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Guy de Maupassant

9 Novellen

 

Das Fässchen

Garçon, ein Bier!

Reue

Die Taufe

Ein Staatsstreich

Hoch zu Ross

Im Wald

Der verhängnisvolle Kuchen

Der Wolf

 

 

Das Fässchen (Le petit fût)

 

Maître Chicot, der Gastwirt von Épreville, ließ sein Wägelchen vor dem Hof von Mère Magloire halten. Er war ein großer Kerl von vierzig Jahren, rund und rot, und galt als boshaft.

Er band sein Pferd an den Zaun und trat in den Hof. Seine Äcker stießen an die von Mère Magloire. Gern hätte er ihre Felder dazu gehabt. Mindestens ein Dutzend Mal hatte er schon versucht, sie der Alten abzukaufen, aber die wollte nichts davon wissen.



»Da bin ich geboren, da sterbe ich!«, sagte sie.



Als er eintrat, schälte sie gerade Kartoffeln vor ihrer Tür. Sie war zweiundsiebzig Jahre alt, vertrocknet, runzelig, krumm, aber unermüdlicher als die Jüngste. Chicot klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter und setzte sich neben sie auf eine Fußbank: »Na Mère, wie geht's Sie's denn? Immer zufrieden?

»Nicht zu klagen! Und Sie?«

»Ein kleines Reißen hier und da, sonst mag's gehen.«

»Na das freut mich.« Und sie schwieg.



Chicot sah ihrer Arbeit zu. Ihre krummen, gichtigen Finger, die hart waren wie Krebsscheren, holten zangenartig die grauen Kugeln aus einem Korb und drehten sie schnell hin und her, indem unter der Schneide eines alten Messers, das sie in der anderen Hand hielt, lange Schalenstreifen hervorquollen. Sobald die Kartoffel ganz gelb geworden war, warf sie sie in einen Wassereimer. Drei kecke Hühner wagten sich nacheinander bis in die Falten ihres Kleides, um die Abfälle aufzupicken. Dann rissen sie aus, so schnell wie möglich, die Beute im Schnabel.



Chicot genierte sich und zögerte ängstlich, als hätte er etwas zu sagen, das er nicht herausbrachte. Endlich fasste er einen Entschluss: »Sagen Se mal, Mère.«

»Was wollen Se denn?«

»'s ist nur wegen des Hofes, dass Se 'n mir verkaufen möchten!«

»Nee, da gibt’s nischt. Davon wollen mir gar nit erscht reden«.

»Nu ich hab' nämlich eine Möglichkeit gefunden, wie mir am Ende doch einig werden könnten.«

»Nu?«

»Das is nämlich so. Sie verkaufen mir 'n und behalten ihn trotzdem. Verstehen Se? Können Se das begreifen?«



Die Alte ließ die Kartoffel sinken, die sie gerade hielt, und blickte den Gastwirt unter ihren welken Augenlidern scharf an.

Er begann von Neuem: »Ich werd mal deutlicher reden. Ich gebe Sie monatlich einhundertfuffzig Francs. Hören Se gut druff, jeden Monat komme ich mit meinem Wagen und lege Sie hier dreißig Stück Fünf-Francs uff den Tisch. Und sonst bleibt allens beim Alten, allens. Sie bleiben daheim und kümmern sich nit so viel um mich und sind mir nischt schuldig nit. Nu passt Se das?«



Er blickte sie triumphierend und guter Laune an.



Die Alte maß ihn mit misstrauischem Blick. Sie witterte eine Falle, und sagte: »Das is für mich? Aber Sie... den Hof kriegen Se deshalb nit!«



Er antwortete: »Regen Se sich nur nit uff! Solange der liebe Gott Sie's Leben schenkt, bleiben Se wohnen. Sie bleiben bei Sie. Nur stellen Se mir ein kleines Papierchen beim Rechtsanwalt aus, dass ich nach Sie den Hof krieg. Keine Kinder han Se nit, nur Neffen, die Ihnen aach nit weiter ans Herz gewachsen sein. Sein Se einverstanden? Sie behalten Ihren Besitz, so lange Se leben und ich geb Sie jeden Monat dreißig Stück Fünf-Francs. Das is allens Ihr Verdienst.«



Die Alte war ganz erstaunt. Die Sache beunruhigte sie, aber lockte zugleich. »Ich will nit grade nee sagen. Nur ich muss es beschlafen. Kommen Se nächste Woche mal wieder, dass ich sage, was ich so etwa bei mir denke.«



Maître Chicot ging davon, zufrieden wie ein König, der ein Reich erobert hat.



Mère Magloire sann nach. Die nächste Nacht konnte sie nicht schlafen und vier Tage lang ging ihr die Geschichte im Kopf herum, dass ihr ganz fiebrig zumute wurde.

Sie ahnte was Böses bei dem Handel, aber der Gedanke an die dreißig Fünf-Francs, die ihr jeden Monat in der Schürze klimpern sollten, als wären sie rein vom Himmel gefallen, ohne dass sie einen Finger rührte, quälte sie unausgesetzt.



Sie ging zum Rechtsanwalt und erzählte ihm die Geschichte. Er riet ihr, Chicots Vorschlag anzunehmen, jedoch unter der Bedingung, dass sie fünfzig Stück Fünf-Francs erhielte statt der gebotenen dreißig Stück, denn der Hof war 60.000 Francs wert - ›unter Brüdern‹.



Die Alte zitterte bei der Aussicht jeden Monat fünfzig Fünf-Francs zu bekommen. Aber sie traute dem Frieden doch nicht recht und fürchtete tausend unvorhergesehene Dinge, irgendeine versteckte List.

Den ganzen Tag hindurch stellte sie hundert Fragen und konnte sich nicht entschließen, wieder fortzugehen. Endlich ließ sie die betreffende Urkunde aufsetzen und kehrte in ihr Dorf zurück, in einem Zustand, als hätte sie vier Maß jungen Apfelwein getrunken.



Als Chicot erschien, um die Antwort zu holen, ließ sie sich zuerst lange bitten, und erklärte, sie hätte keine Lust. Dabei hatte sie jedoch immerfort Angst, er möchte ihr die fünfzig Fünf-Francs nicht zugestehen. Als er nun aber in sie drang, enthüllte sie endlich ihre Bedingungen.



Er fiel beinahe vom Stuhl vor Schreck und sagte nein.



Da stellte sie Betrachtungen über ihre wahrscheinliche Lebensdauer an, um ihn zu überreden: »Mehr wie fünf Jahre mach ich's uff keinen Fall. Nu bin ich dreiundsiebzig und aach schon ein bisschen klapperig. Neulich abends hab' ich gedacht, ich müsst uff die Reise gehen. 's war mir so, als ob mein Leib ganz alle würde und se han mich zu Bett bringen müssen.«



Chicot ließ sich jedoch nichts aufschwatzen: »Ach was, Se wissen schon wo Se bleiben! Se stehn fest wie unser Kirchturm. Einhundertundzehn Jahre werden Se mindestens alt. Begraben werden Se mich noch.«



Der ganze Tag ging hin mit Hin- und Herreden. Die Alte wollte partout nicht nachgeben, so entschloss sich der Gastwirt endlich, fünfzig Fünf-Francs zu geben.

Am nächsten Tag wurde der Vertrag unterzeichnet. Und Mère Magloire verlangte zehn Fünf-Francs Draufgeld.

Drei Jahre vergingen. Der guten Frau ging es ausgezeichnet. Sie schien nicht einen Tag älter geworden zu sein und Chicot war wütend. Ihm schien es, als bezahlte er diese Rente seit einem halben Jahrhundert, als sei er betrogen worden und ruiniert.

Von Zeit zu Zeit machte er der alten Bäuerin einen Besuch, wie man wohl im Juli die Felder inspiziert, um zu sehen, ob das Korn reif ist zur Mahd.



Sie empfing ihn mit boshafter Miene, als freute sie sich, wie gut sie ihn hereingelegt hätte. Er bestieg schnell wieder sein Wägelchen, während er vor sich hinbrummte: »Wirschte denn nit bald krepieren, olles Gerippe?«



Er wusste sich nicht zu helfen. Jedes Mal wenn er sie sah, hätte er sie erwürgen mögen. Er hasste sie mit tückischer, wilder Wut, wie nur ein betrogener Bauer hassen kann.

Nun suchte er Mittel, um ans Ziel zu kommen.

Schließlich erschien er eines Tages wieder bei ihr und rieb sich schmunzelnd die Hände, wie damals, als er ihr das erste Mal den Handel vorgeschlagen hatte.



Nachdem er einige Zeit drum rum geschwatzt hatte, sagte er beiläufig: »Mère, hören Se mal, wenn Se so mal nach Épreville kommen, warum kehren Se da nie bei mir ein?

Die Leut reden schon drüber. Es heißt, mir sein verzankt miteinander, und das tut mir leid. Dass Se's nur wissen, bei mir han Se allens frei.

Aufn schönes Essen kommt es mir nit an. Wenn Se Lust han, kommen Se nur ganz ruhig. Mir macht's Freude.«



Das ließ sich Mère Magloire nicht zwei Mal sagen. Am übernächsten Tag musste sie ihr Knecht Célestin zu Markte fahren, und da spannte sie, ohne sich zu zieren, bei Chicot aus und verlangte das versprochene Mittagessen.



Der Gastwirt strahlte. Er behandelte sie wie eine Fürstin, ließ Huhn, hausgeschlachtene Wurst, Hammelkeule und Speck mit Kohl auftragen. Aber sie aß fast nichts, da sie von Jugend auf mäßig gewesen war und Zeit ihres Lebens mit ein wenig Suppe und Butterbrot vorliebgenommen hatte.



Chicot war verzweifelt und nötigte was er konnte, aber sie trank auch nichts. Nicht einmal Kaffee.



Er fragte: »Aber ein kleines Gläschen Schnaps werden Se sich doch genehmigen?«

»Ah, das is was anderes. Da will ich nit so sein.«

Er rief mit Stentorstimme durchs ganze Lokal: »Rosalie, bring mal den Feinen, den ganz Feinen.«



Das Mädchen erschien mit einer länglichen Flasche, auf die als Schmuck ein papiernes Weinblatt geklebt war. Er goss zwei kleine Gläser voll: »Kosten Se mal, Mère, das is ein ganz Feiner!«



Die Alte fing bedächtig an zu trinken. Sie nahm Schluck um Schluck, um den Genuss zu verlängern. Als sie fertig war, spritzte sie mit einem Schwung den letzten Tropfen aus dem Glas zu Boden und erklärte: »Das is richtig, der is fein.«



Kaum war sie fertig, als ihr Chicot auch schon ein zweites Glas einschenkte. Sie wollte ablehnen, doch es war zu spät und sie kostete lange wie beim ersten.

Da wollte er sie zu einem dritten nötigen, aber sie mochte nicht. Er drängte: »Ach wissen Se, das is die reine Milch! Ich trink Stücker zehn, zwölf, wie nischt.

Das läuft runter wie Zuckerwasser und man spürt nischt, weder im Magen noch im Kopp! Das verfliegt sozusagen auf der Zunge. Was Gesünderes gibt’s nit!«



Da sie rechte Lust hatte, gab sie nach, trank jedoch nur die Hälfte.

Chicot rief in einer Anwandlung von Großmut: »Mère, hören Se mal, da er Sie so gut schmeckt, werd ich mal nobel sein und Sie ein kleines Fässchen voll spendieren, und wenn's weiter nischt wäre, als dass die Leut nit sagen können, mir sein verzankt.«



Die Alte sagte nicht nein und ging, ein wenig schwer im Kopf, davon.

Am nächsten Tag kam der Gastwirt zu Mère Magloire auf den Hof und zog ein kleines, eisenreifenumsponnenes Fässchen aus seinem Wagen hervor. Dann ließ er sie den Inhalt kosten, damit sie auch sähe, dass es dieselbe feine Sorte sei. Als sie noch jeder drei Glas getrunken hatten, erklärte er beim Fortgehen: »Und dann, dass Se's nur wissen, sollt' es alle sein: 's gibt aach mehr. Genieren Se sich nit. Da guck' ich gar nit hin. Je schneller 's aus is, desto mehr freue ich mich!«



Er bestieg sein Wägelchen.



Vier Tage darauf kam er wieder. Die Alte saß vor der Tür und schnitt Brot klein für die Suppe. Er trat heran, sagte guten Tag und näherte sich ihr, um beim Sprechen möglichst ihren Atem zu erschnuppern. Er erkannte den Alkoholgeruch. Da verklärte sich sein Gesicht und er sagte: »Ein Glas darf ich wohl kosten?«



Sie stießen ein oder zwei Mal an.



Bald hieß es in der Gegend, dass Mère Magloire sich dem stillen Suff ergeben hätte. Bald las man sie in der Kirche auf, bald auf dem Hof, bald in der Nachbarschaft am Wegesrand, und man musste sie stets wie eine Leiche nach Hause schaffen.



Chicot besuchte sie nicht mehr und wenn man mit ihm von der Alten sprach, sagte er mit trauriger Miene: »Das is das reine Unglück, in der ihrem Alter so was anzufangen. Aber wissen Se, wenn einer alt is, da is mit ihm nischt mehr zu machen. Das wird noch ein böses Ende nehmen.«



Und das nahm es allerdings. Sie starb den nächsten Winter gegen Weihnachten, als sie einmal betrunken im Schnee liegen geblieben war.

Und Maître Chicot erbte ihren Hof und sprach: »Nee, so ein dummes Luder, wenn se nit gesoffen hätt, zehn Jahr' hätt' se sicher noch gelebt!«

 

 

 

 

 

Garçon, ein Bier!

 

Ich weiß nicht, warum ich eigentlich jenen Abend in den Biergarten ging. Es war kalt. Feiner Regen, wie Wasserstaub, fiel nieder, verschleierte die Laternen, nässte die Steinplatten der Bürgersteige, sodass sie glänzten im Licht, das von den Schaufenstern fiel und den nassen Schmutz wie die schmutzigen Stiefel der Vorübergehenden beleuchtete.



Ich hatte keinen besonderen Zweck, sondern bummelte nur ein bisschen nach Tisch am Crédit Lyonnais vorüber, die Rue Vivienne hinunter. Plötzlich sah ich ein großes Bierlokal, halb voll Menschen. Ich trat ein, ohne einen besonderen Grund. Durst hatte ich nicht.



Ich suchte mir schnell einen Platz, wo ich nicht zu sehr im Gedränge säße, und setzte mich neben einen, wie es schien, älteren Mann, der eine Zwei-Sous-Pfeife aus Ton rauchte, die schwarz war wie 'n Stück Kohle.

Sechs bis sieben Bieruntersetzer vor ihm, bezeichneten die Anzahl Gläser, die er schon getrunken hatte.

Ich blickte meinen Nachbar nicht an. Auf den ersten Blick hatte ich in ihm einen jener Stammgäste erkannt, die früh kommen, wenn das Lokal geöffnet wird und erst abends gehen, wenn man schließt.

Er war schmutzig, hatte eine Glatze, während die grauen, fettglänzenden Haare im Nacken ihm bis auf den Kragen seines Rockes fielen. Seine Kleider waren zu weit und sahen aus, als seien sie zu einer Zeit gemacht worden, als er noch dick gewesen war.

Man erriet, dass die Hose nicht auf den Hüften festsitzen konnte, und dass dieser Mann keine zehn Schritte hätte machen können, ohne sie heraufzuziehen.

Ob er eine Weste anhatte, schien zweifelhaft. Und der Gedanke an seine Stiefel und was darin steckte, flößte mir Entsetzen ein. Die ausgefransten Manschetten waren ganz schwarz vor Schmutz. Ebenso seine Nägel.



Sobald ich neben ihm saß, sagte er ganz ruhig zu mir: »Geht's Dir gut?«

Ich drehte mich hastig zu ihm um und sah ihn an, während er fortfuhr: »Du erkennst mich wohl nicht?«

»Nein.«

»Des Barrets.«



Ich war starr. Es war Vicomte Jean des Barrets, mit dem ich einst gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte. Ich reichte ihm die Hand, war aber so erschrocken, dass ich nichts zu sagen wusste.

Schließlich stammelte ich: »Und Du? Geht's Dir gut?«

Er antwortete ruhig: »Ich? So gut's eben geht!«

Er schwieg. Ich wollte liebenswürdig sein und suchte irgendeine Anrede: »Und, was treibst Du?«

Er antwortete mit Ergebung: »Was Du siehst!«



Ich fühlte, dass ich rot wurde und fragte: »Aber, ... jeden Tag?«

Er erwiderte, indem er mächtige Rauchwolken von sich stieß: »Ja, alle Tage dasselbe!«

Dann klopfte er auf die marmorne Tischplatte mit einem Geldstück, das da herumlag und rief: »Garçon, zwei Bier!«



In der Entfernung wiederholte eine Stimme: »Zwei Bier – Nummer vier.«

Von einer anderen Stimme, noch weiter entfernt, kam ein scharfes: »Hier! – zurück.«



Dann erschien ein Mann mit weißer Schürze, der zwei Biergläser trug, von denen längs des Weges Tropfen auf den sandbestreuten Boden fielen.

Des Barrets leerte sein Glas auf einen Zug und setzte es wieder auf den Tisch, während er den im Bart hängen gebliebenen Schaum einzog. Dann fragte er: »Was gibt es Neues?«

Ich wusste ihm wirklich nichts Neues zu sagen. Ich stotterte: »Nichts, alter Freund. Ich bin Kaufmann geworden...«

Er antwortete mit sich immer gleichbleibendem Ton: »Und, das macht Dir Spaß?«

»Nein, aber weißt Du, man muss doch irgendwas anfangen!«

»Warum denn?«

»Nun – damit man Beschäftigung hat.«

»Zu was? Ich mache nichts, wie Du siehst. Absolut nichts. Wenn man keinen roten Dreier hat, dann kann ich's begreifen, dass man arbeitet. Wenn man aber zu leben hat, dann hat's keinen Zweck.

Wozu arbeiten? Arbeitest Du für Dich oder für andere? Wenn Du für Dich arbeitest, so tust Du's, weil es Dir Spaß macht – dann ist alles in Ordnung. Aber wenn Du für andere arbeitest, bist Du ein Tor!«



Damit legte er seine Pfeife auf die Marmorplatte und rief wieder: »Garçon, ein Bier!«

Er begann: »Das Reden macht Durst. Ich bin's nicht gewöhnt. Ja, ich mache nichts, ich stumpfe so hin und werde alt. Wenn ich sterbe, wird mir nichts leidtun. Dann habe ich keine Erinnerung als nur dieses Bierlokal. Keine Frau, keine Kinder, keine Sorgen, keinen Kummer, nichts. Das ist besser!«



Er leerte das Glas Bier, das man ihm gebracht hatte, leckte sich mit der Zunge die Lippen und nahm seine Pfeife in die Hand.

Ich blickte ihn betroffen an und fragte: »Aber Du bist doch nicht immer so gewesen?«

»Bitte sehr, seit der Schule – immer.«

»Weißt Du, das ist aber doch kein Leben. Das ist ja fürchterlich. Hör mal, Du musst doch irgendwas treiben, was lieben, Freunde haben.«

»Nein. Ich stehe mittags auf. Ich komme hierher, frühstücke, trinke Bier, warte bis es dunkel wird, esse, trinke Bier.

Dann gehe ich gegen halb zwei früh nach Haus, um zu schlafen, weil das Lokal geschlossen wird. Das ärgert mich am meisten.

Von den letzten zehn Jahren meines Lebens habe ich mindestens sechs hier in meiner Ecke auf der Bank zugebracht. Den Rest in meinem Bett, nirgends anders. Manchmal unterhalte ich mich mit den Stammgästen.«

»Aber was hast Du denn gemacht, als Du zuerst nach Paris gekommen bist?«

»Ich habe Jura studiert – im Café Medici.«

»Aber dann?«

»Dann – bin ich auf die andere Seite der Seine übergesiedelt und bin hierhergekommen.«

»Wozu hast Du Dir überhaupt diese Mühe gemacht?«

»Ja weißt Du, man kann doch nicht sein ganzes Leben im Quartier Latin wohnen. Die Studenten machen zu viel Skandal. Jetzt bleibe ich hier. Garçon, ein Bier!«



Ich glaubte, er mache sich lustig über mich und fuhr fort: »Nun sei mal offen! Hast Du irgendeinen Kummer gehabt? Wohl eine unglückliche Liebe? Du musst Pech gehabt haben in der Welt! Wie alt bist Du?«

»Ich bin dreiunddreißig. Aber ich sehe wie fünfundvierzig aus. Mindestens.«



Ich blickte ihn genau an. Sein runzeliges Gesicht gab ihm das Aussehen eines Greises. Auf der Glatze standen ein paar einzelne lange Haare zu Berge, auf einer Haut von zweifelhafter Reinlichkeit.

Er hatte mächtige Augenbrauen und einen dichten Bart. Plötzlich musste ich an die Waschschüssel denken, in der man dieses Haar gewaschen hatte.



Ich sagte: »Du siehst allerdings älter aus, als Du bist. Du musst Kummer gehabt haben.«

Er antwortete: »Oh nein! Ich sehe alt aus, weil ich nie an die frische Luft komme. Nichts bringt so herab, wie das Kaffeehausleben.«

Ich konnte es nicht glauben: »Du wirst wohl auch gebummelt haben. Man hat nicht umsonst 'ne Glatze!«



Er schüttelte ruhig den Kopf, sodass ein Schuppenregen von seinen letzten Haaren auf den Rock fiel: »Nein, ich bin immer vernünftig gewesen.«



Dann blickte er zur Gaskrone auf, die über uns hing und uns den Kopf erhitzte: »Das Gas ist dran schuld. Das lässt die Haare ausgehen. Garçon – ein Bier! Du scheinst keinen Durst zu haben.«

»Nein, danke. Aber Dein Schicksal interessiert mich. Seit wann bist Du denn so moralisch runter? Das ist doch nicht natürlich, nicht normal. Da muss doch irgendwas dahinter stecken.«

»Ja, das ist von Jugend auf so gekommen. Als ich klein war, habe ich Prügel gekriegt und seitdem habe ich immer schwarze Gedanken.«

»Wieso denn?«



»Wenn Du's wissen willst, so hör' zu. Du wirst Dich an unser Schloss erinnern, wo ich geboren bin.

Du bist ja während der Ferien einige Male dagewesen. Weißt Du noch das große graue Gebäude in dem Riesenpark mit seinen langen Eichenalleen nach allen vier Himmelsrichtungen?

Du wirst Dich an meinen Vater und meine Mutter erinnern, und wie sie beide ernst und streng waren.

Ich betete meine Mutter an, vor dem Vater hatte ich Angst. Vor beiden empfand ich großen Respekt. Ich kannte es ja auch nicht anders, als dass alles sehr ehrerbietig gegen sie war.

Für die Gegend waren sie »Monsieur Vicomte« und »Madame Vicomtesse« und auch unsere Nachbarn, Tannemares, Ravelets, Brennevilles, erwiesen ihnen besondere Achtung.



Ich war damals dreizehn Jahre alt, war heiter, mit allem zufrieden, wie man's in diesem Alter eben ist, wenn man noch voller Lebensfreude steckt.

Eines Tages gegen Ende September spielte ich, ein paar Tage ehe ich zur Schule zurück musste, in den Blumenbeeten des Parks Wolf. Als ich so durch Dick und Dünn lief, sah ich plötzlich Maman und Papa, die spazieren gingen.

Ich weiß es noch, als wäre es gestern geschehen. An dem Tag herrschte starker Sturm. Die Baumreihen bogen sich unter den Windstößen. Sie ächzten und schienen dumpf und laut zu stöhnen, wie der Wald im Orkan. Die Blätter fielen, schon gelb, und flogen Vögeln gleich davon, wirbelten umher und fegten die Alleen hinab, wie dahin rasende Tiere.



Der Abend sank. Es wurde dunkel in den Büschen. Dieses Sturmrasen in den Zweigen machte mich ganz aufgeregt, sodass ich wie toll dahinstürmte und heulte, um die Wölfe nachzumachen.

Sobald ich meine Eltern entdeckt hatte, schlich ich mich, um sie zu überraschen, durch das Gebüsch heimlich heran, als wäre ich wirklich ein Landstreicher gewesen. Aber ein paar Schritte vor ihnen blieb ich furchtsam halten.

Mein Vater war in fürchterlicher Wut und rief: ›Deine Mutter ist ein Rindvieh. Übrigens handelt es sich nicht um Deine Mutter, sondern um Dich. Ich sage Dir: ich brauche das Geld und ich verlange, dass Du unterschreibst!‹

Maman antwortete mit fester Stimme: ›Ich unterschreibe nicht. Das ist Jeans Vermögen. Das hebe ich für ihn auf. Ich will nicht, dass Du das auch noch mit Dirnen und Mädchen durchbringst, wie Dein eigenes Erbteil.‹



Da drehte sich mein Vater, rasend vor Wut um, packte meine Mutter bei der Kehle und schlug sie mit aller Gewalt ins Gesicht.

Mamans Hut fiel zu Boden. Ihr Haar ging auf. Sie versuchte die Schläge abzuwehren, aber es glückte ihr nicht. Und Papa hieb wie toll weiter auf sie ein.

Sie fiel zu Boden und versteckte das Gesicht in den Händen. Da drehte er sie auf den Rücken, um sie noch mehr zu schlagen, und zerrte ihr die Hände weg, mit denen sie ihr Gesicht schützte.



Mir aber, lieber Freund, war es, als sollte die Welt untergehen, als wären all die ewigen Gesetze umgestoßen. Ich war so vernichtet, wie man's beim Eintreten übernatürlicher Dinge, bei fürchterlichen Katastrophen ist, bei Unglücksfällen, die nicht wieder gut zu machen sind.

Mein Kinderverstand war dem nicht gewachsen, und ich brüllte aus Leibeskräften, ohne zu wissen warum. Ich befand mich in einem furchtbaren Zustand, gemischt aus Angst, Schmerz und Entsetzen.

Mein Vater hörte mich, drehte sich um, sah mich, stand auf und kam auf mich los. Ich dachte, er würde mich töten. Ich floh wie ein gehetztes Wild immer geradeaus, geradeaus, in den Wald hinein.



So lief ich vielleicht ein, zwei Stunden lang, ich weiß nicht. Es wurde Nacht und ich warf mich erschöpft ins Gras. Da blieb ich müde, wie von Sinnen, in furchtbarer Angst und mit einem Jammer in der Seele liegen, dass es mir hätte das Herz brechen mögen.

Mich fror. Vielleicht hatte ich Hunger. Es wurde Tag. Ich wagte weder aufzustehen, weder nach Haus zu gehen, noch zu entfliehen, denn ich fürchtete, ich würde meinen Vater treffen. Und den wollte ich nie mehr wiedersehen.



Vielleicht wäre ich vor Kummer und Hunger dort unter einem Baum gestorben, wenn mich der Waldhüter nicht gefunden und mit Gewalt nach Haus gebracht hätte.



Meine Eltern zeigten ihr gewöhnliches Gesicht. Meine Mutter sagte nur: ›Du dummer Junge hast mir solche Angst gemacht. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen.‹

Ich antwortete nicht, aber ich begann zu weinen. Mein Vater sprach kein Wort.

Acht Tage darauf musste ich wieder in die Schule.



Nun, lieber Freund: ich war mit dem Dasein fertig. Ich hatte die Kehrseite der Dinge gesehen – die schlechte. Seit dem Tag habe ich die gute nicht wiedergefunden.

Was ist in mir vorgegangen? Welch seltsamer Vorgang hat meine Ansichten geändert?

Ich weiß es nicht. Aber ich fand an nichts mehr Geschmack, ich ersehnte nichts mehr, ich liebte niemand mehr, ich wünschte nichts mehr, ich hatte keinen Ehrgeiz mehr und keine Hoffnung.

Immer erblickte ich meine arme Mutter vor mir, wie sie in der Allee am Boden liegt und mein Vater sie misshandelt.

Einige Jahre darauf ist Maman gestorben. Mein Vater lebt noch. Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Garçon, ein Bier!«



Man brachte ihm sein Glas Bier, das er mit einem Zug leerte. Als er seine Pfeife wieder aufnahm, zerbrach sie, da seine Hand zitterte. Mit verzweifelter Miene sagte er: »Na, das ist 'n wahres Unglück, nun kann ich mich wieder 'n Monat abschinden, um eine neue anzurauchen!«



Dann ließ er durch den weiten raucherfüllten Raum, der jetzt voller Menschen war, seinen ewigen Ruf schallen: »Garçon, ein Bier ... und eine neue Pfeife!«

 

 

 

 

 

Reue (Regret)

 

Monsieur Saval, der in der Gegend von Mantes »Père Saval« genannt wird, ist eben aufgestanden.

Es regnet. Es ist ein trauriger Herbsttag. Die Blätter fallen, rieseln langsam herab, wie ein Regen im Regen, nur langsamer und stärker.

Monsieur Saval ist nicht heiter gestimmt. Er läuft zwischen Kamin und Fenster auf und ab. Das Leben hat düstere Tage.

Nun wird es für ihn nur noch düstere Tage haben, denn er ist zweiundsechzig Jahre alt. Er lebt allein als alter Junggeselle und hat niemanden um sich.

Wie traurig, so ganz allein, ohne eine liebe Hand zu sterben. Oft denkt er an sein leeres ödes Dasein, er erinnert sich vergangener Zeiten, seiner Kindheit, des Elternhauses, dann der Schule, der Ferien, der Studentenzeit in Paris, endlich der Krankheit seines Vaters, seines Todes.

Nun ist er wieder zu seiner Mutter gezogen, um bei ihr zu wohnen. Still und wunschlos haben der junge Mann und die alte Frau beieinander gelebt. Sie ist auch gestorben. Ach, ist das Leben traurig!



Er ist allein geblieben, und nun wird auch er dahingehen. Er wird verschwinden, es ist aus.

Von Monsieur Paul Saval ist dann nichts mehr auf der Erde. Wie furchtbar!

Andere Menschen werden leben, sich lieben, lachen, ja, sie werden lustig sein, und er ist nicht mehr da. Ist es nicht seltsam, dass man bei dieser ewigen Gewissheit des Todes überhaupt noch lachen, sich unterhalten kann und fröhlich sein?

Wenn der Tod nur eine Wahrscheinlichkeit wäre, dann gäbe es noch zu hoffen. Aber nein, er ist unausbleiblich, so sicher wie der Tag der Nacht folgt.



Wenn sein Leben noch einen Inhalt gehabt hätte, wenn er etwas getan, wenn er Abenteuer erlebt hätte, irgendeine große Freude, Erfolg, allerlei Befriedigungen hier und da. Aber nichts von alledem!

Er hatte nichts getan, nie etwas anderes als aufstehen, zur selben Stunde täglich essen und wieder zu Bett gehen.

Und so war er zweiundsechzig Jahre alt geworden. Er hatte sich sogar nicht einmal verheiratet wie die anderen Männer.

Warum? Ja, warum hatte er sich nicht verheiratet? Er hätte es gekonnt, denn er war vermögend. Hatte ihm die Gelegenheit gefehlt? Vielleicht.

Aber man zwingt die Gelegenheit. Er war indolent [Anm.: gleichgültig, untätig], daran lag es.

Die Indolenz war das große Unglück seines Lebens, sein Fehler, sein Laster sogar.

Wie viele verfehlen dadurch ihr Leben! Gewissen Menschen wird es so schwer aufzustehen, sich zu bewegen, Schritte zu unternehmen, zu sprechen, sich in die Dinge zu vertiefen.



Er war nicht einmal geliebt worden! Keine Frau hatte ihm hingebend das Haupt an die Brust gelehnt. Er ahnte nicht die süßen Nöte der Erwartung, nicht das göttliche Gefühl eines Händedrucks, nicht den Taumel des Sieges!

Wie übermenschlich glücklich muss es machen, wenn sich die Lippen zum ersten Mal begegnen, wenn in liebender Verschlingung zwei Wesen eins werden!



Monsieur Saval saß im Schlafrock am Kamin die Füße zum Feuer hin ausgestreckt.



Ja, sein Leben war verfehlt, ganz verfehlt! Und doch hatte er einmal geliebt, heimlich, schmerzlich, indolent, wie er alles tat.

Ja, er hatte seine alte Freundin, Madame Sandrès, geliebt, die Frau seines alten Freundes Sandrès. O, wenn er sie als junges Mädchen kennengelernt hätte!

Aber er war ihr zu spät begegnet, als sie schon verheiratet war, sonst hätte er sicher um sie angehalten. Und wie hatte er sie doch seit dem ersten Tag geliebt!



Er dachte daran, welche Bewegung ihn jedes Mal ergriff, wenn er sie wieder sah, wie traurig er beim Abschied war. Er erinnerte sich an die Nächte, in denen er nicht einschlafen konnte, weil er nur an sie dachte.

Früh wachte er immer ein bisschen weniger verliebt auf, als er abends gewesen war. Warum?



Wie sie damals hübsch war, niedlich, blond, lächelnd mit lockigem Haar. Sandrès war nicht der passende Mann für sie. Jetzt war sie schon achtundfünfzig. Sie schien glücklich zu sein.

O, wenn sie ihn einst geliebt hätte! Wenn sie ihn doch geliebt hätte! Und warum sollte sie ihn, Saval, nicht geliebt haben, da er sie, Madame Sandrès, doch liebte.

Wenn sie nur etwas erraten hätte davon. Ob sie denn nichts geahnt, nichts gesehen, nichts begriffen hatte? Was würde sie wohl gedacht haben, wenn er nun wirklich gesprochen hätte? Was hätte sie wohl geantwortet?



Saval kamen tausend Fragen. Er lebte sein Leben noch einmal und suchte sich in all die tausend Einzelheiten zu vertiefen.

Er dachte an die langen Abende zurück, an denen sie bei Sandrès Karten gespielt hatten, als die Frau seines Freundes jung war und reizend.

Er erinnerte sich an alle Dinge, die er ihr gesagt hatte, den Ton ihrer Stimme, den sie manchmal hatte, die kleinen stummen, vielsagenden Lächeln.

Er dachte daran, wie sie zu dritt an der Seine spazieren gegangen waren, wie sie sonntags im Grünen auf dem Rasen gefrühstückt hatten.

Und plötzlich kam ihm wieder ein Nachmittag in den Sinn, den sie in einem kleinen Häuschen am Wasser verlebten.



Bei Zeiten waren sie fortgegangen, in einem Paket das Frühstück bei sich. Es war ein heller Frühlingsmorgen, einer jener Tage, die berauschen: alles duftet köstlich, alles scheint glücklich zu sein, es ist, als sängen die Vögel lauter und fröhlicher und flögen schneller dahin.

Man hatte auf dem Rasen unter den Weiden gefrühstückt, ganz nahe am Wasser, auf dem die Sonne brütete. Die Luft war milde, voll würzigen Duftes. Wonnig sogen sie sie ein.

Ach, war der Tag schön gewesen! Nach dem Frühstück war Sandrès auf dem Rücken liegend eingeschlafen, ›das köstlichste Schläfchen meines Lebens‹, wie er später, als er aufgewacht war, meinte.



Madame Sandrès hatte sich an Savals Arm gehängt, und war davon gegangen, am Wasser hin mit ihm. Sie stützte sich auf ihn. Sie lachte und sagte: »Ich bin ja wie betrunken, lieber Freund, wie betrunken.«

Er blickte sie an und ihm schlug das Herz. Er fühlte, dass er bleich wurde, und fürchtete, seine Augen möchten zu viel sagen, das Zittern seiner Hände könnte ihr sein Geheimnis verraten.

Sie hatte sich aus Gräsern und Wasserlilien einen Kranz geflochten und ihn gefragt: »Gefalle ich Ihnen so?«



Als er nichts antwortete, denn er wusste keine andere Antwort als vor ihr auf die Knie zu sinken, fing sie an zu lachen und warf ihm unzufrieden ins Gesicht: »Du Dummer, da sagt man doch ein Wort.«

Er hätte beinahe geweint und wusste noch immer nicht, was er sagen sollte.



All das kam ihm jetzt wieder in den Sinn, genau wie damals. Warum hatte sie ihm das gesagt: ›Du Dummer, da sagt man doch ein Wort.‹

Und er dachte daran, wie sie sich zärtlich auf ihn gestützt hatte, und wie er, als sie unter einem schräg gewachsenen Baum vorüber mussten, fühlte, dass sein Ohr ihre Wange berührte und wie er da schnell zurückwich, in der Befürchtung, sie möchte meinen, es sei Absicht von ihm gewesen.



Er sagte: ›Müssen wir nicht zurück?‹ Sie hatte ihm einen eigentümlichen Blick zugeworfen. Ja, sie hatte ihn unbedingt sehr seltsam angeblickt. Damals hatte er das nicht weiter beachtet und nun dachte er plötzlich daran.

Dann hatte sie nur gesagt: ›Wie Sie wollen, lieber Freund. Wenn Sie müde sind, drehen wir um.‹

Und er hatte geantwortet: ›Müde bin ich nicht. Deswegen nicht, aber vielleicht ist jetzt Sandrès aufgewacht.‹

Sie hatte achselzuckend erwidert: ›Wenn Sie fürchten, mein Mann könnte aufgewacht sein, so ist's freilich was anderes. Kehren wir um.‹



Auf dem Rückweg hatte sie geschwiegen und sich nicht mehr auf seinen Arm gestützt. Warum?

Nach diesem »Warum« hatte er bis heute noch nicht gefragt, und nun schien ihm plötzlich eine Ahnung aufzugehen. Am Ende ...



Monsieur Saval fühlte, wie er rot wurde und stand ganz verwirrt auf, als ob er dreißig Jahre früher Madame Sandrès hätte zu ihm sagen hören: »Ich liebe dich.«



War's nur möglich? Dieser Verdacht, der sich ihm in die Seele geschlichen hatte, quälte ihn.

War's nur möglich, dass er's nicht bemerkt, nicht erraten hatte?

O, wenn das wirklich gewesen war, wenn ihn das Glück gestreift hatte, und er nicht nach ihm gegriffen hätte!

Er sagte sich: ›Ich will es wissen. Ich will wenigstens den Zweifel beseitigen, ich will's wissen.‹



Er zog sich schnell an, während er sich überlegte: ›Ich bin zweiundsechzig, sie jetzt achtundfünfzig, da kann ich das schon fragen.‹

Er ging aus. Das Haus der Sandrès lag auf der anderen Seite der Straße, fast dem seinen gegenüber. Er ging hin und schlug mit dem Klopfer an die Tür. Das Mädchen öffnete ganz erstaunt, ihn so früh zu sehen: »Ach, Monsieur Saval, Sie sind schon da. Ist etwas passiert?«

Saval antwortete: »Nein, mein Kind. Aber sag' Deiner Herrin, dass ich sie gleich sprechen müsse.«

»Aber Madame macht gerade Früchte ein für den Winter und ist eben in der Küche und da ist sie nicht angezogen, wissen Sie, verstehen Sie.«

»Ja, aber sage ihr nur, es wäre was ganz Wichtiges.«



Das Mädchen ging und Saval lief mit langen, nervösen Schritten im Salon auf und ab. Und doch fühlte er keine Verlegenheit. O, er würde sie einfach darum befragen, als hätte er ein Küchenrezept haben wollen. Er war ja jetzt zweiundsechzig Jahre.

Die Tür ging auf. Sie erschien. Jetzt war sie eine starke, breite, rundliche Frau mit vollen Wangen und hellem Lachen.

Sie ging auf ihn zu mit abgespreizten Händen und aufgestreiften Ärmeln, dass man die zuckerbestreuten Arme sah, und fragte ängstlich: »Was fehlt Ihnen denn, lieber Freund? Sie sind doch nicht etwa krank?«

Er antwortete: »Nein, liebe Freundin, aber ich möchte Sie etwas fragen, was für mich von großem Wert ist und was mich fortwährend quält. Wollen Sie mir ganz offen antworten?«



Sie lächelte: »Ich bin immer offen. Also nun?«

»Ja, ganz kurz: Vom ersten Tag ab, wo ich Sie gesehen habe, habe ich Sie geliebt. Haben Sie das geahnt?«

Sie antwortete lächelnd, und es klang daraus ein Ton aus vergangener Zeit: »Ach, Sie Dummer, das habe ich doch gleich gemerkt.«

Saval fing an zu zittern und stotterte: »Das wussten Sie? Ja und... ?«

Er schwieg.

Sie fragte: »Und was?«

Er antwortete: »Ja, und was dachten Sie denn, dass ich, dass ich... Was hätten Sie mir denn geantwortet?«



Sie lachte noch stärker, wobei ihr der Sirup von den Fingerspitzen tropfte und auf das Parkett fiel: »Ich? Ja, Sie hatten mich doch nicht gefragt und ich konnte Ihnen doch keine Erklärung geben.«



Da ging er einen Schritt auf sie zu: »Sie mir? Sie mir? Erinnern Sie sich noch des Tages, als Sandrès nach dem Frühstück auf dem Rasen eingeschlafen war, wo wir zusammen gegangen waren, da bis an die Flussecke da unten?«

Er wartete. Sie lachte nicht mehr, sondern blickte ihm in die Augen: »Gewiss, dessen erinnere ich mich.«

Er fuhr fröstelnd fort: »Nun, an dem Tag... wenn ich nun unternehmend gewesen wäre? Was hätten Sie da getan?«



Sie lächelte wie eine glückliche Frau, die nichts bedauert und antwortete offen mit klarer Stimme, aus der ein wenig Ironie klang: »Ich hätte mich Ihnen ergeben, lieber Freund!«



Damit drehte sie sich auf dem Absatz herum und entfloh zu ihren eingemachten Früchten.



Saval trat auf die Straße. Er war niedergeschmettert, als sei ihm ein Unglück widerfahren.

Er lief mit langen Schritten im Regen immer geradeaus zum Fluss hinab, ohne zu wissen, was er tat. Als er am Ufer ankam, wandte er sich rechts und rannte weiter, lange, lange Zeit, als ob ihn sein Instinkt triebe.

Seine Kleidung triefte von Wasser, sein Hut hatte ganz die Form verloren und war weich geworden wie ein Lappen. Das Wasser rann an ihm wie aus einer Dachrinne herab.

Er ging immer weiter, immer weiter, gerade aus, und da fand er den Platz wieder, wo sie einst in vergangenen Tagen gefrühstückt hatten und dessen Anblick ihm ins Herz schnitt.

Da setzte er sich unter die kahlen Bäume und weinte bitterlich.

 

 

 

 

 

Die Taufe (Le baptème)

 

Vor der Tür des Bauernhofes warteten die Männer im Sonntagsstaat. Die Maisonne bestrahlte hell die blühenden Apfelbäume, deren duftendes Rund wie ein großes, weiß-rosa Blumendach den ganzen Hof beschattete. Immerfort streuten sie einen Schnee von Blüten umher, der sich flatternd in das hohe Gras senkte, wo der Löwenzahn flammend blühte und blutrot der Mohn.



Auf dem Mist schlummerte ein Mutterschwein mit mächtigem Leib und dicken Zitzen, während sich eine Anzahl kleiner Ferkel mit ihren wie ein Strick zusammengerollten Schwänzchen darum herumtrieb.

Plötzlich fing hinter den Bäumen, die die Höfe umstanden, die Kirchenglocke an zu läuten. Ihre eherne Stimme tönte leise von weit her zum lachenden Himmel empor. Schwalben schossen pfeilschnell durch den blauen Raum zwischen den großen, regungslos zum Himmel ragenden Buchen. Ab und zu mischte sich Stallgeruch mit dem süßen, linden Duft der Apfelblüten.



Einer der Männer, die vor der Tür standen, drehte sich zum Haus um und rief: »Na, Melina, nu mach mal schnell, es bimmelt schon.«

Der große Bauer, dem die Feldarbeit noch nicht den Rücken gebogen hatte, mochte dreißig Jahre zählen. Ein alter Mann, sein Vater, knorrig wie ein Eichenstamm, mit dicken Handgelenken und krummen Beinen, meinte: »Das Weibszeug ist nie fertig.«

Die beiden anderen Söhne des Alten fingen an zu lachen, und der eine sagte, indem er sich zum ältesten Bruder wandte, der vorhin gerufen hatte: »Geh se nur lieber hole, Polyte, sunst kumme se vor Mittag nit runter.«



Der junge Mann trat in sein Haus. Ein Entenschwarm neben den Bauern fuhr schnatternd, mit den Flügeln schlagend, auseinander, dann watschelten die Tiere mit ihrem langsamen, wackelnden Gang dem Teich zu.

In der offen gebliebenen Tür erschien eine dicke Frau mit einem Kind von acht Wochen auf dem Arm. Die weißen Bänder ihrer hohen Haube hingen hinten herab auf ihr feurig-rotes Schultertuch. Das Kind ruhte in weißes Linnen gehüllt auf dem Arm der Wärterin.



Nun trat die Mutter heraus, von ihrem Mann geführt. Frisch, strahlend, kaum achtzehn Jahre alt. Ihnen folgten die beiden Großmütter, welk wie alte Äpfel, müde und verbraucht von langer, schwerer Arbeit. Die eine war Witwe. Sie nahm den Arm des Großvaters, der vor der Tür stehen geblieben war, und sie setzten sich hinter dem Kind und der Hebamme an die Spitze des Zuges. Die übrigen Familienglieder folgten. Die jüngsten trugen Tüten mit allerlei Süßigkeiten.



Von drüben klang unausgesetzt die kleine Glocke, die so laut sie konnte das zarte Kindchen rief. Dorfjungen reihten sich längs des Weges auf, an den Zäunen und Hecken erschienen Leute, Mägde blieben zwischen ihren beiden Milcheimern stehen, die sie an den Boden gesetzt hatten, um dem Taufzug zuzuschauen.



Die Wärterin trug stolz ihre lebende Last und ging im Hohlweg zwischen den baumbepflanzten Böschungen vorsichtig den Pfützen aus dem Weg. Feierlich schritten die Alten hinterdrein, ein wenig unordentlich.

Dann kamen fröhlich die jungen Leute, als ob sie Lust hätten zu tanzen, und blickten die Mädchen an, die ihnen nachschauten. Vater und Mutter schritten feierlicher und ernster dahin, dem Kind nach, das einst ihre Stelle einnehmen sollte, später im Leben, und das dereinst bestimmt war, ihren Namen, den Namen Dentu, der weit und breit bekannt war in der Gegend, fortzupflanzen.



Sie kamen ins Freie und wählten den Weg durch die Felder, um den langen Umweg über die Chaussee zu vermeiden.

Jetzt sah man die Kirche mit ihrem spitzen Turm. Gerade unter dem Schieferdach waren die Schalllöcher und darin bewegte sich etwas schnell hin und her von einer Seite des schmalen Fensters zur anderen. Es war die Glocke, die noch immer läutete, die den Neugeborenen einlud, zum ersten Mal das Gotteshaus zu betreten.

Hinter dem Zug her lief ein Hund. Man warf ihm Süßigkeiten zu und er sprang lustig um die Leute.



Die Kirchentür stand offen. Am Altar wartete der Priester, ein großer, hagerer, kräftiger, rothaariger Mann, auch ein Dentu, ein Onkel des Kindes, ein weiterer Bruder des Vaters.

Er gab seinem Neffen in der heiligen Taufe den Namen Prosper-Césaire. Als das Wasser die Stirn des Kleinen netzte, fing er an zu weinen.

Nach beendigter Handlung wartete die Familie, bis der Pfarrer sein Chorhemd abgelegt hatte. Dann setzte man sich wieder in Bewegung. Nun ging es schneller, im Gedanken an das Essen.

Ein großer Schwarm Kinder folgte und jedes Mal, wenn man ihnen eine Hand voll Zuckersachen zuwarf, entstand ein fürchterliches Gedränge mit Prügeln und Haarausreißen, und auch der Hund mischte sich darein, um etwas von den guten Dingen zu erwischen, eifriger noch als die Bengels, obwohl sie ihn bei Schwanz und Pfoten packten, um ihn zurückzuhalten.



Die Wärterin war ein wenig müde und sagte zum Pfarrer, der neben ihr herging: »Wissen Se was, Monsieur l'Curé, wenn Sie's nischt ausmacht, dann möchten Se mal Ihren Neffen aach 'n klein Bissel nehme, dass ich wieder gelenkig werd. Mir is' es so, wie 'n Krampf im Magen.«

Der Pfarrer nahm das Kind, dessen weißes Kleid sich auf seinem schwarzen Priesterrock als großer, leuchtender Fleck abzeichnete. Und da er nicht wusste, wie er die leichte Last eigentlich tragen und anfassen sollte, küsste er das Kind in halber Verlegenheit.



Alle fingen an zu lachen und eine der Großmütter fragte von Weitem: »Nu sag mal, Monsieur l'Curé, tut Dir'sch denn nit leid, dass De nie so 'n Wurm haben kannst?«



Der Pfarrer antwortete nicht. Er ging mit großen Schritten dahin, seine Augen auf die blauen Augen des Kindes geheftet und die Lust kam ihn an, noch einmal die runden Bäckchen zu küssen. Er widerstand nicht mehr, hob es zu sich empor und gab ihm einen langen Kuss.



Der Vater rief: »Na, Bruder, wenn De eins willscht, brauchst De's nur zu sage.«



Nun fing man an, Späße zu machen, wie es Landleute so tun. Sobald man bei Tisch saß, brach die grobe, ländliche Heiterkeit los wie ein Ungewitter. Die beiden anderen Söhne standen auch im Begriff, sich zu verheiraten. Ihre Bräute waren ausdrücklich nur für die Mahlzeit gekommen.

Die Gäste spielten fortwährend auf den Familienzuwachs an, den diese beiden neuen Ehen versprachen.



Es fielen derbe gepfefferte Worte, dass die Mädchen rot wurden und kicherten, und die Männer sich wanden vor Lachen. Sie schlugen mit der Faust auf den Tisch und brüllten dazu. Vater und Großvater waren unerschöpflich in zweideutigen Späßen. Die Mutter lächelte. Die Alten nahmen auch teil an der allgemeinen Freude und blieben derbe Redensarten nicht schuldig.



Der Pfarrer, der solche Bauernfestlichkeiten kannte, sagte kein Wort. Er saß neben der Wärterin und kitzelte den kleinen Neffen mit den Fingerspitzen, um ihn zum Lachen zu bringen. Der Anblick dieses gebrechlichen, winzigen Wesens, das der Sohn seines Bruders war, schien ihn Wunder zu nehmen, als hätte er noch nie ein Kind gesehen.

Er sah es nachdenklich an, mit träumerischem Ernst, mit einer Zärtlichkeit, die ihm im Herzen aufgestiegen war, einer ihm sonst unbekannten wundersamen Zärtlichkeit, die ihn ein wenig traurig stimmte.

Er hörte nichts, er sah nichts. Er betrachtete das Kind. Er hatte wieder Lust, es auf seine Knie zu nehmen, denn noch immer empfand er das süße Gefühl von vorhin in seinem Herzen, als er das Kind beim Rückweg von der Kirche getragen hatte.

Dieses kleine Menschengesicht bewegte ihn wie ein unsagbares Wunder, an das er noch nie gedacht hatte, ein heilig erhabenes Wunder: die Fleischwerdung einer neuen Seele, das große Mysterium des beginnenden Lebens, der erwachenden Liebe, des sich fortpflanzenden Blutes, der Menschheit, die ihren Schritt weiter geht.



Die Wärterin aß mit rotem Gesicht und leuchtenden Augen. Das Kind störte sie, weil es ihr Platz nahm am Tisch. Da sagte der Pfarrer zu ihr: »Geben Sie es mir, ich habe keinen Hunger.«



Er nahm das Kind wieder auf seinen Schoß. Da versank alles um ihn herum, alles verschwand, er hielt die Augen auf dieses rosige, runde Gesichtchen geheftet und allmählich drang die Wärme des kleinen Körpers durch die Windeln und durch das Tuch seines Priesterrockes, wärmte ihm die Knie und durchrieselte ihn wie eine leise, süße, keusche Liebkosung, wie etwas Köstliches, dass seine Augen feucht wurden.

Der Lärm der Tafelnden wurde immer stärker. Das Getöse störte das kleine Kind und es fing an zu weinen.



Da rief eine Stimme: »Hör' mal, Monsieur l'Curé, gib ihm doch zu trinken!«



Eine Lachsalve durchbrauste den Raum. Die Mutter stand auf, nahm ihren Sohn und trug ihn ins Nebenzimmer. Nach einigen Minuten kam sie zurück und erklärte, dass er ruhig in seiner Wiege schliefe.

Die Mahlzeit ging weiter. Männer und Frauen begaben sich ab und zu auf den Hof, kamen dann zurück und setzten sich wieder an den Tisch. Fleisch, Gemüse, Apfelwein und Wein wurden verschlungen, füllten die Bäuche, ließen die Augen leuchten und setzten die Köpfe in Brand.



Als es dunkel wurde, trank man Kaffee. Der Pfarrer war seit längerer Zeit verschwunden, ohne dass man seine Abwesenheit bemerkte.

Endlich stand die junge Mutter auf, um nachzusehen, ob der Kleine noch immer schliefe. Jetzt war es dunkel geworden. Sie tastete sich in das Zimmer hinein mit vorgestreckten Armen, um an kein Möbel zu stoßen.

Aber ein eigentümliches Geräusch ließ sie plötzlich stehen bleiben, und sie wich ganz erschrocken zurück – irgendjemand hatte sich bewegt, das wusste sie bestimmt. Bleich und zitternd kehrte sie in das große Zimmer zurück und erzählte die Geschichte. Da standen die Männer lärmend und in ihrer Trunkenheit ein bedrohliches Wesen annehmend, auf, und der Vater ging, eine Lampe in der Hand, voraus.

Der Pfarrer kniete an der Wiege, die Stirn auf das Kissen gepresst, wo der Kopf des Kindes ruhte, und schluchzte laut.

 

 

 

 

 

Ein Staatsstreich (Un coup d'état)

 

In Paris war eben der Fall von Sedan bekannt geworden. Die Republik war proklamiert, und jener Wahnsinn brach aus, unter dem ganz Frankreich bis über die Tage der Kommune hinaus stöhnen sollte. Im ganzen Land spielte man Soldat.

Ehrsame Strumpfwirker wurden Oberste und taten Generalsdienste. Revolver und Dolch steckten im roten Gürtel über dicken Philisterbäuchen. Kleine Bürger waren plötzlich Krieger geworden, kommandierten Bataillone freiwilliger Schreier und fluchten wie Fuhrleute, um sich ein Ansehen zu geben.



Die Tatsache allein, eine Waffe zu besitzen und mit einem Gewehr umgehen zu können, machte diese Leute, die sich bis dahin um nichts gesorgt hatten als um ihre Bilanzen, ganz verrückt und gab ihnen ohne jeglichen Grund ein fürchterliches Aussehen für jeden, der sie erblickte.

Unschuldige wurden verurteilt, um zu beweisen, dass man töten könne.

Man lief durch die Gegenden, wo sich noch kein Preuße gezeigt hatte, schoss die Hunde nieder, die friedlich weidenden Kühe und kranke Pferde, die auf der Weide grasten.

Jeder meinte sich in diesen Tagen zu großer militärischer Laufbahn bestimmt. Die Wirtshäuser der kleinsten Dörfer, die von allerlei uniformierten Geschäftsleuten wimmelten, hatten das Aussehen von Kasernen oder Lazaretten bekommen.



Der Ort Canneville hatte noch keine Nachrichten von der Armee und aus der Hauptstadt erhalten. Seit einem Monat herrschte jedoch große Aufregung und zwei feindliche Parteien standen einander gegenüber.

Der Bürgermeister Vicomte de Varnetot, ein kleiner magerer, älterer Herr, der, bisher Legitimist, sich erst seit Kurzem aus Ehrgeiz dem Kaiserreich wieder angeschlossen hatte, hatte plötzlich einen entschiedenen Gegner bekommen in der Person des Doktor Massarel, eines dicken sanguinischen Mannes, der das Oberhaupt der republikanischen Partei im Arrondissement war.

Dazu war er Meister vom Stuhl der Freimauer-Loge des Hauptortes, Präsident der landwirtschaftlichen Gesellschaft und der freiwilligen Feuerwehr. Dazu Organisator der Landmiliz, die das Vaterland retten sollte.

Im Laufe von vierzehn Tagen war es ihm gelungen, dreiundsechzig Freiwillige für die Verteidigung des Vaterlandes zu gewinnen. Es waren alles verheiratete Leute und Familienväter, verständige Bauern und Kaufleute aus dem Ort. Jeden Morgen exerzierte er sie auf dem Platz vor dem Rathaus.



Wenn der Bürgermeister sich zufällig dem Rathaus näherte, ließ Colonel Massarel, der ganz bespickt war mit Pistolen und stolz, den Säbel in der Faust, vor der Front seiner Truppe stand, seine Soldaten brüllen: »Es lebe das Vaterland!«

Man hatte bemerkt, dass dieser Ruf den kleinen Vicomte ärgerte. Er sah darin ohne Zweifel eine Drohung, eine Herausforderung und zu gleicher Zeit eine hassenswerte Erinnerung an die große Revolution.



Am Morgen des fünften September hielt der Doktor in Uniform, den Revolver auf dem Tisch, seine Sprechstunde ab.

Ein altes Bauernpaar war gerade zur Konsultation erschienen. Der Mann litt seit sieben Jahren an Krampfadern und hatte solange gezögert einen Arzt zu befragen, bis seine Frau auch welche bekommen hatte. Da brachte der Briefträger die Zeitung.

Monsieur Massarel öffnete sie, erbleichte, richtete sich plötzlich auf und hob in überspannter Weise die Arme gen Himmel, während er die beiden Landleute mit lauter Stimme anbrüllte: »Es lebe die Republik! Es lebe die Republik! Es lebe die Republik!«

Dann fiel er in seinen Stuhl zurück, ganz schwach vor Bewegung. Und als der alte Bauer fortfuhr: ›Es fing an mit Ameisenlaufen sozusagen die Beine runter!‹, rief Doktor Massarel: »Lassen Sie mich in Frieden, ich habe keine Zeit mich um Ihre Dummheiten zu kümmern. Die Republik ist proklamiert. Der Kaiser ist gefangen, Frankreich ist gerettet! Es lebe die Republik!«



Dann lief er zur Tür und schrie: »Céléstine, schnell, Céléstine!«



Das Mädchen kam mit entsetztem Ausdruck gerannt, und er stotterte, so rasend schnell sprach er: »Meine Stiefel, meinen Säbel, meine Patronentasche und den spanischen Dolch, der auf dem Nachttisch liegt, aber schnell!«



Der dickköpfige Bauer benutzte den Augenblick des Schweigens und fuhr fort: »Dann ist's ganz dick geworden, wie 'n paar Taschen, die mir beim Gehen weh tun!«

Verzweifelt heulte der Arzt: »Himmel Sakrament! Lassen Sie mich doch zufrieden! Wenn Sie sich die Füße gewaschen hätten, wär 's nicht vorgekommen.«

Dann packte er ihn beim Kragen und schrie ihn an: »Weißt Du nicht, dass wir jetzt in der Republik leben, Du dreifacher Hornochse?«



Der Gedanke an die Würde seines Berufes brachte ihn indessen wieder zur Ruhe, und er drängte das bestürzte Ehepaar zur Tür hinaus, während er wiederholte: »Kommt morgen wieder, gute Leute. Heute habe ich keine Zeit.«



Während er sich bis an die Zähne bewaffnete, gab er dem Mädchen wiederum eine Reihe von dringenden Aufträgen.

»Lauf mal schnell zu Lieutenant Picart und zu Seconde-Lieutenant Paumelle und sag ihnen, dass ich sie sofort hier erwarte. Dann schick mir mal gleich Torchebeuf her mit seiner Trommel, aber schnell, schnell!«

Als Céléstine hinausgegangen war, sammelte er sich ein wenig und bereitete sich vor, die Schwierigkeiten der Lage zu überwinden.

Die drei Leute trafen zusammen ein in ihren Arbeitsröcken. Der Colonel, der darauf gerechnet hatte, sie in Uniform zu sehen, bekam einen furchtbaren Schrecken: »Sakrament, wisst ihr denn noch nichts? Der Kaiser ist gefangen! Die Republik ist proklamiert. Jetzt heißt's handeln. Meine Stellung ist schwierig, ich kann sogar sagen gefährlich.«



Seine Untergebenen machten ganz erschrockene Gesichter. Er dachte einen Augenblick nach. Dann begann er von Neuem: »Jetzt heißt es handeln und nicht zögern. Minuten bedeuten in solchen Augenblicken Stunden. Alles hängt von der Schnelligkeit des Entschlusses ab. Sie, Picart, gehen sofort zu Monsieur le Curé und fordern ihn auf, die Sturmglocke läuten zu lassen, damit der ganze Ort zusammenströmt.«

Er schnaufte durch.

»Sie, Torchebeuf, schlagen Generalmarsch in der ganzen Gemeinde bis draußen zu den Höfen von Gerisaie und Salmare, damit die Miliz auf dem Markt unter Waffen tritt. Sie, Paumelle, ziehen sofort Ihre Uniform an, nur Rock und Käppi und wir werden zusammen das Rathaus besetzen und Monsieur de Varnetot zwingen, mir die Zügel der Regierung zu überlassen! Verstanden?«

»Ja.«

»Also, nun los und schnell. Paumelle, ich begleite Sie bis nach Hause, weil wir zusammen handeln müssen.«



Fünf Minuten später erschienen der Colonel und sein Untergebener, bis an die Zähne bewaffnet, auf dem Markt - gerade in dem Augenblick, als der kleine Vicomte de Varnetot mit eiligen Schritten von der anderen Seite der Straße kam. Er trug Jagdgamaschen und das Gewehr über der Schulter. Drei Jäger in grünen Anzügen, den Hirschfänger an der Seite, das Gewehr geschultert, folgten ihm.

Während Doktor Massarel ganz erstaunt stehen blieb, drangen die vier Männer in das Rathaus, dessen Tür sich hinter ihnen schloss.



»Sie sind uns zuvorgekommen«, murmelte der Arzt. »Jetzt müssen wir auf Verstärkung warten. Für den Augenblick ist nichts zu machen.«

Lieutenant Picart erschien und meldete: »Der Pfarrer hat sich geweigert, zu gehorchen. Er hat sich sogar mit dem Kirchendiener und dem Schweizer in die Kirche eingeschlossen.«



Auf der anderen Seite des Platzes, dem weiß getünchten Rathaus gegenüber lag die Kirche stumm und schwarz mit ihrem riesigen eisenbeschlagenen Eichentor.

Als nun die Einwohner neugierig den Kopf zum Fenster hinaussteckten oder auf der Schwelle ihrer Häuser erschienen, klang plötzlich ein Trommelwirbel und Torchebeuf kam daher, wie verrückt die drei Wirbel des Generalmarsches schlagend. Im Laufschritt lief er über den Platz und verschwand im Feldweg.



Der Colonel zog seinen Säbel und trat allein vor, etwa in die Mitte zwischen die beiden Gebäude, in denen sich der Feind verbarrikadiert hatte. Dann schwang er seine Waffe über dem Kopf und brüllte mit aller Kraft seiner Lungen: »Es lebe die Republik! Tod allen Verrätern!«

Darauf zog er sich zu seinen Offizieren zurück.



Der Fleischer, der Bäcker und der Apotheker schlossen ängstlich ihre Fensterläden. Nur der Materialwarenhändler behielt offen. Währenddessen kam allmählich die Miliz an. Die Leute waren ganz verschieden angezogen, nur trugen alle ein schwarzes Käppi mit rotem Streifen. Darin bestand die ganze Uniform des Corps.

Bewaffnet waren sie mit ihren alten verrosteten Gewehren, die seit dreißig Jahren in der Küche über dem Herd gehangen hatten. Eigentlich machten sie den Eindruck einer Abteilung Feldhüter.

Als der Colonel einige dreißig Leute um sich sah, setzte er sie mit ein paar Worten aufs Laufende. Dann wandte er sich zu seinem Stab und sagte: »Nun heißt's handeln.«



Die Einwohner strömten zusammen und sahen sich neugierig um. Der Arzt hatte schnell seinen Feldzugsplan entworfen: »Lieutenant Picart, Sie werden jetzt ans Rathaus herangehen und Monsieur de Varnetot auffordern, mir das Rathaus im Namen der Republik zu übergeben.«

Aber der Lieutenant, ein Maurermeister, weigerte sich: »Das glaub ich. Sie sind schlau. Damit sie mich anschießen! Wissen Sie, die da drin, die schießen famos. Machen Sie lieber die Geschichte selbst.«

Der Colonel wurde rot: »Ich befehle es Ihnen, hinzugehen, im Namen der Disziplin.«

Der Lieutenant verweigerte weiterhin den Gehorsam: »Warum soll ich mich denn totschießen lassen, ich wüsste gar nicht warum.«



Die Honoratioren, die ein Stück davon eine Gruppe gebildet hatten, fingen an zu lachen und einer rief: »Picart, Du hast ganz recht. Das brauchst Du nicht!«

»Memmen!«, brummte Massarel.



Er übergab einem seiner Soldaten Säbel und Revolver und ging langsam vor, die Augen auf die Fenster geheftet. Jeden Augenblick erwartete er, einen Lauf auf sich gerichtet zu sehen.

Als er noch einige Schritte von dem Gebäude entfernt war, öffneten sich rechts und links die Flügeltüren der Schule. Ein ganzer Schwarm Kinder, auf der einen Seite Jungen, auf der anderen Mädchen, strömte heraus und fing an, auf dem großen leeren Platz zu spielen und sich, kreischend wie eine Gänseherde, um den Doktor, der sich nun nicht mehr verständlich machen konnte, herumzujagen.



Sobald die letzten Schulkinder herausgekommen waren, schlossen sich hinter ihnen die beiden Türen. Endlich verlief sich die Kinderschar und der Colonel rief mit lauter Stimme: »Monsieur de Varnetot!«



Im ersten Stock öffnete sich ein Fenster. De Varnetot erschien. Der Colonel fuhr fort: »Monsieur, Sie kennen die großen Ereignisse, welche die Physiognomie der Regierung verändert haben.

Die Regierung, die Sie vertraten, existiert nicht mehr. Diejenige, die ich vertrete, hat von der Macht Besitz ergriffen.

Unter diesen, vielleicht schmerzhaften, aber zweifellos bestehenden Umständen fordere ich Sie im Namen der neuen Republik auf, Amt und Würden, die Ihnen von den bisherigen Machthabern übertragen wurden, in meine Hände zu legen.«



Monsieur de Varnetot antwortete:»Monsieur l'Docteur, ich bin der Bürgermeister von Canneville, von der gesetzmäßigen öffentlichen Behörde ernannt, und ich werde Bürgermeister von Canneville solange bleiben, bis ich abberufen oder durch einen Befehl meiner Vorgesetzten ersetzt werde. In diesem Ort bin ich Bürgermeister und im Rathaus bin ich bei mir zu Haus und hier bleibe ich! Sie können ja versuchen, mich herauszuwerfen.«

Er schloss das Fenster.



Der Colonel ging zu seinen Leuten zurück. Ehe er sprach, sah er Lieutenant Picart von oben bis unten verächtlich an: »Sie alter Renommist! Sie Hasenfuß! Sie sind die Schmach der Armee. Ich degradiere Sie hiermit.«

Der Lieutenant antwortete: »Das ist mir ganz wurscht!«, und verschwand in der murmelnden Menge.



Doktor Massarel zögerte ein wenig. Was tun? Angreifen? Aber würden seine Leute auch vorwärts gehen? Und dann, hatte er denn das Recht dazu?

Er verfiel auf eine Idee. Er lief zum Telegraphenamt, gerade gegenüber vom Rathaus, auf der anderen Seite des Platzes und sandte drei Depeschen ab:

- An die Mitglieder der republikanischen Regierung zu Paris.

- An den neuen republikanischen Präfekten des unteren Seine-Departements in Rouen.

- An den neuen republikanischen Unterpräfekten in Dieppe.



Er setzte die Lage auseinander, sprach von der Gefahr, in der die Gemeinde schwebte, dadurch, dass sie in den Händen des ehemaligen monarchistischen Bürgermeisters blieb, bot seine ergebenen Dienste an, bat um Befehle und unterschrieb, indem er hinter seinen Namen alle seine Titel setzte.



Dann stieß er wieder zu seiner Armee und zog zehn Francs mit den Worten aus der Tasche: »Hier, liebe Freunde, geht essen und trinken. Nur eine Abteilung von zehn Mann bleibt hier als Wache, damit niemand das Rathaus verlässt.«

Ex-Lieutenant Picart, der mit dem Uhrmacher schwatzte, hatte es gehört, lachte laut auf und sagte: »Bei Gott, wenn sie herausgingen, da gäb's doch gerade Gelegenheit, hereinzukommen, sonst seh' ich euch noch nicht drin.«



Doktor Massarel antwortete nicht und ging frühstücken.



Nachmittags stellte er Posten aus, um den ganzen Ort herum, als ob ein Überfall in Aussicht stünde. Er ging mehrmals am Rathaus und an der Kirche vorüber, ohne etwas Verdächtiges zu bemerken. Die beiden Gebäude lagen stumm da, als wären sie unbewohnt.

Der Fleischer, der Bäcker und der Apotheker öffneten wieder ihre Läden. Man schwatzte überall: wenn der Kaiser gefangen war, so war sicher irgendein Verrat daran schuld. Man wusste nicht genau welche der Republiken eigentlich jetzt wieder gekommen sei.



Die Nacht brach herein.



Gegen neun Uhr näherte sich der Arzt ganz allein ohne Lärm dem Eingang des Rathauses.

Er war fest überzeugt, dass sein Gegner nach Hause gegangen war, um zu schlafen.

Als er sich gerade daran machte, das Tor mit ein paar Axthieben einzuschlagen, rief eine laute Stimme: »Wer da?!«

Monsieur Massarel riss aus, was er konnte.



Der Tag brach an ohne irgendeine Änderung in der Lage. Die Miliz stand noch immer auf dem Platz unter Waffen. Alle Einwohner hatten sich um die Truppe zusammengefunden, die Entscheidung erwartend. Die Leute aus den Nachbarorten waren auch gekommen und standen da und gafften.



Da begriff Massarel, dass es sich jetzt um Ehre und Reputation handelte und beschloss der Geschichte auf diese oder jene Art ein Ende zu machen.

Er musste irgendeinen Entschluss fassen und zwar einen energischen. Da ging die Tür des Telegraphenamtes auf und das kleine Mädchen der Telegraphistin erschien, zwei Depeschen in der Hand.



Zuerst ging sie auf den Colonel zu und übergab ihm eins der Telegramme. Dann schritt sie mitten über den verödeten Platz, ganz verlegen, weil alle Leute sie anguckten, mit gesenktem Kopf dahintrippelnd und klopfte leise an dem verbarrikadierten Haus, als ob sie gar nicht gewusst hätte, dass dort eine bewaffnete Macht versteckt sei.

Die Tür öffnete sich ein wenig und eine Männerhand nahm das Telegramm in Empfang.



Das Mädchen kehrte zurück, rot, nahe am Weinen, weil alle Welt sie so ansah.



Der Doktor rief mit zitternder Stimme: »Ich bitte um Ruhe!«

Als alles schwieg, begann er stolz: »Ich habe eben die Antwort der Regierung bekommen!«

Dann nahm er das Telegramm in die Hand und las vor:

»Bisheriger Bürgermeister abgesetzt. Erledigen Sie das notwendigste. Weitere Nachrichten folgen.

Für den Unterpräfekten: Sapin, Regierungsrat.«



Er triumphierte. Hoch schlug vor Freude sein Herz. Seine Hände zitterten. Aus der Menge rief ihm sein einstiger Untergebener Picart zu: »Das ist alles ganz gut. Aber wenn die da drüben nicht 'rausgehen? Da wird Ihnen Ihr Papier viel nützen!«



Monsieur Massarel erbleichte. In der Tat, wenn die anderen nicht freiwillig gingen, musste er nun angreifen. Das war nicht nur sein Recht, sondern sogar seine Pflicht.

Er sah ängstlich zum Rathaus hinüber in der Hoffnung die Tür würde sich endlich öffnen und sein Gegner sich zurückziehen.

Aber die Tür blieb geschlossen. Was tun? Die Menge wuchs und drängte sich um die Miliz. Man lachte.



Eine Überlegung vor allen beunruhigte den Arzt. Wenn er den Befehl zum Sturm gab, musste er an der Spitze seiner Leute vorgehen. Und da mit seinem Tod alle weiteren Widerreden aufhörten, so war es ganz sicher, dass Monsieur de Varnetot und seine drei Leute nur auf ihn zielen würden! Und sie schossen gut, sehr gut. Picart hatte es eben nochmal gesagt.



Ihm kam eine Erleuchtung. Er wandte sich zu Paumelle: »Gehen Sie schnell zum Apotheker und bitten Sie ihn, mir einen Stock und ein Handtuch zu leihen.«

Der Lieutenant lief davon.

Er wollte eine Parlamentärflagge, eine weiße Flagge hissen, deren Anblick vielleicht dem legitimistischen Herzen des bisherigen Bürgermeisters wohltun würde.



Paumelle kam mit dem gewünschten Handtuch zurück und mit einem Besenstiel. Mit einem Endchen Bindfaden wurde die Fahne hergestellt, und Massarel nahm sie in beide Hände. Er ging von Neuem gegen das Rathaus vor, indem er sie hoch hielt. Als er vor der Tür stand, rief er wiederum: »Monsieur de Varnetot.«



Die Tür ging plötzlich auf und Monsieur de Varnetot erschien mit seinen drei Leuten auf der Schwelle.

Unwillkürlich wich Massarel zurück, dann grüßte er höflich seinen Feind und sagte, während ihm vor Erregung beinahe die Stimme versagte: »Monsieur, ich komme, um Ihnen die Befehle mitzuteilen, die ich erhalten habe.«

Der Edelmann antwortete, ohne seinen Gruß zu erwidern: »Ich ziehe mich zurück. Aber dass Sie es nur wissen, weder aus Furcht noch um der hassenswerten Regierung, die sich die Gewalt anmaßt, zu gehorchen.«

Dann erklärte er, jedes Wort betonend: »Ich will nicht, dass man sagt, ich hätte einen einzigen Tag unter der Republik gedient. Das ist mein Grund.«



Massarel war erschrocken und antwortete nicht. Monsieur de Varnetot ging eilig davon und verschwand um die Ecke, seine drei Leute hinter ihm.

Nun warf sich der Doktor stolz in die Brust, und ging auf die Zuschauer zu. Sobald er nahe genug stand, dass man ihn verstehen konnte, rief er: »Hurrah! Hurrah! Die Republik siegt auf der ganzen Linie!«



Kein Mensch rührte sich. Der Arzt begann von Neuem: »Das Volk ist frei! Ihr seid frei, unabhängig! Seid stolz darauf!«



Die trägen Dorfleute blickten ihn an, ohne dass irgendein Stolz aus ihren Augen geleuchtet hätte.

Er sah sie seinerseits an, empört über ihre Gleichgültigkeit. Er suchte nach Worten, nach irgendetwas ganz Besonderem, um die stumpfsinnige Menge aufzurütteln und seine Erlöser-Sendung zu erfüllen. Ein Gedanke kam ihm.

Er wandte sich wieder an Paumelle: »Lieutenant, holen Sie die Büste des Exkaisers, die im Sitzungssaal aufgestellt ist und bringen Sie einen Stuhl mit.«



Bald erschien der Mann wieder und trug auf der rechten Schulter den Napoleon aus Gips, in der linken Hand einen Rohrstuhl.

Massarel ging ihm entgegen, nahm den Stuhl, stellte ihn hin und setzte die weiße Figur darauf. Dann trat er ein paar Schritte zurück und hielt ihr mit laut schallender Stimme eine Rede:

»Tyrann! Tyrann! Du bist gestürzt! In den Schmutz gestürzt, in den Schlamm! Das sterbende Vaterland röchelt unter Deinem Fuß. Die Nemesis hat Dich getroffen.

Niederlagen und Schmach haben sich an Deine Fersen geheftet! Du fällst als Besiegter, als Gefangener der Preußen!

Und auf den Ruinen Deines zusammenstürzenden Reiches erhebt sich die junge strahlende Republik und nimmt Dein zerbrochenes Schwert wieder auf.«



Er erwartete, dass man Beifall klatschen sollte. Kein Ruf ertönte, keine Hand rührte sich. Die erstaunten Bauern schwiegen.

Und die Büste mit dem spitzen Schnurrbart, der auf beiden Seiten herausstand, die unbewegliche Büste, wohlgekämmt wie der Wachskopf in einem Friseurschaufenster, schien Monsieur Massarel mit einem spöttischen Zug anzulachen.

So blieben sie einander gegenüber stehen, Napoleon auf seinem Stuhl, der Arzt drei Schritte von ihm. Eine fürchterliche Wut packte den Colonel. Aber was sollte er tun, um die Menge in Feuer zu bringen und endgültig für sich zu gewinnen?



Zufällig streifte seine Hand seinen Leib und er fühlte unter dem roten Gürtel den Kolben seines Revolvers.

Und da er keine andere Lösung mehr fand, zog er die Waffe, ging zwei Schritte vor und schoss den ehemaligen Monarchen nieder.

Die Kugel bohrte ein kleines schwarzes Loch in der Stirn, nur wie ein Fleck, beinahe nicht zu sehen. Der Effekt war ausgeblieben.

Monsieur Massarel schoss ein zweites Mal und machte wieder ein Loch. Dann ein drittes Mal und schließlich gab er die drei letzten Schüsse hintereinander ab.

Die Stirn Napoleons ging in Scherben, aber die Augen, die Nase und die Schnurrbartspitzen blieben unversehrt.



Das brachte den Doktor in Verzweiflung und mit einem Stoß warf er den Stuhl um. Dann stellte er den Fuß auf die Überreste der Büste, und drehte sich in einer Art Triumphatorstellung zu dem bestürzten Publikum um und rief: »So mögen alle Verräter untergehen!«



Da sich noch immer keine Begeisterung zeigen wollte und die Zuschauer vor lauter Staunen ganz dumm geworden zu sein schienen, rief Massarel den Mannschaften der Miliz zu: »Ihr könnt jetzt nach Hause gehen.«



Er selbst lief mit großen Schritten seinem Haus zu, als ob er ausrisse.

Als er zu Hause ankam, teilte ihm sein Mädchen mit, dass ein paar Kranke seit drei Stunden im Sprechzimmer warteten. Er ging hinein. Es waren die beiden Bauern mit den Krampfadern, die bei Morgengrauen als hartnäckige Patienten wiedergekommen waren.

Und der Alte fing sofort wieder an zu erklären: »Es fing an mit Ameisenlaufen, sozusagen die Beine runter...«

 

 

 

 

 

Hoch zu Ross (À cheval)

 

Kümmerlich lebten die armen Leute vom Gehalt des Mannes. Seitdem sie geheiratet hatten, waren zwei Kinder geboren, durch die die anfängliche Knappheit zur verschämten Armut geworden war, wie sie beim herabgekommenen Adel herrscht, der dennoch seinen Rang behaupten will.



Hector de Gribelin war in der Provinz, auf dem väterlichen Besitz, durch einen alten Abbé erzogen worden. Reichtum gab es nicht, aber man schlug sich so durch und wahrte den Schein.



Als er zwanzig Jahre wurde, suchte man eine Stelle für ihn und er trat mit fünfzehnhundert Francs Jahresgehalt als Beamter ins Marineministerium ein.

An dieser Klippe scheiterte er, wie alle, die nicht bei Zeiten auf den Kampf ums Dasein gerüstet sind. Wie alle, die das Leben durch eine Wolke sehen, die Mittel und Wege zum Widerstand nicht kennen, bei denen nicht von Jugend auf besondere Eignung, besondere Fähigkeiten, eine raue Kraft zum Kampf entwickelt wurde, wie alle, denen man nicht Waffe oder Werkzeug in die Hand gedrückt hat.

Seine drei ersten Bürojahre waren furchtbar.



Er hatte einige Freunde seiner Familie gefunden. Es waren alte und altväterische Leute, gleichfalls wenig bemittelt, die in den vornehmen, traurigen Straßen des Faubourg Saint-Germain wohnten. Er hatte sich einen Bekanntenkreis gebildet.



Dem modernen Leben fremd geworden, einfach und stolz, bewohnten diese dürftigen Aristokraten die hohen Stockwerke verschlafener Häuser. Adel wohnte dort von oben bis unten, aber das Geld schien selten zu sein, im ersten wie im sechsten Stock.

Ewige Vorurteile, Rangerwägungen, die Sorge sich über Wasser zu halten, beschäftigte diese einst glänzenden Familien, die durch die Untätigkeit der Männer heruntergekommen waren.

Hector de Gribelin lernte in diesen Kreisen ein junges Mädchen kennen, adlig und arm wie er. Die heiratete er.



In vier Jahren hatten sie zwei Kinder. Noch vier Jahre hindurch kannte die Familie, vom Elend in Bann gehalten, keine andere Zerstreuung, als sonntags in den Champs-Elysées spazieren zu gehen, und ein oder zwei Mal im Winter einen Theaterbesuch auf Freibillets, die sie von einem Kollegen bekommen hatten.



Gegen das Frühjahr wurde dem Beamten durch seinen Chef eine Nebenarbeit anvertraut, und er erhielt eine Gratifikation von dreihundert Francs.

Als er das Geld brachte, sagte er zu seiner Frau: »Liebe Henriette, jetzt wollen wir uns einmal was leisten, zum Beispiel einen Ausflug für die Kinder.«



Nach langem Hin und Her wurde ausgemacht, dass sie aufs Land wollten, um dort zu frühstücken.

»Weiß Gott«, rief Hector, »einmal ist keinmal. Wir wollen für Dich, die Kleinen und das Mädchen einen Wagen nehmen und ich miete mir einen Gaul beim Pferdehändler. Das wird mir riesig guttun.«



Während der ganzen Woche sprach man von nichts anderem als von dem geplanten Ausflug.

Hector nahm jeden Abend, wenn er heimkehrte, seinen ältesten Sohn, setzte ihn sich aufs Knie und sagte, während er ihn reiten ließ: »So reitet Papa nächsten Sonntag Galopp!«

Der Bengel ritt den ganzen Tag auf allen Stühlen, schleppte sie durchs Zimmer und rief: »So macht Papa, hopp – hopp!«



Selbst das Mädchen blickte den Hausherrn bewundernd an. Sie dachte daran, wie er neben dem Wagen her reiten würde. Während aller Mahlzeiten hörte sie seine Pferdegeschichten mit an und die Heldentaten früher bei seinem Vater.

O, er hatte eine gute Schule durchgemacht und wenn er nur erst das Tier zwischen den Schenkeln spürte, mochte ihm kommen was da wollte!

Er rieb sich die Hände und sagte schmunzelnd zu seiner Frau: »Wenn ich einen ein bisschen schwierigen Gaul erwischte, das würde mir doch Spaß machen! Da wirst Du mal sehen, wie ich reiten kann!

Und wenn es Dir recht ist, fahren wir durch die Champs-Elysées zurück, gerade wenn die Wagen aus dem Bois kommen. Da wir guten Eindruck machen werden, so wäre es mir ganz recht, wenn uns jemand aus dem Ministerium begegnete, damit die Vorgesetzten mal Achtung vor einem kriegen!«



Am bestimmten Tag standen Wagen und Pferd gleichzeitig vor dem Tor. Sofort kam er herab, um sein Tier zu besichtigen. Er hatte Stege an die Hose nähen lassen und fuchtelte mit einer Reitpeitsche umher, die er tags zuvor gekauft hatte.

Er hob und befühlte alle vier Beine des Gaules nacheinander, klopfte ihm Hals und Rücken, prüfte mit den Fingern die Nierenpartie, öffnete ihm das Maul, untersuchte die Zähne, bestimmte sein Alter und als die ganze Familie erschien, hielt er eine Art von kleiner Vorlesung über das Pferd im Allgemeinen und im Besonderen über dieses, das er für hervorragend erklärte.



Als alle gut im Wagen untergebracht waren, untersuchte er die Gurte. Dann saß er auf. Dabei plumpste er aber dem Tier so hart auf den Rücken, dass es unter der jähen Last anfing unruhig zu werden und seinen Reiter beinahe abgeworfen hätte.

Hector war aufgeregt und suchte es zu beruhigen: »Olala... so ist's brav... so ist's schön...«



Als dann der Gaul wieder ruhig war und der Reiter seine Haltung wiedergewonnen hatte, fragte er: »Ist alles so weit?«

Alles rief: »Ja.«

Dann befahl er: »Los!«

Und die Kolonne setzte sich in Bewegung.



Aller Blicke waren auf ihn gerichtet. Er trabte englisch und hob sich dabei übertrieben. Kaum hatte er den Sattel berührt, schnellte er wieder empor, als wollte er in den Himmel fliegen. Oft fehlte nicht viel, dass er auf dem Hals lag. Mit bleichen Wangen und gerunzelter Stirn starrte er vor sich hin.

Seine Frau hielt das eine Kind, das Mädchen das andere auf dem Schoß und rief fortwährend: »Nein, der Papa! Nein, der Papa!«



Und die beiden Rangen erhoben in ihrer Aufregung durch Freude und frische Luft ein fürchterliches Geschrei. Der Gaul erschrak und fing schließlich an zu galoppieren. Als sich sein Reiter abmühte ihn zu parieren, fiel der Hut herunter. Der Kutscher musste vom Bock klettern, um ihn aufzuheben, und als ihn Hector wiederbekommen hatte, rief er von Weitem seiner Frau zu: »So verbiete den Kindern doch das Brüllen. Sonst geht mir der Schinder noch ab!«



Im Gehölz von Vésinet setzten sie sich ins Gras und verzehrten die mitgebrachten Essvorräte. Obwohl der Kutscher die Pferde bewachte, stand Hector alle Augenblicke auf, um zu sehen, ob seinem Gaul nichts abginge. Er klopfte ihm den Hals, gab ihm Brot, Kuchen, Zucker und erklärte: »Er geht einen kolossalen Trab. Im ersten Augenblick hat er sogar mich 'n bisschen durchgeschüttelt.

Aber wie Du siehst, habe ich mich bald eingerichtet. Er hat seinen Herrn und Meister erkannt und wird nun nicht mehr mucksen.«



Wie verabredet ging es durch die Champs-Elysées zurück. Die breite Allee wimmelte von Wagen und es waren so viele Spaziergänger rechts und links, dass sie wie zwei lange schwarze Bänder aussahen, die sich vom Arc de Triomphe bis zum Place de la Concorde zogen.

Die Sonne strahlte mit aller Macht auf alles das nieder, sodass der Lack der Wagen, das Metall an den Geschirren, die Wagengriffe blitzten.

Wie trunken wogten Fußgänger, Equipagen und Pferde durcheinander, und am anderen Ende starrte der Obelisk wie aus einem Goldmeer empor.



Als sie am Arc de Triomphe vorüber waren, überkam Hectors Pferd plötzlich neuer Stallmut.

In langem Trab drängte er zwischen den Equipagen hindurch nach Haus, trotz aller Versuche seines Reiters zu parieren.

Schon war der Wagen weit hinter ihnen, als sich der Gaul plötzlich am Industriepalast, wo er freie Bahn fand, nach rechts wandte und in Galopp setzte.

Eine alte Frau mit weißer Schürze ging friedlich über den Fahrdamm. Sie befand sich gerade in Hectors Schussfeld, der wie der Teufel angebraust kam und da er sein Tier nicht mehr halten konnte, mit aller Kraft brüllte: »Holla! Heh! Achtung! Achtung!«



Vielleicht hörte sie schwer, jedenfalls setzte sie ihren Weg ganz ruhig fort, bis sie vom Pferd umgerissen wurde und mit Schnellzugsgeschwindigkeit die Röcke in der Luft, drei Mal mit dem Kopf aufschlagend, zehn Schritte weit auf das Pflaster kollerte.



Man rief: »Halt auf! Halt auf!« Hector verlor ganz den Kopf, krampfte sich an der Mähne fest und brüllte: »Hilfe! Hilfe!«

Ein fürchterlicher Stoß schleuderte ihn gleich einer Bombe zwischen den Ohren seines edlen Renners hindurch, gerade einem Polizisten in die Arme, der das Pferd hatte aufhalten wollen.



Sofort bildete sich eine gestikulierende, wütende, schreiende Menge um ihn. Am aufgeregtesten schien ein alter Herr mit weißem Schnurrbart und einem großen runden Orden, der fortwährend rief: »Sakrament noch mal, wer so ungeschickt ist, bleibe in seinen vier Pfählen. Wenn man nicht reiten kann, bringt man wenigstens nicht andere Menschen in Gefahr.«



Nun kamen vier Männer heran, die die Alte trugen. Mit ihrem gelben Gesicht und dem verschobenen Häubchen sah sie aus, als ob sie tot wäre. Der alte Herr befahl: »Tragen Sie die Frau in die Apotheke und wir wollen zur Polizeiwache!«



Zwei Polizisten nahmen Hector in die Mitte, ein dritter führte sein Pferd. Ein ganzer Janhagel folgte und plötzlich erschien der Wagen.

Seine Frau richtete sich erschrocken auf, das Mädchen verlor den Kopf, die Würmer schrien.

Er erklärte ihnen, dass er nachkommen würde, er hätte ein altes Weib umgerannt. Weiter sei es nichts. Seine Familie fuhr ganz verstört davon.



Auf der Wache wurde die Sache schnell erledigt. Er gab seinen Namen an: Hector de Gribelin, Beamter im Marineministerium. Man wartete auf Nachrichten von der Verwundeten. Ein Polizist, der ausgesandt worden war, um Erkundigungen einzuziehen, kehrte mit der Meldung zurück, dass sie wieder zur Besinnung gekommen sei, aber wie sie sagte, fürchterliche innere Schmerzen habe. Es war eine fünfundsechzigjährige Aufwartefrau, namens Simon.



Als Hector hörte, dass sie nicht tot sei, atmete er auf und versprach für die Krankenkosten aufkommen zu wollen. Dann lief er zur Apotheke.

Eine große Menschenmenge umlagerte die Tür. Die gute Frau lag wimmernd, mit blödem Ausdruck und schlaff herabhängenden Armen in einem Stuhl. Zwei Ärzte standen bei ihr. Nichts war gebrochen, aber man befürchtete innere Verletzungen.

Hector fragte sie: »Haben Sie große Schmerzen?«

»O, ja.«

»Wo denn?«

»Mir brennt's wie Feuer im Magen rum!«

Ein Arzt trat hinzu: »Nicht wahr, Sie sind am Unglück schuld?«

»Jawohl.«

»Die Frau muss ins Krankenhaus. Ich weiß eines, wo der Tag sechs Francs kosten würde. Soll ich's übernehmen?«

Hector war sehr erfreut, dankte und kehrte erleichtert nach Haus zurück. Seine Frau erwartete ihn mit tränenden Augen.

Er beruhigte sie: »'s ist weiter nichts. Es geht der Simon schon besser. In drei Tagen ist alles gut. Ich habe sie ins Krankenhaus geschickt. 's ist weiter nichts.«



Als er am nächsten Tag vom Büro kam, sprach er bei Madame Simon vor. Sie hatte eben eine gute Bouillonsuppe bekommen, die sie mit sehr zufriedener Miene aß.

»Nun?«, fragte er und sie gab zurück: »Nee, hör'n Se mal, M'sieur, das wird nit anders. Ich bin sozusagen wie erschlag'n. Mir geht's nit besser.«



Der Arzt erklärte, man müsse abwarten, ob nicht Komplikationen einträten.



Er wartete drei Tage. Dann sprach er wieder vor. Die alte Frau, die ganz gesund schien und mit hellen Augen umherblickte, fing an zu jammern, sobald sie ihn erblickte: »Nee, hör'n Se mal, M'sieur, ich kann mich nit rühr'n, nit rühr'n. Ich erhol mich nit wieder!«



Hector lief es kalt über den Rücken. Er befragte den Arzt, der die Achseln zuckte: »Ja, mein Verehrtester, ich kann's nicht sagen. Sobald man sie nur aufheben will, fängt sie an zu brüllen.

Man kann ja nicht mal ihren Stuhl fortrücken, ohne dass sie fürchterlich schreit. Ich muss ihr schon glauben.

Drin stecken tue ich nicht. Solange ich sie nicht habe gehen sehen, kann ich nicht annehmen, dass sie lügt.«



Die Alte hörte unbeweglich mit tückischen Blicken zu.



Acht Tage strichen hin, dann vierzehn, dann vier Wochen. Madame Simon verließ ihren Lehnstuhl nicht. Sie aß von früh bis abends, wurde dick und rund, und schwatzte lustig mit den anderen Kranken.

Sie schien sich an die Bewegungslosigkeit gewöhnt zu haben, als ob sie sich die Ruhe wohl verdient habe durch fünfzig Jahre Laufen treppauf, treppab, durch Bettenmachen und Kohlentragen von Stock zu Stock, durch Kehren und Bürsten.



Hector war wie rasend. Er kam täglich und jeden Tag fand er sie ruhig und heiter dasitzen und erklären: »Nee, M'sieur, ich kann kein Glied mehr rühr'n, kein Glied.«



Jeden Abend fragte Madame de Gribelin ängstlich: »Und Madame Simon?«

Und jedes Mal antwortete er verzweifelt: »Alles beim alten, alles beim alten.«

Das Mädchen, das zu viel kostete, wurde abgeschafft. Sie sparten noch mehr und die Gratifikation ging drauf.



Schließlich berief Hector vier Ärzte von Ruf zur Alten. Sie ließ sich untersuchen, befühlen, beklopfen und blickte sie dabei lauernd an.

»Sie muss durchaus gehen!«, meinte der eine. Sie rief: »Nee, M'sieur, das is nit möglich, is nit möglich!«

Nun wurde sie gepackt, gehoben und ein paar Schritte weit geschleppt. Doch sie entglitt ihren Händen, brach auf dem Boden zusammen und fing dermaßen an zu brüllen, dass man sie mit größter Sorgfalt in ihren Stuhl zurücksetzte.



Die vier Ärzte waren sehr vorsichtig in ihrem Urteil, kamen aber doch zum Schluss, dass sie arbeitsunfähig sei.

Als Hector seiner Frau diese Nachricht brachte, sank sie auf einen Stuhl und stammelte: »Da wäre es noch das Beste, wir nähmen sie ins Haus. Das würde weniger kosten.«



Er fuhr in die Höhe: »Hierher zu uns, daran denkst Du wirklich?«

Doch sie antwortete, nun auf alles gefasst, und die dicken Tränen liefen ihr über die Wangen: »Lieber Mann, ich kann doch nichts dafür.«

 

 

 

 

 

Im Wald (Au bois)

 

Der Bürgermeister [Anm.: Maire] wollte sich eben zu Tisch setzen, als man ihm meldete, dass ihn der Feldhüter auf dem Gemeindehaus mit zwei Gefangenen erwarte.

Er ging sofort hin und sah in der Tat seinen Feldhüter vor sich, den alten Hochedur, der mit ernster Miene ein älteres Ehepaar aus der Stadt bewachte.

Der Mann, ein beleibter Herr mit roter Nase und weißen Haaren schien sehr müde zu sein, während die Frau, ein kleines Weibchen im Sonntagsstaat, rund, dick, mit leuchtenden Wangen, herausfordernd den Hüter der Gerechtigkeit betrachtete, der sie gefangen genommen hatte.

Der Bürgermeister fragte: »Was ist denn los, Hochedur?«

Der Feldhüter machte seine Aussage.

Er war früh zur gewöhnlichen Stunde ausgegangen, um im Gehölz von Champioux bis zu der Grenze von Argenteuil seinen Patrouillengang zu machen. Er hatte auf dem Feld nichts Besonderes bemerkt. Es war schönes Wetter gewesen und das Getreide stand gut, da hatte der junge Bredel, der in seinem Weinberg arbeitete, ihm zugerufen: »He, Hochedur, gehen Sie doch mal an den Waldsaum! Gleich am ersten Gebüsch, können Sie 'n Taubenpärchen finden! Die sind zusammen wenigstens hundertunddreißig Jahre alt.«



In der bezeichneten Richtung war er davon gegangen, in das Unterholz getreten und hatte dann Worte und Seufzer gehört, die den Verdacht erregten, dass es sich um ein Sittlichkeitsvergehen handelte. Er war also auf Knien und Händen, als hätte er einen Wilddieb abfassen wollen, noch näher herangeschlichen und hatte das hier stehende Ehepaar gerade in dem Augenblick abgefasst, als es sich seinen Trieben überlassen hatte.

Der Bürgermeister betrachtete ganz erschrocken die Schuldigen. Der Mann mochte wohl sechzig Jahre zählen und die Frau mindestens fünfundfünfzig.

Er schickte sich an, sie zu verhören, indem er zuerst das Wort an den Mann richtete, der so leise antwortete, dass man ihn kaum verstand.

»Wie heißen Sie?«

»Nicolas Beaurain.«

»Ihr Beruf?«

»Posamentier, Rue des Martyrs in Paris.«

»Was taten Sie da im Wald?«

Der Posamentier schwieg, senkte die Blicke auf seinen dicken Bauch und legte die Hände glatt auf die Schenkel. Der Bürgermeister begann von Neuem: »Bestreiten Sie, was der Beamte ausgesagt hat?«

»Nein.«

»Sie gestehen es also zu?«

»Jawohl.«

»Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?«

»Nichts!«

»Wo haben Sie Ihre Mitschuldige kennen gelernt.«

»Sie ist meine Frau!«

»Ihre Frau?«

»Jawohl.«

»Ja, leben Sie denn nicht zusammen in Paris.«

»Jawohl, wir leben zusammen.«

»Ja, aber erlauben Sie mal, dann sind Sie verrückt, ganz verrückt, sich hier auf freiem Feld um zehn Uhr morgens abfassen zu lassen.«



Der Krämer weinte beinahe vor Scham, und murmelte: »Sie hat's gewollt. Ich habe ihr ja gesagt, dass es eine Dummheit ist, aber wenn ein Frauenzimmer was im Kopp hat, wissen Sie, dann hat sie's nicht anderswo.«

Der Bürgermeister, der gern einen Witz machte, lächelte und antwortete: »In Ihrem Fall scheint mir gerade das Gegenteil richtig zu sein. Sie ständen nicht hier, wenn sie es nicht wo anders als im Kopf gehabt hätte.«



Da wurde Monsieur Beaurain böse und wandte sich gegen seine Frau.

»Siehste, was Du mit Deiner Poesie angerichtet hast? Nun sind wir schön reingefallen, jetzt kommen wir noch vors Gericht, in unserem Alter, wegen Sittlichkeitsvergehen und da können wir nur gleich unsere Bude zumachen, das Geschäft verkaufen und in eine andere Stadtgegend ziehen! Da sitzen wir schön drin.«



Madame Beaurain stand auf und gab, ohne ihren Mann anzublicken, ohne Verlegenheit, ohne falsche Scham, beinahe ohne Zögern folgende Erklärung ab:

»Mein Gott, Monsieur le Maire, ich weiß ja, dass wir uns lächerlich gemacht haben. Wollen Sie mir erlauben, wie ein Advokat über meine Sache zu sprechen oder vielmehr wie eine arme Frau. Und ich hoffe, dass Sie uns so entlassen und uns die Schande einer Anklage ersparen werden.

Vor langen Jahren, als ich jung war, habe ich eines Tages hier in der Gegend die Bekanntschaft von Monsieur Beaurain gemacht. An einem Sonntag war's. Er war Kommis in einer Kurzwarenhandlung und ich Ladenmädchen in einem Konfektionsgeschäft.


Ich erinnere mich dessen noch, als ob es gestern gewesen wäre. Ab und zu kam ich sonntags hier heraus mit einer Freundin, mit Rosa Levêque, mit der ich in der Rue Pigalle zusammen wohnte. Rosa hatte einen Schatz und ich nicht. Er kam mit uns hierher. Eines Sonnabends erklärte er mir lachend, dass er am nächsten Tag einen Kameraden mitbringen würde. Ich verstand schon, was er wollte, aber ich sagte, das sei unnütz. Denn ich war anständig, Monsieur le Maire.

Am andern Tag trafen wir an der Eisenbahn Monsieur Beaurain. Damals sah er recht gut aus. Ich war aber entschlossen, keine Dummheiten mit ihm zu machen und ich tat es auch nicht.

Wir kamen also nach Bezons. Es war prachtvolles Wetter, ein Wetter, dass einem das Herz im Leib lacht. Mir wird nämlich, wenn es so schön ist, heute noch genau so wie damals, ganz närrisch, dass ich gleich heulen könnte!

Wenn ich in der Natur bin, werde ich ganz verdreht. Das Grün, der Gesang der Vögel, das Getreide, das sich im Wind bewegt, die Schwalben, die so schnell durch die Luft schießen, der Duft der Wiesen, des Mohns, der Gänseblumen, all das macht mich ganz verrückt, das ist, wie wenn man Champagner trinkt und ist ihn nicht gewohnt.

Kurz, es war wundervoll, hell, freundlich, dass das Auge gar nicht genug sehen konnte und man mit tiefen Zügen die Luft einsog.

Rosa und Simon küssten sich alle Augenblicke. Und ich musste das immer mit ansehen.

Monsieur Beaurain und ich schritten hinter ihnen her ohne ein Wort zu sprechen. Wenn man sich nicht kennt, weiß man nichts zu sagen.

Er sah schüchtern aus und mir machte es Spaß, dass er so verlegen war.

Da kamen wir an das kleine Wäldchen. Und dort war es frisch wie in einem kühlen Bad und wir setzten uns ins Gras. Rosa und ihr Schatz hielten sich darüber auf, dass ich so ernst dreinschaue. Aber wissen Sie, ich konnte doch nicht anders sein. Und dann fingen sie wieder an, sich zu küssen, als ob wir gar nicht da wären.

Und dann flüsterten sie miteinander, standen auf und gingen ins Gebüsch, ohne ein Wort zu sagen. Sie können sich denken, welch törichtes Gesicht ich wohl gemacht habe, dem jungen Mann gegenüber, den ich zum ersten Mal in meinem Leben getroffen hatte.

Ich war so verdutzt, als die beiden andern einfach so davongingen, dass ich plötzlich Mut bekam und anfing zu sprechen. Ich fragte, was er triebe. Er war Kommis bei einem Kurzwarenhändler, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe. Wir sprachen also ein paar Augenblicke miteinander. Da fasste er Mut und wollte unternehmender werden. Aber ich habe ihm tüchtig den Standpunkt klar gemacht. Ist's nicht so, Beaurain?«



Monsieur Beaurain, der verlegen auf seine Füße blickte, antwortete nicht.



Sie fuhr fort: »Da begriff der junge Mann, dass ich anständig sei und fing an, auf ganz nette Art und Weise, als ehrlicher Junge, mir den Hof zu machen. Seit diesem Tag kam er jeden Sonntag wieder. Er war sehr in mich verliebt. Und ich liebte ihn auch sehr, sehr! O, der war früher ein hübscher Kerl.

Kurz, im September heiratete er mich und wir machten einen Laden auf in der Rue des Martyrs.

Ach, während der ersten Jahre ging es schlecht, da mussten wir uns mal schinden! Die Geschäfte wollten nicht vorwärts gehen. Wir konnten uns keine Landpartien mehr leisten.

Und dann entwöhnten wir uns dessen allmählich. Man hat andere Sachen im Kopf. Man denkt mehr ans Portemonnaie als an Liebelei, wenn man Kaufmann ist.

Wir wurden allmählich alt und merkten es nicht und waren ruhige Leute geworden, die kaum mehr an die Liebe denken. Man bedauert es nicht weiter, wenn man nicht merkt, dass es einem fehlt.



Und dann, Monsieur le Maire, die Geschäfte gingen besser und wir waren unserer Zukunft einigermaßen sicher. Und da weiß ich wirklich nicht mehr, was eigentlich mit mir vorgegangen ist.



Da fing ich an zu träumen, wie ein Pensionsmädchen. Wenn ich die Wägelchen sah, worauf in den Straßen die Blumen feil geboten werden, hätte ich heulen können. Der Veilchenduft zog bis in den Laden hinein, wo ich auf meinem Stuhl an der Kasse saß, und ließ mein Herz schlagen.

Da stand ich auf und stellte mich in die Ladentür, um den blauen Himmel zwischen den Dächern dort oben zu betrachten. Wenn man so den Himmel von einer Straße aus beguckt, sieht er aus wie ein Fluss, wie ein langer Fluss, der in vielen Windungen über Paris hinläuft.

Und da oben schießen dann Schwalben hin wie Fische, 's ist ja dumm, wenn man in meinem Alter solche Ideen hat, aber wissen Sie, Monsieur le Maire, wenn man sein ganzes Leben gearbeitet hat, da kommen einem Momente, wo man plötzlich merkt, man hätte wohl auch was anderes machen können und dann kommt die Reue, ja die Reue!

Sehen Sie, zwanzig Jahre lang hätte ich in den Wald hinausgehen können und küssen und kosen wie alle andern, wie alle andern Frauen. Ich dachte daran, wie schön es sein müsste, dort unter dem Laubdach zu liegen, mit jemandem, den man liebt.

Und jeden Tag dachte ich daran, jede Nacht. Ich träumte solange vom Mondschimmer auf dem Strom, bis mich beinahe die Lust überkam, mich zu ertränken.

Zuerst hätte ich so etwas meinem Mann gar nicht sagen dürfen. Ich wusste nur zu gut, dass er sich über mich lustig machen und mir sagen würde:

›Verkaufe lieber Zwirn und Nadeln.‹

Und dann, um es nur zu gestehen, hatte mir Monsieur Beaurain nicht mehr viel zu sagen. Aber wenn ich in den Spiegel sah, begriff ich doch, dass auch ich niemand mehr was groß zu sagen hätte.

Da fasste ich einen Entschluss und schlug ihm vor, wir wollten eine Landpartie dorthin machen, wo wir uns kennengelernt haben. Ohne sich etwas dabei zu denken, nahm er an und da kamen wir diesen Morgen so gegen neun hierher.

Als das Getreide uns umrauschte, war mir ganz wundersam zumute, ganz anders. Ja, so ein Frauenherz wird nicht alt und ich sah wahrhaftig meinen Mann nicht mehr so wie er jetzt ist vor mir, sondern so, wie er einstmals war. Das kann ich Ihnen versichern, Monsieur le Maire, ich war wahrhaftig betrunken, wie betrunken. Ich fing an ihn zu küssen und er war erstaunt darüber, als hätte ich ihn ersticken wollen. Er sagte immerfort:

›Du bist ja verrückt! Du bist ja verrückt! Was hast Du denn nur heute früh.‹

Ich aber hörte nicht auf ihn, ich hörte nur auf mein Herz. Und ich drängte ihn in den Wald... und da geschah es. Monsieur le Maire, ich habe die Wahrheit gesagt, die reine Wahrheit.«

Der Bürgermeister war ein Mann von Geist. Er stand auf, lächelte und sagte: »Cher Madame, gehen Sie in Frieden und sündigen Sie nicht wieder – im Wald.«

 

 

 

 

 

Der verhängnisvolle Kuchen (Le gâteau)

 

Sagen wir, sie hieß Madame Anserre, um ihren wahren Namen nicht bloßzustellen. Sie gehörte zu jenen Pariser Kometen, die einen leuchtenden Schweif hinter sich zurücklassen. Sie dichtete und schrieb Novellen, hatte ein gefühlvolles Herz und war entzückend schön.

Sie empfing wenig und auch nur Größen ersten Ranges, solche, die man gemeinhin Fürsten in irgendeiner Sache nennt. Von ihr empfangen zu werden, war ein wirklicher Adelstitel der Intelligenz. Wenigstens schätzte man ihre Einladungen so.



Ihr Gatte spielte die Rolle des dunklen Trabanten. Der Gatte eines Sterns zu sein, ist nie leicht. Und doch hatte dieser Gatte keinen schlechten Einfall gehabt: er wollte einen Staat im Staate bilden und seine Berühmtheit für sich haben, eine Berühmtheit zweiten Ranges freilich – aber schließlich konnte er doch auf diese Weise an den Tagen, wo seine Frau empfing, auch empfangen.

Er hatte sein besonderes Publikum, das ihn schätzte, anhörte und ihm mehr Beachtung schenkte, als seiner glänzenden Gefährtin.



Er hatte sich der Landwirtschaft gewidmet, und zwar der Landwirtschaft im Zimmer. Es gibt ja auch Zimmer-Generale. Alle die am grünen Tisch des Kriegs-Ministeriums groß werden und leben, sind ja dieses Schlages. Ebenso Zimmer-Marine, siehe das Marine-Ministerium, Zimmer-Kolonisten usw.

Er hatte also Landwirtschaft studiert, und zwar tief und gründlich, Landwirtschaft in ihren Beziehungen zu den andern Wissenschaften, zur National-Ökonomie, zu den Künsten...

Die Künste werden ja überall dazwischen gemengt, und selbst die schauderhaften Eisenbahnbrücken werden zu ›Kunstwerken‹ gestempelt!

So hatte er es endlich erreicht, dass man ihn einen ›tüchtigen Mann‹ nannte und in technischen Zeitschriften zitierte. Seine Frau hatte es ferner durchgesetzt, dass er zum Mitglied einer Kommission im Ackerbau-Ministerium ernannt wurde – und dieser bescheidene Ruhm genügte ihm.



Seine Freunde lud er unter dem Vorwand, die Kosten zu verringern, immer an denselben Abenden ein, an denen seine Gattin die ihren empfing, doch teilten sie sich alsbald in zwei gesonderte Lager: die Dame des Hauses mit ihrer Suite von Künstlern, Akademikern und Ministern ›tagte‹ in einer Art Galerie, die im Empire-Stil möbliert und ausgestattet war. Der Herr zog sich währenddessen mit seinen Landwirten gewöhnlich in ein bescheideneres Zimmer zurück, das als Rauchzimmer diente und von Madame Anserre ironisch das ›Landwirtschaftliche Kabinett‹ genannt wurde.



Die beiden Heerlager waren streng getrennt. Nur Monsieur Anserre, dem jede Eifersucht fern lag, erschien bisweilen in der ›Akademie‹, wo sich ihm ein Dutzend Hände zum Gruß entgegenstreckten, während die Akademiker es völlig unter ihrer Würde hielten, das Landwirtschaftliche Kabinett zu betreten.

Nur ganz selten erschien einer der Fürsten der Wissenschaft, des Gedankens oder anderer Attribute unter den Landwirten.



Diese Empfangs-Abende kosteten wenig. Es gab Tee und Kuchen, weiter nichts. Monsieur Anserre wollte anfänglich zwei Kuchen haben, einen für die Akademie und einen für die Landwirtschaft. Seine Frau bemerkte allerdings ganz richtig, dass damit zwei verschiedene Lager anerkannt würden, und darauf hatte dann ihr Gatte seinen Anspruch fallen lassen.

Es wurde also immer nur ein Kuchen herumgereicht, den Madame Anserre zuerst den Akademikern anbot, worauf er dann ins Landwirtschaftliche Kabinett herüber wanderte.



Dieser Kuchen wurde für die Akademiker bald zum Gegenstand der eigentümlichsten Beobachtungen. Madame Anserre schnitt ihn nämlich nie selbst an. Dieses Amtes waltete stets einer der illustren Gäste, und bald wurde es zum gesuchten Ehrenamt, das jeder der Reihe nach kürzer oder länger bekleidete, meist drei Monate lang, selten länger.

Merkwürdig war, dass das Privileg, den Kuchen zu schneiden, eine Fülle von anderen Vorrechten mit sich brachte und dem damit betrauten den Königs- oder doch Vize-Königs-Rang zu verleihen schien.

Der regierende Zerleger führte das lauteste Wort. Es war ein ausgesprochener Kommandoton; und alle Gunstbeweise der Herrin fielen ihm zu, alle.



Halblaut und hinter den Türen nannte man diese intimen Günstlinge des Hauses die ›Kuchen-Favoriten‹, und jeder Favoritenwechsel rief in der Akademie große Umwälzungen hervor. Das Messer wurde zum Zepter, das Gebäck zum Wahrzeichen der Macht.

Die Erwählten wurden lebhaft beglückwünscht. Monsieur Anserre war natürlich ausgeschlossen, obwohl er auch seine Portion aß.



Der Kuchen wurde der Reihe nach von Poeten, Malern und Romanciers zerlegt. Ein großer Komponist teilte die Portionen eine Zeit lang ein. Ein Gesandter folgte ihm im Amt.

Bisweilen kam auch ein weniger berühmter, aber darum nicht minder eleganter und gesuchter Herr vor den symbolischen Kuchen zu sitzen, einer von denen, die man je nach der herrschenden Mode einen wahren Gentleman, einen perfekten Kavalier, einen Dandy oder sonst wie nennt.

Jeder von ihnen schenkte während seiner kurzlebigen Herrschaft dem Gatten etwas mehr Beachtung. Dann, wenn die Stunde seines Falles gekommen war, übergab er das Messer einem andern und verlor sich wieder in der Menge von Vasallen und Anbetern der ›schönen Madame Anserre‹.



So währte es lange, sehr lange. Aber die Kometen leuchten nicht immer mit demselben Glanz. Alles auf Erden hat sein Ziel. Auch hier konnte man beobachten, wie der Eifer der Kuchenschneider allmählich nachließ, wie sie bisweilen zu zögern schienen, wenn ihnen der Kuchenteller gereicht wurde, wie das einst so beneidete Amt immer weniger gesucht, immer weniger lange behauptet wurde und der Stolz, es anzunehmen, immer mehr nachließ.



Umsonst verschwendete Madame Anserre Lächeln und Liebenswürdigkeit. Bald wollte keiner mehr aus freien Stücken schneiden. Wer neu hinzukam, schien sich direkt zu weigern, und die alten Favoriten erschienen einer nach dem andern wieder im Amt, wie entthronte Fürsten, die man für Augenblicke wieder auf den Thron erhebt.



Dann wurden die Erwählten selten, ganz selten. Einen Monat lang schnitt Monsieur Anserre – o Wunder! – selbst den Kuchen, bis er es schließlich überdrüssig wurde und man eines schönen Abends Madame Anserre – ›die schöne Madame Anserre!‹ – höchst eigenhändig ihren Kuchen schneiden sah!



Aber das war ihr höchst langweilig, und am nächsten Abend setzte sie einem ihrer Gäste dermaßen zu, dass er ihre Bitte nicht ausschlagen mochte.



Indessen war das Symbol zu gut bekannt und man blickte sich mit ängstlichen, ratlosen Gesichtern von unten her an. Den Kuchen zu schneiden, war ja nicht gefährlich, aber die Vorrechte, unter denen diese Gunst bisher vergeben worden, beängstigten jetzt, sodass die Akademiker, sobald die Platte nur erschien, sich in wirrem Knäuel in das Landwirtschaftliche Gemach flüchteten, wie um sich hinter dem beständig lächelnden Gatten zu verstecken.



Und wenn Madame Anserre sich bestürzt auf der Schwelle zeigte, den Kuchen in der einen Hand haltend, das Messer in der andern, so schien sich alles um ihren Gatten zu scharen, wie um ihn um Schutz zu bitten.



So verging die Zeit. Niemand wollte mehr den Kuchen schneiden, aber immer noch suchte sie, die man galanter Weise immer noch die ›schöne Madame Anserre‹ nannte, aus alter Gewohnheit mit flehenden Blicken einen Ergebenen, der das Messer ergriffe – und jedes Mal entstand dieselbe Bewegung im Umkreis. Sobald die verhängnisvolle Frage auf ihre Lippen trat, begann eine allgemeine geschickte Flucht voller Listen und Manöver.



Eines Abends nun wurde ein blutjunger Mensch, ein ›reiner Tor‹, bei Madame Anserre eingeführt, dem das Geheimnis des Kuchens noch unbekannt war.

Als nun der Kuchen erschien und Madame Anserre Platte und Backwerk aus den Händen des Dieners nahm, blieb er ruhig in ihrer Nähe. Vielleicht glaubte sie, er wüsste Bescheid und kam lächelnd und mit bewegter Stimme auf ihn zu.

»Wollen Sie die Liebenswürdigkeit haben, Monsieur, und diesen Kuchen aufschneiden?«

»Aber gewiss, Madame, mit dem größten Vergnügen!«, erwiderte dieser, entzückt über die Ehre, die ihm zuteilwurde, zog die Handschuhe aus und begann eifrig zu schneiden.



Fern in den Ecken der Galerie erschienen im Rahmen der Tür, die zum Landwirtschaftlichen Zimmer ging, ein paar verblüffte Gesichter. Dann, als man sah, dass der Neuling unverzagt drauf losschnitt, kam alles schnell näher.



Ein alter, spaßhafter Dichter schlug dem Neubekehrten lustig auf die Schulter.

»Bravo, junger Mann!«, sagte er ihm ins Ohr.

Alles blickte ihn neugierig an. Selbst der Gatte schien überrascht. Und er selbst wunderte sich über die besondere Beachtung, die ihm plötzlich von allen Seiten zuteilwurde. Vor allem konnte er sich nicht erklären, warum ihn die Herrin des Hauses durch ausgesprochene Zuvorkommenheit, augenscheinliche Gunstbezeugungen und eine Art stummer Dankbarkeit auszeichnete. Schließlich aber hat er es doch begriffen.



Wann und wo ihm diese Offenbarung kam, ist nicht bekannt. Als er am nächsten Abend wieder erschien, machte er einen etwas betretenen, fast verschämten Eindruck und blickte unruhig um sich.

Als die Teestunde schlug und der Diener erschien, ergriff Madame Anserre mit holdem Lächeln die Platte und suchte ihren jungen Freund mit den Augen. Er war aber so schnell entflohen, dass er nicht mehr zu sehen war.

Sie stand auf und ging ihm entgegen. Sie fand ihn bald in der äußersten Ecke des Landwirtschaftlichen Zimmers. Er hatte seinen Arm in den ihres Gatten gelegt und drang ängstlich in ihn, welche Mittel zur Vertilgung der Reblaus die besten wären.



»Mon cher ami«, kam Madame Anserre an, »würden Sie so liebenswürdig sein, diesen Kuchen zu schneiden?«

Er wurde rot bis an die Ohren, stotterte ein paar Worte und verlor den Kopf. Monsieur Anserre erbarmte sich seiner und wandte sich zu seiner Frau.

»Meine Teuerste«, sagte er, »es wäre sehr schön, wenn du uns nicht stören wolltest. Wir sprechen über Landwirtschaft. Lass den Kuchen doch von Baptiste schneiden.«

Seit dem Tag schnitt kein Mensch mehr den Kuchen im Hause Anserre.











Der Wolf

 

Es war gegen Ende des Hubertus-Diners beim Baron des Ravels. Da erzählte uns der alte Marquis d'Arville eine Geschichte.

Man hatte an dem Tag gerade einen Hirsch gehetzt, und der Marquis war der einzige von allen Gästen, der nicht daran teilgenommen hatte, denn er ging nie auf die Jagd.

Während des ganzen Diners hatte man nur vom Erlegen verschiedener Tiere gesprochen. Sogar die Damen interessierten die blutdurstigen und oft recht unwahrscheinlichen Jagdgeschichten. Die Erzähler führten, während sie sprachen, anschaulich ihre Kämpfe mit den Tieren vor, indem sie mit den Armen gestikulierten und mit erhobener Stimme sprachen.



Der Marquis erzählte sehr gut, in einer etwas hochtrabenden, poetischen, aber effektvollen Art und Weise. Er mochte diese Geschichte schon oft zum Besten gegeben haben, denn er konnte sie ohne Anstoß und zögerte bei den Worten nicht, die geschickt gewählt waren, um Eindruck zu machen.

 

»Meine Herren, ich bin nie auf die Jagd gegangen, mein Vater auch nicht, ebenso wenig mein Großvater und auch nicht mein Urgroßvater. Dieser war der Sohn eines Mannes, der öfter auf der Jagd war, als Sie alle zusammen. Er starb 1764, und ich will Ihnen erzählen wie.

Er hieß Jean, war verheiratet und der Vater jenes Kindes, das mein Urgroßvater wurde. Mit seinem jüngeren Bruder François d'Arville wohnte er auf unserem, mitten im Wald gelegenen Schloss in Lothringen.



François d'Arville war der Jagd zuliebe Junggeselle geblieben.

Die Brüder jagten beide vom ersten Tag des Jahres bis zum letzten, ohne Ruhe und Rast, unausgesetzt. Sie hatten nur dafür Sinn, begriffen andere Dinge gar nicht, sprachen nur von der Jagd und lebten nur für sie.

Im Herzen trugen sie jene fürchterliche, unerbittliche Leidenschaft, sie zehrte an ihnen, da sie sie ganz zu Sklaven gemacht hatte, und ließ für nichts anderes Raum.

Sie hatten verboten, dass man sie jemals in der Jagd störe. Um keinen Preis durfte das geschehen. Mein Urgroßvater wurde geboren, während sein Vater einen Fuchs hetzte. Und Jean d'Arville unterbrach die Jagd keinen Augenblick, sondern fluchte: ›Himmelsakrament, der Bengel hätte doch bis nach dem Halali warten können.‹



Sein Bruder François liebte die Jagd beinahe noch leidenschaftlicher als er. Sofort nach dem Aufstehen gingen sie in den Hundezwinger, dann in den Stall, und darauf erlegten sie Vögel in der Nähe des Schlosses, bis sie zur Jagd auf Hochwild gingen.

Sie hießen in der Gegend ›der Marquis‹ und ›der Jüngere‹, denn der Adel der damaligen Zeit hielt es nicht wie unsere neugebackene Aristokratie, welche die Titel auf ihre ganze Nachkommenschaft vererben will. Denn der Sohn eines Marquis ist ebenso wenig Graf, oder der Sohn eines Vicomtes ebenso wenig Baron, als der Sohn eines Generals etwa als Oberst geboren wird. Aber die kleinliche Eitelkeit von heutzutage macht sich diese Mode zunutze.



Ich komme auf meine Ahnherren zurück.



Sie waren riesengroß, knochig, behaart, und hatten Bärenkräfte. Der jüngere war noch größer als der ältere Bruder und seine Stimme klang so laut, dass die Blätter der Bäume zitterten, wenn er schrie – so ging die Sage, und er war stolz auf sie.



Es muss ein wundervolles Schauspiel gewesen sein, die beiden Riesen auf ihren Pferden zur Jagd reiten zu sehen.

Da wurde gegen Mitte des Winters 1764 die Kälte ganz besonders streng, sodass die hungernden Wölfe gefährlich wurden.

Sie griffen sogar ein paar verspätete Bauern an, umkreisten nachts die Häuser, heulten von Sonnenuntergang bis an den Morgen und brachen in die Viehställe ein.



Bald ging ein Gerücht um: ein riesiger Wolf mit grauem fast weißem Fell sollte sich gezeigt haben. Er hatte zwei Kinder gefressen, einer Frau den Arm abgebissen, alle Jagdhunde der Gegend zerrissen und war nachts ganz frech in die verschlossenen Gehöfte gedrungen, um an den Türen auf Beute zu wittern.

Die Leute behaupteten alle, seinen Atem verspürt zu haben, von dem die Flammen der Lichter geflackert hätten.

Bald ergriff die ganze Gegend eine Panik. Kein Mensch wagte mehr, nach Sonnenuntergang auszugehen, als spuke in der Dunkelheit überall dieses Tier.



Die Brüder d'Arville beschlossen, es aufzuspüren und zu erlegen. Sie luden dazu alle Edelleute der Umgebung zum großen Jagen ein.

Jedoch vergebens. Man durchsuchte die Wälder, durchstöberte das Unterholz, man fand ihn nie.

Man erlegte Wölfe, aber diesen nicht. Und immer nachts, nach der Jagd, griff das Tier, als hätte es sich rächen wollen, irgendeinen Wanderer an oder verschlang ein Haustier, jedes Mal weit von der Stelle entfernt, wo man es gesucht hatte.



Schließlich drang der Wolf eines Nachts in den Schweinestall des Schlosses von Arville und erbeutete zwei der schönsten Tiere.

Die beiden Brüder waren wütend, denn sie betrachteten diesen Angriff als eine Herausforderung des Ungeheuers, als persönliche Beleidigung.

Sie nahmen alle ihre Leithunde mit sich, die in der Jagd auf gefährliche Tiere groß geworden waren, und ritten davon, kochende Wut im Herzen.



Vom Anbruch des Tages, bis die Sonne in glutrotem Schein hinter den großen kahlen Bäumen unterging, durchsuchten sie alle Dickichte. Sie fanden jedoch nichts.

Endlich ritten beide wütend und verzweifelt im Schritt durch eine Allee, die von dichtem Gebüsch umgeben war, nach Hause.

Sie wunderten sich über den Possen, den ihnen der Wolf spielte, und eine Art geheimnisvoller Besorgnis überkam sie. Der älteste sagte: ›Das kann kein gewöhnliches Tier sein, es denkt nach wie ein Mensch.‹

Der jüngere antwortete: ›Unser Vetter, der Bischof, müsste über eine Kugel den Segen sprechen. Oder wir sollten irgendeinen Priester darum bitten!‹



Dann schwiegen sie. Jean meinte nach einiger Zeit: ›Sieh mal, wie die Sonne rot ist. Der große Wolf wird sicher diese Nacht wieder Unheil anrichten.‹

Er hatte kaum ausgeredet, als sich sein Pferd bäumte, während das von François hinten ausschlug. Aus tiefem Dickicht, wo trockenes Laub lag, brach vor ihren Augen ein mächtiges graues Tier heraus und flüchtete quer durch den Wald.



Sie stießen beide eine Art Freudengeheul aus, legten sich vornüber auf den Hals ihrer Pferde und warfen sie mit einem Ruck des ganzen Körpers nach vorn.

Sie setzten sie so in Gang, feuerten sie an, trieben sie vorwärts, machten sie wild mit Rufen, mit Peitsche und Sporen, dass es war, als trügen die gewaltigen Reiter ihre schweren Tiere zwischen den Schenkeln und flögen mit ihnen dahin.

So ging es in rasender Jagd. Sie durchbrachen das Dickicht, sprangen über Hohlwege, kletterten Hänge hinan, rasten in die Schluchten hinunter und bliesen dabei das Jagdhorn mit vollen Lungen, um ihre Leute und Hunde herbeizulocken.



Unversehens stieß mein Ahne bei diesem tollen Ritt mit der Stirn gegen einen herunterhängenden mächtigen Ast. Der zerschmetterte ihm den Schädel, und er stürzte tot aus dem Sattel, während sein wild gewordenes Pferd durchging und im Schatten des Waldes verschwand.



Der jüngere d'Arville hielt sofort, sprang zur Erde, versuchte seinen Bruder aufzurichten, und sah, dass ihm das Gehirn mit dem Blut zugleich aus der furchtbaren Wunde quoll.



Er setzte sich neben die Leiche, legte den blutigen entstellten Kopf auf seine Knie und blieb so starr sitzen, den Blick auf das unbewegliche Gesicht des Bruders geheftet.

Allmählich überkam ihn die Angst, eine wundersame Angst, die er noch niemals empfunden hatte: die Angst vor der Dunkelheit, vor der Einsamkeit, vor der Stille des Waldes und auch die Angst vor dem geheimnisvollen Wolf, der eben seinen Bruder getötet hatte, um sich an ihnen beiden zu rächen.



Es wurde immer finsterer und die Äste krachten in der bitteren Kälte. François stand zitternd auf, unfähig noch länger hier zu bleiben.

Er fühlte sich fast einer Ohnmacht nahe. Man hörte nichts mehr, weder das Geläut der Hunde noch den Ton des Hifthorns.

Alles schwieg in der dunklen Weite. Und diese einsame Stille an diesem eisigen Abend hatte etwas Schreckliches und Seltsames.



Er nahm den gewaltigen Körper Jeans in seine mächtigen Arme, hob ihn auf und legte ihn quer über den Sattel, um ihn zum Schloss zurückzubringen.

Dann setzte er sein Pferd langsam in Gang, ganz verstört, als hätte er zu viel getrunken, und fürchterliche Bilder und Gesichte verfolgten ihn.



Plötzlich überschritt den Weg, den die Nacht einhüllte, eine große Gestalt. Es war das Raubtier. Entsetzen packte den Jäger.

Etwas Kaltes, wie ein Wassertropfen glitt ihm den Rücken hinab und er schlug ein Kreuz, wie ein Mönch, dem der Teufel erscheint. So erschrocken war er über die plötzliche Rückkehr des entsetzlichen Tieres.

Seine Augen fielen wieder auf den starren Leichnam, der vor ihm lag. Und plötzlich verwandelte sich seine Furcht in Wut, und er zitterte an allen Gliedern.



Er gab seinem Pferd die Sporen und jagte dem Wolf nach. Er verfolgte ihn durch Unterholz, Hohlwege und Hochwald, quer durch den Forst, dessen Bäume er nicht mehr erkannte, immer das Auge auf den hellen Fleck gerichtet, der vor ihm in die Nacht hinaus floh.



Auch über sein Pferd schien ungeahnte Kraft und Kühnheit gekommen zu sein. Es stürmte mit langem Hals gerade vor sich hin, während Kopf und Füße des Toten, der quer über dem Sattel lag, an die Bäume und an die Felsen stießen.

Die Dornen zausten ihm das Haar, und von der Stirn, die an die mächtigen Stämme schlug, wurden sie blutbespritzt. Die Sporen rissen Fetzen aus der Rinde.



Plötzlich kamen Tier und Reiter aus dem Wald heraus und stürzten sich in ein Tal, gerade als der Mond über den Höhen aufging. Das Tal war steinig, mächtige Felsen schlossen es ab. Kein Ausgang war zu sehen. Und der in die Enge getriebene Wolf wandte sich um.



François stieß ein Freudengeheul aus, das wie Donner von den Felsen wiederklang, sprang vom Pferd, den Hirschfänger in der Hand.

Das Tier erwartete ihn mit gesträubten Borsten und gekrümmtem Rücken. Seine Augen funkelten wie Steine.

Ehe der gewaltige Jäger nun zum Angriff überging, packte er seinen Bruder, setzte ihn an einen Felsen, stützte seinen Kopf, der nur noch ein großer blutender Stumpf war, mit Steinen und brüllte ihn an, als spräche er mit einem Tauben: ›Jetzt pass mal auf Jean! Jetzt pass mal auf!‹



Dann stürzte er sich auf das Ungetüm. Er fühlte Kräfte in sich, um einen Berg umzustürzen, um Steine mit der bloßen Hand zu zermalmen.

Das Tier wollte ihn beißen und suchte ihm den Leib aufzureißen, aber er hatte es am Hals gepackt und drückte ihm, ohne sich einer Waffe zu bedienen, ganz allmählich die Kehle zu, sodass es erstickte.

Er hörte, wie sein Atem schwächer wurde und der Herzschlag aussetzte. Er lachte voll unbändiger Freude, während er immer weiter zudrückte und rief in heller Wonne: ›Siehst Du, Jean? Siehst Du?‹



Das Tier wehrte sich nicht mehr, der Körper des Wolfes wurde schlaff. Er war tot.

François hob ihn auf, schleppte ihn fort und warf ihn dem älteren Bruder vor die Füße, während er mit zärtlicher Stimme sprach: ›Sieh mal an, sieh mal an, mein lieber Jean. Da liegt der Kerl.‹



Dann legte er die beiden Körper einen über den anderen vorsichtig über das Widerrist und ritt davon.

Er kehrte ins Schloss zurück, lachend und weinend zugleich, wie einst Gargantua bei der Geburt des Pantagruel [Anm.: siehe Rabelais].

Mit triumphierender Stimme, vor freudiger Erregung am ganzen Körper zitternd, erzählte er den Tod der Bestie. Unter heißem Schluchzen, Haar und Bart raufend in wildem Schmerz – den des Bruders.



Wenn er später wieder von diesem Tag sprach, sagte er oft mit Tränen in den Augen: ›Wenn der arme Jean es hätte sehen können, wie ich das Vieh erwürgt habe, dann wäre er gern gestorben, dessen bin ich gewiss.‹

Die Witwe meines Ahnherrn erzog ihren vaterlosen Sohn in einem glühenden Hass gegen die Jagd, und der hat sich von Vater auf Sohn, bis auf mich vererbt.«

 

Der Marquis d'Arville schwieg. Jemand fragte: »Das ist eine Fabel, nicht wahr?«

Der Erzähler antwortete: »Ich kann schwören, dass die Geschichte von A bis Z wahr ist.«



Da erklärte eine der Damen mit leiser weicher Stimme: »Das ist ganz gleich, es ist doch etwas Schönes um so eine Leidenschaft.«



ENDE

Impressum

Texte: Guy de Maupassant
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Übersetzung: Georg Freiherr von Ompteda
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2020

Alle Rechte vorbehalten

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