehmen schien ihm selbst durchaus natürlich und gewohnheitsmäßig, doch fühlte er zuweilen mit eigentümlicher Befremdung, dass man hier und da begann, ihm erstaunte Mienen oder ausweichende Antworten entgegenzusetzen.

»Du denkst zu viel, Sohn«, knarrte der Freiherr des Öfteren. »Sobald die Schonzeit vorüber ist, kommst du mit mir auf die Jagd.«

Anstatt ihn zu beruhigen, versetzte ihn diese Aussicht in noch größere Nachdenklichkeit. Der Gedanke an Jagd bekam plötzlich etwas Fragwürdiges, ja Anrüchiges. Das hatte er noch nie vorher empfunden.

 

Etwa drei Wochen waren verflossen, da geschah es wieder, und zwar am hellen Tage, dass jenes Gefühl der Entrücktheit ihn wieder befiel, als seien alle Beziehungen zum Irdischen plötzlich gelockert.

Es war beim Abendessen. Sein Vater rückte auf einmal hinter einen mächtig ausladenden Tisch, hinter eine Wüste von Leinwand und saß klein und entfernt am Ende des erweiterten Zimmers. Tapete, Möbel und was es sonst gab, waren dieselben; nur die Eltern verständigten sich über Entfernungen hinüber, die Gebärdensprache notwendig machten. Sie schienen sich zu verstehen, auch wenn ihr Gespräch nur einem Wispern glich.

Harald fasste sich an den Kopf. Wieder ging jene schleichende Verschiebung in seinem Hirn vor. Seine Hand tauchte in seltsame Tiefen, um zum Teller oder zum Wasserglas zu gelangen. Er gab das Essen auf und saß starr mit zähneknirschender Bemühung, sich selbst über diese Empfindung mit Gewalt hinwegzusetzen. Sein Vater, klein und in allen Umrissen äußerst deutlich von der Lampe bestrahlt, rief ihm etwas zu, was er genau verstand, ohne dass er Worte hörte.

»Ist dir nicht ganz wohl, Sohn? Was schneidest du da für ein Gesicht? Schmeckt dir das Essen nicht?«

Auch von der Mutter kamen ähnliche Stimmwellen herüber; aber er saß wie paralysiert und konnte nur denken, nicht reden. Er dachte also: ›Ich fühle mich etwas schwindlig. Es wird gleich vorübergehen‹, und er war selbst erstaunt darüber, dass die Gedanken laut aus seinem Mund traten. Er hörte sich selbst reden; aber es war, als rede ein Zweiter.

Zugleich bemerkte er, dass die Eltern sich mit seltsamer Hast gebärdeten. Die Mutter nippte unablässig, wie eine Bachstelze aus einem Quell, von ihrem Glas Tee, und der Vater gebrauchte sein Besteck mit einer taschenspielerhaften Geschwindigkeit.

Sein umherirrender Blick glitt nach der Uhr, die in der Ecke des Zimmers hing. Da gewahrte er mit ankriechendem Entsetzen, dass der Minutenzeiger sich vor seinen Augen eifrig über das Zifferblatt bewegte.

Er stand auf – es dauerte eine Ewigkeit, bis er den Tisch umschritt – und tappte den Gang hinunter in seine Kammer. Er hörte noch hastige Geräusche hinter sich: ein mit großer Behändigkeit und dialektischer Schärfe geführtes Zwiegespräch, das bei der sonstigen gemächlichen Unterhaltung seiner Eltern äußerst auffallend war. Dann hörte er, wie sie ihm folgten, und spürte, als er wieder auf dem Boden lag, wie eine kühle, lindernde Hand, die ihn ganz zu umhüllen schien, sich auf ihn senkte. Bald darauf umfing ein feuchtes Tuch seine fiebernde Stirn, und er verfiel in einen traumlosen Schlaf, der ihn wie ein Schacht verschluckte. – – Dies war das zweite Mal, dass ihm das Unerhörte nachstellte.

 

Als er wieder erwachte, saß der Doktor, der die Familie schon seit langen Jahren betreute, an seinem Bett.

»Mein junger Freund«, bemerkte er mit fetter Stimme, als Harald die Augen aufschlug und ihn verständnislos ansah, »wir haben ein wenig Nervenfieber gehabt und sind ein paar Tage lang nicht ganz bei uns gewesen. Sagen Sie: hat Ihnen vielleicht kürzlich etwas plötzliche Furcht eingejagt? – Sprechen Sie sich aus, das ist das Beste. Es liegt gar kein Grund vor, mit achtzehn Jahren Nervenfieber zu haben.«

»Danke, Doktor. Ich wüsste weiter nichts, was passiert sein sollte – außer dass ich manchmal ein wenig verrückt bin.«

Der Arzt hob beschwörend die fleischige, weiße, gepflegte Hand.

»Verrückt! – Ich bitte Sie! Ein kleiner Sonnenstich; und was weiter!! Sie sind normal, wie jeder gesunde Junge! Vielleicht haben Sie sich überarbeitet... Ich habe schon mit dem Hauslehrer gesprochen: der hat mir recht gegeben in meiner Mutmaßung, dass er Sie ein wenig mit Lektionen überlastet habe. Sie seien ihm auch verträumt vorgekommen; konzentrationsunfähig. Nun, das wird sich alles geben! – Jetzt tun wir einmal gar nichts, nicht wahr? – Und legen uns ein paar Wochen ganz auf die faule Haut. Viel baden! Viel herumlaufen! – das ist das Wahre. Fieber haben Sie auch keins mehr, und wenn Sie mir etwas anvertrauen wollen, so bin ich stets zur Hand; das wissen Sie!«

Harald nickte und sah etwas zweifelnd auf den pompösen, selbstgefälligen Mann, der gemächlich aufstand, ihm herzlich die Hand drückte und sich würdevoll entfernte.

Er hatte das Gefühl, dass jener die Güte selbst sei; aber dass trotzdem etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen bestehen bleibe, so sehr er sich auch Mühe gab, seinen Zustand auf eine Formel zu bringen. Vor allem, wie wollte er ihm diese peinigende innere Unrast erklären, dieses Gefühl von etwas Unerfülltem, was ihn wie stete Mahnung quälte. Er wusste, wusste scharf und genau: ›Ich habe etwas zu tun. Ich habe etwas gutzumachen! Eine Mission zu erfüllen! Die ersten Anzeichen meiner Berufung, ja, die habe ich damals im Wald erlebt!... Und was es eigentlich ist, das muss sich herausstellen, und wenn ich bei dem Versuch, es zu enträtseln, mein Leben opfern müsste!‹

Solche Gedanken waren unendlich reifer als er selbst. Es war, als dächte sie ein Zweiter. So wie kürzlich während des Abendessens ein Zweiter aus ihm gesprochen hatte, so erwählte sich diese Potenz, die er nicht kannte, seines Gehirns als eines Mittels, um sich zu äußern. Er fühlte sich unter der Kontrolle eines Willens, dem er nicht gewachsen war, der irgendwo in der Nähe, vielleicht in diesem Städtchen, waltete, und er beschloss, sich ihm ganz zu unterwerfen. War das nicht die einzige Möglichkeit, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen... ihn ins Tageslicht zu zerren und seine eigene Persönlichkeit bewusst gegen das Fremde auszuspielen?

Er stand auf, als sei er nie erkrankt gewesen, und kleidete sich gemächlich an. Eine Art tiefen Friedens war über ihn gekommen, seit er den Entschluss gefasst hatte. Die Angst war verblichen. Nur ganz schemenhaft glänzte noch einmal die silberne Vision jener ersten Nacht vor seinem inneren Blick auf im Purpur seiner geschlossenen Lider und hinterließ eine vage Wohltat, so als habe er sein fieberndes Herz in Gletschereis betten dürfen und es schlage wieder voll, krampffrei und ruhig.

Er ging seinen kleinen Beschäftigungen nach wie sonst, und die Eltern erstaunten schier ob seiner plötzlichen Gesundung. Seine Wangen waren wieder rot und sein Auge hell. Man musste sogar seinem Drängen nach Arbeit nachgeben, da er, wie er behauptete, nicht ohne geistige Beschäftigung diese Tage verbringen könne. Die Warnung des Arztes sei gut gemeint gewesen; aber er wisse selber am besten, was ihm fromme.

So ließ man ihn gewähren, und der Hauslehrer, in rücksichtsvoller Weise, trat wieder in seine Rechte ein.

 

 

Kapitel 3: Begegnung

Eines Morgens erhob er sich zeitiger als sonst. Es war ein rechter Gottesmorgen im August.

Die Schwalben schrillten um den Turm, und glühendes Sonnenlicht vernichtete alle Schatten. Darum kam es Harald in den Sinn, noch vor dem Frühstück ein wenig zu wandern. Er ging die holprige Gasse hinunter; die Läden waren noch geschlossen. Es verlangte ihn nach Weite.

Woher kam dieser sanfte Antrieb, der ihn so unwiderstehlich aus der Stadt hinauszog, seinen sonstigen Gewohnheiten ganz entgegen? Er wusste es nicht. Aber er überließ sich einer leisen, schier wollüstigen Bangnis von Erwartung.

Er hatte das Stadttor schon passiert, als ihm plötzlich zum Bewusstsein kam, dass ihm ein Geräusch, das ihm nur als ein Echo der eigenen Schritte in den Gassen vorgekommen war, noch immer nachfolgte. Er erkannte, dass es die Schritte eines Zweiten waren, der in einiger Entfernung hinter ihm ging.

Harald war ein Stückchen ins Feld gelangt, ehe er den Mut fand, sich umzublicken. Er wusste mit Klarheit, dass jetzt ein Vorhang fallen werde, wenn er es tue.

Brüsk drehte er sich um, und im selben Moment stand ein großer Mann still, der etwa in der Entfernung von hundert Metern hinter ihm hergegangen war. Der Mann, hoch aufgeschossen, schmalschultrig, trug einen hellgrauen Sommeranzug mit Strohhut. Es schien, als ob Haralds Stillstehen und sein eigenes in keiner Beziehung ständen; er trat ein Stückchen ins Feld hinein, wo er sich bückte, sodass ihn die Ähren fast verschlangen – sich dann wieder aufrichtete und mit stelzenden Schritten näherkam. Harald versuchte, ihn innerlich abzutun als einen Spaziergänger gleich ihm selbst und ging weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Es blieb lautlos hinter ihm; und so merkte er nicht, dass der Abstand zu dem Mann zusehends schrumpfte. Der Mann trat leise auf und tat trotz ruhiger Gangart riesige Schritte, so als habe er die Absicht, Harald zu überholen.

Mit einem Mal wusste Harald so genau, als ob er Augen auf dem Rücken trage: Der Mann will etwas von mir. – Was in aller Welt sollte er sonst wollen? Ist er mir nicht nachgefolgt? Wählte er nicht denselben selten begangenen Feldweg?

Die Überzeugung wuchs, und gleichzeitig trat er, obgleich er dagegen ankämpfte, wiederum über die Schwelle jenes Zustandes, den er überwunden glaubte. Das Pfaffenwäldchen schien in entlegene Ferne gerückt; gleichwohl malte sich jeder Wipfel klar auf dem Westhimmel ab. Die Felder spreizten sich zu Wüsten, an deren fernstem Horizont die Pappelschnur der Überlandstraße einen Rand gegen die Luft schuf. Dort fuhr ein Wagen gemächlich die Allee herab und erzeugte eine leichte Staubschleppe hinter sich. Jetzt auf einmal tönte ein leises Rascheln, und die Allee schien ihrer ganzen Länge nach von einer einzigen Staubfahne bedeckt, als sei sie aufgewühlt von der Peitsche einer kopflosen Flucht...

›Dort gehen Pferde durch‹, dachte Harald. Aber die Schnelligkeit jener Pferde hatte etwas Gespenstisches. Er fühlte Hitze auf seinem Scheitel und blickte empor. Die Sonne flammte senkrecht über ihm. Wachsende Angst würgte ihn. ›Um Gottes willen, war es nicht gerade erst noch frühester Morgen gewesen, als ich aufbrach?! Was wird nur daraus!‹ dachte er wirr und betäubt.

Vor Ratlosigkeit halb entseelt, brach er in die Knie. Neben ihm sprach auf einmal eine ruhige, leise Stimme von einem etwas öligen Wohlklang: »Ist Ihnen nicht ganz wohl? Kann ich Ihnen zu Diensten sein?«

Harald sprang auf und sah den Mann neben sich stehen. Im ersten Augenblick war er so verblüfft, dass seine ganze Erschütterung wie weggeblasen war. Denn was da vor ihm stand und ihn, die wachsfarbenen schmalen, sehr langen Lippen zu einem Lächeln verzogen, unter der steifen Hutkrempe hervor anblinzelte, war ohne Zweifel ein Mongole. Haralds Empfindung glich einem Schreck, als sei er plötzlich mitten in einem biederen deutschen Wald auf ein Gürteltier oder sonst ein exotisches Wesen gestoßen, so eigenartig wirkte die Figur in diesem Landschaftsrahmen, so plötzlich und unvermittelt, wie vom Himmel gefallen, stand sie da.

Der Mann nahm jetzt seinen Hut ab und entblößte dabei üppiges, steilstehendes, glanzlos schwarzes Haar. Dieser Reichtum an geschnittenem Haar überzeugte den Jungen, dass er ein Chinese sein müsse, ebenso wie ihm der gänzliche Mangel an Augenbrauen und Wimpern und die tief quittengelbe Farbe des faltenlosen, flachen Gesichts diesen Gedanken nahelegte.

Er stammelte: »Ich danke sehr, es geht mir ganz gut; ich habe nur soeben einen kleinen Schwindel verspürt. Möglicherweise bin ich zu lange in der Sonne umhergelaufen.«

Der Chinese fuhr fort zu lächeln und den Schimmer kalkweißer Zähne hinter den blassen Lippen spielen zu lassen. Seine Zunge bewegte sich ganz vorn, während er sprach, und die »R« fielen daher fast alle wie »L« ins Ohr.

»Ich nehme einen kleinen Ferienaufenthalt«, meinte er schmeichelnd und blickte sinnend in Haralds Gesicht. »Sie haben es gut hier. – Darf ich Sie ein Stückchen begleiten?«

»O bitte sehr«, sagte Harald noch etwas verwirrt. »Sind Sie vorübergehend in Deutschland?«

»Ich arbeite in Marburg«, sprach der Herr. »Ich heiße Sze. Wie lange meines Bleibens hier ist, weiß ich noch nicht. Ich bin schwierigen Sachen auf der Spur. Chemie, wissen Sie, hauptsächlich Geologie. Ich schnüffele, wo ich bin, den Gesteinsarten nach; da entdeckt man allerlei!«

Harald begann Interesse zu zeigen; denn man hat nicht alle Tage Gelegenheit, sich mit einem Chinesen in fließendem Deutsch zu unterhalten. Er blickte scheu auf seinen Begleiter und sah auf einmal mit einem gewissen Grauen, dass dessen Augen nie an einem festen Punkt verweilten, sondern dass die Pupillen in bläulichem Email wie zwei schwarze Mäuse zwischen den wimperlosen Lidern hin und her huschten.

›Wenn er mich doch ansehen würde‹, dachte Harald mit einer fast quälenden Begierde danach, den Blick des Mannes festzuhalten. Als ob dieser seine Gedanken erraten habe, standen die Pupillen plötzlich still; die gewölbten, wie geschwollen anmutenden oberen Lider hoben sich um einen Bruchteil in die Höhe, und die dunkle Iris, die sich dabei etwas zu erweitern schien, stand unbeweglich. sodass es war, als blicke man in zwei Löcher hinein.

Eine Lähmung schien von diesem schwarzglühenden Blick auszustrahlen, eine Knebelung des Willens, eine bis zum äußersten konzentrierte elektrisch-ausbrechende Energie. Und mit einem Mal wusste Harald, dass dies der einzige Mann sein könne, dem ein Verständnis für seine rätselhaften Gemütsabenteuer zuzutrauen war. Ein unwiderstehliches Bedürfnis überkam ihn, sich dem Schutz dieser allwissenden, klugen Augen anzuvertrauen.

›Was man ihm sagt, das wird in ein Grab versenkt sein‹, dachte er und sah zu dem maskenhaften, großen Gesicht empor, das stereotyp weiterlächelte. ›Er allein ist vielleicht fähig, mich zu verstehen.‹ – Woher ihm diese Gewissheit kam, wusste er nicht, nur glaubte er, dass zwischen den Seltsamkeiten der Vorgänge, so noch des allerletzten, und dem Hirn des Asiaten irgendwelche Verwandtschaft bestehe.

»Haben Sie«, sagte er plötzlich aufgeregt und sich überstürzend, »vorhin den Wagen dort auf der Allee bemerkt? Mir war, als gingen die Pferde durch... Ich muss wohl geträumt gehabt haben, und außerdem kommt es mir so seltsam vor, dass es offenbar schon Mittag ist. Sagen Sie mir«, und er packte den Mann mit hastigem Griff am Ärmel, »wo war ich zwischen sechs und zwölf??«

Es war, als ob das Lächeln aus dem Gesicht vor ihm langsam ausgetilgt würde. Die Mundwinkel senkten sich, die Lippen schlossen sich zu farblosem Strich. Dann sagte Herr Sze leise und erstaunt: »Erklären Sie sich, ich verstehe nicht.«

»Und«, rief Harald aufgeregt, »wenn Sie nicht geträumt haben, dann müssen Sie doch gesehen haben...«

»Warten Sie, warten Sie«, sagte Herr Sze. »Dies ist neu, ich muss nachdenken.«

Er schritt etwas ab vom Weg, immer mit denselben stelzenden Schritten, als ob er etwas Unsichtbares dabei zu raffen habe, und hockte sich, die Beine über Kreuz geschlagen, mitten in das wuchernde Unkraut. Er nahm den Strohhut ab, legte die Hände parallel auf seine Knie und senkte den Kopf. Nachdem er mit geschlossenen Augen genau eine Minute gesessen hatte, erhob er sich Glied um Glied und sprach mit schier papageienhafter Aneinanderkettung von Silben: »Sie haben Pferde gesehen, die durchgingen. Die Sonne ist Ihnen auf den Scheitel geklettert, ohne dass Sie es wussten. Sie waren nicht hier zwischen neun und zwölf. Erstaunlich, mein junger Freund! Was haben Sie sonst noch erlebt, machen Sie Ihrem Herzen Luft, erzählen Sie mir alles; nichts ist belanglos. Ich muss es wissen. Warum, das sage ich Ihnen noch, aber erzählen Sie.«

Und während sie jetzt weiter auf das Pfaffenwäldchen zuschritten, öffnete ihm Harald sein Herz. Er tat es stockend, doch der Fremde trieb ihn unablässig an, weiter zu berichten. Es war unendlich schwer für Harald, die subtilen Empfindungen in Worte zu kleiden, jene Träume selbst in vagen Umrissen deutlich zu machen. Doch der Mann wiegte den Kopf nach jedem Satz und streute seltsame fremdsprachige Ausrufe dazwischen, wodurch er Haralds Interessen an der eigenen Darstellung befeuerte und ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.

Endlich fragte Herr Sze: »Und wo ist der Ort, wo Sie eingeschlafen waren damals?«

Harald deutete in Richtung des Waldes. »Es ist da hinten auf einem kleinen Hügel.«

»Sehr gut, ein Hügel«, sprach der Asiate. »Es muss ein Hügel sein – – haben Sie nichts vergessen, haben Sie nichts ausgelassen? Jede Einzelheit ist wichtig.«

Harald entsann sich, dass er dem Begleiter noch nichts von den drei Erlebnissen erzählt hatte, und er holte es nach, wobei er nicht umhin konnte, wahrzunehmen, dass in dem toten, glatten Gesicht ein Zucken anhob, dass die tief zitronengelbe Haut von kleinen Fältchen überrieselt wurde, als ob Nerven, noch nie aufgestörte, plötzlich ein ameisenhaftes Leben unter der dünnen Oberfläche vollführten.

Dies machte sich doppelt seltsam, und mit einer gewissermaßen spitzbübischen Freude an der Aufregung, in die er ihn versetzen konnte, schilderte er ihm genau, was weiter vor sich gegangen war: wie er die Schlange am Schluss getötet und wie der Stein gleichzeitig an ein Stück Eisen getroffen habe.

»Es klang hell, wie eine zerbrochene Glocke«, fügte er bei, und dass er versucht habe, dieses Eisen herauszureißen und sich die Finger verletzte, worauf er dann zwischen den Pilzen eingeschlafen sei – – dies alles machte auf den fremdländischen Gelehrten einen ungeheuren Eindruck.

Hätte Harald gewusst, wie schwer es sei, einen Asiaten zu irgendeiner Gemütsäußerung zu veranlassen, so hätte er sich auf den Erfolg dieses seines Berichtes noch viel mehr zugute getan.

Herr Sze schwieg eine Weile und dachte nach. Dann kehrte das Lächeln um seine Lippen wieder zurück, um von jetzt an nicht mehr zu weichen.

Er sagte: »Ich glaube, dass Ihr Erlebnis für Sie selbst noch sehr wichtig sein wird. Mich interessiert dieser Hügel, von dem Sie erzählen, in der Tat als Geologen. Bitte, führen Sie mich hin.«

Harald führte ihn durch den Wald. Als sie an die Eiche kamen, wo er den Edelmarder erblickt hatte, stockte der Chinese einen Augenblick von selbst, hob die feingeschnittene Nase schnuppernd in die Luft und fragte: »Hier war es, nicht wahr? Das Zweite.«

»Ja, hier, aber woher wissen Sie...«

»Haben Sie nicht bemerkt, dass ich mich bückte, als Sie mich zuerst erblickten?«

»Das habe ich wohl.«

»Nun, ich bin auch dem Ersten ganz von selbst auf die Spur gekommen. Ich habe eine feine Witterung für – Blut.«

Sie waren auf dem Hügel angelangt, und die schmalen Augen, deren Pupillen jetzt wieder unablässig hin und her huschten, ergriffen von jeder Einzelheit sofort Besitz. Der Mann bückte sich, setzte sich wieder kreuzbeinig dicht neben das Aas der Schlange hin, von dem eine Wolke von schillernden Schmeißfliegen mit brausendem Summen in die Höhe stieg, und tastete dann vorsichtig mit der großen, hellgelben Hand, die zugespitzte Nägel trug, an das hervorstehende Metall. Er blickte sinnend darauf und sprach dann wie beiläufig: »Sie haben recht! Es ist Eisen. Das Vorkommen dieses Metalls hier ist selten. Ich werde der Sache auf den Grund gehen, ob sich eine Ausbeute lohnt. Wie Sie sehen, hat es keinen Rost angesetzt.«

»Das fällt mir jetzt auch auf, nachdem Sie es sagen«, bestätigte Harald.

»Es hat seinen Grund«, meinte Herr Sze. »Gehen wir jetzt.« Er untersuchte noch kurz die Ausmaße des ausgebleichten Ringes der längst vermoderten Pilze und stieg den Hügel hinunter. Unten bewegte er sich sehr schnell und hastig; mit vielen Zuckungen des Nackens nahm er Einzelheiten in sich auf. Es war so, als ob er Maß nehme für irgendetwas, was Harald verborgen war. Er ging auch ganz um den Hügel herum, prüfte die Beschaffenheit des Bodens und erklärte sich endlich befriedigt.

»So, und nun wollen wir uns näher mit Ihnen beschäftigen«, meinte er mit seinem stereotypen Lächeln. »Sie haben mir in dankenswerter Weise so viel Vertrauen geschenkt, dass ich dies auch erwidern muss. Ärzte für Ihre Halluzinationen gibt es nicht, aber ich kann Sie jetzt vorübergehend heilen, wenn Sie mir ein paar Tropfen Blut opfern. Diese Heilung ist keine vollständige, aber sie wird so lange andauern, bis Sie wieder von mir hören. Ich vermute, wir haben noch manches miteinander zu tun; denn eine Sache, deren Wichtigkeit Sie gar nicht ermessen können, bindet uns von jetzt ab aneinander.«

Er zog eines seiner Messerchen hervor und bat Harald: »Öffnen Sie das Hemd auf der Brust.«

Harald tat es, und der Chinese machte einen leichten Schnitt in der Gegend des Herzens. In der anderen Hand hielt er plötzlich ein Platinbecherchen, wie es Chemiker zu benutzen pflegen, und presste es rasch an die Wunde, bis acht bis zehn große Tropfen Blutes es halb gefüllt hatten. Er stellte es auf den Boden und bestrich die Wunde mit einer Salbe, die nach fauligem Laub duftete, wodurch das Blut sofort ins Stocken kam.

»Warten Sie einen Augenblick, bis ich wieder herunterkomme«, sagte er und trug das kleine Gefäß wieder auf den Hügel zurück, wo er kurze Zeit beschäftigt war. Während er oben weilte, fühlte Harald, wie sein Herz, das seine Schläge in der Aufregung des schnellen Aufstiegs, der Hitze und der Beichte stark beschleunigt geschlagen hatte, auf einmal wieder ruhig wurde und so voll, wie er es nie zuvor erlebt hatte, seinen Körper durchpulste.

Jene traumhaften Geschehnisse, die er mühsam zu formulieren sich gewagt hatte, verblassten auf einmal für ihn zu einem wirren und spukhaften Nichts, das er spöttisch bei sich abzutun wagte. Ja, alles noch kürzlich so Gegenständliche kam ihm auf einmal absurd, lächerlich und unmöglich vor, sodass er sich an den Kopf griff und sich vergebens zu enträtseln versuchte, wovon er besessen gewesen war.

Aber der Chinese war eine Tatsache; er sah ihn jetzt wieder vom Hügel herabsteigen. Eine zweite Sicherheit war, dass er sich von einem seltsamen Zwang zu dem Mann hingezogen fühlte. Es war keine Sympathie, es war nicht einmal die Anziehung, die man Neuartigem entgegenbringt und die mit einer gewissen prickelnden Wollust versetzt ist; es war ein unfassbares Gebundensein an dieses leere Gesicht mit der glatten Stirn, hinter der sich doch so viel erstaunliches Verständnis für seine Ängste entfaltet hatte.

Er mochte ihn im Grunde nicht, er war ihm unheimlich, ja seine wie Mäuse umherhuschenden Augen waren ihm ehrlich zuwider, und doch fühlte er, er musste diesem Mann Rede und Antwort stehen, wann immer er es verlangen würde.

Ein Seltsames war noch dabei. Nämlich: trotz des flammenden Grüns um ihn herum und all der wachen Laute des Lebens stahl sich mit dem Gedanken an Herrn Sze wieder jener silberne Traum durch sein Hirn wie ein huschender Eindruck von etwas gewaltig Ersehntem, fast Erfüllbarem, dessen gletscherne Kühle sein heißes Herz einst umbettet und beruhigt hatte.

Woher dieser Zusammenhang kam, war ihm ein Rätsel, und er dachte auch nicht weiter darüber nach. Er beschloss, sich von jetzt ab der Führung dieses Mannes zu überlassen. Er merkte freilich nicht, dass dieser Entschluss kein selbstgewollter war, sondern – um eine Phrase zu gebrauchen, die Herr Sze später öfters anwandte – von Urzeiten her vorbestimmter.

Sie hatten das Wäldchen wieder durchquert. Auf der Landstraße sagte der Chinese: »Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Führung. Sie werden von jetzt ab verschont bleiben von dem, womit Sie sich beunruhigt haben. Sie werden nicht darüber sprechen, dass Sie mich kennengelernt haben. Sie werden nach Hause gehen und weiter leben, wie Sie es gewohnt sind. Und dann, wenn die Zeit reif ist, werden Sie wieder von mir hören.«

Hierauf trennten sie sich.

 

 

Kapitel 4: Berufung

Im Lokalblättchen war eine Notiz zu finden, dass ein ostasiatischer Gelehrter, der sich schon einiger Entdeckungen in der Chemie rühmen durfte, ein Herr namens Dr. Sze, den Aufenthalt in Deutschland als so nutzbringend empfinde, dass er gewissermaßen in Dankbarkeit für die genossenen wissenschaftlichen Förderungen beschlossen habe, Heim und Werkstatt in Deutschland aufzuschlagen. Und zwar – so durfte das Lokalblättchen seinen Lesern verraten – habe er vor, ... unser Mitbürger zu werden. Er habe ein größeres Grundstück aus Privathänden erworben, einen Teil des Pfaffenwäldchens, und die Absicht ausgesprochen, denselben zu entwässern. Dadurch werde gleichzeitig das Klima der Gegend befördert, indem nämlich der Sumpf dort verschwinde. Dr. Sze habe zugleich die amüsante Marotte, sein Haus so anzulegen, dass es einen Garten im Innenhof enthalte, der auch das sogenannte ›Hünengrab‹ umfasse. Er beabsichtige – (habe er dem Reporter verraten) – Zwergbäumchen dort zu züchten und auch Tiere, die er für seine Experimente benötige; eine zugleich glückliche und praktische Lösung.

Es entspann sich noch eine kurze Debatte darüber, ob nicht, wie man im Leserkreis vermutete, die Gegend dadurch um ein Naturdenkmal ärmer werde; denn ein solches sei das von Aberglauben umwitterte Hügelchen doch sicher. Der aufgeklärte Redakteur wusste jedoch solchen Einwänden witzig zu begegnen, indem er meinte: jener Herr sei vielleicht der Berufenste dazu, dem Aberglauben ›im eigenen Heim‹ wirksam zu Leibe zu rücken. Zudem dürfe man nicht übersehen, dass der Stadtsäckel einen anständigen Steuerzahler gut brauchen könne und der fremde Gelehrte entschieden rentabler sein würde, als es der betreffende Grund und Boden jemals gewesen sei.

Der alte Freiherr von Calmus las diese Nachrichten aus der Zeitung beim Frühstück vor. Er riet zwar den Völkern Europas noch nicht, ihre heiligsten Güter zu wahren, war aber ungehalten und äußerte sich rau über den ›zudringlichen Gelben‹, der doch weiß Gott hier nichts verloren habe und sicher nur die fragwürdige Absicht hege, deutsche Patente zu stehlen.

Harald saß dabei und tat keinen Mucks. Die Versuchung, von seiner Begegnung zu erzählen, war für einen Augenblick fast unwiderstehlich. Doch da glaubte er, im gelben Seidenschirm der Esszimmerlampe zwei schwarze Augen auftauchen zu sehen, die ihn faszinierten und lähmten, ihn erwartungsschwanger stimmten wie ein ungewiss glänzender Hort aus dunkler Wassertiefe. Er sagte nichts und biss sich auf die Zunge.

Mittlerweile wurde dort draußen im Pfaffenwäldchen, so hörte man von Zeit zu Zeit, umfangreich gearbeitet.

Von der Überlandstraße her schlug man eine breite Bresche zu dem Hügel hinüber, und vier Wochen hindurch knarzten ziegelbepackte Lastwagen von dieser Straße in den Wald hinein.

Von September bis Neujahr wurde gebaut, und auf einmal hieß es, das Gebäude sei fertiggestellt. Dr. Sze hatte jedoch die ärgerliche Vorsichtsmaßnahme getroffen, das Gelände mit einer hohen Bretterwand, die teilweise an die Baumstämme genagelt war, abzusperren. Hinter dieser entstand, wenn man den Berichten der Arbeiter zuhörte, ein sehr hohes, spitziges Eisengitter, sodass man befürchten musste, es werde auch für die Zukunft nicht so einfach sein, die Baulichkeit in näheren Augenschein zu nehmen.

Der Architekt selbst, den Dr. Sze beschäftigte, schwieg sich über alle Einzelheiten aus und hatte auch offenbar den Auftrag dazu erhalten. Keineswegs wurde er schlecht bezahlt, und dies erleichterte ihm das Schweigen darüber.

Etwa Mitte Januar wurde die Lattenwand entfernt. Doch nun zeigte es sich, dass hinter dem Eisengitter rings um das ganze Besitztum herum zwei Meter hohe, dichte Tannen gepflanzt waren, die den Einblick fast noch wirksamer verwehrten. Außerdem liefen unterhalb der wie geschliffen blitzenden Spitzen Drähte, die keineswegs Vertrauen erweckten und offenbar darauf berechnet waren, jedem unbefugten Eindringling mit einer entsprechenden Stromladung zu begegnen.

Nur durch das Haupttor konnte man den vorspringenden Eingang zum Haus entdecken, der mit einer Messingtür, die dicke flaschengrüne Glasplatten trug, geschlossen war. Außerdem tummelten sich, wie man aus dem dumpfen Blaffen erraten konnte, große Hunde im Garten umher.

Näherer Augenschein belohnte Wartende mit der fast allzu nahen Bekanntschaft von drei ungeheuren dänischen Doggen, die ihre eckigen Köpfe dicht ans Gitter schoben und Wolken von heißem Atem aus wehrhaften Rachen dem Betrachter ins Gesicht fauchten.

Es waren keine liebenswürdigen Hunde. Ihre kleinen bernsteingelben Augen hatten auch tagsüber etwas tückisch Schillerndes; sie wedelten nie, diese Hunde.

– Es war eigentümlich, so versicherten müßige Spaziergänger, mit welcher Nonchalance Herr Sze mit den Bestien umsprang; wie bedingungslos sie selbst kleinen, kaum wahrnehmbaren Gesten parierten, die er nebenhin vollführte; oder wie sie sich duckten, wenn er ihnen einen Schwall nie gehörter Silben entgegenschleuderte, bunter Silben, die wie Magie wirkten.

Harald hörte all diese Gerüchte mit jenem Gefühl, das Kinder in Erwartung einer kommenden Weihnachtsbescherung haben. Je näher der Zeitpunkt rückte, wo er Grund zu haben glaubte, von seinem seltsamen Freund zu hören, desto lebhafter und aufgeweckter erschien er im Familienkreis.

Die Eltern wunderten sich fast darüber, und wenn sie sich ihrer Liebe zu diesem prächtigen Jungen auch nicht immer bewusst gewesen waren, so empfanden sie doch jetzt diesen fröhlichen Geist im Haus mit verstärkter Zärtlichkeit.

Der alte Freiherr zog ihn öfter als sonst ins Vertrauen, machte Pläne mit ihm, schwor ihm zu, es in seiner künftigen Ausbildung an nichts fehlen zu lassen – wenn Gott ihm das Leben schenke.

»Vater«, rief Harald, »du wirst uralt.«

»Wenn wir zusammenbleiben, vielleicht. Denn zum Teufel, du hast etwas Ansteckendes. Ich vergesse schon schier meine Gicht, wenn du dabei bist.«

Der alte Mann, seine unmilitärische Befangenheit mit rasselndem Lachen bemäntelnd, schlug ihm mit der unsteten Hand derb auf die junge Schulter.

Es war Harald noch nie ins Bewusstsein gekommen, wie wohl es tut, achtzehn Jahre zu zählen. Er bereitete sich auf das Abenteuer, das auf ihn wartete und das er sich keineswegs als schlimm oder schwierig vorstellte, zwischendurch mit leisem Gruseln vor.

Seltsamerweise kam ihm nie der Gedanke an eine wirkliche Gefahr. Wo wäre die auch zu erblicken gewesen? Und wenn es dazu kommen sollte, dass jener Chinese etwas Fragwürdiges mit ihm im Schilde führe, so brauchte er sich bloß zu betrachten, um eine kühle Sicherheit zu finden. Er war über sein Alter hinaus kräftig. Unablässige Muskelkräftigung hatte seinen Körper gestählt.

Doch bald fand er den Gedanken lächerlich; denn gleichzeitig kam ihn eine knabenhafte Scheu an: der Respekt bloßer Jugend vor dem Hirn. ›Ein verdammt kluger Bursche muss er doch sein, sonst hätte er mich damals nicht so zum Schwatzen gebracht‹, sinnierte er. ›Für mich als – sagen wir – künftigen Diplomaten ist es vielleicht eine gute Schule, schon jetzt mit solchen Herren umgehen zu lernen und hinter ihre Verschmitztheiten zu kommen. Warten wir es ab.‹

 ***

Es war im März und warm. Die Äcker waren noch brüchig und braun. Der Föhn brauste im Pfaffenwäldchen und bewegte die Zweige, die von Keimen strotzten.

Die Telegraphenstangen orgelten, und nachts schwangen die Bogenlampen hin und her und erzeugten gespenstische Wettrennen von Schatten auf der Gasse, an der Harald wohnte.

Er saß eines Nachts am Fenster. Ein halber Mond blickte durch hastende Wolken.

Harald hörte das unablässige Brausen des Windes, der sich stöhnend um die Ecke drängte und, wo er eine Freistatt fand, sich dröhnend entfaltete. Das Geräusch in den Kaminen ringsum erinnerte an ein fernes Stimmkonzert von Kindern, die um Hilfe schreien. Das Fenster klirrte so heftig, dass Harald die Lampe löschte und es öffnete. Eine feuchtwarme, riesige Hand griff ins Zimmer und verrückte die Gegenstände, wühlte in seinem Haar und umhüllte seine Brust.

Aus der unendlichen Verschiedenheit der Laute konnte er keinen bestimmten herausheben. Nur auf einmal war es ihm, wie wenn während einer kurzen Sturmpause oder gleichsam unter dem Sturm ein Klang von der Gasse heraufwehe, der mit seinem Namen verwandt schien.

Jetzt hörte er es noch einmal ganz deutlich, das Wort ›Harald‹.

Er beugte sich mit geknicktem Leib aus dem Fenster und spähte hinab.

Da sah er einen Schatten drunten stehen. Es war ein Mann, in einen Ulster gehüllt, der sich im Wind blähte und seinem Träger die verschiedensten grotesken Formen gab.

Auf einmal erglühte etwas am Gesicht des Mannes, ein elektrisches Lämpchen, und beleuchtete die Züge Dr. Szes. Es war ein kurzes Aufblitzen, doch es genügte Harald, um das große gelbe Gesicht erkennen zu können. Kurz darauf hörte er eine Stimme, die ihm leise, dringend und doch deutlich zurief: »Heute Nachmittag drei Uhr!«

Der Sturm wälzte gleich darauf eine Brandung von Geräuschen herbei. Ein Barbierschild rasselte klirrend auf die Straße herab. Irgendwo polterte ein brüchiger Schornstein knatternd über das Blech von Regenröhren, und ehe Harald sein eigene Stimme bemerkbar machen wollte, war der Schatten auf der Straße spurlos verschwunden, wie aufgelöst in den Hexentanz der anderen, die längs der Häuserwände hin und her fuhren.

Er schlief in dieser Nacht nicht mehr. Die Erwartung des Abenteuers bedrückte sein Herz und ließ es beschleunigt schlagen wie in frühen Schulzeiten, wenn er einen gewagten Streich im Sinn hatte, zu dem wohl alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen waren, der aber unter Umständen Ertappung und Bestrafung möglich machte.

Die knabenhafte Freude an Geheimniskrämerei überwog.

Er überlegte sich, ob er für alle Fälle – und sei es nur der Hunde wegen – eine Waffe mitnehmen solle; schlich dann ins Arbeitszimmer des Vaters hinüber und stahl nach einigem Suchen dessen automatischen Revolver, ein kurzes, handliches Ding aus schwarzem Stahl, das sich gut in der hinteren Hosentasche unterbringen ließ.

Er verwischte die Spuren des Diebstahls, so gut es ging, schlich dann wieder in seine Kammer und kleidete sich an. Er durfte kein Aufsehen erregen durch zu frühes Wachsein. Es hieß Geduld üben und beim Frühstück wie auch beim Mittagessen das gewöhnliche Gesicht zeigen. Was brauchten seine Eltern auch zu wissen, dass er Beziehungen zu dem Gelben unterhielt? ›Mit der Zeit, wenn unsere Bekanntschaft nicht mehr so jung ist, kann ich sie ja darüber aufklären, und mein Vater wird Lebensart genug haben, nicht taktlos dazwischenzufahren‹, dachte er.

Der Föhn dauerte auch den ganzen Morgen noch an. Leichte warme Regenschauer wechselten mit blauem Himmel. Um zwei Uhr machte er sich auf den Weg, ohne sich zu verabschieden, denn er würde ja bis zum Abend wieder zurück sein, und wenn es später wäre, so könnte er ja irgendeine Ausflucht ersinnen.

Als er in das Wäldchen eintrat, übersprühten ihn die Bäume mit unablässigen Tropfengarben, sodass ihm die Nässe bis auf die Haut drang. In ziemlich beschmutztem Zustand und von Kühle schauernd, kam er um die angegebene Zeit vor dem schmiedeeisernen Gitter der Umfriedung an.

Eine Klingel war nicht zu entdecken. Die drei großen Doggen schritten langsam heran, die eckigen Köpfe starr dem Besucher zugewandt. Er versuchte, sie zu locken und ein freundliches Wort zu sprechen. Doch all dies hatte nur den Erfolg, dass sie etwas näher kamen, dann auf säulenstarren Beinen gleich Monumenten umherstanden und leise knurrten, mit jenem tief aus der Brust heraufgeholten Knurren, das viel bösartiger ist als lautes Gebell.

Er suchte nach einer Klingel und fand sie nicht. Doch mit einem Mal tat sich lautlos die Tür im Eingang hinten auf, und der Doktor schlüpfte heraus.

»Im Interesse der Wissenschaft...«

Er war makellos gekleidet. Ein niedriger Kragen von schneeiger Korrektheit mit schwarzer Binde umschloss seinen Hals, und ein unauffälliger grauer Anzug aus bestem englischem Stoff umhüllte, verschwenderisch geschnitten, die hohe Figur. An den Füßen trug er ausgeschnittene Hausschuhe aus Ziegenleder.

Da der Weg mit Kies bestreut war, brauchte er keine Angst zu haben, sie zu beschmutzen, was er bei seinem katzenleichten Gang auch sonst wohl vermieden hätte. Er trug eine goldene Brille und winkte freundschaftlich mit der Hand.

Auf ein kurzes unverständliches Wort hin zogen sich die Bestien in geziemende Entfernung zurück.

Der Doktor raschelte eine geraume Weile mit einer großen Menge von kleinen Schlüsseln an allerhand versteckten Innenschlössern; dann öffnete sich das schwere Tor lautlos und ließ Harald durch.

Dr. Sze schloss ebenso sorgfältig wieder ab – (der Hunde wegen – wie er lächelnd sagte; denn diese hätten schon öfters versucht, auszubrechen). Dann führte er seinen Gast in das Haus.

Die Messingtür schnappte hinter ihnen mit einem leisen »Klick« zu. Harald kam es einen Augenblick so vor, als ob etwas in seinem Leben damit entzweigeschnitten werde... Auch besorgte es ihn flüchtig, dass die Tür innen keine sichtbare Klinke oder Schloss trug, sondern glatt poliert war und sich schier ohne Ritzen in ihren Rahmen fügte.

Dr. Sze geleitete ihn in einen kleinen Vorplatz und von dort in eine Art Laboratorium, das in jeder Beziehung modern eingerichtet schien, besonders was die elektrischen Anlagen anging, die er offenbar durch einen Motor vom Keller her speiste. Von dort kam ein leises Vibrieren, das mit dem Pulsen der Maschine auf einem großen Dampfer vergleichbar war.

Dr. Sze geleitete den jungen Bekannten durch das Laboratorium hindurch, dann schlug er eine blauseidene, mit goldenen Drachen bestickte Portiere zurück, und man war in einem sehr einfach ausgestatteten Gemach, in dem sich nur ein großer grasgrüner Teppich mit antiker Ornamentierung und wenige geschnitzte Taburetts befanden. Eine Unmenge von Kissen war am Boden verstreut.

»Gedulden Sie sich gütigst einen kleinen Moment«, sagte Dr. Sze.

Harald setzte sich resolut auf eines der Kissen, und es dauerte keine fünf Minuten, bis der Gastgeber mit einer lackierten Tragplatte erschien, auf der sich ein blauweißes, sehr schmuckloses Teeservice ohne Zucker und Milch befand; zwei henkellose Tässchen ohne Untersatz und eine Kanne.

Grüner Tee wurde ausgeschenkt. Harald verbrannte sich fast die Finger, als er die Tasse mit der Faust umschloss. Dr. Sze lächelte und sagte: »Dies ist die Art, Tee zu genießen. Außerdem verbrenne ich mich nie; meine Hände sind sehr kühl.«

Ja, es schien ihm sogar daran gelegen zu sein, sie zu wärmen; denn er hielt die Tasse volle fünf Minuten lang mit beiden Händen umschlungen, ohne eine Miene zu verziehen.

Als die ersten Tässchen geleert waren und eine wohltätige Wärme in Haralds Magen entstanden war, verschwand der Doktor wieder und kehrte nach einiger Zeit zurück. Er war nicht mehr der unauffällig-elegante Europäer; er trug jetzt ein hemdartig geschnittenes Gewand aus schwarzer Seide, über der Brust farbig bestickt; und statt in filzbesohlten Schuhen steckten seine lautlosen Füße in flachen Sandalen. Die Ärmel des Gewandes waren weit geschnitten und hingen ihm in Ruhe bis zu den Fingernägeln herab. Sein Haar war mit einer schwarzen Tuchkappe eng an den Kopf gepresst. Er hatte ein zweites, genau so geschnittenes Gewand mitgebracht, das er vor Harald hinlegte.

»Sie sind ganz durchnässt, wie ich bemerke«, sagte er vertraulich. »Es ist hier gut geheizt, und es ist besser, Sie ziehen sich um, damit Ihre Sachen trocknen können.«

Beim Umkleiden beobachtete ihn der Doktor aus halbgeschlossenen Lidern, wobei seine Nüstern leise vibrierten. Das Gewand passte dem Jungen wie angegossen, ebenso die Sandalen.

Der Doktor trug die Kleider hinaus. Kurz bevor er den Vorhang erreichte, tastete er das Ding ab, das sich in Haralds Hosentasche befand, und ein leiser Zischlaut entfuhr seinem Mund.

Nach seiner Rückkehr tranken sie schweigend zwei weitere Tässchen Tee. Der Doktor bot Zigaretten an. Sie waren dick und äußerst aromatisch, mit einem fremden Beigeschmack, der Harald nicht weiter störte und ihm äußerst ›echt‹ erschien.

Er war jetzt mit der Zeit neugierig geworden, ob das zeremonielle Betragen des Gastgebers nun sein Ende erreicht habe und bat ihn in Gedanken, er möge zur Sache kommen, da es doch offenbar ein ganz bestimmter Zweck war, zu dem er geladen schien.

»Sie haben recht«, sagte Dr. Sze auf einmal, »ich komme jetzt zur Sache.«

Harald fuhr erschrocken zusammen. War dies Gedankenleserei? – oder Zufall?

»Was die da unfreiwillig entdeckt haben im letzten Sommer«, fuhr Dr. Sze fort, »es ist ein großer Meteorit. Sie werden mir es wohl nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich diesem Meteoriten schon einige Zeit auf der Spur bin. Er ist doppelt so groß wie der ›Eiserne Berg‹ in der Melville-Bai, der, wie Ihnen bekannt sein dürfte, 1818 gefallen ist, also erst ganz kürzlich, wenn ich so sagen darf... Derlei Neulinge sind gar nicht der Rede wert, denn aus Schriften, die ich kenne, stand es schon vor dreitausend Jahren fest, dass vor schon damals undenklichen Zeiten unser Besuch hier angekommen sei; und zwar deuteten gewisse Formeln jener uralten Schriften darauf hin, dass er irgendwo im Herzen des jetzigen Europa stecken müsse.

Ich bin vielleicht einer von dreien, denen es im Lauf von Jahrhunderten gegeben war, diese Schriften überhaupt zu entziffern; sicherlich aber der Einzige, der die Berechnungen deuten konnte. Und dass ich nicht schlecht geraten habe, dafür zeugt ja meine Anwesenheit hier...

Mein junger Freund! Ich habe keine politische Mission. Meine Mission ist unendlich wichtiger. Augenblicksgeschäfte mache ich nicht. Um vor Neugier sicher zu sein, habe ich den Ort dieses Meteoriten abgegrenzt; denn man muss ihn studieren. Es ist wichtig, dass man sich näher mit ihm befasst.

Sie werden verstehen, dass die Wissenschaft ein brennendes Interesse daran hat, und ich bin vielleicht eitel genug, mein alleiniges Patent auf diese Entdeckung nach Kräften auszunützen. Der Grund, weshalb ich Sie hierhergebeten habe, ist der, dass Sie mir helfen möchten, den Klotz auszugraben und der Betrachtung zugänglich zu machen. Ich brauche eine junge Kraft dabei, obwohl ich selber ziemlich gut arbeite. Aber zu zweit geht es besser, das verstehen Sie wohl.«

Haralds Mund hatte sich vor Erstaunen geöffnet. Er starrte seinen Gastgeber aus seinen blauen, unschuldigen Augen an und rief eifrig: »Natürlich helfe ich Ihnen! Welch ein Abenteuer! Und ich werde keinem Menschen etwas davon sagen, bis Ihre Schrift erschienen ist!«

»Nein, Sie werden keinem Menschen etwas sagen«, meinte Dr. Sze und lächelte. »Aber ich möchte Sie bitten, bis das Werk vollendet ist, mein Gast zu sein.«

Dieser Gedanke war neu für Harald. Er verfiel ins Grübeln.

»Ob das aber gut möglich ist?« fragte er bescheiden. »Sie wissen, meine Eltern haben noch keine Ahnung, dass ich hier bin, und eine Benachrichtigung müsste erfolgen. Ich bin sicher, dass sie mir die Erlaubnis nicht verweigern werden.«

Dr. Sze lächelte stereotyp und sagte leise: »Sie werden niemanden verständigen.«

Eine Stille folgte.

Das Blut wich langsam aus Haralds Gesicht. Er wurde sich plötzlich mit kurzem Schreck bewusst, dass er seinen Revolver in der Tasche gelassen hatte.

»Wenn Sie wünschen, werde ich natürlich nichts von mir hören lassen, obwohl es meinen Angehörigen gegenüber grausam ist«, sagte er und stand auf. »Ich habe übrigens mein Taschentuch vergessen...«

Dr. Sze bemerkte ruhig: »Greifen Sie in Ihren Ärmel.«

Harald tat es und zog ein mächtiges Tuch aus Rohseide hervor.

»Die Sachen trocknen draußen. Ich habe sie versorgt.«

Harald setzte sich ratlos wieder hin.

»Sehen Sie«, fuhr der Unerschütterliche fort, »es hat gar keinen Zweck, meine Wünsche zu missachten. Sie könnten gesehen werden. Man wird Sie ausfragen, die Sache wird ruchbar, ob Sie es wollen oder nicht. Und im Interesse der Wissenschaft...«

»Das Interesse der Wissenschaft«, schrie Harald auf, der jetzt die Fassung verlor, »ist mir auch nicht so viel wert«, er schnippte mit den Fingern, »wenn es sich um die schwerste Angst meiner Eltern handelt, die so leicht beruhigt werden könnten.«

»Ihnen nicht«, war die Antwort, »aber mir.«

In diesem Moment verspürte Harald die größte Lust, mit der Faust in dieses glatte, lächelnde Gesicht hineinzuschlagen. ›Jetzt geht es Mann gegen Mann‹, schoss es ihm durch den Kopf. Mit plötzlicher Wucht und mit einem Sprung warf er sich auf den Chinesen.

»Sie führen etwas im Schilde«, keuchte er dabei. Er entwickelte ungeahnte Kraft. Er packte den Gelben bei den Schultern und zwang ihn nach rückwärts auf den Boden.

Dr. Sze hatte die Augen geschlossen und lag schier leblos dort. Sein Lächeln hatte etwas Ekstatisches. Harald glaubte ihn von einer Ohnmacht befangen und eilte in schnellen Sätzen auf den Vorhang los; da hörte er ein Gewisper hinter sich.

»Es ist fruchtlos, mein Freund. Sie können nicht hinaus, und außer mir ist niemand da, der Ihnen öffnen könnte.«

Dies erhöhte seine Verzweiflung. Er raste durch das Laboratorium, um seine Kleider zu suchen. Doch wie fieberhaft er auch suchte, es war vergebens. Gebrochen, mit wankenden Knien kehrte er schließlich ins Zimmer zurück. Dort saß der Chinese wie vorher und schlürfte von der vierten Tasse Tee, mit der er sich soeben versorgt hatte. Er machte eine ausgedehnte Handbewegung und lud seinen Gast wieder zum Sitzen ein.

»Es führt, wiederhole ich Ihnen, zu nichts, wenn Sie sich aufregen. Sie können sich übrigens beruhigen. Wir sind beide nur zwei Puppen in der Hand eines Schicksals, und die Berufung, die wir beide zu erfüllen haben, ist so ungeheuer wichtig, dass meine und Ihre kleinen Interessen dagegen gänzlich verblassen. Lassen Sie sich aufheitern!«

Er zauberte von irgendwo eine langstielige Flasche hervor, aus der er einen gelblichen Trank einschenkte.

»Ein wenig Reisbranntwein; und wenn Sie wollen, fügen Sie einige Tröpfchen aus diesem Fläschchen bei. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen, dass ich Sie vergiften will; ich habe Sie viel zu nötig.«

Er maß zehn grüne Tröpfchen in Haralds Glas, das dieser zögerlich in der Hand hielt.

»Trinken Sie es hinunter«, sagte Dr. Sze. Harald tat es, und schier gleichzeitig kam eine große Gleichgültigkeit über ihn. Kaum hatte der Trank halbwegs seine Wirkung getan, als diese Gefühllosigkeit sich in eine wohlige Unternehmungslust auflöste, die eng mit der geplanten Arbeit zusammenhing.

»Gut«, sagte Harald aufatmend, »tun Sie mit mir, was Sie wollen; aber bedenken Sie, dass Sie eine große Verantwortung auf sich laden und dass wir hier in Deutschland leben, wo es Gesetze gegen Freiheitsberaubung gibt.«

»Ich habe alles bedacht«, meinte der Doktor stoisch. »Meine Berechnung wird stimmen. Sie werden sich nicht zu beklagen haben, doch wollen wir jetzt einmal sehen, wie wir am besten beginnen.«

 

 

Kapitel 5: Der eiserne Kopf

Er stand auf, und beide gingen aus dem Zimmer hinaus. Ein kleiner Gang zum Innenhof wurde durchschritten, und Harald glaubte zunächst ein Treibhaus zu sehen. Doch bei näherer Betrachtung erwies es sich als eine mäßig erwärmte Halle, dem Patio eines spanischen Hauses nicht unähnlich, die von ganz bedeutender Größe und Höhe war.

Quadratische Glasplatten, die durch elektrische Klappvorrichtungen zu öffnen waren und durch deren grüne Decke der Himmel wie durch Wasser herabschimmerte, überdachten den Hof, der so geräumig war, dass der ganze kleine Hügel darin Platz fand.

»Ein hübsches Arrangement, nicht wahr?« meinte Dr. Sze und lächelte.

Er kletterte, die schwarzen, knisternden Ärmel wie Flügel schwingend, auf dem Hügel umher, einer tropischen Fledermaus ähnlich, einem Fliegenden Hund, der im Dämmerlicht beginnt, sich zu regen.

Als er oben stand, konnte er das Glasdach gerade mit gestrecktem Flügel erreichen.

Er stelzte wieder herab und deutete auf Hacken und Schaufeln, die in einer Ecke aufgestapelt lagen.

»Wo tun wir die Erde hin?« meinte Harald.

Dr. Sze führte ihn um den Hügel herum. Hier öffnete sich vor ihnen ein Loch mit schiefem Eingang, wie ein Kellerfenster, durch das man Kohlen schüttet.

»Es ist Platz genug da unten für die Erde; außerdem schälen wir den Block nur heraus und brauchen nicht den ganzen Hügel abzutragen. Der Block sitzt nicht tief in der Erde; das Gestein hat ihn nicht eindringen lassen, sodass er gleichsam als Bekrönung auf einem eigenen Fundament sitzt. Es wird einige Zeit dauern, bis wir dieses Monstrum, das Hunderte von Tonnen wiegt, ganz befreit haben; doch für einen so kräftigen Jungen wie Sie müsste es eine Leichtigkeit sein und eine Freude zugleich.«

Diese suggestiven Worte bewirkten, dass Haralds knabenhafte Neugier die Oberhand gewann und er mit ehrlichem Interesse den Weisungen des Doktors folgte.

»Am besten, Sie befreien sich jetzt von Ihrem Gewand«, sagte der Doktor. »Ich werde dirigieren und Ihnen sagen, wo Sie die Sache anzupacken haben.«

Harald warf den schwarzen Kittel ab und ergriff eine Hacke, mit der er auf den Hügel zurückkehrte.

Die Treibhauswärme machte es ihm direkt zum Bedürfnis, nackt zu arbeiten. Er hieb mit aller Gewalt in die Stellen, die der gelbe Finger mit dem spitzen Nagel ihm wies, der brüchige Lehmboden kollerte in großen Brocken herab. Unablässig, unermüdlich schwang er die Hacke. Nicht einmal Schweiß trat auf seine blanke Haut. War das etwa den grünen Tropfen zu verdanken, die er zu sich genommen hatte?

Er vergaß völlig die Zeit...

 

Der Himmel über dem grünen Glasdach dunkelte und nahm die Färbung der Tiefsee an. Gleichzeitig aber machte sich ein schon vorher phosphoreszierendes Licht bemerkbar, das an Intensität wuchs und das Glasdach wiederum erhellte, sodass wundervoll funkelnde Strahlenbrechungen darin entstanden.

Das Licht nahm seinen Ursprung offenbar von versteckten elektrischen Lampen. Das Funkeln wurde so stark, dass es die ganze ungeheure Halle mit Tageshelle erfüllte.

Was hatte es jetzt noch für einen Sinn, sich nach dem Stand des Zeigers umzutun? Uhren hatten hier ihren Sinn verloren, da es sich womöglich um Wochen handelte, die er hier zuzubringen hatte und Tag und Nacht ohne die Trennung von Hell und Dunkel verliefen.

Von dem Sturm draußen drang nicht das leiseste Wispern durch Mauern oder Glasplatten. Manchmal erzitterten diese ganz unmerklich; vielleicht war ein Ast darauf gestürzt. Sonst aber behielten sie das stille, intensive Glühen bei.

Unablässig hallte der Klang der Hacke. Fortwährend schlug sie an Eisen mit klirrendem Ton, der an zerborstene Kirchenglocken gemahnte.

Stunden mochten verflossen sein, ehe Dr. Sze, der jede neue Entblößung des Meteoriten mit aufmerksamsten Augen verfolgte, die Hand hob und ihn anzuhalten bat.

»Es ist soweit«, sagte er. »Wir dürfen es nicht allzu sehr beschleunigen, du musst dich für den Anblick stärken.«

Harald blickte für einen Augenblick verblüfft auf. Das »Du« klang eigentümlich in dieser Stille, überraschend für einen, der ihn gefangen hielt und ihn bis jetzt mit eisiger Korrektheit behandelte.

Aber seine Verwunderung darüber dauerte nicht an. Es hatte zu natürlich geklungen, und es war ihm auch inzwischen das Bewusstsein in Fleisch und Blut übergegangen, dass er und dieser seltsame Asiate von irgendeinem Zwang zusammengeschmiedet seien, der sich nicht lockern ließ, und an dessen Fessel alle Phrasen wirkungslos zerschellten.

»Komm jetzt herunter«, sagte Dr. Sze.

Harald folgte ihm bis zum Hallenboden. Was er von dort unten erblickte, ließ ihm den Atem stocken.

Er wäre fast nach hinten gesunken, wenn sich nicht die Hand des Doktors eng um seinen Arm gepresst und er nicht ein leichtes Eindringen der spitzen Nägel auf der Haut gespürt hätte, einen leichten Schmerz, der ihn bei vollem Bewusstsein erhielt.

Zunächst sah er freilich nur eine Masse von zackigem Nickeleisen, von Löchern durchbohrt wie ein Schwamm und mit geborstenen Spitzen bekränzt. Dann auf einmal wurde ihm klar, dass dies ein ungeheurer Kopf schien, den er ausgegraben hatte.

Es war ein Antlitz, was dort herabstarrte; es war formlos; doch alles, was zu einem Antlitz gehört, war deutlich erkennbar. Zwei Löcher, in denen schwarze Dunkelheit saß, glotzten blind herab; eine gebogene Nase mit scharfem Rücken, besetzt von widerlich silbrigen Protuberanzen, wuchs zwischen ihnen heraus. Lehm klebte noch an ihrer Spitze, aber was unter diesen Nüstern quer durch das zerfetzte Metall wuchs, war ein Maul, ein schnappendes Maul von so unerhörter Brutalität, von solchem Ausmaß, dass jede lauernde Maske, in Alpträumen erdacht, zu nichtssagender Puppenunschuld schrumpfte.

Es war ein klaffender Schlund, mit zerfressenen Zähnen besetzt, die gleich unregelmäßigen Hauern wie ein Gestrüpp von metallenen Zacken am Rand emporgezerrter Lippen kranzartig durcheinanderwucherten...

Was das Widerlichste war: dieses Maul, dieses alles schlingende, schien zu lächeln; – ja, die Spitzen dieser gierigen Höhle schienen emporgezerrt zu satanischem, stillem, unersättlichem Grinsen.

Dieser Dämonenkopf glotzte von dort oben herab, und all das funkelnde, grünliche Licht, das so lebendig unter dem Dach spielte, rief nur stumpfen Reflex, den von Eisen und starrer Kälte, auf ihm hervor.

Der Ausdruck war so entsetzlich in seiner versteinerten Tierhaftigkeit, dass Harald trotz der feuchten Schwüle sein Blut gefrieren fühlte und an allen Gliedern zitterte.

»Sieh ihn jetzt nicht an. Beuge den Kopf. Ich werde dich stärken.«

Dr. Sze war wieder entschwunden und kehrte mit derselben Flüssigkeit zurück, die Harald schon einmal so wohlgetan hatte.

Er brachte sie an die erblassten Lippen des Jünglings, und dieser schluckte sie hinunter. Als er wieder aufblickte, sah er dort oben ein Stück Eisen hervorlugen, das nichts weiter zu sein schien, als eben das Erwartete, nämlich ein Teilstück des Meteoriten von vielleicht reichlich abenteuerlicher Form.

»Um Gottes willen«, stammelte er, »was war das dort oben?«

Dr. Sze lächelte und sah ihn fast erstaunt an.

»Du erschrickst leicht, mein junger Freund«, meinte er plaudernd. »Doch ich gebe zu: es ist eigentümlich, wie seltsam der Durchgang durch die äußerste Luftschicht so ein Stück Eisen aus dem Weltenraum modellieren kann. Da gibt es manchmal fratzenhafte Gebilde... Stell' dir vor«, meinte er und beugte sich gemütlich herab, »du hast hier ein Stück Blei. Du schmelzest es und lässt es in kaltes Wasser rinnen. Du erhältst einen Hund oder einen Schlitten oder ein Häuschen oder ein Gesicht, alles, was dein Herz begehrt. Das ist nichts Abnormes, und der Vorgang ist hier der gleiche.«

Harald blickte wieder auf.

»Nein«, schrie er plötzlich, »es kann nicht sein, es lebt schon wieder, das Ding dort oben, es schnappt nach mir. Helfen Sie.« Außer sich drängte er sich an den Chinesen. »Lassen Sie mich raus. Ich halte es nicht aus, lassen Sie mich, ich beschwöre Sie!«

»Phantastereien«, murmelte der Asiate. Er legte ihm die kühlen Hände, die welken Kastanienblättern glichen, auf die heiße Stirn und strich ihm leicht mit den Fingern über die geschlossenen Augen.

Sofort verstummte das Schluchzen. Harald richtete sich auf.

Dr. Sze blickte ihn mit etwas erweiterten Augen an. Mit einem Mal versank alle Angst, alle Beklemmung, ja alles Gedächtnis an das Frühere wie ein böser Traum.

Erstaunt blickte Harald auf: wie kam er hierher? Wo war er hier?

– Nichts beunruhigte ihn mehr. Nur das wusste er, dass er ein Werk zu vollenden hatte, und dieses Werk erschien ihm nicht mehr schwierig. – Er blickte sich suchend um.

»Soll ich weitergraben?«

»Wenn du nicht müde bist, so tue es. Wir können uns Zeit lassen. Übrigens hast du so schnell gearbeitet, dass ich sehr zufrieden mit dir bin. Wenn du willst, kannst du dich jetzt damit beschäftigen, die Erde in den Schacht zu werfen. Ich denke, wir räumen sie regelmäßig zwischendurch hinaus, damit wir immer genug Platz haben.«

Harald, ohne ein Wort zu sagen, warf die Hacke weg, ergriff eine der Schaufeln und machte sich an die Arbeit. Als er damit fertig war und sich umsah, hatte die Beschaffenheit des Lichts in der Halle sich wieder geändert. Das Geflimmer hatte sich in ein breites, ruhiges Glänzen verwandelt. Das war Tag, war Sonnenlicht da oben.

In Klarheit übertraf es das künstliche kaum, sodass man sich immer noch einbilden konnte, es sei Nacht. Doch der Übergang war so zart und unvermutet, dass die Tageszeit gänzlich an Bedeutung verlor...

Harald versuchte wiederum nachzugrübeln, wie er hierhergekommen war; jedoch standen nur wenige Dinge klar in seinem Gedächtnis; hoben sich beleuchtet darin ab inmitten einer Flut nun unerkennbar trüber und gänzlich verdunkelter Dinge.

Er dachte an einen Spaziergang, an drei sich rätselhaft folgende Geschehnisse, die mit Blut verknüpft waren; er dachte an seine Begegnung mit dem Chinesen und an eine silberne Vision, die sich zutiefst in sein Hirn gebrannt hatte. Er grübelte, wann und wo er all dieses erlebt hatte. Nichts kam ihm zu Hilfe; und er gab es auf.

Sein Leben schien von nun ab nur mit Erlebnissen verkettet, die auf diesen seltsamen Menschen dort Bezug hatten. Das andere, ach, das andere war so unendlich belanglos, dass das Hirn sich nicht einmal Mühe gab, es in greifbare Bilder umzuschaffen.

 

 

Kapitel 6: Weitere Überrumpelungen

Der Asiate winkte ihm und führte ihn in einen Raum, in dem sich ein kleines Bassin befand.

»Wasch' dich jetzt und ruh' dich aus.«

Als Harald in dem erwärmten Wasser lag, überfiel ihn ein unendliches Wohlgefühl, sein Geist blieb jedoch stetig dabei wach. Er schlief nicht wirklich, sondern es war das Gefühl des Entrücktseins, das er schon früher kannte: – als schwebe er auf Luft, wie auf Daunenpolstern, in vollständiger Wunschlosigkeit. Dann, allmählich, meldete sich Hunger. Er begann, seine Umgebung zu betrachten; ihre raffinierte Einfachheit, ihren unaufdringlichen Luxus reizend und anheimelnd zu finden, und trocknete sich ab.

Langsam legte er wieder den schwarzseidenen, hemdartigen Kittel an, in den sein Körper auf einmal mit Widerwillen schlüpfte. Die Seide, statt zu kühlen, beengte ihn; irgendwo schienen die glitzernden Metallfäden im dunklen Blumenprunk der Stickerei seine junge, von leichtem Atem bewegte Brust einzuengen und die zarte Haut allmählich zu erhitzen gleich blutziehendem Pflaster.

Überall schien sich der Stoff anzusaugen, so an den Knien; und die Empfindung der Schenkel schien behindert, wie durch fremdartig-lähmende Wollust, so als suchten sie Spielraum unter einer engen Nesselkutte.

Er versuchte, das Gewand wieder abzulegen; doch seiner Hände, sobald sie die Hüfte berührten, bemächtigte sich Gleichmut und Schwäche; ja, jene Wollust mündete in den unbestimmten Wunsch von Selbstaufgabe, in fatalistischem Vernichtungswillen gegen sein eigenes, in köstlicher Jugend strotzendes Fleisch.

Jetzt ertönte ein leiser Gongschlag, der ihn in ein entferntes Zimmer rief.

Hier stand ein vollständiges, reichliches Mahl für ihn bereit. Ein Stuhl fehlte, und so wurde es auf der Strohmatte, die den Boden bedeckte, von hübschen, fremdartig gezierten Tellern genossen.

Dr. Sze zeigte eine befremdende Appetitlosigkeit. Er bediente sich zweier elfenbeinerner Stäbchen, mit denen er einige Reiskörner aufpickte und sie kurz vor dem Herabfallen auf äußerst geschickte Weise in den Mund schleuderte. Dazu trank er wieder seinen unvermeidlichen Tee.

Er war mit seiner Mahlzeit schon längst fertig, als Harald sich noch mit dem ersten Gang beschäftigte. Als die Mahlzeit beendet war, warf er ein flaumleichtes Tuch über die Teller, und man zog sich in das ursprüngliche Empfangszimmer zurück, um bei dem Genuss einiger Zigaretten zu plaudern.

Während Harald aß und seinen schier rasenden Hunger befriedigte, hatte er kaum Zeit gefunden, über sich nachzudenken.

Doch jetzt, beim türkischen Kaffee, drängte sich wieder eine mühsam zurückgehaltene Vorstellungswelt herbei, derer er sich kaum erwehren konnte: so als ständen vertriebene Gedanken, unendlich irdisch und zwingend, wie Bettler vor einer verschlossenen Tür und pochten und schrien unablässig. Doch das Tor seines Gedächtnisses war so fest verrammelt, dass ihre Klage nur wie leise Seufzer hindurchzudringen vermochte.

Ja, es seufzte in ihm, und er wusste nicht, woher diese tiefe Traurigkeit stammte; denn alles, woran seine Gedanken rührten, zog sich blitzschnell gleich Schneckenfühlern, die er betastete, zurück.

Etwas war verschollen, etwas Unwiderbringliches, unendlich Wichtiges.

Er krauste die Stirn; seine Augen verloren schier ihren Glanz; mit einer entsetzten Bewegung fasste er auf einmal den Doktor nach dem Arm und fragte keuchend: »Mir fehlt etwas! Mir fehlt etwas! Seit wann bin ich hier? Und was war vorher?«

Der Chinese wandte ihm ein erstauntes, leeres Gesicht zu.

»Vorher? Sind wir nicht immer zusammengewesen, seit du denken kannst? Haben wir uns denn je getrennt? Bist du nicht mein kleiner Freund? Habe ich dich hier nicht großgezogen? Hast du je etwas anderes gekannt als mich, als dieses Haus, als die Halle da drüben?« fragte er suggestiv.

Harald schüttelte langsam den Kopf, aber es fiel ihm keine Antwort ein.

»Verzeihen Sie«, sagte er stockend. »Ja, Sie müssen recht haben... Ich kann mir nichts anderes vorstellen.«

»Es steht dir frei, dir Beliebiges vorzustellen«, meinte Dr. Sze achselzuckend. »Du änderst darum nichts an den Tatsachen. Im Übrigen haben wir es ja so gut, warum sollen wir uns nach etwas anderem sehnen?«

Sie rauchten schweigend weiter.

Wiederum fühlte Harald plötzlich die großen Hände gleich welken Blättern auf seiner Stirn, und als diese kühle Berührung ihn verließ und er wieder aufsah, waren auch die klagenden Bettler vor dem Tor, seine Gedanken an früher, gewichen und alles in seinem Hirn erloschen – alles bis auf dies eine Gefühl, dass er sich wohlfühlte und es sein Leben lang nicht besser haben wollte.

 

So verrann die Zeit in ewig gleichmäßiger Arbeit.

Was Haralds Mühe endlich herausgeschält hatte, und was dort in voller Größe thronte, war ein hockender, plumper Götze.

Trat man nahe an ihn heran, so löste er sich in seine Bestandteile auf, denn das Auge konnte seine Ausmaße nicht zusammenfassen. Man konnte auf ihm herumklettern, auf diesem Meteoriten aus kompaktem Nickeleisen, diesem Spiel der Natur, desgleichen man noch nie zuvor erblickte.

Sah man aber von unten herauf, so saß dort, auf eine solide Grundlage von Granit gebettet, ein grauenvolles Monstrum. Es gehörte wenig Phantasie dazu, um den Block umzugestalten, um Arme und im Hocken gekreuzte Knie zu erschaffen. Die Arme waren formlos und in stumpfen Bogen nach innen gedreht. Es wuchsen abscheuliche Tatzen aus ihnen mit Dutzenden gekrümmter Krallen, die dicht unterhalb des Maules wie erstarrte Schaufeln hingen, so als raffe der Götze unablässig Fraß an sich, ohne doch je befriedigt zu sein.

Sein Ausdruck veränderte sich im Spiel der Beleuchtung kaum. Es war dieses stetige aufreizende, klaffende Grinsen. Nur zuweilen verirrte sich ein schwacher Widerschein von Metall in die Höhlen seiner Augen und schuf gespenstisches Leben darin, als rolle er träge Pupillen.

»Kein angenehmer Hausgenosse, nicht wahr?« sagte Dr. Sze, mit schwachem Versuch zu scherzen.

Er hielt sich jetzt des Öfteren vergraben in Gemächern, die Harald noch nie betreten hatte.

 

Einmal überraschte Harald den Doktor, wie dieser fledermausartig über einer auf dem Boden ausgespannten Rolle brüchigen Pergaments hockte, die er sich am anderen Ende des Zimmers von einer elfenbeinernen Spindel gelöst hatte, und die von verblassten, plumpen Schriftzeichen strotzte.

Es war dickes Pergament und glänzte ölig. Jedesmal, wenn der Doktor auf den Knien eine Zeile weiter hinunterglitt, knirschte es ledern.

Seine langen, gelben Nägel tasteten die Zeichen ab; seine Augen waren zu ganz dünnen Schlitzen geschlossen. Harald, der lautlos in die Tür trat und ihn betrachtete, erkannte, dass der Schriftenkundige sich in einer Art von Trance befand, denn er wiegte den Kopf rhythmisch, und seine Stirn war gekraust.

Das war nicht mehr der Dr. Sze, der ihn damals empfangen hatte; auch nicht der, der das Werk der Enthüllung leitete. Dies hier war ein Greis von so uraltem Aussehen, dass es den Jüngling fröstelte.

Es war ein pendelnder Totenkopf, wie Wachs glänzend; die Haare wirkten wie eine matte Perücke. Die Haut über den Jochbeinen unterschied sich in nichts von dem Pergament: – sie war von tausend Fältchen zerknittert, und jettschwarze Liderritzen saßen in tief eingefallenen Kuppeln. Desgleichen schien auch die Nase geschrumpft und die Nüstern noch flacher, gleichsam erweitert. Die Oberlippe hatte sich in die Höhe gezogen und die Zähne ganz entblößt, die dem Jüngling auf einmal missfarben erschienen und spitz vor Abgenutztheit und Alter. Trotz des schlotternden Kiefers waren die unteren Zähne nicht sichtbar, sodass der Doktor fast einem riesigen Nagetier glich, das der Tod vergessen hat.

Dr. Sze dachte. Er dachte so intensiv, dass er den Jüngling noch immer nicht bemerkte. Er rutschte und murmelte, bis er das Ende des Pergaments erreichte. Dann ergriff er unten die beiden Ecken, löste sie vom Boden ab und, wie von einer Sprungfeder geschnellt, schrumpfte die Schrift zusammen; der elfenbeinernen Spindel zu.

Der Chinese blieb noch eine Weile sitzen. Dann erhob er sich mühsam, ruckweise; doch ehe er den Beobachter bemerken konnte, war dieser zurückgetreten, von tiefsten Entsetzen erfüllt.

Harald hielt sich eine Weile fern von ihm, bis wiederum der Gongschlag zur nächsten Mahlzeit ertönte.

Es hatte eine Weile im Haus geraschelt, das hatte er gefühlt, wie wenn Dinge im Schwang seien, die er sich nicht erklären konnte. Aber als er eintrat, sah er seinen Freund wie immer am Boden hocken, mit glattem Gesicht, lächelnd und äußerlich kaum älter als wie vierzig Jahre, die er ihm gewohnheitsmäßig zurechnete.

Die Verwandlung war erstaunlich. Nichts deutete im Benehmen des Chinesen auf geistige Erschöpfung hin. Seine Zähne blitzten weiß wie sonst, seine Augen waren munter und feucht, sein Benehmen heiter und sorglos. Er machte die gewohnte ausgedehnte Handbewegung, die Harald an seinen Platz wies.

 

 

Kapitel 7: Der Zauber des Zazel

Es war eine kühle Maiennacht. Die Hunde im Garten trotteten lautlos auf eine große, schwarze Figur zu, die aus dem Haus trat. Auf ein leises Zischen hin wandten sie die schillernden Augen wieder ab und verloren sich im Garten.

Dr. Sze stellte sich auf die Estrade und zog ein Fernrohr hervor, mit dem er scharf den wolkenlosen Himmel betrachtete.

Dann tauchte er wieder in die Dunkelheit des Hauses zurück, dessen Messingtür sich leise öffnete und schloss.

Er trat in den Innenhof. Grelles Licht, von unzähligen Birnen erleuchtet, schlug ihm entgegen. Er drehte es aus, und mit einem Mal sprang die groteske Silhouette des schwarz dort oben hockenden Götzen, abgezeichnet gegen schwaches Sternenlicht, erstaunlich und befremdend hervor.

Dr. Sze hantierte eine Weile an der Wand, dann ging er ins Laboratorium und kam mit einem Instrument zurück, dessen Gebrauch er so gut zu kennen schien, sodass ihm bloßes Betasten genügte.

Ein leiser, klirrender Ton entstand oben in der Glasdecke. Er hatte soeben eine Hebelvorrichtung in Bewegung gesetzt, die eine einzige Platte nach innen klappen ließ, sodass der nackte Sternenhimmel dort oben hereinsah.

Langsam klomm er den Hügel herauf. Vor dem Meteoriten angelangt, zögerte er ein wenig. Dann betastete er ihn mit der Hand. Offenbar beruhigt von dieser Prüfung, stieg er mit unendlicher Vorsicht auf den Kopf, wobei er die Füße tastend in die Löcher setzte.

Ganz oben richtete er sich im Hocksitz ein, so gut es eben bei der gefährlichen Beschaffenheit des Metalls angehen wollte. Er stellte das dreieckige Instrument auf, was geraume Zeit kostete, da er der Stützpunkte nicht sicher war.

Leise murmelnd verglich er jetzt beim Schein einer winzigen elektrischen Birne gewisse Tabellen, die er mitgebracht hatte; dann fügte er eine schiefe Röhre in das Gestell ein. Hierauf erhob er sich ganz und entfaltete ein trichterförmig geordnetes, schwarzes Tuch, das er dicht unterhalb der Luke an der Röhre befestigte. Er löschte sein Lämpchen und versenkte sich in den winzigen Hohlspiegel, den er innerhalb der Augengrube des Götzen angebracht hatte. Ein unfassbar zarter, rötlichsilbern blinkender Punkt schwebte darin. Er verstellte den Hohlspiegel durch ein gut geöltes Schräubchen, bis der feine Strahl genau im Brennpunkt saß, soweit er es beurteilen konnte.

Dann entfernte er den Spiegel und ließ nur die Linse sowie den leichten Aufbau mit der Röhre zurück.

Langsam schritt er wieder über den Hügel hinunter und setzte sich unten am Fuß hin, wie um zu warten.

Leises Ticken ertönte. Der Apparat drehte sich in kaum messbaren Fortschritten, um dem Saturn zu folgen und dessen gesammeltes Licht an derselben Stelle festzuhalten. Der Chinese verharrte lautlos und spähte scharf und unbeweglich hinauf. Mit einem Mal wurde er unruhig, atmete schneller und erhob sich aus seiner hockenden Stellung.

Er tat ein paar zögernde Schritte wieder den Hügel hinauf, dann ballte er die Fäuste, sodass ihm die spitzen Nägel schier in die Handhöhlen drangen, und murmelte: »Er ist erwacht. – Also doch!«

Er beugte sich nieder und krampfte seine Hände um die hervorspringenden Kanten der Steine; trotzdem fühlte er den starken Zug nach oben, als sei er ein kleiner Eisenfeilspan, von einem ungeheuren Magneten angezogen.

Er wehrte sich mit leisem Keuchen. Er bot Willenskräfte auf, und wiewohl er es vermeiden wollte, schien es, als würden seine Lider von einer fremden Gewalt aufgerissen, sodass er unentwegt hinaufstarren musste.

Täuschte er sich? Glaubte er nicht zu bemerken, dass die schwarze Silhouette dort ihre Form leicht veränderte!

Erde rieselte herab. Rätselhaftes Knistern entstand und auf einmal eine Folge von Geräuschen, die dem Zersplittern von Porzellan auf einem Blechdach glichen.

Das Metall dort oben schien in Bewegung geraten. Worin diese Bewegung bestand, konnte er nicht enträtseln. Dann klang es wieder wie das dumpfe Kollern von Erdmassen, wie vulkanisches Nachbeben einer terrestrischen Störung, als sei irgendwo das ruhende Gleichgewicht alter Gesteinsmassen erschüttert, und als wehre es sich, dumpf murmelnd mit metallenen Zungen. Der Drang in die Höhe; die Versuchung, dem Götzen wiederum nahe zu kommen, wuchs ungeheuerlich.

Der große Mann wand sich, ja bäumte sich dagegen auf; doch ruckweise, gegen seinen Willen, schien er emporgezerrt zu werden. Er riss ein spitzes Messerchen hervor, stach es sich tief in den Arm, und indem er den Ärmel zurückriss, schleuderte er den hervorquellenden Tropfen gegen das dunkle Ungetüm.

Da flauten die rätselhaften Klänge ab und erstarben wie der Nachhall eines fernen Gewitters, meilentief. Die Spannung, die entsetzliche, ließ nach.

Er torkelte den Hügel hinab und tastete nach dem Hebel der Klappvorrichtung. Er riss ihn herum, die Platte schloss sich. Das elektrische Licht flammte wieder auf, und schwer atmend, gegen die Wand gelehnt, starrte er hinauf.

Zunächst konnte er nichts Ungewohntes an dem Götzen entdecken; alles verharrte dort in toter Ruhe. Dann entfuhr ihm ein schwacher Aufschrei: die nach dem Maul zu gekrümmten Tatzen ragten jetzt um etwa einen viertel Meter verschoben von diesem ab. Sie schienen breiter geöffnet, und die gekrümmten, klauenähnlichen Gebilde hatten sich gestreckt.

Der Chinese betrachtete seinen Arm, die Wunde blutete noch. Er stieg mit großen, stelzenden Schritten den Hügel hinauf, und ohne einen Moment zu zögern, bestrich er die Ränder des entsetzlichen Maules mit dem Rest des hervorgesickerten Lebenssaftes.

»Diese Bindung ist keine dauernde«, murmelte er dabei. »Es wird Zeit, dass etwas geschieht.«

Er ging ins Haus zurück und weckte Harald mit leichter Berührung an der Schulter.

»Ich brauche dich«, flüsterte der Chinese.

Harald folgte ihm, und Dr. Sze führte ihn in den Innenhof. Haralds Augen blickten klar hinauf.

»Bemerkst du etwas?« fragte Dr. Sze.

Harald schüttelte langsam den Kopf. Ein rätselhaftes, dünnlippiges Lächeln wie das eines Bedauerns entstand an dem Mund des andern...

 

»Die Akkader [Anm.: Akkad war eine Stadt in Mesopotamien] ahnten ihn ... doch, tief versponnen in verschollene Symbole, wie tote Puppenform und Mumie einer Seidenraupe, lag vergraben in unseren Schriften ... Von seinem Dasein kam Kunde den Kabbalisten; sie nannten ihn Zazel, den Dämon des Saturn; sein Ort war ihnen fremd, doch seine Herkunft wurde gedeutet; so lausche:

Der Saturn wird umflossen von einem Gürtel halbzertrümmerter Welten mit einer Schnelligkeit, die das Denken übersteigt. Er stieß dies Element ab aus seinem Körper. Es durchwanderte die Hülle des Rings, brach aus und hob seinen Irrgang an. Seine ovalen Bahnen wuchsen ins Maßlose. Es war ein fremdes Prinzip, vom Mutterkörper ausgespien. Es verneinte die immer rege Anziehung kosmischen Urleibes; am Ende gelang es ihm, die Spirale zu durchbrechen und in steiler Bahn durchs Weltall zu tauchen.«

»Stelle dir vor«, so ertönte die psalmodierende Stille (und doch bildeten sich aus mattem Tonfall ungeheure Bilder):

»... die Erde ist lieblich, pflanzenhaft. Ein Kreislauf schneidet nicht in den anderen hinein, sondern allen Wesens Bestimmung rundet sich ab in heiterer Selbstvollendung.

Die Farbe des Blutes ist unbekannt.

Nichts und niemand will dir übel, und wo das Organische sich breitmacht, da weicht das Einzelne einander aus und gibt Spielraum.

Auf einmal erstrahlt ein rotes Licht in der Höhe der fernsten Luftschicht tiefer im Azur als jede erforschte Meerestiefe.

Das Licht erscheint nachts, wandelt sich in bengalische Weißglut, und dann geschieht ein Getöse, das noch nie gehört wurde. Zersetzungswirbel durchfurchen die Atmosphäre; Springfluten kochen über an allen Gestaden; Grauen der Verwüstung durchpflügt die Stille der Schöpfung.

Das ist die Ankunft dieses Brockens von Eisen, dieses Stücks vom Saturn.

Die Erde erbebt; es stößt in ihren Leib. Ein Fremdkörper, sitzt es seither darin und schwärt. Das Gift, das es erzeugt, wirkt seit Anbeginn. Es ist das älteste Ding der Welt.

Ja, es ist um Jahrmillionen älter als diese Erde, und seine Eigenschaften sind darum auch nicht irdisch. Warum es diese Form annahm? Weil Zazel, der Ausgestoßene von droben, darin saß und seine Form sich abschlug in der Erstarrung des Flüssigen, so wie Blei sich gebärdet, das du siedend ins Wasser träufst.

Und nicht nur seine Form schlug er ab, es lebt seine Intelligenz in diesem Ding, die außerirdisch ist und grauenhafte Begriffsverwirrung erzeugt...

Alle Kriege seit Menschengedenken bis zu dem kleinsten Mord, der sich unter Tieren ereignet, jeder noch so kleine Tropfen verspritzten Blutes nimmt seinen Ursprung von dem Ding. Blut kennzeichnet sein Gedächtnis von Anbeginn, und durch Blut ist es dir gelungen, wie man untrüglichen Wegweisern folgt, ihm auf die Spur zu kommen. Deshalb muss es vernichtet werden, und seine Vernichtung ist nicht leicht.

Gibt man ihm Blut (und sei es auch wenig), so hat Zazel zu verdauen; und währenddessen erlischt sein trüber Einfluss. Ist er aber hungrig (und er wurde noch nie gesättigt), so strahlt er Gift aus; so frisst er alles mit der Gier des Magneten.

Sein Hunger war nicht scharf gewesen in den letzten Jahrhunderten, weil überall auf der Erde, sei es hier oder ferne, Blut floss, doch gesättigt wurde er nie. Er lag ständig auf der Lauer.

Das Einzige, was ihn völlig bindet, ist die Erde, in der er steckt, und der Stein, der ihm im Alter nahekommt: der Granit. Empfindet er aber Verknüpfung mit seiner Urheimat, dann vergiftet er das, was ihm am nächsten ist.

Zuweilen wischten Regengüsse die Erde halb von seiner Stirn, und dann traf ihn ein Strahl des Saturns. Ich wusste dieses nicht. In meiner Blindheit grub ich ihn völlig aus; öffnete eine Platte und sammelte Licht vom Saturn auf ihm.

Es geschah Entsetzliches; seine Kräfte wuchsen sprunghaft. Für wenige Tage ist er jetzt beruhigt, da ich ihn von meinem Blut gab; doch ich habe nicht mehr viel zu vergeuden. Und sobald mein Blut versickert ist, geschieht Unausdenkbares –; denn ...«

Hier hob der Chinese seine Stimme ein wenig, und sie hatte einen erzenen Unterton. »... denn dann muss er beschwichtigt werden, immer wieder beschwichtigt, und wir zwei können es nicht vollbringen. So steht es geschrieben: ›Wenn der Zazel wach ist, so musst du Ihn binden durch Erde. Kannst du dies nicht, dann durch Gestein; doch willst du Ihn ganz vernichten, so musst du Ihm sein eigenes Gewicht in lebendigem Blut reichen; und dieses Blut muss sein von einer Art.‹«

Eine Pause folgte. Harald saß gelähmt von der ungeheuren Eröffnung. Der Chinese sprach schneller, und sein großes, flaches Gesicht hob sich höher.

»So komm' und hilf mir, solange er beschwichtigt ist. Wir müssen ihn wieder vergraben. Wir müssen eilen. Denk' nicht nach. Nachdenken lähmt.«

Er ging mit großen, stelzenden Schritten in den Innenhof zurück.

»Hier, nimm eine Schaufel, steig' in den Schacht und schleudere mir herauf, was du mit einem Stich heben kannst. – Ich werde dich stärken.«

Das grüne Fläschchen war zur Hand. Er träufelte dem Jungen ein Dutzend Tropfen verdünnt zwischen die Lippen. Harald fühlte seinen Körper stahlhart werden und geschmeidig zugleich.

Bald stand er unten und förderte die Erde herauf gleich einer Maschine. Der Chinese schleuderte sie weiter mit gespenstischer Kraft, auf den Steinsockel hinauf. So arbeiteten sie unablässig eine lange Weile, bis Dr. Sze hinabrief: »Komm herauf, wir wollen versuchen, ihn zu blenden.«

Beide wankten keuchend hinauf und mühten sich, die schweren Erdklumpen auf das eiserne Antlitz zu schleudern, in die gähnenden Höhlen darin. Doch die Klumpen zerbröckelten und rieselten wieder herab. Das Eisen blieb blank, und ein Spiel des Schimmers dort droben ließ ihnen scheinen, als verzerre ein unsagbar tückisches Grinsen das klaffende Maul.

Mit den Händen ergriff der Chinese einen Brocken Lehm und versuchte, zu voller Größe aufgereckt, ihn dorthin zu tragen, wo er ihn haben wollte; doch seine Hände erschlafften.

»Versuch' du es«, murmelte er klagend, und seine Stimme hatte etwas Zersprungenes und Hohes zugleich, wie die einer Sibylle [Anm.: Wahrsagerin].

Harald reckte sich, von Dr. Sze halb gehoben, doch eine unirdische Kälte schlug ihm entgegen, sodass er wie bei einem Brand das Gesicht mit den Armen schützte und aufschreiend zurückfiel.

»Es ist nicht möglich«, stammelte er, »ich kann es nicht.«

Beide taumelten hinab und rasteten wieder am Fuß des Hügels.

Nach einiger Zeit fanden sie ihren Atem wieder. Der Chinese saß unbeweglich und grübelnd, bis Harald ihn plötzlich entsetzt fragte: »Was ist nun zu tun?«

Der Chinese schüttelte das Haupt, hob wiederum das flache Gesicht mit jenem halb ekstatischen Ausdruck, den ein Übermaß von Qual verleiht, und sprach zischend: »Ich weiß es nicht.«

Bleierne Hoffnungslosigkeit senkte sich über beide. Plötzlich begann der Chinese unruhig zu werden. Er stand zögernd auf und tat einen Schritt nach vorn.

»Die Bindung erlischt!!« flüsterte er rasend. »Reiß' mich zurück!«

Harald, selbst im Drang, nach vorn zu stürzen, gebrauchte seine ganze junge Kraft, mit der Linken die Klinke der Tür zu erreichen, während seine Rechte am Ärmel des Chinesen zog. Mit äußerster Anstrengung gelangten sie durch die Tür und schlugen sie zu. Sie schleppten sich weiter. Auf einmal wurde ihnen leichter: ihre Schritte wurden ruhiger, und sie kamen am Ende des Ganges an.

 

 

Kapitel 8: Das erste Opfer

»Ich sehe ein seltsames Licht vor dem Fenster kommen und gehen«, sagte Harald plötzlich. »Es ist wie das rotierende Licht eines Leuchtturms.«

In der Tat, ihm schien, als streife ein Lichtkegel durchs Gemach, wie das Ende einer Peitsche erglimmend und zuckend erlöschend.

»Ein wechselndes Licht? – Das ist Tag und Nacht.«

»Tag und Nacht?!«

»Es ist Zazels Einfluss«, sagte Sze. »Noch ist er nicht groß, noch ergreift er nur das Lebende im nächsten Umkreis. – Jene Intelligenz dort drüben brachte ihre eigenen Begriffe mit. Du bist ihr zu nahe gekommen. Du hast sie berührt, und so hat sie dich zu einem Stück ihrer selbst gemacht, dort, wo sie dich am schnellsten erreichen konnte: im Hirn.

Für das älteste Ding der Welt gibt es unsere Zeit nicht. Es brachte seine eigene Zeit mit.

Was sich sonst im Lauf von Tagen begibt, ja Wochen, das spindelt sich vor diesem Götzen ab wie das lose Spiel von Minuten. Es ist so von Ewigkeiten geschwängert, dass ein Menschenleben vor ihm ist wie ein Pilz, der zur Nachtzeit aufschießt, um schon im Entstehen wieder zu vermodern; wie ein... Fliegenschwamm...«

Es war, als koste Dr. Sze dieses Wort aus wie mühsam errungenes Wissen.

»Sahst du nicht - es ist nicht lange her - Schwalben um einen Turm segeln so schnell, dass du nicht einmal ihre Schwingen unterscheiden konntest? Hörtest du nicht im gemächlichen Rasseln eines Wagens das entfesselte Rasen durchgehender Pferde? Sahest du nicht die fliehende Schleppe von Staub auf einer Straße, und fühltest du nicht, mein junger Freund«, hier legte er seine Hand auf den blonden Schopf, »dass dir die Sonne im Lauf weniger Minuten vom Osten her auf den Scheitel kletterte?

Dies alles dachtest nicht du; aber Er dachte durch dich, weil du Ihn berührt hattest, ehe mir Kenntnis wurde von Ihm.

So spinnt sich auch jetzt draußen die Zeit ab. Doch fürchte nicht; du alterst nicht mehr im Sinne der Menschen; denn auch das ewige Selbst seiner Form übertrug Zazel auf dich. Verwandtes Stück wurdest du ihm und mit Erkenntnissen belastet, die dir schwer erträglich erscheinen. – Doch es muss, es muss ein Weg gefunden werden, um aus dieser kosmischen Sphäre wieder ins Irdische zu gelangen: Er muss vernichtet werden; denn sonst«, hier stockte er ein wenig, »sonst vernichtet er uns beide.«

Harald saß tränenlos und starrte vor sich hin. Er glaubte zu begreifen, doch er fühlte sich von dieser schleppenden Stimme so eingelullt, schier verzaubert, dass er sich nur ahnungsweise eine richtige Vorstellung von dem Sinn der Worte machen konnte.

»Ich lasse dich jetzt für kurze Zeit allein«, sagte der Chinese. »Ich schließe dich ein, doch ängstige dich nicht; es ist um deiner selbst willen gut so. Dein Begehren, zu ihm zu gelangen, wird wachsen. Du wirst vielleicht Qual empfinden; aber du musst es ertragen; denn ich muss Zeit gewinnen, um aus den Schriften den Ausweg zu ergrübeln; denn es muss einen anderen Ausweg geben.«

Er sprang empor; leise raschelte die schwarze Seide und wallte von seiner mächtigen Gestalt herab. Ehe Harald sich besinnen konnte, schlug die schwere Tür ins Schloss. Er war allein.

 

Dr. Sze wandelte mit fliegenden Schritten in das Gemach zurück, wo die Schriftrolle lag. Wiederum entbreitete er sie und versank in tiefes Grübeln unter sechs flammenden Glühbirnen, die ihn kalkweiß bestrahlten. Wieder zog der runzelige Finger nachdenklich an den Kolonnen rechteckig verschlungener Zeichen herab. Er dachte und dachte so intensiv, dass die Schultern spitz hervortraten, dass sein alterndes Gesicht sich, sichtbar schrumpfend, pendelnd hin und her bewegte; dass die Pupillen sich schier gänzlich hinter die einsinkenden Lider versteckten.

Mit einem Mal riss ihn ein scharfer Krach aus seiner Grübelei. Wie ein Betrunkener hob er sich stolpernd in die Höhe, reckte sich dann auf und eilte den Gang zurück.

Die schwere Tür des Zimmers war aufgebrochen; eine unerhörte Kraft musste Harald plötzlich beseelt haben, um sie zu sprengen.

Sze stürzte in den Innenhof hinein. Dort sah er die nackte, weißleuchtende Gestalt schon auf halber Höhe des Hügels.

Er eilte dem Jungen nach, als dieser sich anschickte, sich wie blind zwischen die ausgebreitet starrenden Tatzen des Ungeheuers zu werfen. Er krallte ihm die Hände in die Hüften und riss ihn mit äußerster Gewalt wieder herab.

Gleichzeitig fühlte er die Kraft des Dämons erlöschen; und dies wurde ihm erklärlich, als er die blutig geschundenen Handflächen des Jünglings sah, die dieser wimmernd von sich streckte. So war Zazel für kurze Zeit geatzt...

 

Sze brachte Harald dieses Mal in ein anderes, noch entfernteres Zimmer, in welchem Wandspiegel von der Erde bis zum Boden hingen.

Die Tür war wie die des Einganges mit dickem Messing beschlagen. Er überließ den Fassungslosen sich selbst, schloss ihn ein und eilte zu seiner Schriftrolle zurück.

Harald blickte sich um. Was war ihm geschehen?

Mit einem Mal sah er sich in einem der Spiegel stehen.

Ja, als er sich umdrehte, wurde sein Bild doppelt und dreifach zurückgeworfen von anderen. Ein Gedanke begann in seinem Hirn aufzukeimen und sich schmerzhaft zu entfalten. Statt dieses großen Spiegels sah er auf einmal einen kleineren vor sich, der an einer grünen Tapete hing, und darunter formten sich mühsam aus seinem Gedächtnis steigend die Umrisse eines Schreibpultes ab.

Wo war das doch gewesen, dass er sich selbst ins Antlitz gestarrt hatte, das letzte Mal?

Nackt und schlank stand sein Bild dort in Kristall. Seine Haare waren zerrauft und sein Antlitz weiß wie die Haut seines Körpers.

Einen Herzschlag lang tauchte ein Zimmer auf mit Möbeln, die er kannte, mit einem Bett und einem Fenster, das ihm vertraut war. Er versuchte, es festzuhalten, doch es entglitt ihm mehrmals. Endlich kam ihm die aufwühlende Erinnerung an das Früher; mit schreckhafter Deutlichkeit.

›Wo bin ich hingeraten!‹ dachte er fassungslos. ›Was macht man mit mir? Wo hält man mich gefangen?‹

Er drehte sich blitzschnell um, wie um Verfolger abzuwehren; doch die stumpf blinkende Messingtür war alles, was er erblickte. Kein Griff war daran wahrzunehmen, keine Klinke, kein Schloss. Nur dieses kahle Zimmer mit den Spiegeln und draußen das ewige, ermüdende Hell und Dunkel, das, sichtbar trotz des scharf bestrahlten Zimmers, hinter dem Fenster geschäftig war.

Er riss es auf. Es war mit schweren Eisenbarren verdeckt. Wind atmete ihm entgegen und das Draußen zerrte an ihm mit schmerzhaft rüttelnder Sehnsucht.

Die Augen von Tränen überquellend, presste er die Stirn an das Gitter. Fliehen war sein einziger Gedanke, fliehen aus diesem verzauberten Haus, aus der Nähe dieses Gelben und des unheimlichen Kolosses dort hinten, der mit ihm spielte wie die Katze mit der Maus...

Fieberhaft suchte er nach einem Gegenstand, der ihm helfen könne. Er erwartete keine Feile zu finden, aber vielleicht einen Hebel, ein starkes Stück Metall, um dieses Gitter auseinanderzubiegen und sich Durchlass zu erzwingen.

Er fand nichts, was ihm hätte dienlich sein können. Doch war es auf einmal, als verleihe ihm die Sehnsucht und der sich aufbäumende Wille zum Leben ungeheure Kräfte. Er ergriff mit den Händen zwei der Gitterstäbe. Seine Muskeln spannten sich wieder wie Stahl, wie unter der Wirkung des grünen Giftes, mit dem der Unhold ihn verseucht hatte. Die Stäbe wichen, und er presste sich hindurch.

Er sprang auf einen freien Platz. Er sah auf einmal Baumwipfel, die sich schüttelten, und Dunkel und Hell wechselten langsamer, als erlahme die Feder eines magischen Spielwerks.

Dann hörte er ein leises Rascheln, und drei schwarze Silhouetten, die der Hunde, standen unfern auf dem Pfad.

Verzweiflung gab seinen Schenkeln unerhörte Schnellkraft. Mit drei Sätzen sprang er auf das Parkgitter zu und zog sich blitzschnell daran in die Höhe. Ein Schnappen erstarb hinter ihm in der Tiefe.

Plötzlich hörte er eine ganz leichte, hohe Stimme unter sich.

»Vergiss nicht, wohin du gelangen wirst, wenn du dieses Gitter übersteigst.«

»Wohin?« rief Harald heiser zurück. »In meine Welt zurück, in meine eigene, menschenwürdige Welt!!«

Ein bedauernd gurrendes Gelächter wurde wach.

»In deine Welt? Wen glaubst du dort zu finden?«

»Die mir früher teuer waren!«

Das kleine Gesicht seiner Mutter stahl sich zitternd vor seinem inneren Blick vorbei; eine Geste seines Vaters, ein vertrauter Tisch und andere Gesichter, die er kannte, die ihn verstanden.

»Deine Eltern...?« sang unten die Stimme weiter. »Du findest sie nicht mehr. Seit du hier bist, bist du selbst so alt geworden, wie sie waren...«

»Du lügst!« stammelte Harald herab. Und doch fühlte er, wie seine Hände, an die obersten Spitzen des Gitters geklammert, eiskalt wurden und erlahmten.

»Warum soll ich lügen?« erwiderte Dr. Sze. »Ich gebe dich frei!«

»Du gibst mich frei?«

Eine Ohnmacht überkam den Jüngling. Seine Glieder lösten sich, er fiel herab. Die weite, kühle Seide der Ärmel des unten Stehenden schloss sich um seine Brust.

Harald, sein Bewusstsein bald wiedererlangend, spürte mit einem Gefühl größter Leere, in das er sich willenlos gleiten ließ: »Er hat mich nicht betrogen.«

Der Chinese brachte ihn in das Spiegelzimmer zurück und bettete ihn sorgsam auf herbeigeschleppte Kissen. Dann betrachtete er ihn, und der Ausdruck jenes Übermaßes an Qual stahl sich wieder über sein flaches Gesicht.

Mit einer Gebärde der Hilflosigkeit ließ er seine Hände aus den Ärmeln emporsteigen. Dann schritt er wieder heraus, schloss die Tür und näherte sich dem Pergament, das er stehend und nachdenklich betrachtete.

  • Kein Sinn blitzte mehr zwischen diesen eckigen Zeichen auf.

Nur das eine wusste er jetzt: »Es gibt keinen Ausweg als den einen« – und sein Fuß trat verächtlich auf eine Gruppe von Zeichen, die ihm jene besondere, betäubende Erkenntnis vermittelten.

»Man kann Ihn nicht auslöschen, es sei denn, dass man Ihm sein eigenes Gewicht in Blut gebe.«

»Wohlan!« schrie er auf einmal, und es klang wie das Kreischen eines ungeschlachten Geiers durch die Totenstille. »Wohlan! So soll dieser den Anfang machen!... Denn eine Heilung gibt es nicht mehr.«

 

Die üble Zauberwirkung dort im Innenhof war wieder geschäftig. Sze fühlte es in allen Gliedern. Er schlich sich den Gang hinunter und öffnete eine Ritze der Tür des Hofes. Jemand, fühlte er, stand innen hinter ihr und riss sie auf, mit elastischer und unnachgiebiger Gewalt. Wenn er sich hereinwagte, so würde dies kreisende magnetische Feld auch ihn in seinen Strudel ziehen! – Aber er durfte nicht der Erste sein, nicht er!! – denn er hatte zu tun, er hatte das Werk zu vollenden!

Mit äußerster Kraft schloss er die Tür wieder, die ihn hineinzuzerren drohte; dann schritt er zurück zu dem Zimmer, wo Harald lag. Er öffnete es und blickte hinein.

Die junge Gestalt lag wieder in Ohnmacht versenkt, dort lag diese gottgewollte Form, die zertrümmert werden musste. Das Gesetz des Zazel wollte es so.

Und dieses Scheinleben dort eines so alten Wesens in einer jungen Form, die es Lügen strafte, hatte keinen Sinn mehr.

Er ließ die Tür offenstehen, warf noch einen sinnenden Blick auf den unbeweglichen Körper und wartete draußen.

 

Das Haus erzitterte von dumpfen Klängen, die er mit innersten Fibern spürte.

»Wage ich es?« dachte er.

Er holte ein letztes Mal den grünen Trank und schüttete den ganzen Rest mit einem würgenden Schluck herunter. Das schützte ihn und gab ihm die Kraft, die vonnöten war.

Er ließ die Tür zum Innenhof aufspringen. Die stumm lauernde Kraft von dort oben brandete gegen ihn an, doch er fühlte, dass er noch widerstehen könne.

Elektrisches Prickeln überlief seine Haut. Er tastete sich wie einer, der auf einem Schiff dem Sturm entgegenarbeitet und sich an die nächsten Gegenstände hält, die ihm sicheren Griff erlauben, die Wand entlang, bis er den Hebel zu der Glasplatte dort oben fand. Er riss ihn herum und sah in dieser scharfumrahmten kleinen Schlucht von schwarzer Bläue das rötliche Licht des Saturns flimmern.

Unendlich mühsam, Knie für Knie vorstoßend, gelangte er wieder zur Tür und floh in den Gang hinaus. Dort wartete er.

Beide Türen standen geöffnet, die zum Innenhof und die jenes fernen Zimmers. Es währte nicht lange, so hörte er tastende Schritte vom Korridor her sich nähern: klatschende Geräusche nackter Fußsohlen. Harald taumelte heran. Sze sah den weiß leuchtenden Körper zunächst aus weiter Entfernung, dann rannte der Jüngling in Sätzen an ihm vorbei, die Arme starr ausgebreitet.

Sze wagte sich in die Nähe der Tür. Das unterirdische Murren und Klingen von Metall wurde lauter und dringender. Mit scharfem Böllerknall zersprangen mehrere Blöcke von Granit dort drinnen, als ob ein Riese sich in Fesseln rege oder eine tiefe Ladung Ekrasit [Anm.: ein Sprengstoff] murrend ihr enges Gefängnis dehne...

Nun hörte er ein Rasseln, wie wenn schwere Panzer oder Geschützrohre hügelan gezogen würden und funkenstiebend gegeneinander schlügen... Durch all diesen Lärm war noch die keuchende Stimme hörbar, die dort oben verklang, immer ferner und ferner. Dann ein Ton, wie wenn ein großes Stück Eisenblech über unebenes Pflaster gezerrt wird... Jetzt rieben sich die Zähne dort gegeneinander, jetzt geschah das Entsetzliche; das... Opfer!

Plötzlich war es totenstill.

Sze wusste, dass die Bindung, die stärkste bis jetzt, die man dem Götzen auferlegen konnte, Besitz von diesem ergriffen habe. Mit freien Schritten und einer qualverzerrten Miene schritt er durch die silbrige Dunkelheit und drehte die gesamte Schaltung an.

Grelles Tageslicht überflutete den Hof, und droben begannen die grünen Lichter zu spielen. Dort hing auch Haralds Körper in den Eisenkrallen des Dämons, den Kopf zurückgeschleudert wie in der Inbrunst einer bedingungslosen Anheimgabe; und Blut tropfte von dem Eisen; lebendiges Blut. Es schimmerte aus den metallenen Augenhöhlen; schimmerte von den Zähnen; ganz gesättigt schien das tückische Bild, ganz überschwemmt vom Lebenssaft.

Dr. Sze stand starr. Dann machte er eine seltsame Gebärde, eine Art tiefe Verneigung. Seine langen Ärmel berührten mit einem Schwung den Boden, und in gekrümmter Haltung stand er eine Weile, wie in Ausübung einer dunklen, fremdartigen Zeremonie.

Er schritt müde den Hügel hinauf und löste den Leichnam dort oben aus den gesättigten Pranken. Was er zurücktrug erschien ihm wie eine zerfetzte Blüte. Er ging in den Garten. Dort bettete er ihn nieder. Die drei Hunde standen starr wie Wächter, sie rührten sich nicht.

Er ging zurück und holte eine Schaufel. Dann grub er mit ungeheurer Emsigkeit und Kraft ein tiefes Grab, bettete den Körper hinein, schüttete Erde hinein und bestattete ihn unter schweren Blöcken von Granit, die er so leicht herbeitrug, als sei es Kindertand.

Es geschah in einer unfassbar kurzen Zeit, denn das Werk näherte sich seinem Ende, und dies alles war ihm so geläufig, als ob er es längst gelesen und gewusst habe.

Nichts befremdete ihn mehr; er wusste nur das eine: Jetzt hebt ein großes Morden an; aber es ist das letzte. Dies wird der Krieg, der jeden anderen Krieg sinnlos macht. Dies ist der letzte Krieg und dies sein erstes Opfer.

Es wird gemordet werden, bis all die Tonnen von Blut, die dies entsetzliche Wesen braucht, es gesättigt haben; bis dieser Fremdkörper im Leib der Erde irdisch geworden, bis diese schwärende Wunde, die seit Äonen die Menschheit mit Zwangsideen, mit Geistesverwirrung, mit Selbstzerfleischung ängstigt, für immer und endgültig geschlossen ist.

Er schritt ins Haus hinein.

Die Tür zu dem Innenhof stand noch offen.

Er setzte alle Hebel in Bewegung, die die Wand bedeckten. Das ganze Glasdach klappte auf und entfaltete sich klirrend.

Der ungeheure Sternenhimmel, wie ein Schacht, in dem silberne Welten sich Kolossen ähnlich bewegten, nach unfassbarem Rhythmus, drang über ihm herein.

Und gleichzeitig, als sei es meilenfern, entstand das alte Dröhnen und Kollern. Doch jetzt war ein Unterton dabei: war es dumpfer Rhythmus vom Marsch unzähliger Füße?

Oder war es das Stampfen eines mächtigen Mörsers, eines alles zermalmenden, auf erbarmungslosen Granit?...

 

 

Kapitel 9: Ausklang

An einem frühen Julimorgen erschien ein großer Mann in hellgrauem Anzug aus englischem Stoff auf der Gasse des Städtchens.

Man hatte ihn nur in spärlichen Zeitabständen gesehen. Er hatte hin und wieder einige Geschäfte besorgt, einige Briefe aufgegeben und war dann wieder für lange Wochen spurlos verschwunden gewesen.

Es war geraume Zeit her, dass er sich hier angesiedelt hatte. Ältere Leute wussten noch gut zu berichten, dass es einmal eine Sensation gegeben hatte, als dieser Chinese aufgetaucht war und sich dort im Wald das Laboratorium errichtet hatte. Er war eine legendenumrankte Figur, ein teurer Besitz, eine Attraktion des Städtchens. Man sah ihn immer wieder gern, so selten er sich auch zeigte.

Heute schien Doktor Sze eine besonders wichtige Angelegenheit im Sinn zu haben; denn er lächelte nicht, wie es seine sonstige stereotype Gewohnheit war, grüßte auch nicht freundlich mit den schief geschnittenen Augen, sondern wandelte unentwegt weiter, bis er in das Gebäude einer bekannten großen Munitionsfabrik gelangte.

Dort ließ er sich beim Direktor melden und teilte ihm mit, er habe auf seinem eigenen Grund und Boden, ja sogar innerhalb seines Hauses, eine merkwürdige Entdeckung gemacht: Einen großen Meteoriten aus reinem Nickeleisen. Er stelle ihn den Herren im Bedarfsfalle gern zur Verfügung. Er habe kein Interesse mehr daran, und das Stück sei zu groß, zu wertvoll auch, um als Museumsschaustück zu dienen. Er habe allen Grund, anzunehmen, dass in allernächster Zeit, ja in den nächsten Tagen schon, ein Krieg ausbrechen werde, der alles bisher Dagewesene in den Schatten stelle. Da sei es immer gut, eine Fundgrube für ein Material, das man ja immer zu solchen Zwecken brauchen könne, in dankbarer Nähe zu wissen.

Die Herren waren teils amüsiert, teils leicht befangen. Es waren ihnen bereits geheime Orders zugegangen; und sie hatten Grund, sich zu wundern, woher der stille Asiate seine Kenntnis beziehe.

Doch Doktor Sze sagte mehrmals eilfertig: »Es ist eine Annahme, verstehen Sie, nur eine Annahme!« Und so wurde er unter Dankes- und Höflichkeitsbezeigungen entlassen.

Als nach einigen Tagen eine Kommission bei ihm eintraf, um den Fund festzustellen, war das Gebäude bis auf einige gleichgültige Möbelstücke vollständig leer. Doktor Sze war nirgends zu finden.

Er war wie weggeblasen.

Drei große, halbverhungerte Hunde sprangen ihnen mit tückischem Knurren entgegen, und man musste sie niederschießen, ehe man Zutritt zu dem Haus erzwang.

 

 

ENDE

Impressum

Texte: Willy Seidel
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Korrektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2022

Alle Rechte vorbehalten

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