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Maxim Gorki

6 Novellen

 

Sasubrina

Makar Tschudra

»Die Ausfahrt«

Aus Langeweile

Kirilka

Die Freunde

 

 

 

 

 

Sasubrina

 

Das runde Fenster meiner Zelle ging auf den Gefängnishof. Es war sehr hoch vom Boden angebracht, doch wenn ich den Tisch an die Wand stellte und hinaufkletterte, konnte ich alles sehen, was draußen vorging. Über dem Fenster hatten sich Tauben unter dem Dach ein Nest gebaut, und wenn ich aus dem Fenster auf den Hof sah, girrten sie über meinem Kopf.

 

Ich hatte hinreichend Zeit, um von meinem erhöhten Punkt aus die Häftlinge kennenzulernen. Der lustigste unter den finstren, grauen Leuten hieß Sasubrina.

 

Er war ein dicker, untersetzter Bursche mit rotem Gesicht und hoher Stirn, unter der die großen, hellen Augen immer munter blitzten.

 

Seine Mütze trug er im Nacken, die Ohren standen lächerlich von seinem geschorenen Kopf ab, das Band des Hemdkragens war nie zugebunden, die Jacke nicht zugeknöpft, und jede Bewegung seiner Muskeln ließ eine Seele erkennen, unfähig zur Traurigkeit und zum Zorn.

 

Immer lachend, beweglich und laut, war er der Liebling des Gefängnisses. Stets umringte ihn ein Haufen grauer Kameraden, und er erheiterte und zerstreute sie durch allerhand komische Streiche, verschönte dies dunkle, öde Leben mit seiner aufrichtigen Fröhlichkeit.

 

Eines Tages kam er mit drei Ratten, in listiger Art an eine Leine gespannt, aus der Zelle. Sasubrina rannte auf dem Hof hinter ihnen her und rief dabei, dass er mit einer Troika fahre. Die von seinem Geschrei ganz rasend gemachten Ratten stürzten hierhin und dorthin, und die Gefangenen, welche zusahen, lachten wie Kinder über den dicken Menschen und seine Troika.

 

Er schien der Meinung zu sein, dass er ausschließlich zur Belustigung der Leute da war, und scheute vor nichts zurück, um dies zu erreichen.

Manchmal nahm sein Erfindergeist grausame Formen an. So klebte er zum Beispiel einmal das Haar eines schlafenden, auf der Erde an der Wand sitzenden Jungen mit irgendetwas an eben diese Wand.

Als die Haare angetrocknet waren, weckte er ihn dann plötzlich auf. Der Junge sprang schnell auf und fiel weinend zu Boden. Er griff mit seinen dünnen, mageren Armen nach dem Kopf. Die Gefangenen lachten, und Sasubrina war zufrieden. Nachher – ich sah es von meinem Fenster aus – liebkoste er den Jungen, von dessen Haaren ein ordentliches Büschel an der Wand haften geblieben war.

 

Außer Sasubrina war noch ein weiterer Liebling im Gefängnis – ein dickes, rotes Kätzchen, ein kleines, von allen verwöhntes, munteres Tier. Jedesmal, wenn die Sträflinge zum Spaziergang herauskamen, suchten sie es irgendwo auf und tollten lange mit ihm herum, während sie es von Hand zu Hand gehen ließen, ihm über den Hof nachjagten und sich die Hände und die vom Spiel mit dem Liebling belebten Gesichter zerkratzen ließen.

 

Wenn die Katze auf dem Schauplatz erschien, zog sie alle Aufmerksamkeit von Sasubrina ab, und letzterer war mit dieser Bevorzugung mächtig unzufrieden. Sasubrina war in seiner Seele Artist und, als Artist, voll übermäßiger Eigenliebe. Wenn sich sein Publikum mit dem Kätzchen amüsierte, blieb er allein, setzte sich irgendwo auf dem Hof in einen Winkel und beobachtete von dort aus seine Kameraden, die ihn in diesen Minuten vergessen hatten.

Ich beobachtete ihn aus meinem Fenster und empfand all das, wovon seine Seele in diesen Momenten voll war. Es schien mir unvermeidlich, dass Sasubrina die Katze bei der ersten passenden Gelegenheit totschlagen werde, und es tat mir um den lustigen Gefangenen leid, der so begierig darauf bedacht war, immer der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit der Leute zu sein.

Von allen Bestrebungen des Menschen ist diese die verderblichste für ihn, denn nichts tötet die Seele so schnell, wie das Verlangen, den Menschen zu gefallen.

 

Wenn man im Gefängnis sitzt, erscheint einem selbst das Leben der Pilze an seinen Wänden interessant. Darum ist die Aufmerksamkeit verständlich, mit der ich vom Fenster aus das kleine Drama unten und diese Eifersucht eines Menschen auf eine Katze beobachtete.

Verständlich war auch die Ungeduld, mit der ich die Katastrophe erwartete. Sie trat ein und spielte sich ab. Und das war so:

 

An einem hellen, sonnigen Tag, als die Häftlinge aus den Zellen auf den Hof strömten, sah Sasubrina in einer Ecke des Hofes einen Eimer mit grüner Farbe, den die Maler nach dem Anstrich der Gefängnisdächer stehengelassen hatten.

Er trat heran, dachte nach, steckte einen Finger in die Farbe und strich sich den Schnurrbart grün an. Der grüne Schnurrbart in seinem roten Gesicht erregte allgemeines Gelächter.

Ein halbwüchsiger Bursche, den es gelüstete, Sasubrinas Idee auszunützen, wollte sich auch die Oberlippe bemalen. Sasubrina tauchte die Hand in den Eimer und beschmierte ihm flink das ganze Gesicht. Der Bengel prustete und schüttelte den Kopf, während Sasubrina um ihn herumtanzte. Das Publikum lachte in einem fort und spornte seinen Spaßmacher mit Beifallsrufen an.

 

Gerade in diesem Moment erschien das rote Kätzchen auf dem Hof. Ohne Eile ging es über den Hof, hob zierlich die Pfötchen, wedelte mit dem hocherhobenen Schwanz und schien gar keine Angst zu haben, unter die Füße der Menge zu geraten, welche um Sasubrina und den von ihm angestrichenen Burschen herumtanzte, der mit aller Gewalt versuchte, die klebrige Mischung von Öl und Grünspan mit den Händen abzuwischen.

 

»Brüder!«, rief jemand. »Miezchen ist da!«

 

»Ah! Miezchen, der Schelm!«

 

»Die Rote! Das Kätzchen!«

 

Das Kätzchen wurde gegriffen und ging von Hand zu Hand, von allen geliebkost.

 

»Sieh, wie sich's sattgefressen hat! Wie dick sein Bauch ist!«

 

»Wie schnell es wächst!«

 

»Es kratzt, der kleine Teufel!«

 

»Lass es! Mag's umherspringen...«

 

»He, ich halt den Rücken hin... Spring, Miezchen!«

 

Um Sasubrina wurde es leer. Er stand allein, wischte mit den Fingern die Farbe vom Schnurrbart und blickte auf das Kätzchen, das über Schultern und Rücken der Gefangenen sprang. Wenn es den Wunsch zeigte, auf einer Schulter oder einem Rücken sitzen zu bleiben, so bewegten sie diese und jenen und schüttelten das Kätzchen ab, das dann von der Schulter des einen auf die des Nachbars sprang. Das belustigte sie alle, und ununterbrochenes Lachen ertönte.

 

»Brüder! Wir wollen die Katze färben!«, erschallte Sasubrinas Stimme. Sie klang so, als erbitte er, indem er diese Belustigung vorschlug, gleichzeitig ihre Einwilligung.

 

Die Gefangenen lärmten los.

 

»Sie krepiert vielleicht davon«, meinte einer.

 

»Von der Farbe? Was du nicht redest!«

 

»Vorwärts, Sasubrina! Mach schnell!«

 

Ein breitschultriger Bursche mit feuerrotem Bart rief aufgemuntert: »Hat sich der Satan wieder 'nen Streich ausgedacht!« Sasubrina hielt schon die Katze in den Händen und ging mit ihr an den Farbeimer.

 

»Sehet, Brüder, sehet hier...«, sang Sasubrina, »unsre rote Katze färben wir. In der grünen Farbe ganz, und dann gibt es einen Tanz.«

 

Eine Lachsalve erdröhnte, die Gefangenen traten, sich die Seiten haltend, auseinander. Ich konnte sehen, wie Sasubrina das Kätzchen, es am Schwanz haltend, in den Eimer tauchte und herumtanzend sang: »Halt, nicht miaut, den Paten nicht gekraut!«

 

Das Gelächter nahm zu. Einer winselte mit dünner Stimme: »Oh – oh – oh! Oh, du dickwanstiger Schelm.«

 

»Ach, Batjuschki!« stöhnte ein anderer.

 

Das Lachen nahm ihnen den Atem und erstickte sie. Ihre Leiber krümmten sich, es bog sie, es schallte und dröhnte durch die Luft – gewaltig und sorglos, immer mehr zunehmend und steigerte sich fast zur Hysterie.

Lachende Gesichter in weißen Tüchern sahen aus den Fenstern der Frauenabteilung auf den Hof. Der an der Mauer lehnende Aufseher, der seinen dicken Bauch vorstreckte, hielt diesen mit den Händen und stieß ein lautes, tiefes, ihn erstickendes Gelächter aus.

 

Lachend zerstreuten sich die Leute nach allen Seiten vom Eimer. Mit den Beinen wunderbare Kunststücke ausführend, Sasubrina tanzte, vollführte wunderliche Kunststücke mit den Beinen. Bald hockte er hin, bald sprang er auf und sang dazu:

 

»Ei, lustig ist das Leben, schau!
War einst 'ne graue Katzenfrau,
Und ihr roter Katersohn
geht jetzt grüngefärbt davon!«

 

*

 

»Genug, genug, der Teufel hol' dich!«, rief stöhnend der Rotbart.

 

Aber Sasubrina war jetzt in Stimmung. Um ihn herum dröhnte das irre Gelächter der grauen Leute, und er wusste, dass er allein sie alle veranlasst hatte, so zu lachen.

In jeder Geste, in jeder Grimasse seines beweglichen Hanswurstgesichts zeigte sich deutlich dies Bewusstsein, und sein ganzer Leib zuckte im Genuss dieses Triumphes.

Er hielt die Katze über den Kopf und schüttelte die überflüssige Farbe von ihrem Fell ab. Unermüdlich tanzte er in der Ekstase eines Artisten, der sich seines Sieges über die Menge bewusst ist, und improvisierte dazu:

 

»Meine lieben Brüder, seht,
was in dem Kalender steht.
Die Katze muss 'nen Namen han,
dass man sie also nennen kann!«

 

Ringsumher lachte die von rasender Ausgelassenheit ergriffene Menge der Gefangenen. Die Sonne lachte auf den eisenvergitterten Fensterscheiben, es lachte der blaue Himmel über dem Gefängnishof, und es war, als lachten auch die alten, schmutzigen Mauern, wie ein Geschöpf lächelt, das die Heiterkeit in sich unterdrücken muss, damit sie nicht allzu laut in ihm werde.

Hinter den Fenstergittern der Frauenabteilung sahen Frauengesichter auf den Hof. Sie lachten auch, und ihre Zähne blinkten in der Sonne. Alles ringsum war wie umgewandelt, es hatte den langweiligen grauen Ton abgeworfen, der so bang und mutlos machte. Jeder lebte auf, durchdrungen von diesem reinigenden Lachen, das, wie die Sonne, selbst den Schmutz zwingt, anständiger zu sein.

 

Nachdem er das grüne Kätzchen auf den Rasen gelegt hatte, der, zwischen den Steinen hervordringend, den Gefängnishof bunt erscheinen ließ, führte Sasubrina schwitzend, aufgeregt und atemlos immer noch seinen wilden Tanz auf.

 

Aber schon erlosch das Gelächter. Es war so über die Maßen gewesen und hatte die Leute ermüdet. Der eine oder andere winselte noch hysterisch, einige lachten noch, aber schon mit Pausen dazwischen...

Schließlich kamen Momente, wo alle schwiegen, außer dem singenden und dem tanzenden Sasubrina und dem Kätzchen, das auf dem Rasen kroch und leise und kläglich miaute. Es unterschied sich in der Farbe fast gar nicht von ihm, und – wahrscheinlich blendete es die Farbe und hinderte seine Bewegungen – kroch, großköpfig und klebrig-glatt, auf zitternden Beinen, blieb liegen, wie an den Rasen geklebt, und miaute in einem fort...

 

»Kommt, ihr Leut', und seht,
der grüne Kater geht.
Seht, die früher rote Katz'
findet für sich keinen Platz.«

 

So kommentierte Sasubrina die Bewegungen des Kätzchens.

 

»Sieh an, Hund, wie geschickt!«, sagte der rothaarige Bursche. Das Publikum betrachtete seinen Artisten mit übersättigten Augen.

 

»Wie's miaut!«, sagte der halbwüchsige Bursche mit einer Kopfbewegung nach dem Kätzchen und sah seine Kameraden an. Sie schwiegen und beobachteten das Tierchen.

 

»Bleibt's denn nun sein lebelang grün?«, fragte der Junge.

 

»Wie lange wird's denn noch leben?«, fragte ein großer, grauhaariger Mann, während er sich neben dem Miezchen niederkauerte. »Es trocknet in der Sonne, die Haare kleben ihm zusammen, und es krepiert...«

 

Das Kätzchen miaute herzzerreißend, wodurch es einen Stimmungsumschwung der Gefangenen hervorrief.

 

»Es krepiert?«, fragte der Junge,»wenn man es abwaschen würde?«

 

Keiner antwortete ihm. Das kleine, grüne Klümpchen quälte sich zu Füßen dieser rauen Leute und war bemitleidenswert in seiner Hilflosigkeit.

 

»Pfui! Ich bin wie geschmort!«, rief Sasubrina und warf sich auf die Erde. Man beachtete ihn nicht.

 

Der Junge näherte sich dem Kätzchen und nahm es in die Hände, legte es aber gleich wieder auf den Rasen und sagte: »Es ist ganz heiß...«

 

Dann sah er die Kameraden an und sagte mitleidig: »So geht's dem Miezchen! Und wir werden kein Miezchen mehr haben! Warum habt ihr das Tier umgebracht?«

 

»Es wird sich schon wieder erholen«, sagte der Rothaarige.

 

Das grüne, verunstaltete Geschöpf kroch immer noch auf dem Rasen, zwanzig Paar Augen verfolgten es, und auf keinem Gesicht lag mehr der Schatten eines Lächelns.

Alle waren finster, alle schwiegen, und alle wurden so traurig wie das Kätzchen, als hätte es ihnen sein Leiden mitgeteilt, und sie fühlten seinen Schmerz mit.

 

»Es wird sich wieder erholen«, lachte der Junge höhnisch auf und erhob die Stimme. »Was nicht noch... Wir hatten das Miezchen... alle hatten es lieb... Warum quält ihr's? Schlagt's lieber tot.«

 

»Und wer hat's getan?«, rief der Rothaarige erbost. »Der da ist der teuflische Anstifter!«

 

»Na«, Sasubrina wollte versöhnlich klingen. »Wir alle zusammen wollten es doch!« Und er krümmte sich wie vor Kälte.

 

»Alle zusammen!«, äffte ihm der Junge nach. »Auch das noch! Du bist allein schuld... ja!«

 

»Ach, du Kalb, brüll' nicht«, riet ihm Sasubrina friedfertig.

 

Der grauhaarige Alte nahm das Kätzchen in die Hände, untersuchte es sorgfältig und gab den Rat: »Wenn es in Petroleum gebadet würde, ginge die Farbe ab!«

 

»Meine Meinung ist, es am Schwanz zu nehmen und über die Mauer zu werfen«, sagte Sasubrina und fügte lachend hinzu: »Das ist am Allereinfachsten!«

 

»Soo?«, brüllte der Rothaarige los. »Und wenn ich dir selber das täte? Willst du?«

 

»Teufel!« rief der Junge, riss die Katze aus den Händen des Alten und stürzte fort. Der Alte und noch einige gingen ihm nach.

 

Da blieb Sasubrina allein in einem Kreis von Leuten, die ihn mit bösen, finsteren Augen ansahen. Es war, als erwarteten sie etwas von ihm.

 

»Ich war's doch nicht allein, Brüder«, sagte Sasubrina kläglich.

 

»Schweig!«, rief der Rothaarige und sah sich im Hof um. »Nicht allein! Und wer denn noch?«

 

»Ja doch alle?«, entriss es sich dem Spaßmacher laut.

 

»Ach,du Hund!« Der Rothaarige schlug ihm mit der Faust in die Fresse. Der Artist wankte zurück, aber dort traf ihn ein Genickstoß.

 

»Brüder...«, flehte er bang. Aber seine Brüder hatten gesehen, dass die beiden Aufseher weit von ihnen entfernt waren.

Sie umringten ihren Liebling dicht und stießen ihn mit ein paar Schlägen nieder. Von fern konnte die dichte Gruppe für eine sich lebhaft unterhaltende Gesellschaft gehalten werden. Von ihnen umringt und verdeckt, lag Sasubrina zu ihren Füßen.

Dann und wann erschallten dumpfe Laute – sie stießen Sasubrina mit den Füßen in die Rippen, ohne Hast, ohne Erbitterung; warteten ab, bis der sich wie eine Natter windende Mensch ihren Fußtritten eine besonders geeignete Stelle darbot.

 

So vergingen drei Minuten. Plötzlich erschallte die Stimme des Aufsehers: »Heda, ihr Teufel! Bleibt in euren Schranken!«

 

Die Häftlinge hoben die Folter nicht gleich auf. Nacheinander gingen sie von Sasubrina weg, und jeder verabschiedete sich mit einem Fußstoß von ihm.

 

Als sie fort waren, blieb Sasubrina auf der Erde liegen. Er lag mit der Brust nach unten, seine Schultern bebten – wahrscheinlich weinte er – er hustete und spuckte aus.

Dann begann er sich vorsichtig von der Erde aufzurichten, als habe er Angst, zu zerbrechen. Mit der linken Hand stütze er sich auf ein Bein, bog es ein wenig und setzte sich auf die Erde, aufwinselnd wie ein kranker Hund.

 

»Verstell' dich!«, rief der Rothaarige drohend. Sasubrina warf sich herum und stand schnell auf.

 

Dann wankte er zu einer der Gefängnismauern. Eine Hand hatte er an die Brust gedrückt, die andere nach vorne gestreckt. So lehnte er sich an die Wand und beugte stehend den Kopf zur Erde nieder. Er hustete...

 

Ich sah, wie dunkle Tropfen auf die Erde fielen. Es war gut zu unterscheiden, wie sie auf dem grauen Hintergrund der Gefängnismauer schnell erschienen und verschwanden.

 

Um das Staatsgebäude nicht mit seinem Blut zu beflecken, gab sich Sasubrina alle mögliche Mühe, es so auf die Erde zu vergießen, dass kein Tropfen an die Wand kam.

 

Er wurde ausgelacht...

 

Das Kätzchen war seit jener Zeit verschwunden. Sasubrina hatte mit niemand mehr die Aufmerksamkeit der Gefängnisbewohner zu teilen.

 

 

 

 

 

Makar Tschudra

 

Von der See wehte ein feuchter, kalter Wind, trug die versonnene Melodie der patschend ans Ufer springenden Wellen in die Steppe und raschelte in den Uferbüschen.

Manchmal fegte ein Windstoß runzlige, gelbe Blätter heran, warf sie ins Feuer und ließ die Flamme auflodern.

Das uns umgebende Dunkel der Herbstnacht zuckte, wich ängstlich zurück und enthüllte für einen kurzen Moment links die grenzenlose Steppe, rechts das unendliche Meer und mir genau gegenüber die Gestalt Makar Tschudras, des alten Zigeuners. Er bewachte die Pferde seines Lagers, das etwa fünfzig Schritt von uns entfernt aufgeschlagen war.

 

Er achtete nicht darauf, dass die kalten Windstöße seinen Bauernrock aufrissen, die behaarte Brust entblößten und erbarmungslos peitschten, sondern blieb halbaufgerichtet in malerischer, kraftvoller Haltung liegen. Das Gesicht mir zugewandt, sog er gleichmäßig an seiner gewaltigen Tabakspfeife, stieß dichten Rauch aus Mund und Nase, starrte regungslos über mich hinweg ins totenstille Dunkel der Steppe.

Er redete ununterbrochen und rührte keine Hand, um sich gegen die heftigen Windstöße zu schützen.

 

»Du ziehst umher? Das ist gut! Du hast ein herrliches Los gewählt, mein Falke. So muss es sein: Zieh umher und sieh dir alles an. Hast du alles gesehen, dann leg dich und stirb – das ist alles!«

 

»Das Leben? Andere Menschen?«, fuhr er fort, nachdem er sich meinen Einwand gegen sein 'So muss es sein' skeptisch angehört hatte.

»Ach wo! Was geht das dich an? Bist du nicht selbst das Leben? Die anderen leben ohne dich und werden's weiter tun. Glaubst du vielleicht, jemand braucht dich? Du bist kein Brot, kein Stock, niemand braucht dich.

Immer nur lernen, sagst du? Kannst du erlernen, die Menschen glücklich zu machen? Nein, das kannst du nicht.

Krieg erst mal graue Haare, dann sag, was man lernen sollte.

Wozu auch? Jeder weiß, was er braucht. Die Schlauen nehmen sich, was da ist - die Dummen kriegen nichts ab, das lernt jeder von allein.

Sie sind doch seltsam, deine Menschen. Drängen sich zu einem Haufen zusammen und bedrücken einander, dabei ist so viel Platz auf der Welt.«

 

Er deutete in einer weiten Handbewegung auf die Steppe. »Und immer müssen sie arbeiten. Warum? Für wen? Niemand weiß es. Du siehst einen Menschen pflügen und denkst: Mit jedem Tropfen Schweiß opfert er der Erde seine Kraft, dann legt er sich selbst hinein und verfault. Nichts bleibt von ihm, er sieht nichts von seinem Feld und stirbt, wie er geboren wurde – als Dummkopf!

 

Du meinst, er wurde geboren, um eben in der Erde herumzustochern und zu sterben, ohne sich auch nur das eigene Grab ausgehoben zu haben? Kennt er die Freiheit? Begreift er die Weite der Steppe? Erfreut das Rieseln der Steppengräser sein Herz?

Er wurde als Sklave geboren und bleibt es sein Leben lang, nichts weiter! Was kann er aus sich machen? Sich höchstens aufhängen, sobald er ein bisschen gescheiter geworden ist.

 

Sieh her: Ich hab in den achtundfünfzig Jahren so viel gesehen, würde ich alles zu Papier bringen, so würden tausend solcher Taschen nicht ausreichen, wie du sie hast.

Was glaubst du, in welchen Ländern ich nicht überall war? Du errätst es nicht.

Du kennst die Länder gar nicht, wo ich mal war.

So muss man leben: Immer weiterziehen – das ist alles. Ja nicht lange an einem Ort bleiben, was ist schon an ihm? Wie Tag und Nacht einander nachsetzend um die Erde eilen, so solltest auch du vor deinen Gedanken über das Leben davonlaufen, damit du nicht aufhörst, es zu lieben. Denn wenn du nachdenkst, hörst du auf, das Leben zu lieben. So ist es immer. Auch mir erging's so. O ja! Du kannst's mir glauben, mein Falke.

 

Im Gefängnis hab ich gesessen, in Galizien. Wozu bin ich überhaupt auf der Welt? hab ich mich ganz traurig gefragt.

Denn traurig ist's im Gefängnis, mein Falke, und wie!

Sehnsucht packte mich, wenn ich aus dem Fenster blickte, und presste mein Herz zusammen wie mit Zangen. Wer kann sagen, warum er lebt? Niemand kann das, mein Falke!

Du brauchst dich auch nicht selbst danach zu fragen. Du lebst – das ist alles. Also zieh umher und sieh dir alles ringsum genau an, dann packt dich auch keine Sehnsucht. Damals hätte ich mich beinahe mit meinem Gürtel erhängt, jawohl!

 

Ha! Ich hab mal mit jemandem gesprochen. Er war ein ernster Mann, einer von euch, ein Russe.

Er meinte, man darf nicht so leben, wie man will, sondern wie es Gottes Gebot entspricht. Unterwirf dich Gott, er gibt dir alles, was du dir erbittest.

–Der Mann ging aber ganz zerlumpt umher. Ich sagte ihm, da sollte er sich von Gott was Besseres zum Anziehen erbitten. Er wurde ganz wütend und hat mich mit Schimpfworten davongejagt.

Eben hatte er noch geredet, man soll den Menschen vergeben und sie lieben. Dann hätte er mir vergeben sollen, wenn meine Worte seine Gefühle verletzten. Ein schöner Lehrer ist mir das!

Sie predigen, weniger zu essen, und essen selbst zehnmal am Tag.«

 

Er spie ins Feuer, schwieg eine Weile und stopfte sich eine neue Pfeife. Der Wind heulte leise und kläglich, die Pferde wieherten in der Dunkelheit, vom Lager tönte ein leidenschaftliches, zärtliches Lied herüber.

Die schöne Nonka sang es, Makars Tochter. Ich erkannte ihre dunkle, tiefe Stimme, die stets seltsam unzufrieden und fordernd klang – sooft sie dieses Lied sang, schien sie ›Sei gegrüßt!‹ zu sagen.

Der Hochmut einer Königin lag auf ihrem dunkelhäutigen, mattglänzenden Gesicht, in den dunkelbraunen, wie überschatteten Augen blitzte das Bewusstsein unwiderstehlicher Schönheit und Verachtung für alles, was nicht sie selbst war.

 

Makar gab mir die Pfeife.

 

»Rauch! Schön singt das Mädchen, was? O ja! Möchtest du, dass so eine dich liebt? Nein?

Sehr gut! So muss es sein. Trau den Mädchen nicht und halt dich fern von ihnen.

Für sie ist Küssen schöner und angenehmer als für mich das Pfeiferauchen, aber wenn du sie geküsst hast, ist es aus mit der Freiheit in deinem Herzen. Sie fesselt dich an sich mit etwas, das du nicht siehst – du kannst es nicht zerreißen und lieferst ihr deine Seele aus! Wirklich!

Hüte dich vor den Mädchen! Sie lügen immer! ›Ich liebe dich mehr als alles auf der Welt‹, sagt manche, aber du brauchst sie nur mit einer Nadel zu stechen, dann zerreißt sie dir das Herz. Ich weiß es! Und ob ich es weiß!

Wenn du willst, erzähle ich dir eine Geschichte, möchtest du, mein Falke? Präg sie dir gut ein, wenn du das tust, bleibst du dein Lebtag ein freier Vogel.

 

Es lebte einmal ein junger Zigeuner namens Sobar, Loiko Sobar. Ganz Ungarn, das Tschechenland, Slawonien und alles Land um das Meer kannte ihn – er war ein verwegener Junge!

Kein Dorf gab es in jenen Ländern, in dem sich fünf, zehn Einwohner nicht geschworen hätten, ihn zu töten. Aber das bekümmerte ihn nicht, und wenn ihm ein Pferd gefiel, so hättest du es durch ein Regiment Soldaten bewachen lassen können – er hätte es dennoch genommen und Reiterkunststücke damit vorgeführt!

Als ob er vor jemandem Angst gehabt hätte! Wäre Satan mit seinem ganzen Gefolge zu ihm gekommen, so hätte Loiko, wenn er ihm nicht gleich ein Messer in den Leib gerannt hätte, bestimmt nur kräftig geflucht und allen Teufeln mächtig eines auf die Schnauze gehauen – das steht mal fest!

 

Auch alle Zigeunerlager kannten ihn oder hatten von ihm gehört. Er liebte nur die Pferde, sonst nichts, und das nie lange.

War er eine Zeitlang damit herumgeritten, verkaufte er es und warf das Geld mit vollen Händen hinaus. Nichts hielt er verborgen vor der Welt.

Hättest du sein Herz gefordert, so hätte er es sich selbst aus der Brust gerissen und dir gegeben, nur um dir Gutes zu tun. So war er, mein Falke!

 

Unser Lager zog zu jener Zeit durch die Bukowina – das war vor etwa zehn Jahren. In einer Frühlingsnacht saßen wir beisammen: ich, Danilo der Soldat, der unter Kossuth gekämpft hatte, der alte Nur und alle anderen, darunter auch Radda, Danilos Tochter.

 

Du kennst doch meine Nonka? Schön wie eine Königin! Dennoch lässt sie sich nicht mit Radda vergleichen – es wäre zu viel Ehre für sie!

Die Schönheit dieser Radda ist nicht mit Worten auszudrücken. Vielleicht mit einer Geige, aber auch nur, wenn jemand diese Geige wie die eigene Seele kennt.

 

Viele Burschenherzen hatten sich ihretwegen verzehrt, o viele! In Mähren erstarrte ein alter Magnat mit mächtigem Haarschopf bei ihrem Anblick zur Salzsäule. Er saß auf seinem Pferd, sah sie und zitterte wie im Fieber.

Schön war er wie der Satan am Feiertag, sein Rock goldbestickt, der Säbel an seiner Seite blitzte bei jedem Aufstampfen des Pferdes, denn er war mit Edelsteinen besetzt, und die Mütze aus hellblauem Samt sah aus wie ein Stück Himmel.

Es war ein vornehmer Herr, der alte Mann! Als er sich sattgesehen hatte, sagte er zu Radda: ›He! Küß mich, ich geb dir einen Beutel Geld!‹

Sie aber wandte sich nur ab!

›Verzeih, wenn ich dich gekränkt hab, blick mich wenigstens etwas zärtlicher an‹, lenkte der alte Magnat sofort ein und warf ihr einen Beutel vor die Füße – einen großen Beutel, Bruder!

Sie aber stieß ihn wie aus Versehen in den Schmutz, weiter nichts!

›Ist das ein Mädchen!‹, stöhnte er, zog dem Pferd eines mit der Peitsche über – eine Staubwolke stob hinter ihm auf.

 

Am nächsten Tag erschien er wieder. ›Wer ist ihr Vater?‹ rief er mit Donnerstimme durchs Lager. Danilo trat heraus.

›Verkauf mir deine Tochter, nimm, was du haben willst!‹

Danilo aber sagte zu ihm: ›Nur für die Herren ist alles käuflich, von ihren Schweinen bis zu ihrem Gewissen, ich aber hab unter Kossuth gekämpft und verkaufe nichts!‹

Der andere brüllte auf und wollte nach dem Säbel greifen, da stieß einer von uns seinem Pferd einen brennenden Zweig ins Ohr, und es preschte mit dem Recken davon. Wir brachen auf und zogen weiter.

Einen Tag, zwei, dann sahen wir – er hatte uns eingeholt!

›He, ihr da‹, sagte er. ›Rein ist mein Gewissen vor Gott und vor euch, gebt mir das Mädchen zur Frau, und ich will alles mit euch teilen, ich bin sehr reich!‹

Hochrot war er und schwankte im Sattel wie Federgras im Wind. Wir überlegten.

 

›Was sagst du, Tochter!‹ sagte Danilo still für sich.

 

›Kröche das Adlerweibchen aus freien Stücken zur Krähe ins Nest, was würde aus ihr werden?‹ fragte uns Radda.

 

Da lachte Danilo, und wir lachten mit ihm.

 

›Prachtvoll, Töchterchen! Hast du gehört, Herr? Aus der Sache wird nichts! Such dir ein Täubchen, das williger ist.‹ Und wir zogen weiter.

 

Da riss sich der große Herr die Mütze vom Kopf, schleuderte sie auf den Boden und sprengte davon, dass die Erde bebte. So war sie, diese Radda, mein Falke!

 

Ja! Einmal nachts hörten wir Musik durch die Steppe tönen. Herrliche Musik! Die das Blut in den Adern entbrennen lässt und dich irgendwohin lockt.

Wir alle spürten, wie diese Musik Wünsche weckte, nach denen man nicht länger mehr leben wollte, oder wenn doch, dann als Herrscher über die ganze Erde, mein Falke!

 

Aus der Dunkelheit tauchte ein Pferd, ein Mann saß darauf und spielte im Näherkommen. Er hielt am Feuer, hörte auf zu spielen und blickte uns lächelnd an.

 

»He, Sobar, du bist das!«, rief Danilo ihm freudig zu. Es war jener Loiko Sobar.

 

Sein Schnurrbart ruhte auf den Schultern und verschmolz mit dem Haupthaar, die Augen strahlten wie klare Sterne, sein Lächeln glich dem der Sonne, fürwahr!

Er sah aus wie ein ehernes Reiterstandbild. Der Feuerschein färbte ihn blutrot, und er lachte mit blitzenden Zähnen! Verflucht will ich sein, wenn ich ihn nicht schon liebte wie mich selbst, noch ehe er ein Wort zu mir gesagt oder auch nur bemerkt hatte, dass es auch mich auf dieser weiten Welt gab!

 

Solche Menschen gibt es wohl, mein Falke! Er blickt dir in die Augen und nimmt deine Seele gefangen, du aber schämst dich dessen nicht, bist gar noch stolz darauf.

Mit so einem wirst du selbst ein besserer Mensch. Es gibt wenig solcher Menschen, Freund!

Aber das ist gut, dass es wenig gibt. Gäbe es viel Schönes auf der Welt, würde man es nicht als schön ansehen. So ist es doch! Aber höre weiter.

 

Radda sagte: ›Du spielst gut, Loiko! Wer hat dir eine so klangvolle, zauberhafte Geige gebaut?‹

Loiko aber lachte: ›Ich selbst! Und ich hab sie nicht aus Holz gefertigt, sondern aus der Brust eines jungen Mädchens, das ich einmal sehr geliebt habe. Die Saiten hab ich aus ihrem Herzen gewunden. Sie lügt noch ein wenig, die Geige, aber ich weiß, den Bogen fest in der Hand zu halten!‹

 

Du weißt: Unsereins legt es darauf an, einem Mädchen den Blick zu vernebeln, damit unser Herz nicht davon entbrennt, sie selbst aber von Sehnsucht nach uns erfüllt wird. Das tat auch Loiko.

Nur war er diesmal an die Falsche geraten. Radda wandte sich ab und sagte gähnend: ›Da heißt's allgemein, Sobar ist klug und geschickt – wie die Leute doch lügen!‹

Damit ging sie weg.

 

›Oho, spitz ist deine Zunge, du Schöne!‹ sagte Loiko mit blitzenden Augen und schwang sich vom Pferd. ›Seid gegrüßt, Brüder! Zu euch will ich!‹

 

›Der Gast ist uns willkommen!‹ sagte Danilo zur Antwort. Wir küssten uns, unterhielten uns kurz und legten uns schlafen. Wir schliefen fest. Am nächsten Morgen sahen wir jedoch, dass Sobar einen verbundenen Kopf hatte. Was war das? Hatte ein Pferd ihn im Schlaf getreten?

 

Ach was! Wir begriffen wohl, wer dieses Pferd gewesen war, und grinsten, und auch Danilo grinste. Aber war Loiko nicht Radda wert? Das wiederum nicht!

So schön das Mädchen war, sie war engherzig und kleinlich, und hättest du ihr ein Pud [Anm.: 16,38 kg] Gold um den Hals gehängt, sie wäre dennoch nicht besser geworden, als sie war. Aber lassen wir das!

 

Wir blieben an jenem Ort, unsere Geschäfte gingen zu jener Zeit gut, und auch Sobar blieb bei uns. Er war ein guter Helfer!

Weise wie ein Greis, in allen Dingen erfahren und des Russischen und Ungarischen kundig. Wenn er erzählte, dachte ich nicht an Schlaf, sondern hörte ihm zu!

Und wenn er spielte – der Blitz soll mich treffen, wenn sonst jemand auf der Welt so gespielt hätte! Er strich mit dem Bogen über die Saiten – und dein Herz hüpfte, er strich abermals – und es erstarrte lauschend, er aber spielte und lächelte.

Wer ihn hörte, hätte am liebsten geweint und gelacht zugleich. Eben noch schien jemand bitter zu stöhnen und um Hilfe zu flehen, dass es dir das Herz zerriss vor Schmerz. Dann wieder erzählte die Steppe dem Himmel Märchen, traurige Märchen.

Ein Mädchen weint beim Abschied von seinem Liebsten! Der brave Junge ruft sie in die Steppe. Und plötzlich – he! Wie ein Gewitter braust eine ungestüme, lebenssprühende Melodie dahin, selbst die Sonne am Himmel scheint nach dem Lied zu tanzen, sieh nur hin! So war er, mein Falke.

 

Jede Faser deines Körpers verstand dieses Lied, und du wurdest sein Sklave.

Hätte Loiko damals gerufen: ›Zieht die Messer, ihr Männer!‹, so hätten wir alle die Messer gezogen und gekämpft, wie er uns geheißen.

Alles konnte er mit dem Menschen machen, und alle liebten ihn, liebten ihn sehr, nur Radda würdigte ihn keines Blickes. Nun gut, wäre nur das gewesen, aber sie spottete seiner noch!

Tief traf sie ihn ins Herz, den Sobar, sehr tief! Er knirschte mit den Zähnen, zupfte seinen Schnurrbart, der Loiko, seine Augen blickten dunkel wie ein bodenloser Abgrund, und manchmal blitzte es darin auf, dass einem ganz schrecklich zumute wurde.

Nachts ging Loiko weit in die Steppe, seine Geige weinte bis zum Morgen, weinte und trug seine Freiheit zu Grabe. Wir aber lagen und lauschten und grübelten: Was würde geschehen?

Denn wir wussten: Prallen zwei Steine aufeinander, darf man nicht dazwischentreten – sonst ergeht's einem schlimm. Genauso kam es.

 

Wieder einmal saßen wir alle beisammen und sprachen über unsere Angelegenheiten. Dann wurde uns langweilig.

Deshalb bat Danilo den Loiko: ›Sing uns ein Lied, Sobar, ermuntere die Seele!‹

Dieser warf einen Blick auf Radda, die nicht weit entfernt auf dem Rücken lag und in den Himmel blickte. Er schlug auf die Saiten und die Geige hub zu sprechen an, als sei sie fürwahr ein Mädchenherz.

Loiko sang:

 

He, he! Feuer brennt in der Brust,
und weit ist die Steppe!
Schnell wie der Wind ist mein munteres Pferd
und fest mein Arm!

 

Radda wandte den Kopf, richtete sich auf und lachte dem Sänger ins Gesicht. Es loderte auf wie die Morgenröte.

 

He, hopp, he! Komm, mein Gefährte!
Wollen wir vorausreiten?!
Düstere Finsternis umhüllt die Steppe,
aber dort harrt unserer die Dämmerung!
He, he! Wir fliegen dahin und begrüßen den Tag.
Schwing dich auf in die Höhe!
Nur berühr nicht mit der Mähne
den Mond, den prächtigen!

 

So sang Loiko! Niemand singt jetzt noch so! Radda aber sagte verächtlich: ›Solltest nicht so hoch fliegen, Loiko, womöglich fällst du, ja – und mit der Nase in die Pfütze, so dass du dir den Schnurrbart schmutzig machst! Pass auf!‹

 

Wild blickte Loiko sie an, sagte aber nichts. Er duldete es still und sang für sich:

 

He, hopp! Plötzlich kommt der Tag hierher,
und wir beide schlafen!
He, he! Dann verbrennen wir beide doch
im Feuer der Scham!

 

›Das ist ein Lied!‹ sagte Danilo. ›Nie hab ich dergleichen gehört. Soll der Satan aus mir eine Tabakspfeife für sich machen, wenn ich lüge!‹

 

Der alte Nur bewegte den Schnurrbart und zuckte die Schultern, uns allen gefiel das muntere Lied von Sobar! Nur Radda missfiel es.

 

›So hat einmal eine Mücke gesummt, um den Schrei des Adlers nachzuäffen‹, sagte sie. Es war, als überschütte sie uns mit Schnee.

 

›Verlangt's dich etwa nach der Peitsche, Radda?‹ fragte Danilo und reckte den Kopf nach ihr.

 

Sobar aber warf seine Mütze zu Boden und sagte, das Gesicht schwarz wie Erde: ›Halt, Danilo! Ein hitziges Pferd braucht eine stählerne Kandare! Gib mir deine Tochter zur Frau!‹

 

›Das ist ein Wort!‹ sagte Danilo lachend. ›Nimm sie dir, wenn du kannst!‹

 

›Gut!‹ antwortete Loiko und sagte zu Radda: ›Nun hör mir gut zu, Mädchen, und sei nicht so stolz! Viele deinesgleichen hab ich gesehen, o ja, viele!

Keine hat mein Herz so bewegt wie du. Ach, Radda, du hast meine Seele gefangengenommen! Was soll ich tun?

Was geschehen soll, wird geschehen – das Pferd gibt es nicht, mit dem man sich selbst entrinnen kann!

Ich nehme dich zur Frau vor Gott, meiner Ehre, deinem Vater und all diesen Leuten.

Jedoch gib acht: Widersetz dich nicht meiner Freiheit – ich bin ein freier Mann und werde leben, wie ich will!‹

Er trat zu ihr mit zusammengebissenen Zähnen und funkelnden Augen. Wir sahen, wie er ihr die Hand hinstreckte – nun hat Radda dem Steppenpferd den Zügel übergestreift, dachten wir! Plötzlich warf er die Arme hoch und fiel rücklings zu Boden – krach!

 

Was war denn das? Als habe eine Kugel den Jungen ins Herz getroffen. Radda hatte ihm die langriemige Peitsche um die Beine geschlagen und gezogen – so war er gefallen.

 

Abermals lag das Mädchen, ohne sich zu rühren, und lachte lautlos. Wir warteten, was weiter sein werde, aber Loiko saß auf der Erde und hielt den Kopf mit beiden Händen, als fürchte er, er werde ihm zerplatzen.

Dann erhob er sich still und ging in die Steppe, ohne jemanden anzusehen. Nur flüsterte mir zu: ›Sieh nach ihm!‹, so folgte ich ihm unbemerkt in nächtlicher Dunkelheit durch die Steppe. Jawohl, mein Falke!«

 

Makar klopfte die Asche aus der Pfeife und stopfte sie neu. Ich hüllte mich fester in den Mantel und blickte im Liegen in sein altes, vom Lagerfeuer und Wind gedunkeltes Gesicht. Er schüttelte düster und streng den Kopf und flüsterte etwas vor sich hin.

Der graue Schnurrbart regte sich, der Wind zauste ihm das Kopfhaar. Er glich einer alten, vom Blitz versengten Eiche, die noch immer mächtig und kraftvoll ist und stolz auf ihre Kraft.

Das Meer flüsterte wie ehedem mit dem Ufer, der Wind trug das Flüstern durch die Steppe. Nonka sang nicht mehr, die sich am Himmel drängenden Wolken ließen die Herbstnacht noch dunkler erscheinen.

 

»Gesenkten Hauptes ging Loiko durch die Steppe, seine Arme hingen herab wie Peitschenschnüre, und als er zur Schlucht mit dem Bach kam, setzte er sich auf einen Stein und stöhnte.

Er stöhnte, dass mein Herz vor Mitleid blutete, dennoch trat ich nicht zu ihm. Worte können solchen Schmerz nicht lindern – hab ich recht? Und ob!

Er saß eine Stunde, eine zweite und eine dritte, ohne sich zu rühren.

 

Ich lag in einiger Entfernung. Die Nacht war hell, der Mond goss silbernes Licht über die Steppe, man konnte weit sehen.

 

Plötzlich sah ich Radda vom Lager herkommen.

 

Ich freute mich! Ach, was soll's! dachte ich. Sie ist nun einmal ein mutwilliges Ding!

Sie trat zu ihm, aber erhörte nicht. Da legte sie ihm die Hand auf die Schulter. Er zuckte zusammen, nahm die Hände herab und hob den Kopf.

Dann sprang er auf und griff nach dem Messer! O, jetzt ersticht er das Mädchen, dachte ich. Schon wollte ich zum Lager hinüberrufen und zu ihnen stürzen, da hörte ich:

 

›Lass das! Ich zerschieß dir den Kopf!‹

Ich sah deutlich, dass Radda eine Pistole in der Hand hielt und auf Sobars Stirn zielte. So ein Satansmädchen!, dachte ich, sie sind einander ebenbürtig, was wird nun werden?

 

Radda steckte die Pistole in den Gürtel und sagte zu Sobar: ›Hör zu! Ich bin nicht gekommen, dich zu töten, sondern um mich auszusöhnen, also wirf das Messer weg!‹

Er tat es und blickte ihr finster ins Gesicht. Seltsam war das, Bruder! Da standen zwei Menschen und blickten sich an wie Tiere, und beide waren so schön, so verwegen. Nur der helle Mond und ich sahen sie – niemand sonst.

 

›Hör mir zu, Loiko: Ich liebe dich!‹ sagte Radda. Er zuckte nur die Schultern, als wäre er an Händen und Füßen gefesselt.

 

›Ich habe viele Burschen gesehen, du aber bist verwegener als sie und schöner von Angesicht und Gesinnung. Jeder von ihnen würde sich den Schnurrbart rasieren, zuckte ich nur mit der Braue.

Alle fielen mir zu Füßen, wenn ich's wollte. Aber was hätte es für Sinn?

Sie sind nicht verwegen genug, ich würde sie alle zu Weibern machen. Nur wenig verwegene Zigeuner gibt's noch auf der Welt, wenige, Loiko.

Nie hab ich einen geliebt, Loiko, dich aber liebe ich. Außerdem liebe ich die Freiheit! Ich liebe die Freiheit mehr als dich, Loiko. Dennoch kann ich nicht ohne dich leben, wie auch du nicht ohne mich leben kannst. Deshalb will ich, dass du mit Leib und Seele mir gehörst, verstehst du?‹

 

Er lachte kurz. ›Ich verstehe wohl! Mein Herz freut sich ob deiner Rede! Wohlan, fahre fort!‹

 

›Das wollte ich noch sagen, Loiko: Wie du dich auch drehst und windest, ich bin dir über, du wirst mein. Also verlier keine Zeit – meine Küsse und Liebkosungen erwarten dich.

Und wie ich dich küssen werde, Loiko! Unter meinen Küssen vergisst du dein verwegenes Leben. Auch deine munteren Lieder, mit denen du die jungen Zigeuner erfreust, werden nicht mehr in den Steppen erklingen.

Mir wirst du zärtliche Liebeslieder singen, mir, deiner Radda! So verlier keine Zeit – ich hab es gesagt, also wirst du dich mir als der dir überlegenen Lebensgefährtin und Vermählten morgen unterwerfen.

Vor dem ganzen Lager wirst du mir zu Füßen fallen und meine rechte Hand küssen – dann werde ich deine Frau.‹

 

Was hatte sich dieses Teufelsweib da ausgedacht! Nie hatte man dergleichen gehört. Bei den Montenegrinern war es in früherer Zeit so Brauch, sagten die Alten, bei den Zigeunern aber niemals!

Ja, mein Falke, kannst du dir was Absonderlicheres ausdenken? Und wenn du dir ein Jahr lang den Kopf zerbrichst, so etwas denkst du dir nicht aus!

 

Loiko stürzte davon und schrie wie ein verwundetes Tier, dass man es in der ganzen Steppe hörte. Radda fuhr zusammen, lenkte jedoch nicht ein.

 

›Dann leb wohl bis morgen, und morgen wirst du tun, was ich dir befohlen hab. Hörst du, Loiko?‹

 

›Ich höre! Und tue es‹, stöhnte Sobar und streckte die Arme nach ihr aus. Sie blickte sich nicht einmal nach ihm um, er schwankte wie ein vom Wind geknickter Baum, fiel zu Boden und lachte und schluchzte zugleich.

 

Wie diese verwünschte Radda dem Jungen zugesetzt hatte! Mit Mühe nur konnte ich ihn wieder zur Besinnung bringen.

 

Ei, ei! Welcher Teufel will nur, dass Menschen solchen Schmerz erleiden? Wer freut sich zu hören, wie ein Menschenherz stöhnt und vor Schmerz schier zerspringt? Das überleg dir mal!

 

Ich kehrte ins Lager zurück und erzählte den Alten von allem. Sie sannen nach und beschlossen, zu warten und zu sehen, was daraus werden würde.

Und Folgendes geschah:

Als wir abends alle ums Feuer versammelt waren, kam auch Loiko. Er war verstört und im Laufe der letzten Nacht schrecklich verfallen, seine Augen lagen tief in den Höhlen.

Er blickte zu Boden und sagte uns: ›Die Sache ist die, ihr Männer. Ich habe heute Nacht in mein Herz geblickt und keinen Platz für mein früheres, ungebundenes Leben mehr darin gefunden. Dort wohnt nur Radda – nichts weiter!

Sie lächelt mir zu wie eine Königin, die schöne Radda! Sie liebt ihre Freiheit mehr als mich, ich aber liebe sie mehr als meine Freiheit, deshalb hab ich beschlossen, mich ihr zu Füßen zu werfen, wie sie befohlen hat, damit alle sehen, wie ihre Schönheit sich den verwegenen Loiko Sobar unterworfen hat, der bisher mit den Mädchen nur gespielt hat wie der Jagdfalke mit den Enten.

Dann aber wird sie meine Frau werden und mich so sehr liebkosen und küssen, dass ich keine Lust mehr habe, euch Lieder zu singen, und meiner Freiheit nicht nachtrauere! So ist es doch, Radda?‹

 

Er blickte auf und schaute sie zweifelnd an. Sie nickte wortlos und streng und wies auf die Erde vor sich. Wir sahen es und begriffen es nicht.

Am liebsten wären wir weggegangen, nur um nicht Zeuge zu sein, wie Loiko Sobar sich einem Mädchen zu Füßen warf – mochte das Mädchen auch Radda sein. Wir schämten uns und empfanden Mitleid und Schmerz.

 

›Na!‹ rief Radda ihm zu.

 

›He, he, nicht so hastig, wirst es schon noch erleben, über wird's dir sein‹, sagte er lachend. Es klang wie klirrender Stahl, dieses Lachen.

 

›Das wäre dann alles, ihr Männer! Was bleibt noch? Mir bleibt zu prüfen, ob meine Radda wirklich ein so starkes Herz hat, wie sie es mir immer gezeigt hat. So will ich es prüfen – vergebt mir, Brüder!‹

 

Noch ehe wir seine Absicht erraten konnten, lag Radda auf der Erde, und Sobars krummes Messer steckte bis zum Griff in ihrer Brust. Wir saßen starr.

 

Radda aber riss das Messer heraus, warf es weg, drückte eine Locke ihres schwarzen Haares auf die Wunde, lächelte und sagte laut und deutlich: ›Leb wohl, Loiko! Ich wusste, dass du das tun würdest.‹

Und starb.

 

Begreifst du das Mädchen, mein Falke? So ein Teufelsweib war sie, verflucht will ich sein, wenn's nicht so ist!

 

›Ach! Ich werf mich dir doch zu Füßen, du stolze Königin!‹ rief Loiko durch die weite Steppe, fiel zu Boden, presste die Lippen an die Füße der toten Radda und lag reglos. Wir nahmen die Mützen ab und standen schweigend.

 

Was sagst du zu dieser Sache, mein Falke? Ja, ja! Der alte Nur wollte sagen: ›Wir müssen ihn fesseln!‹

Aber keine Hand hätte sich erhoben, um Loiko Sobar zu fesseln, keine einzige, und Nur wusste es.

Er winkte ab und ging beiseite.

Danilo aber hob das Messer auf, das Radda weggeworfen hatte, blickte es lange an, und sein grauer Schnurrbart zuckte. Am Messer haftete noch Raddas Blut, und es war krumm und scharf.

Dann trat er zu Sobar und stieß ihm das Messer in den Rücken, dort, wo das Herz ist. Der alte Soldat Danilo war seiner Radda ein würdiger Vater!

 

Loiko wandte sich zu ihm um, sagte deutlich ›Das war's!‹ und folgte seiner Radda nach.

 

Wir aber sahen: Radda hielt noch immer die Haarlocke an ihre Brust gepresst, ihre weitoffenen Augen waren in den blauen Himmel gerichtet, und zu ihren Füßen lag lang ausgestreckt der verwegene Loiko Sobar. Das Haar war ihm ins Gesicht gefallen, so dass man es nicht sehen konnte.

 

Wir standen in Gedanken versunken. Der Schnurrbart des alten Danilo zitterte, die dichten Brauen waren finster zusammengezogen.

Schweigend blickte er in den Himmel. Der greise Nur aber lag grau wie ein Turmfalke mit dem Gesicht zur Erde und weinte, dass seine Schultern zuckten.

 

Er hatte Grund zu weinen, mein Falke!

 

Wenn du gehst, dann geh deinen Weg und bieg nicht ab. Geh immer geradeaus. Vielleicht hat dein Leben doch einen Sinn. Das ist alles, mein Falke!«

 

Makar schwieg, steckte die Pfeife in den Tabaksbeutel und schloss den Bauernrock über der Brust.

Regentropfen fielen, der Wind wurde stärker, das Meer murrte dumpf und verdrossen. Die Pferde kamen nacheinander zum erlöschenden Feuer, musterten uns mit großen, klugen Augen, blieben reglos stehen und umgaben uns in einem dichten Ring.

 

 

»Hopp, hopp, ejoj!« rief Makar ihnen liebevoll zu, klopfte seinem Liebling, einem Rappen, mit der flachen Hand auf den Hals und sagte zu mir gewandt: »Zeit zum Schlafen!«

Dann hüllte er sich bis über den Kopf in den Bauernrock, streckte sich auf der Erde aus und schwieg.

 

Ich hatte keine Lust zu schlafen, sondern blickte in die dunkle Steppe, und vor mir am Himmel schwebte die stolze Gestalt Raddas, schön wie eine Königin.

Sie drückte die Hand mit der schwarzen Haarsträhne gegen die Wunde auf ihrer Brust, durch ihre schlanken, zarten Finger sickerten Blutstropfen und fielen als feuerrote Sterne auf die Erde.

 

Ihr auf den Fersen folgte der verwegene Bursche Loiko Sobar, das Gesicht unter dem dichten, schwarzen Haarschopf verborgen, und unzählige kalte, große Tränen rannen darunter hervor.

 

Der Regen nahm zu, und das Meer stimmte eine düstere und feierliche Hymne auf das schöne, stolze Zigeunerpaar an – auf Sobar und Radda, die Tochter des alten Soldaten Danilo.

 

Beide kreisten im Dunkel der Nacht schweigend umeinander, und der prächtige Loiko konnte die stolze Radda nie einholen.

 

 

 

 

 

»Die Ausfahrt«

 

Auf der Dorfstraße bewegt sich zwischen den weißen Lehmhütten unter wildem Johlen eine merkwürdige Prozession.

 

Eine Schar Menschen kommt daher, in dichtem Haufen, langsam und lärmend – sie wälzt sich heran wie eine große Woge. An der Spitze schreitet mit traurig hängendem Kopf ein struppiges, elendes Pferd.

Setzt es ein Vorderbein auf die Erde, dann wirft es den Kopf zurück und neigt ihn wieder so sonderbar vor, als wollte es das zottige Maul in den Straßenstaub drücken. Setzt es aber ein Hinterbein vor das andere, dann sinkt seine Kruppe so tief zur Erde ab, dass es scheint, es müsse jeden Augenblick umfallen.

 

An den Vorderteil des Bauernwagens ist mit einer Leine, die ihr die Hände bindet, eine kleine, völlig nackte Frau, fast noch ein Mädchen, gefesselt. Sie bewegt sich irgendwie sonderbar – seitlich – voran, ihre Beine zittern und knicken ein, der Kopf mit dem zerzausten dunkelblonden Haar ist erhoben und ein wenig in den Nacken geworfen, die weit geöffneten Augen starren mit stumpfem Blick, in dem nichts Menschliches ist, in die Ferne.

Ihr ganzer Körper ist mit runden oder länglichen roten und blauen Flecken bedeckt, die feste, mädchenhafte linke Brust ist aufgeschlagen und blutet. Das Blut zieht sich als rotes Band über den Bauch und über das linke Bein bis an das Knie hin und verliert sich auf der Wade in einer braunen Kruste von Staub. Es sieht aus, als hätte man dieser Frau einen langen, schmalen Streifen Haut vom Körper abgezogen. Und offenbar hat man sie lange mit einem Holzscheit auf den Bauch geschlagen oder mit Stiefeln auf ihm herumgetreten, denn er ist ungeheuerlich angeschwollen und erschreckend blau.

 

Die Füße der Frau – sie sind wohlgeformt und klein – schleppen sich mit Mühe über den grauen Staub.

Ihr ganzer Körper verbiegt sich, und es ist unverständlich, wieso sie sich auf ihren Beinen hält, die – wie der ganze Körper – voller blauer Flecken sind und wieso sie nicht umsinkt und, an den Armen hängend, sich von dem Wagen über die warme Erde schleifen lässt ...

 

Auf dem Wagen aber steht ein hochgewachsener Bauer, in weißem Hemd, mit einer schwarzen Lammfellmütze auf dem Kopf, unter der eine feuerrote Haarsträhne hervorquillt und über die Stirn fällt.

In der einen Hand hält er die Zügel, in der anderen eine Peitsche, mit der er methodisch bald auf den Rücken des Pferdes, bald auf den Körper der kleinen Frau eindrischt, die ohnehin so zugerichtet ist, dass sie fast jede Ähnlichkeit mit einem Menschen verloren hat.

Die Augen des rothaarigen Bauern sind blutunterlaufen und funkeln in bösem Triumph. Das Haar unterstreicht ihre grünliche Farbe. Die bis an den Ellenbogen aufgekrempelten Ärmel des Hemdes entblößen die kräftigen, von dichten roten Loden bedeckten Arme.

Der geöffnete Mund ist voller scharfer weißer Zähne. Von Zeit zu Zeit ruft der Bauer mit heiserer Stimme aus: »Da ... Hexe! He! Da hast du! Ha! Da!«

 

Hinter dem Wagen und der an ihn gefesselten Frau strömt in hellem Haufen das Volk, schreit, johlt und pfeift, lacht und hetzt. Jungen rennen ... Manchmal stürzt einer von ihnen vor und ruft der Frau zynische Worte ins Gesicht.

Die Lachsalven der Menge übertönen alle anderen Laute, auch das dünne Pfeifen der Peitsche in der Luft. Die Frauen haben sinnlich erregte Gesichter und vor Vergnügen funkelnde Augen. Die Männer rufen dem, der auf dem Wagen steht, Widerwärtigkeiten zu.

Er dreht sich zu ihnen um und wiehert mit weit geöffnetem Mund. Ein neuer Peitschenhieb geht auf den Körper der Frau nieder. Die lange, dünne Peitschenschnur trifft die Schulter und verfängt sich unter dem Arm.

Da reißt der Bauer auf dem Wagen die Peitsche scharf zurück. Die Frau schreit winselnd auf, sinkt hintenüber und fällt rücklings in den Staub. Aus der Menge stürzen welche zu ihr hin, beugen sich über sie und verdecken sie mit ihren Leibern.

 

Das Pferd bleibt stehen, setzt sich aber gleich wieder in Bewegung, und die zerschundene Frau geht wie zuvor neben dem Wagen her.

Der kümmerliche Gaul setzt langsam die Beine und nickt in einem fort mit dem zottigen Kopf, als wollte er sagen: Was für ein Elend, ein Tier zu sein! Die Menschen zwingen einen, an jeder Scheußlichkeit teilzunehmen...

 

Und der Himmel, der Himmel des Südens, ist völlig wolkenlos, die Sonne ergießt freigiebig ihre sengenden Strahlen.

 

 

 

Ich habe hier nicht etwa von mir Erfundenes niedergeschrieben oder die Wahrheit entstellt – nein, das Geschilderte ist leider keine Erfindung.

Das nennt sich »Ausfahrt«. So bestraft ein Ehemann die Untreue seiner Frau. Es handelt sich um ein Sittenbild, um einen Brauch, und ich habe das im Jahr 1891, am 15. Juli, gesehen – im Dorf Kandybowka, Gouvernement Cherson, Kreis Nikolajew.

 

Ich wusste, dass man bei uns hinter der Wolga eine untreu gewordene Frau nackt auszieht, mit Teer beschmiert, mit Hühnerfedern überschüttet und in diesem Aufzug auf der Dorfstraße herumführt. Ich wusste, dass erfinderische Ehemänner oder Schwiegerväter eine »Treulose« im Sommer gelegentlich mit Sirup beschmieren und den Insekten zum Fraß an einen Baum binden.

Ich hatte gehört, dass man die »Treulosen« bisweilen gefesselt in einen Ameisenhaufen setzt. Und schließlich sah ich, dass all das unter ungebildeten, gewissenlosen, durch ein wölfisches Leben in Neid und Gier verwilderten Menschen möglich ist.

 

 

 

 

 

Aus Langeweile

 

Dichte graue Rauchwolken ausstoßend, entschwand der Personenzug wie ein ungeheures Reptil im gelben Getreidemeer der endlosen Steppe.

 

Mit dem Rauch der Lokomotive in der glühenden Luft verlor sich auch der bösartige Lärm, der einige Minuten lang das gleichmütige Schweigen der weiten und öden Ebene unterbrochen hatte, in deren Mitte die kleine Eisenbahnstation in ihrer Vereinsamung ein wehmütiges Gefühl erweckte.

 

Als sich das dumpfe, aber belebende Getöse des Zuges zerstreut hatte und unter der klaren Kuppel des wolkenlosen Himmels verstummt war, herrschte rings um die Station von Neuem drückende Stille.

 

Goldgeld war die Steppe – grellblau der Himmel. Beides von unermesslicher Weite. Dazwischen lagen wie ein störender Pinselstrich inmitten eines melancholischen, von einem phantasielosen Künstler mit Fleiß geschaffenen Gemäldes die braunen Bauten der Station.

 

Täglich um zwölf Uhr mittags und um vier Uhr nachmittags treffen die Züge aus der Steppe ein und halten zwei Minuten. Diese vier Minuten bilden die hauptsächlichste, ja die einzige Abwechslung auf der Station: Sie sind es, die den Angestellten die Eindrücke aus der Welt vermitteln.

 

Jeder Zug bringt eine Menge verschiedenartiger Menschen in verschiedenster Kleidung mit. Nur für einen Moment erscheinen sie. An den Fenstern der Wagen huschen ihre müden, ungeduldigen oder gleichgültigen Gesichter vorüber – ein Glockenton, Pfiffe – und mit Getöse werden sie durch die weite Steppe in die Städte davongetragen, wo das geräuschvolle Leben brodelt.

 

Für die Stationsbeamten ist es interessant, diese Gesichter zu sehen, sie teilen einander die Eindrücke mit, die sie in der Eile aufgefangen haben. Ringsum liegt die schweigsame Steppe, über ihnen der teilnahmslose Himmel, und in ihren Herzen ein dunkler Neid gegen diese Menschen, die Tag für Tag an ihnen vorbei irgendwohin streben, während sie zurückbleiben, eingeschlossen in dieser Öde, wie außerhalb des Lebens lebend.

 

Nachdem sie den Zug abgefertigt haben, stehen sie auf dem Bahnsteig, und ihre Augen begleiten das schwarze Band, das im goldnen Getreidemeer verschwindet – und schweigen unter dem Eindruck des Lebens, das an ihnen vorübergeflogen ist.

 

Sie sind fast alle da: der Stationsvorsteher, ein gutmütiger korpulenter Blonder mit langem Kosakenschnurrbart. Sein Gehilfe, ein junger Mann mit roten Haaren und kleinem Spitzbart. Der Stationswächter Luka, klein, flink und schlau, und einer der beiden Weichensteller – Gomosow, ein schweigsamer stämmiger Bauer mit breitem Bart.

 

Auf der Bank neben der Tür sitzt die Frau des Stationsvorstehers, eine kleine dicke Person, die stark unter der Hitze leidet. Auf ihren Knien schläft ein Kind, dessen Gesicht ebenso aufgedunsen und rot ist wie das der Mutter.

 

Der Zug verschwindet in einer Senkung, es sieht aus, als ob er in die Erde gekrochen wäre.

 

Dann sagt der Stationsvorsteher zu seiner Frau gewandt: »Nun, Sonja, ist der Samowar fertig?«

 

»Natürlich«, antwortet sie träge und leise.

 

»Luka, du fegst den Damm und den Bahnsteig! Sieh mal, was sie da alles herausgeworfen haben...«

 

»Ich weiß, Matwej Jegorowitsch...«

 

»Nun ..., was ist? Wollen wir Tee trinken, Nikolai Petrowitsch?«

 

»Versteht sich«, antwortet der Gehilfe.

 

Nach der Durchfahrt des Mittagszuges fragt Matwej Jegorowitsch seine Frau: »Nun, Sonja, ist das Mittagessen fertig?«

 

Dann gibt er Luka den immer gleichlautenden Befehl und fordert den Gehilfen auf, der bei ihnen beköstigt wird: »Nun also? Wollen wir Mittagessen?«

 

Und der Gehilfe antwortet ihm folgerichtig: »Versteht sich...«

 

Sie gehen hinein ins Zimmer, wo viele Blumen und wenig Möbel stehen, wo es nach Küche und nach Windeln riecht, und dort am Tisch reden sie über das, was an ihnen vorbeigehuscht ist.

 

»Haben Sie die Brünette in der zweiten Klasse bemerkt, Nikolai Petrowitsch? Ein giftiges Weib!«

 

»Nicht übel, doch geschmacklos gekleidet«, antwortet der Gehilfe.

 

Er spricht immer kurz und überzeugt, da er sich für einen Menschen hält, der das Leben kennt und Bildung hat.

Er hat das Gymnasium besucht und besitzt ein in schwarzen Kaliko gebundenes Heft, in das er Aussprüche berühmter Männer einträgt, die er aus Zeitungsfeuilletons und Büchern, die zufällig in seine Hände geraten, abschreibt.

Der Stationsvorsteher erkennt seine Autorität, soweit sie sich nicht auf den Dienst bezieht, in allen Dingen an und hört ihm aufmerksam zu. Besonders gefallen ihm die Weisheiten aus dem Heftchen, die Nikolai Petrowitsch vermerkt hat und von denen er immer aufrichtig entzückt ist.

Die Bemerkung des Gehilfen über das Kleid der Brünetten veranlasst Matwej Jegorowitsch zu der Frage: »Steht denn Brünetten die gelbe Farbe nicht?«

 

»Ich spreche vom Schnitt und nicht von der Farbe«, erklärt Nikolai Petrowitsch, während er sich aus einer Glasschale sorgsam Konfitüre auf seinen kleinen Teller nimmt.

 

»Der Schnitt, das ist eine andere Sache!«, stimmt ihm der Stationsvorsteher zu.

 

Seine Frau greift in das Gespräch ein, weil sie dieses Thema berührt und ihr verständlich ist. Doch da der Verstand dieser Leute wenig geübt ist, zieht sich die Unterhaltung langsam hin und erregt ihre Empfindungen nur selten.

 

Zum Fenster schaut die Steppe mit ihrem bezaubernden Schweigen herein und der Himmel in seiner erhabenen wunderbaren Ruhe.

 

Fast alle Stunden kommen Güterzüge durch. Das Begleitpersonal ist ihnen längst bekannt. Alle diese Schaffner sind wie Schlafwandelnde, erdrückt von der Langenweile der Fahrten durch die Steppe.

Manchmal erzählen sie übrigens von Ereignissen auf der Strecke: Da und da war jemand überfahren worden.

Oder sie berichten über die neuesten Dienstangelegenheiten: Dieser war bestraft, jener versetzt worden.

Diese Neuigkeiten werden nicht besprochen – sie werden genossen, wie Feinschmecker eine schmackhafte und seltene Speise genießen.

 

Die Sonne senkt sich langsam zum Rand der Steppe, und wenn sie die Erde fast berührt, wird sie purpurrot. Ein rötlicher Glanz legt sich über die Steppe, der ein schwermütiges Gefühl erweckt, eine undeutliche Sehnsucht nach der Ferne, fort aus dieser Einöde.

Dann berührt die Sonne die Erde und verschwindet träge in ihr oder hinter ihr. Wenn sie versunken ist, spielen die grellen Farben der Abendröte noch lange am Himmel, doch sie verblassen immer mehr, und die Dämmerung bricht warm und schweigend herein. Die Sterne blitzen auf und erzittern wie erschrocken über die Langeweile auf der Erde.

 

In der Dämmerung zieht sich die Steppe gleichsam zusammen: Von allen Seiten kriechen die nächtlichen Schatten lautlos an die Station heran. Und dann kommt die Nacht – schwarz und düster.

 

Auf der Station werden die Lichter angezündet. Greller und höher als alle anderen das grünliche Licht des Zeichentelegrafen. Um ihn herrscht Finsternis und Schweigen.

 

Von Zeit zu Zeit ertönt ein Glockensignal – die Ankündigung eines Zuges. Der eilige Ton der Glocke entschwebt in die Steppe und verhallt schnell.

 

Bald nach dem Glockenzeichen taucht aus der Ferne ein blitzendes rotes Licht auf, und die Stille der Steppe erdröhnt von dem dumpfen Getöse des Zuges, der sich der einsamen, von Finsternis umgebenen Station nähert.

 

***

 

Die untere Schicht der kleinen Gesellschaft auf der Station lebt etwas anders als die Aristokratie. Der Wächter Luka kämpft beständig mit dem Wunsch, zu seiner Frau und seinem Bruder ins Dorf zu laufen, das sieben Werst von der Station entfernt liegt.

Dort hat er eine Wirtschaft, wie er Gomosow erzählt, wenn er den schweigsamen und gesetzten Weichensteller bittet, für ihn den Dienst auf der Station zu übernehmen.

 

Bei dem Wort »Wirtschaft« seufzt Gomosow jedes Mal tief auf und sagt zu Luka: »Nun, was schon, geh. Eine Wirtschaft verlangt Aufsicht, das ist richtig...«

 

Der andere Weichensteller, Afanassij Jagodka, ein alter Soldat mit einem roten runden Gesicht und borstigen grauen Haaren, ein spottlustiger, boshafter Mensch, glaubt Luka nicht.

 

»Eine Wirtschaft!«, ruft er spöttisch lachend. »Eine Frau! ... Ich weiß schon, was das ist ..., deine Frau ist wohl eine Witwe, ist es nicht so? Oder eine Soldatenfrau?«

 

»Ach, du Vogelgouverneur!«, antwortet Luka verächtlich.

 

Er nennt Jagodka so, weil der alte Soldat Vögel leidenschaftlich liebt. Sein Bahnwärterhäuschen ist innen und außen mit Käfigen und Vogelhecken behängt.

Drinnen und draußen ertönt den ganzen Tag unermüdliches Vogelgezwitscher. Die vom Soldaten gefangenen Wachteln rufen beständig ihr eintöniges »Potpolot«, die Stare führen lange Reden, verschiedenfarbige kleine Vögel zwitschern, pfeifen, singen ununterbrochen und erhellen das einsame Leben des Soldaten.

In seiner ganzen freien Zeit beschäftigt er sich mit ihnen, geht freundlich und sorgsam mit ihnen um und zeigt für seine Kameraden kein Interesse. Luka nennt er eine Natter und Gomosow Kazap und schämt sich nicht, ihnen ins Gesicht zu sagen, dass sie beide Schürzenjäger seien und dass man sie dafür prügeln müsste.

 

Luka achtet nur wenig auf seine Worte, doch wenn es dem Soldaten gelingt, ihn in Wut zu bringen, schimpft Luka lange und bissig: »Du von den Mäusen angenagter Kommisshengst! Was kannst du schon begreifen, du verabschiedeter Dudelsackpfeifer? Du hast dein ganzes Leben lang Frösche unter der Kanone weggejagt und den Regimentskohl bewacht. Kannst du überhaupt mitreden? Geh zu deinen Wachteln, du Vogelkommandeur!«

 

Jagodka hört sich ruhig das Geschimpfe des Wächters an und geht zum Stationsvorsteher, um sich über ihn zu beschweren. Der aber schreit auf ihn ein, dass man ihm mit solchen Kleinigkeiten nicht kommen solle, und jagt den Soldaten fort.

Dann begegnet Jagodka Luka und beginnt, ihn nun selber zu beschimpfen – ohne in Hitze zu geraten, ruhig, mit so schwerwiegenden und gemeinen Worten, dass Luka ausspuckt und weggeht.

 

Gomosow antwortet auf die Beschuldigungen des Soldaten mit Seufzern und verlegenen Rechtfertigungen.

 

»Was soll man schon machen? Mit dem kannst du nichts anfangen. Natürlich, das ist eine Ungezogenheit. Im Übrigen aber, richte nicht, damit du nicht gerichtet werdest.«

 

Eines Tages entgegnete der Soldat hämisch lachend: »Was wiederholst du das immer: Richte nicht, richte nicht ... Wenn niemand gerichtet würde, hätten die Menschen über nichts zu reden.«

 

Außer der Frau des Stationsvorstehers lebte noch ein zweites weibliches Wesen auf der Station, die Köchin. Sie hieß Arina, mochte vierzig Jahre zählen und war sehr hässlich: untersetzt, mit Hängebrüsten, immer schmutzig und abgerissen.

Sie hatte einen watschelnden Gang, und in ihrem pockennarbigen Gesicht glänzten ein paar schmale, erschrockene kleine Augen, die von Fältchen umgeben waren. Es lag etwas Sklavisches, Eingeschüchtertes in ihrer ungelenken Figur, ihre dicken Lippen waren ständig in einer Art verzogen, als wollte sie alle Menschen um Verzeihung bitten und sich ihnen zu Füßen werfen, ohne dass sie dabei zu weinen wagte.

Gomosow lebte bereits acht Monate auf der Station, ohne Arina Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn er ihr begegnete, sagte er guten Tag! Und sie antwortete ihm ebenso, höchstens, dass sie zwei, drei Worte wechselten, worauf jeder seiner Wege ging.

Eines Tages jedoch kam Gomosow in die Küche des Stationsvorstehers und schlug Arina vor, ihm Hemden zu nähen. Sie ging darauf ein, nähte ihm die Hemden und brachte sie aus irgendeinem Grund selbst zu ihm.

 

»Nun, danke schön!« sagte Gomosow. »Drei Hemden zu zehn Kopeken das Stück macht dreißig Kopeken, die du zu bekommen hast. Stimmt's?«

 

»Es wird schon stimmen«, antwortete Arina.

 

Gomosow versank in Nachdenken und schwieg lange.

 

»Aus welchem Gouvernement stammst du?«, fragte er schließlich die Frau, die die ganze Zeit seinen Bart betrachtet hatte.

 

»Aus dem Rjasanschen«, sagte sie.

 

»Recht weit her! Wie bist du denn hierhergekommen?«

 

»Einfach so ..., ich bin allein ... und einsam ...«

 

»Das kann einen auch noch weiter treiben«, seufzte Gomosow.

 

Und wieder schwiegen sie.

 

»Ich bin auch allein«, sagte Gomosow. »Ich stamme aus der Nishni Nowgoroder Gegend, aus dem Sergatschewskijschen Kreis. Auch ich stehe allein, ganz allein. Ich hatte eine Wirtschaft, eine Frau hatte ich auch ..., und zwei Kinder.

Die Frau starb an der Cholera, und die Kinder einfach so. Und mich – hat der Kummer zugrunde gerichtet. Jaja. Dann versuchte ich hochzukommen – aber es ging nicht, die Maschine versagte, sie wollte nicht mehr. Und da verließ ich alles und ging davon. Schon das dritte Jahr schlage ich mich herum.«

 

»Es ist schlimm, wenn man kein eignes Nest hat«, sagte Arina leise.

 

»Und wie! Bist du Witwe?«

 

»Jungfer.«

 

»Ach wo!« sagte Gomosow, der dies anzweifelte.

 

»Bei Gott, ich bin Jungfer«, beteuerte Arina.

 

»Warum hast du nicht geheiratet?«

 

»Wer nimmt mich schon? Ich habe doch nichts. Wem bin ich denn nütze? Und hässlich bin ich auch.«

 

»Naja...«, sagte Gomosow nachdenklich und strich seinen Bart, wobei er sie neugierig betrachtete. Dann fragte er sie, wie viel Lohn sie erhalte.

 

»Zweieinhalb Rubel.«

 

»So. Also du bekommst dreißig Kopeken von mir? Komm doch heute Abend und hol sie dir, so gegen zehn Uhr, was? Ich gebe sie dir dann, wir wollen Tee trinken und etwas plaudern aus Langeweile. Wir sind beide einsam, komm!«

 

»Ich werde kommen«, sagte sie einfach und ging.

 

Sie kam pünktlich um zehn Uhr abends zu ihm und verließ ihn erst beim Morgengrauen.

 

Gomosow lud sie nicht mehr ein und gab ihr auch die dreißig Kopeken nicht. Sie erschien von selbst bei ihm, stumpfsinnig und unterwürfig, sie kam herein und stand schweigend vor ihm. Er lag auf dem Bett, betrachtete sie. Er rückte näher zur Wand und sagte: »Setz dich.«

 

Als sie Platz genommen hatte, erklärte er ihr: »Hör mal, du – halt es nur ja geheim. Dass niemand was merkt! Sonst kann es mir schlecht gehen. Ich bin nicht mehr jung, du auch nicht. Hast du verstanden?«

 

Sie nickte.

 

Als er sie hinausbegleitete, gab er ihr seine Sachen zum Flicken mit und erinnerte sie: »Dass nur keine Seele dahinterkommt!«

 

So lebten sie miteinander und hielten ihre Beziehungen vor allen geheim.

 

Arina stahl sich in den Nächten zu ihm, fast auf allen vieren kriechend. Er empfing sie herablassend mit der Miene des Gebieters und sagte manchmal mit völliger Offenheit: »Bist du aber hässlich!«

 

Sie schwieg und lächelte nur mit einem blassen, schuldbewussten Lächeln, und wenn sie ihn verließ, nahm sie fast immer eine Arbeit mit, die er ihr aufgegeben hatte.

 

Sie sahen sich nicht oft. Bisweilen jedoch sagte Gomosow, wenn er sie irgendwo auf der Station traf, halblaut zu ihr: »Komm heute ...«

 

Und sie erschien bei ihm so unterwürfig, mit einem so ernsten Ausdruck im pockennarbigen Gesicht, als ob sie gekommen wäre, eine Pflicht zu erfüllen, deren Wichtigkeit sie zu begreifen begann.

 

Wenn sie dann nach Hause ging, lag schon wieder der gewohnte starre Ausdruck des Schuldbewusstseins und des Schreckens auf ihrem Gesicht.

 

Manchmal blieb sie irgendwo in einem Winkel oder hinter einem Baum stehen und schaute lange in die Steppe. Dort herrschte die Nacht, und ihr strenges Schweigen ließ ihr Herz erschauern.

 

***

 

Eines Tages veranstaltete der Stationsvorstand, nachdem der Abendzug abgefertigt worden war, das Teetrinken im Garten vor den Wohnungsfenstern von Matwej Jegorowitsch im dichten Schatten der Pappeln.

 

An heißen Tagen pflegten sie das oft zu tun. Es brachte eine gewisse Abwechslung in ihr monotones Leben.

 

Sie tranken Tee und schwiegen, da das Gespräch über die Eindrücke, die sie von dem Zug empfangen hatten, erschöpft war.

 

»Es ist heute noch heißer als gestern«, sagte Matwej Jegorowitsch, während er seiner Frau mit der einen Hand das leere Glas reichte und sich mit der anderen den Schweiß vom Gesicht wischte.

 

Die Frau nahm das Glas und erklärte: »Dir ist nur aus Langeweile heißer...«

 

»Hm, mag sein, dass es so ist ..., in solchem Fall wäre eine Kartenpartie angebracht. Aber, wir sind nur drei.«

 

Nikolai Petrowitsch zuckte die Achseln, kniff die Augen zusammen und sagte bestimmt: »Nach Schopenhauer ist das Kartenspiel der Bankrott allen Denkens.«

 

»Sehr gut!« sagte Matwej Jegorowitsch bewegt. »Ja, Bankrott des Denkens. Wer hat das gesagt?«

 

»Schopenhauer, ein Deutscher, ein Philosoph.«

 

»Philoso-oph? Hm.«

 

»Sind diese Philosophen an der Universität angestellt?«, fragte Sofja Iwanowna neugierig.

 

»Ja, wie soll ich Ihnen das erklären? Das ist kein Rang, sondern sozusagen eine angeborene Fähigkeit. Philosoph kann jeder sein, der mit der Gewohnheit zu denken geboren ist und in allem nach dem Anfang und dem Ende sucht. Gewiss gibt es auch an den Universitäten Philosophen, aber sie können auch einfach so irgendwo leben, sogar bei der Eisenbahn dienen.«

 

»Und verdienen die viel, die bei den Universitäten angestellt sind?«

 

»Das hängt vom Verstand ab.«

 

»Aber wenn wir einen vierten Mann hätten, könnten wir eine schöne Partie Wint spielen«, sagte mit einem Seufzer Matwej Jegorowitsch.

 

Das Gespräch brach ab.

 

Am blauen Himmel singen die Lerchen, in den Pappeln hüpfen die Grasmücken von Ast zu Ast und pfeifen leise. Im Zimmer weinte das Kind.

 

»Ist Arina dort?« fragte Matwej Jegorowitsch.

 

»Natürlich«, antwortete seine Frau kurz.

 

»Ein originelles Weibsbild ist diese Arina. Haben Sie gemerkt, Nikolai Petrowitsch.«

 

»Originalität – ist das erste Merkmal von Banalität«, sagte wie zu sich selber Nikolai Petrowitsch und setzte eine nachdenkliche und grübelnde Miene auf.

 

»Wie war das?« fragte der Vorsteher lebhaft.

 

Und als Nikolai Petrowitsch den Ausspruch mit Überzeugung wiederholte, blinzelte er vergnügt mit den Augen, während Sofja Iwanowna mit matter Stimme sagte: »Wie gut Sie alles behalten, was Sie gelesen haben. Ich erinnere mich, wenn ich etwas gelesen habe, am nächsten Tag an nichts mehr, und wenn man mich totschlagen würde. Da habe ich neulich in der ›Niwa‹ etwas so Interessantes, so Unterhaltendes gelesen – und nicht ein Wort habe ich behalten!«

 

»Alles Gewohnheit!« erklärte Nikolai Petrowitsch kurz.

 

»Nein, das ist noch besser, als das von ..., wie hieß er doch? Schopenhauer«, sagte lächelnd Matwej Jegorowitsch. »Es besagt, dass alles Neue rasch veraltet.«

 

»Und umgekehrt, denn ein Dichter hat gesagt: ›Die Weisheit des Lebens ist sparsam: alles Neue wird aus Altem zusammengenäht!‹«

 

»Teufel noch mal! Wie das alles bei Ihnen herauskommt, wie durch ein Sieb geschüttet!«

 

Matwej Jegorowitsch lachte zufrieden, seine Frau lächelt freundlich mit, und Nikolai Petrowitsch bemüht sich vergeblich zu verbergen, dass er sich geschmeichelt fühlt.

 

»Wer hat das von der Banalität gesagt?«

 

»Barjatinskij, ein Dichter.«

 

»Und das andere?«

 

»Auch ein Dichter – Fofanow.«

 

»Schlaue Leute!« lobte Matwej Jegorowitsch und wiederholt den Spruch mit singender Stimme und mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht.

 

Die Langeweile spielte gleichsam mit ihnen, befreite sie für einen Augenblick aus ihrer klammernden Umarmung, um sie von Neuem zu umfangen. Dann verstummten sie wieder, atmeten schwer vor Hitze, die durch den Tee noch gesteigert wurde.

 

In der Steppe war nur Sonne.

 

»Ach so, ich sprach über Arina«, erinnerte sich Matwej Jegorowitsch. »Ein eigenartiges Frauenzimmer, wenn ich sie ansehe, staune ich. Sie ist wie auf den Kopf gefallen: sie lacht nicht, singt nicht, spricht wenig ..., wie ein Klotz. Im übrigen arbeitet sie sehr gut und, wissen Sie, sie gibt sich so viel mit der kleinen Lelja ab, ist so achtsam mit dem Kind ...«

 

Er sprach leise, da er nicht wollte, dass Arina seine Worte durch das Fenster hörte. Er wusste, dass man Dienstboten nicht loben darf, wenn man nicht wollte, dass sie hochmütig werden. Seine Frau unterbrach ihn mit einem vielsagenden Stirnrunzeln: »Nun lass schon ..., du weißt nicht alles von ihr!«

 

»Sklave der Liebe!
Ich bin so schwach
Im Kampf mit
Meinem Dämon!«

 

sang Nikolai Petrowitsch leise im Rezitativ vor sich hin und schlug dabei mit dem Löffel den Takt auf den Tisch. Er lächelte.

 

»Was, was ist da? Sie ... Nun, nun, da schwindelt ihr doch beide!«

 

Und Matwej Jegorowitsch lachte laut auf. Seine Wangen zitterten, und von seiner Stirn rannen schnell Schweißtropfen.

 

»Das ist gar nicht zum Lachen!« unterbrach ihn die Frau. »Erstens hat sie für das Kind zu sorgen. Zweitens – siehst du, was mit dem Brot los ist? Übersäuert und verbrannt ..., und warum?«

 

»Jaja, das Brot! Es wir wirklich nicht gut, man muss ihr einen Verweis erteilen! Aber weiß Gott, das ..., das hätte ich nicht erwartet! Sie ist doch ein Mehlkloß!

Ach, hol's der Teufel! Aber er, wer ist es? Lukaschka? Ich werde ihn lächerlich machen, diesen alten Teufel! Oder ist es Jagodka? So ein Pinsel!«

 

»Gomosow«, sagte Nikolai Petrowitsch kurz.

 

»Wa-as, so ein gesetzter Bauer? Aber ihr wollt mir wohl ... etwas aufbinden?«

 

Matwej Jegorowitsch interessierte diese außerordentlich komische Geschichte sehr. Bald lachte er mit tränenfeuchten Augen, bald sprach er ernsthaft von der Notwendigkeit, den Verliebten einen strengen Verweis zu erteilen, dann stellte er sich die zärtlichen Gespräche zwischen ihnen vor und lachte aufs Neue dröhnend.

 

Schließlich war er in Begeisterung geraten. Da machte Nikolai Petrowitsch ein ernstes Gesicht und Sofja Iwanowna unterbrach ihren Mann schroff.

 

»Ach, diese Teufel! Na, über euch werde ich noch lachen! Ist das interessant.« Matwej Jegorowitsch konnte sich gar nicht beruhigen.

 

Luka erschien und meldete: »Der Telegraf...«

 

»Ich komme. Gib das Signal für den Zug zweiundvierzig.« Er begab sich schnell mit dem Gehilfen zur Station, wo Luka mit kurzen Glockenschlägen das Signal gab. Nikolai Petrowitsch setzte sich an den Apparat und fragte bei der Nachbarstation an: »Kann ich den Zug Nummer zweiundvierzig abfahren lassen?«

Sein Vorgesetzter ging im Büro auf und ab, lächelte und sagte: »Wollen wir die beiden Teufel mal zum Besten haben? Nur aus Langeweile, um ein wenig zu lachen.«

 

»Das ist erlaubt!« stimmte Nikolai Petrowitsch ihm zu, während er mit dem Schlüssel am Apparat hantierte.

 

Er wusste, dass ein Philosoph sich lakonisch äußert.

 

***

 

Bald bot sich ihnen eine Gelegenheit zum Lachen.

 

Eines Nachts kam Gomosow zu Arina in den Keller, wo sie sich auf sein Geheiß und mit Erlaubnis der Vorsteherin zwischen allerlei Wirtschaftsgerümpel ein Bett hergerichtet hatte. Es war dort feucht und kühl, und die zerbrochenen Stühle, Zuber, Bretter und sonstiges Gerumpel nahmen in der Dunkelheit erschreckende Formen an.

Wenn Arina allein war, fürchtete sie sich so, dass sie fast nicht schlief, mit offenen Augen auf ihrem Strohsack lag und die ihr geläufigen Gebete flüsterte.

 

Gomosow kam, drückte und knutschte sie lange schweigend. Als er müde wurde, schlief er ein. Doch bald weckte ihn Arina mit aufgeregtem Geflüster: »Timofej Petrowitsch! Timofej Petrowitsch!«

 

»Was ist los«, fragte Gomosow halb verschlafen und missmutig.

 

»Man hat uns eingeschlossen!«

 

»Wieso?« fragte er und sprang auf.

 

»Jemand kam und ... schloss ab ...«

 

»Du lügst!« flüsterte er erschrocken und zornig und stieß sie von sich.

 

»Sieh selbst nach«, sagte sie unterwürfig.

 

Er erhob sich und ging zur Tür, wobei er an alles anstieß, was ihm in den Weg kam, rüttelte an der Tür, schwieg und sagte dann finster: »Das war der Soldat ...«

 

Hinter der Tür ertönte ein triumphierendes Lachen.

 

»Lass mich heraus!« bat Gomosow laut.

 

»Was?«, ertönte die Stimme des Soldaten.

 

»Herauslassen sollst du mich...«

 

»Morgen früh lassen wir dich heraus«, sagte der Soldat und entfernte sich.

 

»Ich habe Dienst, du Teufel!« schrie Gomosow ärgerlich und bittend zugleich.

 

»Den Dienst übernehme ich. Bleib du nur sitzen!«

 

Der Soldat ging fort.

 

»Ach, dieser Hund!« flüsterte der Weichensteller ergrimmt. »Warte nur, du kannst mich ja nicht einsperren. Es gibt ja einen Vorgesetzten. Was wirst du ihm sagen, wenn er dich fragt: ›Wo ist Gomosow?‹ Was wirst du ihm dann antworten?«

 

»Am Ende hat der Stationsvorsteher es ihm selber befohlen«, sagte leise und hoffnungslos Arina.

 

»Der Vorsteher?«, wiederholte Gomosow erschrocken. »Warum sollte er das?« Nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, schrie er sie an: »Du lügst!«

 

Sie antwortete mit einem tiefen Seufzer.

 

»Was wird nur daraus werden?« fragte der Weichensteller, während er sich auf einen Kübel neben der Tür setzte. »Welche Schande für mich! Und an allem bist nur du schuld, du teuflische Missgeburt. Ach du!«

 

Er drohte mit der geballten Faust in die Richtung, aus der er ihren schweren Atem vernahm. Sie schwieg.

 

Feuchte Dunkelheit umgab sie – Dunkelheit, die erfüllt war mit dem Geruch von Sauerkohl und Schimmel und noch irgendeinem anderen scharfen, der in die Nase stieg. Durch die Türritzen drang Mondlicht. Draußen dröhnte ein abfahrender Güterzug.

 

»Was schweigst du, du Gespenst?« sagte Gomosow voller Zorn und Verachtung. »Was soll jetzt aus mir werden? Hast was Schönes angerichtet – und schweigst! Denk nach, du Teufel, was sollen wir jetzt anfangen? Wo soll ich mich vor Scham verbergen? Ach, du mein Gott! Warum musste ich mich auch mit so einer einlassen!«

 

»Ich werde um Verzeihung bitten«, erklärte Arina mit leiser Stimme.

 

»Und dann?«

 

»Vielleicht verzeihen Sie.«

 

»Was habe ich davon? Wenn sie dir auch verzeihen, an mir bleibt es doch hängen, oder nicht? Werden sie denn nicht über mich lachen?«

 

Er schwieg und begann sie dann aufs Neue mit Vorwürfen und Schimpfworten zu überhäufen. Aber die Zeit verging mit grausamer Langsamkeit. Endlich bat die Frau mit bebender Stimme: »Verzeih mir, Timofej Petrowitsch!«

 

»Mit einem Zaunpfahl über den Schädel müsste man dir verzeihen!«

 

Wieder trat düsteres, niederdrückendes Schweigen ein, voll dumpfen Schmerzes für zwei in der Finsternis eingeschlossene Menschen.

 

»Mein Gott, wenn es doch bald hell würde!« klagte wehmütig Arina.

 

»Schweig du, sonst werde ich dir heimleuchten!« drohte ihr Gomosow und begann abermals mit schweren Vorwürfen.

Dann folgte wieder die Folter der Stille und des Schweigens. Die Zeit dehnte sich grausam, je näher die Dämmerung schien, als ob jede Minute zögerte zu schwinden, um sich an der lächerlichen Lage dieser beiden Menschen zu ergötzen.

 

Gomosow schlief zuletzt ein und wurde durch den Hahn geweckt, der neben dem Keller krähte.

 

»He, du Hexe! Schläfst du?«, fragte er dumpf.

 

»Nein«, antwortete Arina mit einem schweren Seufzer.

 

»Schlaf lieber«, schlug der Weichensteller ihr ironisch vor.

 

»Ach du ...«

 

»Timofej Petrowitsch«, rief Arina fast wimmernd, »sei nicht böse auf mich! Hab doch Mitleid mit mir! Um Christi willen bitte ich dich – habe Mitleid! Ich bin doch allein, ganz allein und einsam! Und du hast mir doch, du mein Lieber ..., du hast mir doch ...«

 

»Heul nicht – mach dich vor den Menschen nicht lächerlich«, unterbrach Gomosow streng das hysterische Flüstern der Frau, das ihn etwas weicher gestimmt hatte. »Schweig schon, wenn wir nun einmal so blöd...«

 

Und wieder begannen sie stumm zu warten, Minute um Minute. Doch die Minuten vergingen und brachten ihnen nichts. Endlich drangen Sonnenstrahlen durch die Türritzen und durchschnitten mit glänzenden Fäden das Dunkel im Keller. Bald wurden Schritte in der Nähe vernehmbar. Jemand trat an die Tür, stand eine Weile da und entfernte sich wieder.

 

»Quälgeister!«, brüllte Gomosow und spuckte aus.

 

Abermals begann das Warten, wortloses, angespanntes Warten.

 

»Mein Gott ..., erbarme dich ...«, flüsterte Arina.

 

Dann war es, als ob jemand leise an den Keller heranschlich. Das Schloss klirrte, und die strenge Stimme des Vorstehers rief: »Gomosow, nimm Arina an die Hand und komm heraus – nun, schnell!«

 

»Komm!« sagte Gomosow halblaut. Arina trat zu ihm und senkte den Kopf.

 

Die Tür wurde geöffnet, vor ihnen stand der Stationsvorsteher. Er verneigte sich und sagte: »Gratuliere zur gesetzlichen Eheschließung! Wenn ich bitten darf! Musik!«

 

Gomosow schritt über die Schwelle und blieb betäubt vom Ausbruch eines unsinnigen Lärms stehen. Hinter der Tür standen Luka, Jagodka und Nikolai Petrowitsch.

 

Luka schlug mit der Faust auf einen Eimer und grölte mit meckerndem Tenor. Der Soldat blies auf seinem Signalhorn, und Nikolai Petrowitsch fuchtelte mit dem Arm in der Luft herum, blies die Backen auf und ahmte eine Trompete nach: »Wumtata, wumtata!«

 

Der Eimer klirrte, das Signalhorn heulte und brüllte. Matwej Jegorowitsch hielt sich vor Lachen die Seiten. Auch sein Gehilfe lachte beim Anblick Gomosows, der ganz verwirrt, mit grauem Gesicht und verlegenem Lächeln auf den zitternden Lippen vor ihnen stand. Hinter ihm Arina, unbeweglich, wie versteinert und mit tief auf die Brust gesenktem Kopf.

 

»Süße Worte sagt Orina, Ihrem Liebsten Timofej!« sang Luka und schnitt Gomosow widerliche Grimassen. Der Soldat näherte sich Gomosow, setzte ihm sein Horn ans Ohr und blies und blies.

 

»Nun geht, nun reich ihr den Arm!« schrie der Stationsvorsteher und lachte sich halbtot. Auf der Treppe saß seine Frau, schwankte von einer Seite auf die andere und kreischte: »Motja ..., genug ... Ach! Ich sterbe!«

 

»Für das süße Widersehn, will ich gerne leiden!«, sang Nikolai Petrowitsch dicht unter Gomosows Nase.

 

»Ein Hurra den Neuvermählten!«, kommandierte Matwej Jegorowitsch, als Gomosow vorwärtsschritt. Und alle vier brüllten einmütig hurra, wobei der Soldat mit seinem Bass aus vollem Hals schrie.

 

Arina ging hinter Gomosow her, den Kopf erhoben, mit offenem Mund, während ihre Arme schlaff herabhingen. Ihre Augen blickten dumpf geradeaus, ohne zu sehen.

 

»Motja, befiehl ihnen, sich zu küssen! Hahahha!«

 

»Küsst euch!« schrie Nikolai Petrowitsch, und Matwej Jegorowitsch musste sich an den Baum lehnen, da er sich vor Lachen nicht mehr auf den Füßen halten konnte.

Der Eimer dröhnte, dass Signalhorn schmetterte, heulte und höhnte immer weiter, während Luka tänzelnd sang: »Ach, Orina, ach, Orina. Hast 'nen guten Brei gekocht!«

 

Und Nikolai Petrowitsch trompetete: »Wumtata, wumtata!«

 

Gomosow ging zum Arbeiterhaus hinüber und verschwand in der Tür. Arina blieb von den besessenen Menschen umgeben auf dem Hof zurück. Sie brüllten, lachten, pfiffen ihr in die Ohren und sprangen in einem Anfall von grenzenloser Ausgelassenheit um sie herum.

Sie stand mit unbeweglichem Gesicht, zerzaust, schmutzig, kläglich und lächerlich vor ihnen.

 

»Der junge Ehemann ist ausgerückt, und ... sie ist geblieben«, schrie Matwej Jegorowitsch seiner Frau zu, zeigte auf Arina und krümmte sich vor Lachen.

 

Arina wandte den Kopf nach ihm um und ging am Arbeiterhaus vorbei – in die Steppe. Pfeifen, Schreien und Lachen begleiteten sie.

 

»Genug damit! Hört auf!«, rief Sofja Iwanowna. »Gebt ihr Zeit, zu sich zu kommen! Das Mittagessen muss gekocht werden!«

 

Arina aber ging in die Steppe, wo jenseits der Bahnlinie ein Streifen mit borstigem Getreide stand.

 

Sie ging langsam wie ein Mensch, der tief in Gedanken versunken ist.

 

»Wie war das, wie war das?«, fragte Matwej Jegorowitsch die anderen, die sich kleine Einzelheiten im Verhalten der »Neuvermählten« erzählten. Alle lachten. Nikolai Petrowitsch fand selbst hier Gelegenheit, einen weisen Spruch anzubringen.

 

»Lachen ist nicht strafbar, wenn das Leben heiter ist!«, sagte er zu Sofja Iwanowna und fügte nachdenklich hinzu: »Aber zu viel lachen ist schädlich!«

 

***

 

Gelacht wurde an diesem Tag auf der Station viel, aber schlecht gegessen, weil Arina nicht zum Kochen erschienen war und die Stationsvorsteherin selber das Mittagessen zubereiten musste.

Aber auch das schlechte Essen vermochte die gute Stimmung nicht zu stören. Gomosow verließ das Arbeiterhaus nicht, bevor er den Dienst antreten musste. Aber als er heraustrat, wurde er ins Büro des Vorstehers gerufen, wo ihn Nikolai Petrowitsch unter dem Gelächter von Matwej Jegorowitsch und Luka zu befragen begann, wie er seine Schöne »verführt« habe.

 

»Wirklich originell – das ist ein Sündenfall ersten Ranges«, sagte Nikolai Petrowitsch zum Vorsteher.

 

»Ein Sündenfall ist es schon«, erwiderte finster lächelnd der gesetzte Weichensteller. Er begriff, wenn er über Arina so sprach, dass man sich über sie lustig machte, würde man weniger über ihn selber lachen. Und er erzählte: »Anfangs hat sie mir immer mit den Augen gewinkt.«

 

»Mit den Augen gewinkt? Hahaha! Stellen Sie sich das doch nur vor, Nikolai Petrowitsch, die mit ihrer Fratze ..., hat ihm zugeblinzelt ..., allerliebst!«

 

»Also sie winkt mir, und ich sehe es und denke für mich: So siehst du aus! Und dann sagt sie zu mir: ›Wenn du willst, nähe ich dir deine Hemden!‹«

 

»Doch ›nicht aufs Nähen kam's hier an‹ ...«, bemerkte Nikolai Petrowitsch und erklärte dem Vorsteher: »Wissen Sie, das ist aus Nekrassows ›Die Reiche und die Arme‹. Weiter, Timofej!«

 

Und Timofej fuhr fort zu erzählen, anfangs gezwungen, dann allmählich von seinen Lügen hingerissen, die, wie er sah, ihm von Nutzen waren.

 

Doch die Frau, von der er sprach, lag währenddessen in der Steppe. Sie war weit in das Getreidemeer hineingegangen, sank dort auf die Erde nieder und lag lange unbeweglich da.

Als die Sonne ihren Rücken so heiß durchgeglüht hatte, dass sie ihre sengenden Strahlen nicht mehr ertragen konnte, drehte sie sich um und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, um den Himmel nicht sehen zu müssen, diesen allzu hellen Himmel mit der grell leuchtenden Sonne.

 

Die reifen Getreideähren umrauschten die Frau, die von ihrer Schande niedergeschmettert war, und unermüdlich, geschäftig zirpten unzählige Grillen.

Es war heiß. Sie versuchte sich an Gebete zu erinnern und konnte es nicht. Vor ihren Augen drehten sich lachende Fratzen, und in ihren Ohren dröhnte Lukas Tenor, heulte das Horn und gellte Gelächter.

Dies alles oder die Hitze beengte ihre Brust, sie öffnete ihre Jacke und setzte ihren Körper den Strahlen der Sonne aus in Erwartung, dass ihr das Atmen leichter würde. Und während die Sonne ihre Haut sengte, bohrte in ihrer Brust ein Schmerz wie Sodbrennen. Tief aufseufzend flüsterte sie von Zeit zu Zeit: »Herrgott ... erbarm dich!«

 

Als Antwort hörte sie das trockene Rascheln der Ähren und das Zirpen der Grillen. Sie hob den Kopf über das wogende Getreide und sah das goldige Farbenspiel, den schwarzen Schornstein des Wasserturms in der Schlucht fern von der Station und die Dächer des Stationsgebäudes.

Sonst war in der endlosen gelben Ebene, über der sich die blaue Himmelskuppel wölbte, nichts zu sehen. Es schien Arina, als wäre sie allein mitten auf der Erde, und niemand würde kommen, die Last der Einsamkeit mit ihr zu teilen – niemand, nie ...

 

Am Abend hörte sie Stimmen rufen: »Ari-ina! Arischka, zum Teufel auch!«

 

Die eine Stimme gehörte Luka, die andre dem Soldaten. Sie wollte die dritte hören, doch er rief sie nicht, da begann sie zu weinen, und ein Strom von Tränen rann über die pockennarbigen Wangen auf ihre Brust.

So weinte sie und presste ihre nackte Brust an die trockene warme Erde, den Schmerz zu betäuben, der sie immer heftiger quälte.

Sie weinte und schwieg und unterdrückte ihre Seufzer, als ob sie fürchtete, jemand könnte sie hören und ihr das Weinen verbieten.

 

Als die Nacht hereinbrach, stand sie auf und ging langsam zur Station.

 

Am Stationsgebäude angekommen, lehnte sie sich mit dem Rücken an die Kellerwand, blieb lange dort stehen und schaute auf die Steppe.

Güterzüge kamen und gingen. Sie hörte, wie der Soldat den Schaffnern von ihrer Schande erzählte und wie sie lachten. Weit in die öde Steppe, wo kaum hörbar die Zieselmäuse pfiffen, wurde dieses Lachen hinausgetragen.

 

»Herr, erbarme dich ...«, seufzte die Frau und drückte sich dicht an die Wand. Doch diese Seufzer erleichterten die Last nicht, die ihr Herz beschwerte.

 

Gegen Morgen schlich sie sich vorsichtig auf den Boden des Stationsgebäudes und erhängte sich dort mit der Leine, die sie zum Wäschetrocknen benutzt hatte.

 

***

 

Durch den Verwesungsgeruch aufmerksam geworden, fand man Arina nach zwei Tagen. Erst erschraken alle, dann begannen sie zu erörtern, wer an dieser Geschichte schuld sei.

Nikolai Petrowitsch bewies unwiderleglich, dass es Gomosow sei. Da gab der Stationsvorsteher dem Weichensteller eins in die Fresse und befahl ihm unter Drohungen, zu schweigen.

 

Die Behörden erschienen, und eine Untersuchung wurde durchgeführt. Es stellte sich heraus, dass Arina an Melancholie gelitten hatte.

Die Arbeiter des Bahnmeisters erhielten den Auftrag, sie in die Steppe zu bringen und dort zu begraben. Als das ausgeführt war, herrschte erneut Ruhe und Ordnung auf der Station.

 

***

 

Wieder begannen ihre Bewohner täglich vier Minuten lang zu leben und vergingen vor Langeweile und Einsamkeit, vor Müßiggang und Hitze, und mit Neid verfolgten ihre Augen die Züge, die an ihnen vorüberflogen.

 

Im Winter aber, wenn heulend und tobend die Schneestürme durch die Steppe brausen und unter wildem Tosen die kleine Station bedecken, ist das Leben ihrer Bewohner noch langweiliger.

 

 

 

 

 

Kirilka

 

Als der Schlitten den Waldsaum erreicht hatte, erhob Issai sich ein wenig vom Kutschbock, sah mit vorgerecktem Hals in die Ferne und sagte: »Ach, zum Teufel – es scheint zu treiben!«

 

»Nicht möglich!«

 

»Doch wirklich ..., es bewegt sich ...«

 

»Fahr schneller!«

 

»Eh, du Transuse!«

 

Das kurze dicke Tier mit der Pudelwolle und den Ohren eines Esels sprang, vom Peitschenstiel an der Kruppe getroffen, seitwärts vom Weg ab, blieb stehen und trat, gekränkt mit dem Kopf wackelnd, auf der Stelle.

 

»He! Ich werde dir kokettieren helfen!« schrie Issai und riss an der Leine.

 

Der Psalmenleser Issai Mjakinnikow war ein missgestalteter Mensch von vierzig Jahren. Auf der linken Wange und unter der Kinnlade wuchs ihm ein rotblonder Bart, auf der rechten Seite dagegen hatte sich eine mächtige Geschwulst gebildet, die das Auge verdeckte und wie ein faltiges Säckchen auf die Schulter herabhing. Dieser Mann, ein fürchterlicher Säufer und nicht übler Philosoph und Spötter, fuhr mich jetzt zu seinem Bruder, meinem Freund, einem Dorfschullehrer, der an der Schwindsucht im Sterben lag.

In fünf Stunden hatten wir keine zwanzig Werst zurückgelegt, weil der Weg so scheußlich war und das phantastische Tier, das uns zog, einen schlechten Charakter hatte.

Issai gab ihm die sonderbarsten Namen, wie böser Geist, Mühlstein, Schrittgänger, wobei jeder gleich gut zu diesem Pferd passte, da er treffend die eine oder andere Besonderheit seines Äußeren oder seines Charakters hervorhob.

Auch unter den Menschen begegnet man häufig solchen komplizierten Geschöpfen, die man beliebig nennen kann – alles passt, nur der Name Mensch passt nicht.

 

Der graue Himmel hing voll schwerer Wolken, ringsum breiteten sich Wiesen mit vielen abgetauten dunklen Stellen aus. Etwa drei Werst vor uns erhoben sich die bläulichen Höhen des Bergufers der Wolga, der schwere Himmel stützte sich auf sie. Der Fluss war hinter der zottligen Mähne des Ufergebüsches nicht zu sehen. Der Wind wehte von Süden, das Wasser in den Pfützen kräuselte sich und schnitt Grimassen, in der Luft wiederholte sich immer derselbe trostlose raue Ton – das Glucksen des Morastes unter den Pferdehufen.

 

»Wir werden nicht über den Fluss können«, wiederholte Issai, vom Bock aufspringend. »Und Jakow wird nicht warten und sterben. Dann kommt bei unserer ganzen Reise nichts weiter heraus, als dass wir uns nutzlos abgerackert haben. Aber selbst wenn wir ihn noch am Leben antreffen, was hat es für Nutzen? Er wird nur aufgehalten, und nichts weiter.

In der Sterbestunde muss man sich nicht vor den Augen des Scheidenden aufpflanzen. Man muss den Menschen allein lassen, um den Blick in sein Inneres nicht auf Nebensachen abzulenken.

In der Sterbestunde muss der Mensch in die Tiefe seines Herzens sehen und nicht auf Nichtigkeiten, und der Lebende ist für einen Sterbenden nur eine Nichtigkeit und etwas Überflüssiges.

Zugegeben, es ist nun einmal Brauch, dass am Sterbelager die Angehörigen dessen stehen, der dies irdische Jammertal verlässt. Wenn man die Sache aber mit dem Verstand überlegt und nicht bloß mit dem Hirn in unsrer großen Zehe, dann stellt sich doch heraus, dass dieser Brauch weder den Lebenden noch den Toten von Nutzen ist - sondern nur eine überflüssige Quälerei für das Herz.

Der Lebende soll gar nicht daran denken, dass es einen Tod gibt, der ihn erwartet. Das schadet dem Lebenden, weil es einen Schatten auf seine Freuden wirft. Du Klotz von einem Teufel, beweg doch deine Beine! Hü!«

 

Issai sprach eintönig mit rauer, heiserer Stimme, und der ungestalte lange Mensch, der in einen zerlöcherten weiten braunen Bauernrock gehüllt war, schaukelte plump auf dem Bock hin und her, bald hüpfte er auf, bald bog er sich von einer Seite zur andern, beugte sich vornüber und warf sich nach hinten zurück. Der breitrandige Hut, ein Geschenk des Geistlichen, war unter dem Bart mit schmalen Bändern festgebunden, und der Wind blies Issai die Enden ins Gesicht.

 

Der Psalmenleser schüttelte seinen spitzen Kopf, der Hut rutschte ihm immer wieder in die Augen, und die Schöße seines Rockes blähten sich im Wind. Issai drehte sich hin und her, krümmte sich, schimpfte, und ich betrachtete ihn und dachte darüber nach, wie viel Energie der Mensch im Kampf mit Kleinigkeiten verbraucht. Wenn die widerlichen Würmer der täglichen kleinen Tücken uns nicht überwältigen, würden wir die schrecklichen Schlangen unserer Unglücksfälle leicht zertreten.

 

»Es ist Eisgang!« rief Issai niedergeschlagen.

 

»Siehst du es?«

 

»Ich sehe Pferde zwischen Sträuchern und Menschen daneben – also kann man nicht hinüberfahren!«

 

»Vielleicht können wir irgendwie übersetzen!«

 

»Rede du! Natürlich werden wir übersetzen, wenn der Eisgang vorüber ist. Und was machen wir bis dahin? Das ist es eben. Und außerdem – Hunger hab ich! Solchen Hunger hab ich, dass ich's mit Worten gar nicht ausdrücken kann. Ich sagte dir doch: Wollen wir etwas essen. Nein, fahr mich erst. Da hab ich dich nun hergefahren!«

 

»Ich hab auch Hunger. Hast du gar nichts mitgenommen?«

 

»Wenn ich es doch vergessen hab!«, erwiderte Issai böse.

 

Ich sah an seinem Rücken vorbei aus dem Schlitten und erblickte eine Kalesche mit einem Dreigespann und einen geflochtenen Stuhlwagen mit zwei Pferden davor. Die Pferde waren uns zugewandt, und neben ihnen standen einige Gestalten: ein großer Mann mit rötlichblondem Schnurrbart und einer Dienstmütze mit rotem Band, ein anderer in pelzgefüttertem schwarzem Überrock mit langen Schößen.

 

»Der Semstwo-Vorsteher Suschtschow, und das ist der Mühlenbesitzer Mamajew«, raunte Issai mir zu, drehte sich halb zu mir um und befahl seinem Pferd in ehrerbietigem Ton: »Brr, Fanatiker! Wir sind also zu spät gekommen?«

Er wandte sich, die Mütze vom Kopf schiebend, an den dicken Kutscher neben der Troika.

 

Der Kutscher warf einen mürrischen Blick auf seinen kahlen eiförmigen Schädel und kehrte sich schweigend ab.

 

»Wir haben es verpasst«, antwortete der Kaufmann Mamajew lächelnd. Er war ein kleiner beleibter Mann mit rotem Gesicht und gaunerhaft schmeichelnden Augen.

 

Der Semstwo-Vorsteher rauchte, den Ellbogen auf den Kotflügel seiner Kalesche gestützt, zwirbelte seinen Schnurrbart und blickte zwischendurch verstohlen zu uns hin.

Außer diesen waren noch zwei Personen da: Mamajews Kutscher, ein langer Kerl mit lockigem Haar und einem sehr breiten Mund, und ein Bäuerchen auf krummen Beinen in eng gegürtetem zerrissenem Halbpelz.

Er hatte sich vor uns verbeugt und war wie erstarrt in dieser Stellung stehengeblieben. Sein runzliges kleines Gesicht war mit dünnem grauem Bartwuchs bedeckt, und die schmalen Lippen waren zu einem Lächeln geformt, in dem Ehrerbietung und Spott, Dummheit und Durchtriebenheit vereinigt waren.

Er hockte wie ein Affe auf dem Boden, drehte seinen Kopf langsam bald hierhin, bald dahin und beobachtete alle, ohne die Lider zu heben. Aus den zahllosen Löchern seines Halbpelzes quollen Fetzen schmutzigen Schaffells.

Die ganze Erscheinung des Bauern machte einen seltsamen Eindruck. Er sah wie zerkaut aus, als wäre er eben einem gewaltigen Rachen entronnen, der ihn hatte auffressen wollen. Wir standen hinter einem hohen Sandhügel, der uns gegen den Wind schützte und den Fluss vor uns verbarg.

 

»Will mal nachschauen, wie die Dinge stehn«, sagte Issai und erstieg den Hügel. Mürrisch folgte ihm der Semstwo-Vorsteher, darauf der Kaufmann und ich.

Das Bäuerchen ließ sich auf alle viere nieder und krabbelte ebenfalls hinauf.

Als wir den Gipfel erreicht hatten, setzten wir uns alle, finster wie die Raben, hin. Etwa vier Arschin vor uns und drei Sashen unter uns lag der Fluss wie ein breiter graublauer Streifen voller Runzeln und Schwären und Höcker in kleine Stücke zerriebenen Eises. Wie Schorf bedeckte ihn das Eis, das sich langsam, aber mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts bewegte. Ein Knarren und Knirschen erfüllte die Luft, die kalt und feucht war.

 

»Kirilka!« rief der Semstwo-Vorsteher den Bauern.

 

Das Bäuerchen sprang auf die Füße, riss die Mütze vom Kopf und verbeugte sich vor dem Vorsteher so tief, als hielte er ihm seinen Kopf zum Enthaupten hin.

 

»Was denkst du, wird es bald?«

 

»Es wird nicht lange dauern, Euer Wohlgeboren, gleich wird es sich stauen. Belieben Sie zu sehen, wie es sich durchzwängen will? Bei den dichten Massen muss es sich stauen. Dort, eine Werst oberhalb ist eine Sandbank. Wenn es sich da auftürmt, ist die Sache gemacht.

Alles hängt von der großen Eisscholle ab, wenn die Scholle an der engen Stelle bei der Sandbank steckenbleibt, dann ist das ein Hindernis! Sie wird eingezwängt und der ganze Eisgang dadurch aufgehalten.«

 

»Na schön ...«

 

Der Bauer schmatzte und schwieg.

 

»Nein, weiß der Teufel, was man dazu sagen soll!« begann der Semstwo-Vorsteher erregt, »ich habe dir doch gesagt, du Idiot, bringt zwei Boote auf diese Seite herüber, nicht? Hab ich dir das gesagt?«

 

»Ja, das haben Sie gesagt«, antwortete der Bauer schuldbewusst.

 

»Na also, und du?«

 

»Ich hab es nicht geschafft, weil der Fluss so mit einemmal aufgegangen ist.«

 

»Dummkopf! Nein«, wandte sich der Vorsteher an Mamajew, »dieser Esel ist absolut nicht imstande zu begreifen, was man sagt!«

 

»Man sagt ja, die Mushiks«, lispelte Mamajew mit verbindlichem Lächeln, »sind Wilde, ein stumpfsinniges Volk. Aber jetzt können wir von den Bemühungen der Semstwos und der Ausdehnung ihres Schulnetzes Aufklärung und Bildung erwarten ...«

 

»Schulen – ja! Lesestuben, Laternen – wunderschön! Ich habe volles Verständnis dafür. Aber wenn ich auch kein Gegner der Volksbildung bin, wie Sie wissen, so meine ich doch, eine kräftige Züchtigung mit Ruten erzieht schneller und kostet weniger. Jawohl! Für die Ruten braucht der Bauer nichts zu bezahlen, aber für die Volksbildung wird er mehr geschunden als früher mit Rutenstreichen. Vorläufig wird er durch die Volksbildung nur ruiniert, das ist meine Meinung. Ich sage jedoch nicht: Gebt ihm keine Schulbildung, ich sage nur: Schont ihn, wartet ab.«

 

»Vollkommen richtig!« rief der Kaufmann voller Befriedigung aus. »Man müsste warten, denn der Bauer hat es augenblicklich sehr schwer ... Missernten, Krankheiten, seine Schwäche für den Branntwein, das alles packt ihn sozusagen an der Wurzel, und da kommt man mit Schulen und Lesestuben. Was ist unter solchen Verhältnissen bei ihm zu holen? Gar nichts ist bei ihm zu holen, das können Sie mir schon glauben!«

 

»Das müssen Sie wohl wissen, Nikita Pawlytsch«, sagte Issai überzeugt in höflichem Ton und stieß einen frommen Seufzer aus.

 

»Und ob! Seit siebzehn Jahren habe ich mit den Bauern zu tun. Was den Schulunterricht betrifft, so bin ich der Meinung: Wenn er zu einem günstigen Zeitpunkt eingeführt wird, kann er jedem Menschen Nutzen bringen. Aber wenn mein Magen, entschuldigen Sie, leer ist, dann will ich nichts lernen, außer wie man stehlen kann.«

 

»Wozu brauchen Sie noch zu lernen!« rief Issai ehrerbietig und schmeichelnd aus.

 

Mamajew warf einen Blick auf ihn und verzog den Mund.

 

»Hier haben wir einen Bauern. Kirilka!« rief der Semstwo-Vorsteher. »Hier ist ein Bauer«, wandte er sich mit einer gewissen Feierlichkeit im Gesichtsausdruck und im Ton an uns. »Das ist kein Dutzendbauer, den ich Ihnen hier vorstelle – eine Bestie, wie es wenige gibt!

Als der ›Grigorij‹ brannte, hat er, dieser Vagabund, eigenhändig sechs Fahrgäste gerettet, hat im Spätherbst vier Stunden ununterbrochen unter Lebensgefahr nachts im Sturm im Wasser gepanscht.

Er rettete sie und verschwand, man suchte ihn, wollte ihm danken, ihm eine Rettungsmedaille verschaffen. Und unterdessen stiehlt er Holz aus dem Staatsforst und wird auf frischer Tat ertappt!

Er versteht zu wirtschaften, ist geizig, hat seine Schwiegertochter ins Grab gebracht und wird von seiner alten Frau mit einem Holzscheit verprügelt.

Er ist ein Säufer und dabei sehr fromm, singt im Kirchenchor mit. Hat auch eine gute Bienenzucht, und bei alldem ist er ein Dieb!

Als ein Lastkahn hier auf kleinere Fahrzeuge umladen musste, wurde er beim Diebstahl von drei Kisten Rosinen ertappt. Wollen Sie sich, bitte, das Wesen ansehen!«

 

Wir sahen uns den talentvollen Bauern aufmerksam an. Er stand mit niedergeschlagenen Augen vor uns und schniefte. Um seinen Mund zuckten zwei Fältchen, aber die Lippen waren fest aufeinandergepresst, und sein Gesicht drückte rein gar nichts aus.

 

»Wollen wir ihn also fragen! Kirilka, sag, welchen Nutzen bringen die Schulen, das Lesen und Schreiben?«

 

Kirilka holte tief Luft, schmatzte und sagte kein Wort.

 

»Na, du kannst doch lesen und schreiben«, begann der Semstwo-Vorsteher in strengerem Ton, »du musst doch wissen, geht es dir besser, seit du lesen kannst?«

 

»Kommt alles vor«, sagte Kirilka und ließ den Kopf noch tiefer hängen.

 

»Nun ja, aber du liest doch, was für einen Nutzen hast du also davon?«

 

»Nutzen natürlich nicht, dass man ihn sozusagen direkt greifen kann, aber wenn man es überlegt, es wird vielleicht unterrichtet zum Nutzen für die...«

 

»Wer sind ›die‹?«

 

»Die Lehrer vielleicht, das Semstwo sozusagen und überhaupt ..., die Obrigkeit!«

 

»Du bist doch ein Dummkopf! Du selbst, hast du einen Nutzen davon?«

 

»Wie es beliebt, Euer Wohlgeboren.«

 

»Wem beliebt?«

 

»Ihnen sozusagen als Vorsteher.«

 

»Verschwinde!«

 

Seine Schnurrbartenden zitterten, und er wurde ganz rot im Gesicht.

 

»Da sehen Sie, nichts hat er gesagt, aber seine Antwort ist klar. Nein, meine Herren, bevor man den Bauer das Abc lehrt, muss man ihm Zucht beibringen!

Er ist ein verdorbenes Kind, das stimmt! Aber er ist auch die Grundlage, verstehen Sie, das Fundament der Staatspyramide, und plötzlich gerät das ins Wanken!

Sie begreifen den Ernst eines solchen ..., äh ..., äh ..., Missstandes?«

 

»Es ist klar«, sagte Mamajew, »man muss tatsächlich für eine Festigung ...«

 

Da ich mich ebenfalls für das Schicksal des Bauern interessierte, beteiligte ich mich auch am Gespräch, und bald waren wir vier in eine hitzige Debatte über sein Schicksal vertieft. Unser aller wahrer Beruf ist, Verhaltungsregeln für unsere Nächsten aufzustellen, und die Prediger, welche uns des Egoismus beschuldigen, sind im Unrecht, denn im eigennützigen Bestreben, die Menschen gebessert zu sehen, vergessen wir uns selbst.

 

Während wir stritten, wälzte sich der Fluss wie eine riesige Schlange an unseren Augen vorbei und rieb sich sein kaltes graues Schuppenkleid am Ufer.

 

Auch unser Gespräch wand sich wie eine Schlange, wie eine gereizte Schlange, welche sich von einer Seite auf die andere wirft in dem Bestreben, zu ergreifen, was sie braucht und was ihr immer wieder entschlüpft.

Uns entglitt beständig der Gegenstand unseres Gesprächs, der Bauer. Wer ist er? Er saß nicht weit von uns im Sand und machte ein gleichgültiges Gesicht.

 

Mamajew sagte: »Nein, meine Herren, er ist nicht dumm! Er ist durchaus kein Dummkopf, er geht keinem so leicht auf den Leim.«

 

Der Semstwo-Vorsteher geriet in Erregung: »Ich sage nicht: dumm! Ich sage: undiszipliniert! Er lebt ohne die ihm als Unmündigem gebührende Vormundschaft – das ist die Wurzel der Missstände in seinem Leben.«

 

»Wenn ich meine Meinung äußern darf, so glaube ich, dass er nicht so uneben ist! Ein Geschöpf Gottes wie alle andern. Aber, entschuldigen Sie, er ist durcheinander geraten. Infolge der Unordnung in seinem Leben hat er alle Hoffnung verloren.«

 

Dies sagte Issai. Er sprach mit einer ehrerbietigen, öligen Stimme, lächelte süß und seufzte. Seine Äuglein wurden vor Schüchternheit schmal und wagten nicht geradeaus zu sehen. Seine Geschwulst aber zitterte, als wäre sie voller Lachen, das heraus wollte und nicht durfte. Ich behauptete dagegen, dass der Bauer einfach Hunger habe und dass er, wenn man ihm genug zu essen gäbe, sich bestimmt bessern würde.

 

»Sie sagen, er hat Hunger?« rief der Semstwo-Vorsteher gereizt. »Aber zum Teufel, warum? Man muss begreifen, warum er Hunger hat. Warum, um Gottes willen, hat er vor vierzig, fünfzig Jahren nicht gewusst, was Hunger ist?

Ich sage ..., ich ..., ich habe jetzt selbst Hunger! Ja, zum Teufel, im Augenblick habe ich selbst Hunger, und das verdanke ich ihm! Ha! Wie gefällt Ihnen das? Ich hatte angeordnet, Boote auf diese Seite überzusetzen und mich zu erwarten . Ich komme an ... Ja, da sitzt Kirilka. Pfui! Nein, ich sage Ihnen, das sind einfach Idioten.«

 

»In der Tat, es wäre sehr angenehm, jetzt etwas zu essen!« sagte Mamajew melancholisch.

 

»Tja«, seufzte Issai.

 

Und wir alle, die wir uns im Disput ereifert und einander mehrfach böse angefaucht hatten, schwiegen, einig in dem Wunsch nach Essen, und sahen Kirilka an, der unter unseren Blicken die Achseln zuckte und langsam die Mütze vom Kopf zog.

 

»Wie konntest du denn nur so mit dem Boot, Freund?« sagte Issai vorwurfsvoll.

 

»Was hilft denn das Boot? Wenn es auch da wäre, man kann es doch nicht essen«, antwortete Kirilka schuldbewusst.

 

Wir drehten ihm alle vier den Rücken.

 

»Sechs Stunden sitze ich schon hier«, erklärte Mamajew nach einem Blick auf seine goldene Uhr, die er aus der Tasche gezogen hatte – aus seiner eigenen Tasche, muss ich hinzufügen.

 

»Bitte, da sehen Sie es ja!« rief der Semstwo-Vorsteher erregt und bewegte seinen Schnurrbart. »Und diese Bestie sagt, das Eis wird sich bald stauen. Du! Wird es nun bald?«

 

Augenscheinlich setzte der Semstwo-Vorsteher voraus, dass Kirilka gewissermaßen Gewalt über den Fluss und den Eisgang habe, und es war klar, dass Kirilka tatsächlich schuld daran war, denn die Frage des Vorstehers brachte alle seine Gliedmaßen in Bewegung.

Kirilka begab sich bis an den äußersten Rand des Hügels, hielt die Hand schützend über die Augen und sah mit gerunzelter Stirn in die Ferne. Dabei zuckte er, wer weiß, warum, mit dem linken Bein und bewegte die Lippen, als ob er dem Fluss eine Beschwörungsformel zuflüsterte.

 

Das Eis trieb in kompakter Masse vorwärts, die bläulichen Eisschollen schoben sich mit dumpfem Geräusch übereinander, zerbrachen, krachten und zerfielen in kleine Stücke.

Zuweilen wurde zwischen ihnen das trübe Wasser sichtbar und verschwand wieder unter der Eisdecke.

Es war, als ob ein Riesenleib von Aussatz befallen und voller Schorf und Wunden vor uns läge und eine unsichtbare Riesenhand ihn von den schmutzigen Schuppen reinigte. Nach wenigen Minuten würde der Fluss sich von den schweren Banden befreit haben und breit, mächtig und herrlich vor uns erscheinen, seine Wogen würden blitzend unter dem Eis und Schnee hervorkommen, und die Sonne würde die schweren Wolken zerreißen und freudig und strahlend auf ihn herabsehen.

 

»Jetzt ist es gleich soweit, Euer Wohlgeboren«, rief Kirilka lebhaft. »Es wird schon weniger – dort hinten! Dort bei der Sandbank! Er streckte die Hand mit der Mütze aus und wies in die Ferne, in der ich nichts sah als Eis.

 

»Ist es weit bis Olchowaja?«

 

»Wenn man ganz geradeaus geht, an die fünf Werst, Euer Wohlgeboren ...«

 

»Teufel! Hm, hast du vielleicht irgendetwas bei dir? Kartoffeln oder Brot?«

 

»Brot? Ja, Brot hab ich, Kartoffeln nicht. Sind dies Jahr nicht gewachsen, die Kartoffeln ...«

 

»Hast du das Brot bei dir?«

 

»Das Brot? Hier auf der Brust unter dem Hemd.«

 

»Was zum Teufel trägst du es unter dem Hemd?«

 

»Es ist ja nicht viel, Euer Wohlgeboren, nur an zwei Pfund, und dann ist es davon wärmer.«

 

»Eh, du Dummkopf. Man hätte den Kutscher vorhin schon nach Olchowaja schicken sollen! Dass man vielleicht Milch bekommen hätte. Aber der hier wiederholte ja in einem fort: ›Gleich, gleich ...‹ So was Scheußliches!«

 

Der Semstwo-Vorsteher begann wütend an seinem Schnurrbart zu zerren, während Mamajew zärtlich auf die Brust des Bauern starrte. Dieser stand mit gesenktem Kopf da und hob langsam die Hand mit der Mütze zum Kopf. Issai machte Kirilka irgendwelche Zeichen mit den Händen. Der Bauer sah ihn an und bewegte sich dann geräuschlos auf ihn zu, die Augen auf den Rücken des Vorstehers gerichtet.

 

Es kam immer weniger Eis. Zwischen den Eisschollen zeigten sich Spalten gleich Runzeln auf einem faden, blutleeren Gesicht. Durch ihr Spiel verliehen sie dem Fluss bald diesen, bald jenen Ausdruck: Er sah immer gleich weise, gleich kalt aus, aber bald traurig, bald spöttisch, bald schmerzverzerrt. Unbeweglich und gelassen schaute die feuchte Wolkenmasse dem Spiel des Eises zu. Das Schurren der Eisschollen im Sand klang wie zaghaftes Flüstern und stimmte trostlos.

 

»Gib mir etwas Brot, Bruder!« hörte ich Issais unterdrücktes Flüstern.

 

Gleichzeitig räusperte sich Mamajew kräftig, und der Semstwo-Vorsteher sagte ärgerlich und laut: »Kirilka, gib das Brot her!«

 

Das Bäuerchen riss mit der einen Hand die Mütze vom Kopf, griff mit der anderen unter sein Hemd, legte das Brot in die Mütze und reichte es mit einer tiefen Verbeugung dem Vorsteher.

Dieser nahm das Brot, betrachtete es angewidert und sagte mit einem säuerlichen Lächeln unter seinem Schnurrbart zu uns: »Wie ich sehe, sind wir alle Prätendenten [Anm.: Anspruch Erhebender] auf dieses Stück Brot, und wir haben alle das gleiche Recht darauf – das Recht von Menschen, die essen wollen. Was meinen Sie? Teilen wir es unter uns, dieses kärgliche Mahl.

Hol's der Teufel, das ist doch eine lächerliche Situation, aber ob Sie es nun glauben, in der Hast, noch rechtzeitig herzukommen, habe ich mich so beeilt. Darf ich bitten?«

 

Er brach sich etwas ab und reichte das Brot Mamajew. Der Kaufmann kniff die Augen zusammen, legte den Kopf auf die Seite, schätzte das Stück und schnitt sich umständlich sein Teil ab. Den Rest nahm Issai und teilte ihn mit mir. Wir setzten uns wieder in eine Reihe und kauten einträchtig und schweigend dieses Brot, obwohl es wie Lehm aussah, nach schweißigem Lammfell und Sauerkohl roch und ... einen unbeschreiblichen Geschmack hatte.

 

Ich aß und beobachtete, wie der Fluss die schmutzigen Fetzen seines Winterkleides trug.

 

»Bitte«, sagte der Semstwo-Vorsteher und sah vorwurfsvoll auf das Stück Brot in seiner Hand, »das soll Brot sein! Während der Bauer im Ausland Wein, Käse, Weizenbrot hat, isst unser Bauer ... dieses ekelhafte Zeug. Spreu enthält es und eine undefinierbare Säure – und davon nähren sie sich am Vorabend des zwanzigsten Jahrhunderts! Und warum?«

 

Da die Frage an Mamajew gerichtet war, tat dieser einen schweren Seufzer und antwortete bescheiden: »Der Ertrag ist nicht danach. Es reicht nicht ...«

 

»Aber wa-rum, frage ich?«

 

»Der Boden ist sozusagen erschöpft.«

 

»Hören Sie mir damit auf! Diese Reden von der Erschöpfung des Bodens sind nichts als eine Erfindung der Semstwo-Statistiker.«

 

Kirilka seufzte und setzte die Mütze auf dem Kopf zurecht.

 

»Du, sag mal, trägt der Boden?« wandte sich der Vorsteher an ihn.

 

»Ja, sehen Sie, das ist mal so, mal so.Wenn er Kraft hat, dann trägt er, so viel man sich wünschen kann!«

 

»Keine Ausflüchte! Sag geradeheraus: trägt er?«

 

»Das heißt, vielleicht, wenn ...«

 

»Du lügst!«

 

»Wenn man Hand anlegt, dann trägt er ganz gut.«

 

»Aha! Sie haben es gehört: Hand anlegen! Also weshalb trägt er nicht, weil niemand da ist, der Hand anlegt.

Was sehen wir? Trunksucht und Liederlichkeit. Trägheit. Es fehlt einer, der anordnet.

Im Fall von Missernten springt die Semstwo-Organisation ein: Da hast du, Lieber, säe. Da hast du, Lieber, iß!

Nein, das ist keine Ordnung!

Warum hat denn der Boden bis zum Jahr 61 getragen? Weil im Fall von Missernten unser Täubchen, das heißt der Bauer, sofort eine freundliche Aufforderung bekam: ›Wie habt ihr gepflügt? Wie habt ihr gesät?‹

Dann bekam er Saatgut: ›Hier, säe!‹ Und der Boden trägt, oh, glauben Sie mir!

Jetzt aber, wo er von der Semstwo-Organisation verhätschelt wird, hat er alle seine Fähigkeiten versteckt, weil er nicht weiß, wie er sie zu seinem eigenen Vorteil gebrauchen könnte, und keiner da ist, der ihm das zeigt.«

 

»Ja, wirklich, der Gutsbesitzer konnte alles befehlen, was er wollte«, sagte Mamajew mit Überzeugung. »Er machte aus den Bauern, was er wollte.«

 

»Ja, Musikanten, Maler, Tänzer, Schauspieler.«, fiel der Semstwo-Vorsteher lebhaft ein. »Alles, was er wollte!«

 

»Es ist wahr! Ich erinnere mich auch. Als ich noch ein kleiner Bengel war, da war bei uns, beim Grafen, unter dem Gesinde einer, ein Nachmacher sozusagen ...«

 

»Ja?«

 

»Alles konnte er nachmachen! Nicht bloß menschliche und tierische Laute, sondern sogar hölzerne und andere.

Er machte vor, wie ein Brett gesägt wird oder wie Glas zerspringt. Blies die Backen auf, und es kam richtig heraus!

Oder der Graf sagte: ›Fedjka, belle wie Slobnaja! Fedjka, belle wie Perechwat ...!‹

Und er bellte! So weit hatte er es gebracht! Jetzt könnte man mit solcher Kunstfertigkeit viel Geld verdienen!«

 

»Die Boote kommen!«, verkündete Issai.

 

»Ah! Endlich!«

 

»Nun haben wir genug gewartet«, sagte Mamajew lächelnd zu mir.

 

»Ja ...«

 

»Das ist doch immer so: Man wartet, wartet, und schließlich kommt es! Alles nimmt ein Ende.«

 

»Das ist doch beruhigend, nicht wahr?«

 

»Und ob!«

 

»Wenn das nicht so wäre, viele könnten das Leben gar nicht ertragen«, sagte Issai.

 

Am anderen Ufer des Flusses bewegten sich zwischen dem Eis zwei längliche dunkle Flecke.

 

»Sie arbeiten sich durch«, sagte Kirilka, der sie beobachtete.

 

Der Semstwo-Vorsteher sah ihn von der Seite an und fragte: »Na, trinkst du immer noch?«

 

Kirilka antwortete schuldbewusst: »Wenn es sich gerade so ergibt, trinke ich.«

 

»Und Holz stiehlst du auch noch?«

 

»Was soll ich mit Holz, Euer Wohlgeboren?«

 

»Nein, sag mal!«

 

»Niemals habe ich mich mit Holz befasst, Euer Wohlgeboren!« sagte Kirilka und schüttelte sogar zur Bekräftigung den Kopf.

 

»Und weshalb standest du bei mir vor Gericht?«

 

»Freilich. Sie haben Gericht gehalten, das stimmt ...«

 

»Weshalb?«

 

»Als Vorgesetzter haben Sie das Recht, über uns Gericht zu halten.«

 

»Eine gerissene Bestie bist du! Na, und von den Kähnen, wenn die umladen, stiehlst du da auch noch wie früher?«

 

»Euer Wohlgeboren, ein einziges Mal habe ich es versucht!«

 

»Und da bist du gleich hereingefallen, hahahha!«

 

»Wir sind es nicht gewohnt – darum bin ich auch reingefallen.«

 

»Man muss das erst lernen? Hahaha!«

 

»Hehehe!« lachte Mamajew.

 

Die Boote stießen sich mit Bootshaken von den Eisschollen ab, die gegen die Bordwände drückten, und bewegten sich so auf unser Ufer zu. Die Männer in ihnen wechselten Zurufe. Kirilka legte ebenfalls die Hand als Sprachrohr an den Mund und rief ihnen mit unerwartet kräftiger Stimme zu: »Auf die Wei-de zu-hal-ten!«

 

Schrie es und schoss beinahe mit einem Purzelbaum den Hügel hinunter zum Fluss. Wir folgten ihm.

 

Rasch setzten wir uns in die Boote, Issai und ich in das eine, Mamajew und der Semstwo-Vorsteher in das andere.

 

»Mit Gott, Kinder!« kommandierte der Vorsteher, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich.

 

Die beiden Bauern in seinem Boot bekreuzigten sich ebenfalls andächtig und stießen dann mit den Bootshaken in die Eisschollen, die das Boot einzwängten. Mit unheildrohendem Knirschen prallten die Eisschollen wiederum gegen die Bordwände.

Auf dem Wasser war es kalt. Ich sah, wie Mamajew im Gesicht rot wurde. Der Semstwo-Vorsteher hatte die Brauen finster zusammengezogen und blickte streng und beunruhigt stromaufwärts, von wo gewaltige blaugraue Eisschollen auf unser Boot zuschwammen. Kleinere Schollen streiften knirschend den Kiel. Es klang, als ob große scharfe Zähne unser Boot annagten.

 

Es war feucht, kalt und unheimlich. Wir sahen über Bord und betrachteten das schmutzige, kalte Eis, das so stumpfsinnig aussah und solche Macht hatte.

Plötzlich aber vernahm ich durch das Rauschen um uns vom Ufer her eine Stimme und blickte hin. Wir waren etwa zehn Sashen vom Ufer entfernt. Da oben stand Kirilka ohne Mütze. Ich sah seine munteren und spöttischen grauen Augen und vernahm seine ungewöhnlich kräftige Stimme: »Onkel Anton, wenn Sie zur Post fahren, bringen Sie mir Brot mit, ja? Die Herrschaften haben meinen Kanten aufgegessen, weil sie warten mussten – und weiter habe ich nichts.«

 

 

 

 

 

Die Freunde

 

Den einen von ihnen nannte man »Tanzbein« und den andern »Hoffender«. Von Beruf waren sie beide Diebe.

 

Sie wohnten am Rand der Stadt, in einer Vorstadt, in einer der baufälligen, aus Lehm und halbverfaultem Holz zusammengeklebten Hütten, die eigentümlich in einer Schlucht verstreut lagen und wie Schutthaufen aussahen, die man hinabgeworfen hatte.

Zum Stehlen gingen die »Freunde« in die der Stadt am nahesten gelegenen Dörfer, denn in der Stadt selbst konnte man nur schwer etwas stehlen, und bei den Nachbarn in der Vorstadt gab es auch nichts zu stehlen.

 

Beide waren vorsichtige und bescheidene Menschen: wenn sie mal ein Stück Leinwand, einen Bauernmantel oder ein Beil, Pferdegeschirr, ein Hemd oder ein Huhn stahlen, so suchten sie das Dorf, in dem es ihnen gelungen war, die Dinge zu stibitzen, lange Zeit nicht mehr auf.

Aber die Vorstadtbauern kannten sie trotz dieser vernünftigen Handlungsweise gut und drohten, sie bei Gelegenheit zu erschlagen. Doch eine solche Gelegenheit bot sich den Bauern nicht, und die Knochen der beiden Freunde blieben heil, obwohl sie seit sechs Jahren schon die Drohungen der Bauern hörten.

 

Tanzbein war ein Mann von etwa vierzig Jahren, lang, gebückt, hager und sehnig. Er hielt den Kopf immer gesenkt, die langen Arme im Rücken, machte langsame, doch große Schritte und blickte im Gehen mit seinen zusammengekniffenen, unruhigen, scharfen Augen besorgt nach allen Seiten.

Er trug das Haar kurz geschoren und rasierte sich das Kinn. Der dichte graue Soldatenschnurrbart verdeckte seinen Mund und verlieh seinem Gesicht einen strengen, bissigen Ausdruck. Sein linkes Bein war wohl ausgerenkt oder gebrochen gewesen und so zusammengewachsen, dass es länger als das rechte war.

Wenn er es im Gehen hob, hüpfte es in der Luft und schnellte zur Seite. Der Eigentümlichkeit dieser Gangart verdankte er auch seinen Spitznamen.

 

Der Hoffende war um etwa fünf Jahre älter, kleiner und breitschultriger als sein Freund. Aber er hustete viel und dumpf, und sein derbes, von einem breiten, schwarzen, leicht ergrauten Vollbart eingerahmtes Gesicht zeigte eine ungesunde gelbe Farbe.

Er hatte große, schwarze Augen, die immer schuldbewusst und freundlich blickten. Beim Gehen spitzte er den Mund und pfiff leise ein eintöniges, trauriges Lied vor sich hin - immer das gleiche. Er hatte um die Schultern ein kurzes Gewand aus bunten Lumpen hängen, eine Art wattierte Jacke.

Tanzbein trug immer einen langen grauen Kaftan mit einem Gürtel. Der Hoffende war Bauer, sein Freund der Sohn eines Küsters, ehemaliger Lakai und Marqueur. Sie waren dauernd zusammen, und die Bauern pflegten, wenn sie sie sahen, zu sagen:

 

»Die Freunde sind wieder aufgetaucht. Aufgepasst!«

 

»Ach, diese Teufel!«

 

»Wann werden sie einmal verrecken?!«

 

Die Freunde benutzten Feldwege, blickten scharf nach allen Seiten und vermieden Begegnungen mit anderen. Der Hoffende hustete und pfiff sein Lied. Das Bein seines Freundes tanzte in der Luft, als wollte es sich losreißen und den gefährlichen Weg seines Besitzers verlassen.

Oder sie lagen irgendwo am Waldrand, im Korn oder in einem Graben und berieten sich leise, wo sie etwas stehlen könnten, um sich satt zu essen.

 

***

 

Im Winter haben sogar die Wölfe, die für den Kampf ums Dasein besser ausgerüstet sind als die beiden Freunde, ein schlechtes Leben. Mager, hungrig und erbost treiben sie sich auf den Landstraßen umher. Man tötet sie zwar, aber man fürchtet sie doch: sie haben Krallen und Zähne zur Verteidigung, vor allem jedoch harte Herzen.

Das letztere ist besonders wichtig, denn der Mensch muss, um aus dem Kampf ums Dasein als Sieger hervorzugehen, entweder viel Verstand oder das Herz eines Tieres haben.

 

Im Winter hatten es die Freunde schlecht. Oft gingen sie beide abends in die Straßen der Stadt und bettelten, wobei sie sich bemühten, nicht der Polizei vor die Augen zu kommen. Nur sehr selten gelang es ihnen, etwas zu stehlen.

Durch die Dörfer zu ziehen, ging nicht gut, denn es war kalt, und im Schnee blieben ihre Spuren zurück. Es hatte auch keinen Zweck, die Dörfer aufzusuchen, wo alles versperrt und vom Schnee verweht war. Der Kampf mit dem Hunger kostete den Freunden im Winter viel Kraft, und vielleicht erwartete kein Mensch so sehnsüchtig den Frühling, wie sie ihn erwarteten.

 

Endlich nahte der Frühling. Die Freunde kamen entkräftet und krank aus ihrem Graben gekrochen und blickten freudig auf die Felder hinaus, wo der Schnee mit jedem Tag schneller schmolz.

Braune, vom Schnee entblößte Stellen kamen zum Vorschein, die Pfützen glänzten wie Spiegel und lustig rieselten die Bächlein.

Die Sonne ergoss ihre uneigennützige Liebe auf die Erde, und die beiden Freunde wärmten sich in ihren Strahlen und sprachen davon, wie sie, wenn die Erde einmal trocken war, bald wieder nach den Dörfern auf die »Jagd« gehen würden. Der Hoffende, der an Schlaflosigkeit litt, weckte seinen Freund oft am frühen Morgen und verkündete ihm voller Freude: »Du, steh auf, die Saatkrähen sind schon da!«

 

»Wirklich?«

 

»Bei Gott! Hörst du, wie sie schreien?«

 

Sie traten aus ihrer Hütte ins Freie und beobachteten lange und aufmerksam, wie die schwarzen Boten des Frühlings neue Nester bauten, die alten ausbesserten und die Luft mit ihrem lauten, besorgten Geschrei erfüllten.

 

»Jetzt sind die Lerchen an der Reihe«, sagte der Hoffende und machte sich daran, das alte, halbverfaulte Netz auszubessern.

 

Die Lerchen kamen. Die Freunde gingen aufs Feld, stellten das Netz auf einer der vom Schnee entblößten Stellen auf, rannten durchnässt und schmutzig hin und her und trieben die hungrigen und von der langen Reise ermüdeten Vögel, die auf der nassen, erst eben vom Schnee befreiten Erde Nahrung suchten, ins Netz.

Wenn sie eine Anzahl beisammen hatten, verkauften sie sie zu fünf und zu zehn Kopeken das Stück. Dann kamen die ersten Brennnesseln, die sie einsammelten und den Gemüsehändlerinnen auf dem Markt verkauften.

Fast jeder neue Frühlingstag brachte ihnen etwas Neues, einen neuen, wenn auch kleinen Verdienst. Sie verstanden alles auszunützen: Weidenkätzchen, Sauerampfer, Champignons, Erdbeeren, Schwämme – nichts entging ihren Händen.

Wenn die Soldaten Schießübungen hatten, gingen die Freunde nachher hinaus, wühlten in den Erdwällen, suchten die Kugeln zusammen und verkauften sie dann zu zwölf Kopeken das Pfund.

All diese Beschäftigungen ließen sie zwar nicht des Hungers sterben, gaben ihnen aber nur sehr selten die Möglichkeit, das Gefühl des Sattseins, das angenehme Gefühl des vollen Magens und dessen eifriger Arbeit an den verzehrten Speisen zu genießen.

 

***

 

Eines Tages im April, als die Knospen an den Bäumen erst zu schwellen anfingen, die Wälder in einem bläulichen Dunst lagen und auf den braunen, fruchtbaren, von Sonnenlicht übergossenen Feldern das erste Grün sprosste, gingen die beiden Freunde die Landstraße entlang. Sie rauchten selbstgedrehte Zigaretten aus billigem Tabak und unterhielten sich.

 

»Du hustest aber immer mehr«, sagte Tanzbein seinem Freund warnend, doch ruhig.

 

»Ich spucke drauf! Wenn mich die Sonne ordentlich durchwärmt, werde ich wieder lebendig.«

 

»Hm. Solltest doch mal ins Spital gehen.«

 

»Ach! Was brauche ich es? Wenn ich mal sterben muss, so werde ich sterben.«

 

»Das stimmt.«

 

Die Birken, die die Landstraße einsäumten, warfen die Schatten ihrer feinen Zweige auf die Freunde. Lebhaft zwitschernd hüpften die Spatzen auf der Straße herum.

 

»Du gehst auch viel schlechter«, bemerkte Tanzbein nach einer Pause.

 

»Das kommt, weil es mich in der Brust würgt«, erklärte der Hoffende. »Die Luft ist jetzt so dick, feucht und fett, es ist mir schwer, sie zu schlucken.«

 

Er blieb stehen und bekam einen Hustenanfall.

 

Tanzbein stand neben ihm, rauchte und sah ihn mit unbestimmtem Ausdruck an. Der Hoffende schüttelte sich vor Husten und rieb sich mit den Händen die Brust, sein Gesicht war ganz blau geworden.

 

»Die Atemmaschine ist ordentlich durchlöchert«, sagte er, als der Hustenanfall vorüber war.

 

Sie gingen weiter und scheuchten die Spatzen von der Straße auf.

 

»Gehen wir in Richtung Muchino«, sagte Tanzbein, warf die Zigarette fort und spuckte aus. »Wir nehmen den Weg durch die Hinterhöfe. Vielleicht erwischen wir was. Dann gehen wir durch den Ssiwzowschen Wald nach Kusnetschischa. Von dort biegen wir nach Markowka ab, und dann geht's nach Hause.«

 

»Das werden an die dreißig Werst sein«, sagte der Hoffende.

 

»Dass wir den Weg bloß nicht umsonst machen.«

 

Links von der Straße lag ein eintönig dunkler und unfreundlicher Wald. Zwischen seinen nackten Ästen war noch kein einziger grüner Fleck zu sehen, der das Auge hätte erfreuen können.

An seinem Rand irrte ein kleines, zottiges und zerzaustes Pferdchen mit eingefallenen Seiten herum. Seine Rippen waren so deutlich zu sehen wie die Reifen an einem Fass.

Die Freunde blieben stehen und sahen lange zu, wie das Tier, die Schnauze zur Erde gebeugt, langsam von einem Bein aufs andere trat, die gelben Halme rupfte und sie sorgfältig mit seinen abgewetzten gelben Zähnen zerkaute.

 

»Ist auch ausgehungert!«, bemerkte der Hoffende.

 

»Komm doch, komm!« versuchte Tanzbein es zu locken. Das Pferd sah ihn an, schüttelte verneinend den Kopf und senkte ihn wieder zur Erde.

 

»Es will nicht zu dir«, deutete der Hoffende diese müde Gebärde.

 

»Gehen wir! Wenn man es... den Tataren bringt, so werden sie dafür vielleicht an die sieben Rubel geben«, versetzte Tanzbein nachdenklich.

 

»Nichts werden sie geben. Wozu brauchen sie es!«

 

»Und die Haut?«

 

»Die Haut? Wird man denn für so eine Haut was geben? Höchstens drei Rubel.«

 

»Aber!«

 

»Was denn? Was ist das für eine Haut? Ein alter Fußlappen und keine Haut.«

 

»Etwas wird man für sie schon geben.«

 

»Ja, vielleicht schon...!«

 

Tanzbein blickte seinen Freund an, blieb stehen und sagte: »Nun?«

 

»Das wird schwierig sein«, entgegnete der Hoffende unschlüssig.

 

»Warum?«

 

»Die Spuren! Die Erde ist feucht. Man wird sehen, wo wir es hingeführt haben.«

 

»Wir wollen ihm Bastschuhe anziehen.«

 

»Wie du willst.«

 

»Los! Wir treiben es in den Wald und warten im Graben bis zur Nacht. Nachts führen wir es wieder heraus und bringen es zu den Tataren. Es ist gar nicht weit, so an die drei Werst.«

 

»Warum nicht?« sagte der Hoffende und nickte. »Komm! Ein Sperling in der Hand... Dass man uns nur nicht...«

 

»Uns erwischen sie nicht!«, sagte Tanzbein überzeugt.

 

Sie bogen von der Straße ab und gingen, immer nach den Seiten blickend, zum Wald. Das Pferd sah sie an, schnaubte, bewegte den Schweif und machte sich wieder an das welke Gras.

 

***

 

Auf dem Grund des tiefen Waldgrabens war es feucht, still und dunkel. Das Bächlein rieselte in der Stille eintönig, traurig, wie klagend. Von den steilen Rändern hingen die nackten Zweige von Haselstauden, Brombeeren und Geißblatt in den Graben herab.

Hilflos ragte hier und da eine von den Frühlingsgewässern bloßgelegte Baumwurzel aus der Erde. Der Wald war noch tot.

Die Abenddämmerung verstärkte die leblose Eintönigkeit seiner Farben, und die traurige Stille, die in ihm lauerte, erfüllte ihn mit der düsteren und feierlichen Ruhe eines Friedhofs.

Die Freunde saßen schon lange hier in der Stille, im feuchten Dunkel, unter einer Gruppe von Espen, die zusammen mit einer riesengroßen Erdscholle auf den Grund des Grabens herabgerutscht waren. Vor ihnen brannte hell ein kleines Feuer. Sie wärmten sich die Hände, legten ab und an etwas Reisig nach und sorgten dafür, dass das Feuer gleichmäßig brenne und keinen Rauch gebe.

Nicht weit von ihnen stand das Pferd. Sie hatten ihm das Maul mit einem Ärmel, den sie von den Lumpen des Hoffenden abgerissen hatten, umwickelt und es an einen Baumstamm festgebunden.

 

Der Hoffende kauerte vor dem Feuer, blickte nachdenklich in die Flammen und pfiff sein Lied. Sein Freund hatte sich eine Tracht Weidenruten geschnitten, flocht aus ihnen einen Korb und schwieg, ganz von seiner Arbeit hingerissen.

Die traurige Melodie des Bächleins und das leise Pfeifen des elenden Menschen flossen zu einem Akkord zusammen und weinten traurig in der Stille des Abends und des Waldes. Bisweilen knisterten die Zweige im Feuer, sie knisterten und zischten, als seufzten sie aus Mitgefühl mit dem Leben, das langsamer als ihr Tod im Feuer und darum auch qualvoller ist.

 

»Nun, werden wir bald gehen?« fragte der Hoffende.

 

»Noch zu früh. Wenn es ganz dunkel wird, dann gehen wir«, antwortete Tanzbein, ohne das Gesicht von seiner Arbeit zu heben.

 

Der Hoffende seufzte und begann zu husten.

 

»Frierst du, oder was?«, fragte ihn sein Freund nach einer langen Pause.

 

»Nein, es ist mir so trüb zumute.«

 

»So!«, versetzte Tanzbein und schüttelte den Kopf.

 

»Es nagt mir am Herzen.«

 

»Die Krankheit.«

 

»Es wird wohl die Krankheit sein. Vielleicht auch was anderes.«

 

Tanzbein schwieg eine Weile und sagte dann: »Denk doch nicht.«

 

»Woran?«

 

»An nichts.«

 

»Schau«, sagte der Hoffende, auf einmal lebhaft werdend, »es ist mir nicht möglich, nicht zu denken. Ich schau' es an« – er zeigte mit der Hand auf das Pferd –, »ich schau' es an und denke mir... auch ich habe in meiner Wirtschaft ein solches gehabt. Eine Schindermähre zwar, ist aber in der Wirtschaft die Hauptsache! Einmal habe ich sogar ein Paar gehabt. Gut gearbeitet habe ich damals!«

 

»Und was hast du dir erarbeitet?«, fragte Tanzbein kurz und kühl. »Das mag ich nicht an dir. Gleich fängst du zu jammern an. Wozu?«

 

Der Hoffende warf schweigend eine Handvoll zerkleinerter Zweige ins Feuer und beobachtete, wie die Funken hinaufflogen und in der feuchten Luft erloschen.

Seine Augen zwinkerten, und über sein Gesicht huschten schnelle Schatten. Dann wandte er sein Gesicht dem Pferd zu und beobachtete es lange Zeit.

 

Das Pferd stand unbeweglich, wie angewurzelt. Sein durch den Wickel verunstalteter Kopf war traurig gesenkt.

 

»Man muss es sich einfach überlegen«, sagte Tanzbein ernst und eindringlich. »Wir leben in den Tag hinein, von der Hand in den Mund! Hat man was zu essen, so ist es gut. Hat man nichts, so jammert man eine Weile und hört dann auf - denn das führt zu nichts. Wenn du aber so jammerst, ist es ekelhaft zuzuhören. Ob es von deiner Krankheit kommt.?«

 

»Wohl von der Krankheit«, bestätigte der Hoffende leise. Dann schwieg er eine Weile und fügte hinzu: »Vielleicht auch von Herzensschwäche.«

 

»Auch das Herz kommt von der Krankheit«, erklärte Tanzbein kategorisch.

 

Er biss mit den Zähnen eine Weidenrute durch, fuhr mit ihr durch die Luft, sodass es pfiff, und sagte streng: »Ich bin gesund und kenne solche Sachen nicht.«

 

Das Pferd trat von einem Bein aufs andere. Ein Zweig knisterte. In den Bach fiel etwas Erde, und in seine stille Melodie kamen einige neue Töne. Zwei Vögel flatterten von irgendwo auf und flogen mit unruhigem Gezwitscher längs des Grabens.

Der Hoffende sah ihnen nach und sagte leise: »Was mögen das für Vögel sein? Wenn es Stare sind, so haben sie im Wald nichts zu suchen. Die sind meistens in der Nähe von Menschenwohnungen. Ich meine, es sind Seidenschwänzchen. Es können gar keine anderen sein.«

 

»Vielleicht sind es Kreuzschnäbel«, versetzte Tanzbein.

 

»Für die Kreuzschnäbel ist es noch zu früh. Auch nisten die Kreuzschnäbel in Fichtenwäldern. Hier haben sie nichts zu suchen. Es können nur Seidenschwänzchen sein.«

 

»Lass sie es sein!«

 

»Ja, gewiss«, stimmte der Hoffende zu und seufzte aus irgendeinem Grund schwer auf.

 

Die Arbeit ging Tanzbein schnell von der Hand. Er hatte den Boden des Korbes schon fertig und flocht nun mit großer Geschicklichkeit die Seitenwände. Er schnitt die Ruten mit einem Messer ab, biss sie mit den Zähnen durch, bog und band sie mit flinken Fingern, schnaubte mit der Nase und sträubte den Schnurrbart.

 

Der Hoffende sah bald auf ihn, bald auf das Pferd. Es schien in seiner traurigen Stellung erstarrt. Dann sah er auf den Himmel, der schon fast ganz nächtlich war, aber noch keinen einzigen Stern zeigte.

 

»Der Bauer wird das Pferd suchen«, begann er plötzlich mit eigentümlicher Stimme, »es ist aber weg. Er sucht und sucht – weg ist das Pferd!«

 

Der Hoffende spreizte die Arme nach beiden Seiten. Sein Gesicht hatte einen dummen Ausdruck, und die Augen zwinkerten so, als sähe er ein grelles Feuer, das plötzlich vor ihm aufgeflammt wäre.

 

»Was meinst du damit?«, fragte Tanzbein streng.

 

»Es ist mir eine Geschichte eingefallen«, sagte der Hoffende schuldbewusst.

 

»Was für eine?«

 

»Ja, auch die gleiche Sache, dass man ein Pferd weggetrieben hat. Meinem Schwager, Michailo hat er geheißen - war ein so großer Kerl, mit Pockennarben im Gesicht.«

 

»Nun?«

 

»Nun, man hat es ihm weggetrieben. Es weidete in der Wintersaat und war plötzlich weg! Als Michailo sah, dass er um sein einziges Pferd gekommen war, fiel er zu Boden und fing zu heulen an! Ach, wie er damals heulte, Brüderchen! Und er fiel hin, als wären ihm die Beine gebrochen.«

 

»Na, und?«

 

»Nun, lange lag er so...«

 

»Was geht's dich an?«

 

Der Hoffende rückte bei der schroffen Frage des Freundes von ihm weg und antwortete schüchtern: »Ja, es ist mir nur so eingefallen. Denn es ist für den Bauern der Tod, wenn man ihm sein Pferd nimmt!«

 

»Hör mal, was ich dir sagen möchte«, begann Tanzbein streng und sah den Hoffenden durchdringend an. »Hör damit auf. Solche Gespräche führen zu nichts Gescheitem. Hast du verstanden? Schwager Michailo! Es ist nicht deine Sache.«

 

»Es tut doch einem leid«, entgegnete der Hoffende achselzuckend.

 

»Es tut dir leid? Wir aber tun niemand leid.«

 

»Ach, was soll man davon noch reden!«

 

»Also schweig. Wir müssen bald gehen.«

 

»Bald?«

 

»Nun, gewiss.«

 

Der Hoffende rückte ans Feuer, stocherte mit dem Stock darin, warf einen Seitenblick auf Tanzbein, der wieder in seine Arbeit vertieft war, und sagte in bittendem Ton: »Geben wir's lieber auf.«

 

»Was hast du doch für eine gemeine Natur!« rief Tanzbein.

 

»Bei Gott!« sagte der Hoffende leise und eindringlich. »Bedenke doch, es ist gefährlich! Ganze vier Werst müssen wir uns mit ihm schleppen. Und wenn die Tataren es nicht nehmen? Was dann?«

 

»Das ist schon meine Sache!«

 

»Wie du willst! Es wäre doch besser, es laufen zu lassen. Soll es nur laufen. Du siehst doch, es ist halb tot!«

 

Tanzbein schwieg, aber seine Finger fingen an, sich noch schneller zu bewegen.

 

»Wie viel wird man dafür wohl geben?«, fuhr der Hoffende leise, doch hartnäckig fort. »Jetzt ist aber die schönste Zeit. Gleich ist es dunkel – wir gehen aus dem Graben nach Dubenki. Und schon haben wir etwas Gescheites erwischt.«

 

Die eintönige Rede des Hoffenden vermischte sich mit dem Rieseln des Baches, schwebte durch den Graben und brachte den fleißigen Tanzbein aus der Fassung.

 

Er schwieg mit zusammengebissenen Zähnen, und seine Finger brachen vor Erregung die Ruten entzwei.

 

»Jetzt haben die Weiber die Leinwand zum Bleichen hinausgelegt...«

 

Das Pferd seufzte auf und regte sich. Von der Finsternis eingehüllt, erschien es jetzt noch hässlicher und elender. Tanzbein sah es an und spuckte ins Feuer.

 

»Auch das Geflügel ist jetzt im Freien... in den Pfützen... sind Gänse...«

 

»Wirst du bald aufhören? Teufel!«, rief Tanzbein böse.

 

»Bei Gott! Sei mir nicht böse, Stepan. Soll es zum Teufel gehen! Wirklich!«

 

»Hast du heute was gefressen?«, schrie ihn Tanzbein an.

 

»Nein«, antwortete der Hoffende verlegen, vom Schrei erschreckt.

 

»Dann hol' dich der Teufel! Kannst von mir aus verrecken. Mir ist es gleich.«

 

Der Hoffende sah ihn schweigend an. Er band die Ruten zu einem Bündel zusammen und schnaubte wütend mit der Nase. Der Schein des Feuers fiel auf ihn, und sein böses Gesicht mit dem gesträubten Schnurrbart schien ganz rot.

 

Der Hoffende wandte sich weg und seufzte schwer.

 

»Ich sag' ja, mir ist es gleich – tu wie du willst«, begann Tanzbein mit böser, heiserer Stimme.

 

»So!«, erwiderte der Hoffende leise.

 

»Ich sag' dir aber, wenn du solche Geschichten machst, geh' ich nicht mehr mit dir! Lass gut sein! Ich kenne dich ja, das ist es...«

 

»Ein merkwürdiger Mensch bist du...«

 

»Kein Wort mehr!«

 

Der Hoffende duckte sich und begann zu husten. Als er ausgehustet hatte, sagte er, schwer atmend: »Warum sage ich das? Weil es mit dem Vieh gefährlich ist.«

 

»Ist schon gut!«, rief Tanzbein böse.

 

Er hob das Rutenbündel auf die Schulter, nahm den halbfertigen Korb unter den Arm und stand auf.

 

Der Hoffende stand auch auf, sah seinen Freund an und ging mit langsamen Schritten zum Pferd.

 

»Brrrr...! Christus sei mit dir, fürchte dich nicht!«, ertönte im Graben seine dumpfe Stimme.

 

»Brrr, Brr... halt! Nun, geh doch... geh. Hü. Dummkopf!«

 

Tanzbein sah zu, wie sein Freund sich am Pferd zu schaffen machte und ihm die Schnauze aus den Lumpen befreite. Der Schnurrbart des alten Diebes zitterte. »Komm doch, komm!«, sagte er und machte einen Schritt vorwärts.

 

»Ich komme«, antwortete der Hoffende.

 

Sie bahnten sich den Weg durch das Gestrüpp und gingen schweigend den Graben entlang, durch das Dunkel der Nacht, das ihn bis an den Rand füllte.

 

Das Pferd ging ihnen nach.

 

Dann erklang hinter ihnen das Plätschern des Wassers, das die Melodie des Baches übertönte.

 

»Das dumme Vieh! In den Bach ist es getreten...«, sagte der Hoffende.

 

Tanzbein schnaubte böse mit der Nase und sagte nichts. Im Dunkel und im mürrischen Schweigen des Grabens ertönte das leise Knistern der Sträucher, und dieses Geräusch entfernte sich langsam von der Stelle, wo das rote Häuflein Glut wie ein böses und spöttisches Auge eines Ungeheuers auf der Erde funkelte.

 

Der Mond ging auf, als sie die Mähre zurück ließen.

 

Gespenstisches Licht erfüllte den Graben mit nebligem Schein; überall lagen Schatten. Der Wald war davon noch dichter und die Stille vollkommener und strenger geworden. Die weißen Stämme, der Birken hoben sich, vom Mond versilbert, wie Wachskerzen von dem dunklen Hintergrund der Eichen, Ulmen und Sträucher ab.

 

Die Freunde gingen langsam auf dem Grund des Grabens. Das Gehen fiel ihnen schwer. Ihre Füße glitten bald aus und versanken bald tief im Schmutz.

Der Hoffende atmete schnell, und in seiner Brust pfiff, schnarchte und rasselte es, als hätte er in ihr eine große, lange nicht gereinigte Wanduhr versteckt.

Tanzbein ging voraus. Der Schatten seiner geraden und großen Figur fiel auf den Hoffenden.

 

»Da soll man gehen!«, sagte er plötzlich brummig und beleidigt. »Wohin soll man gehen? Was sollen wir suchen? Ach ja...!«

 

Der Hoffende seufzte und schwieg.

 

»So eine Nacht ist kürzer als eine Spatzennase. Wenn wir ins Dorf kommen, ist es schon hell. Und wie gehen wir? Wie Damen, die einen Spaziergang machen.«

 

»So schwer ist es mir, Bruder«, sagte der Hoffende leise.

 

»Schwer?«, rief ironisch Tanzbein. »Nun siehst du es! Und warum ist es schwer?«

 

»Das Atmen ist mir schwer«, antwortete der kranke Dieb.

 

»Das Atmen? Und warum ist es dir schwer?«

 

»Von der Krankheit... wahrscheinlich.«

 

»Unsinn! Das kommt nur von deiner Dummheit.«

 

Tanzbein blieb stehen, wandte sein Gesicht dem Freund zu, fuchtelte vor dessen Nase mit dem Finger und fügte hinzu: »Wegen deiner Dummheit kannst du nicht atmen, jawohl! Verstanden?«

 

Der Hoffende ließ den Kopf tief sinken und sagte schuldbewusst: »Gewiss.« Er wollte noch etwas sagen, bekam aber einen Hustenanfall.

Er stützte sich mit den zitternden Händen gegen einen Baumstamm und hustete lange, wobei er mit den Beinen immer auf dem gleichen Fleck herumtrat, den Kopf schüttelte und den Mund weit aufriss.

 

Tanzbein blickte ihm aufmerksam in sein eingefallenes, fahles, im Mondlicht grün schimmerndes Gesicht.

 

»So wirst du alle Teufel im Wald wecken«, sagte er mürrisch.

 

Und als der Hoffende ausgehustet hatte, und, den Kopf in den Nacken geworfen, frei aufatmete, sagte er ihm im Ton eines Befehles: »Ruh dich aus! Setzen wir uns!«

 

Sie setzten sich auf die feuchte Erde in den Schatten der Sträucher. Tanzbein drehte sich eine Zigarette, steckte sie an, betrachtete ihr glimmendes Ende und begann langsam: »Wenn wir zu Hause etwas zum Essen hätten, so könnten wir auch nach Hause umkehren.«

 

»Es ist wahr...«, antwortete der Hoffende und nickte.

 

Tanzbein sah ihn von der Seite an und fuhr fort: »Da wir aber zu Hause nichts haben, müssen wir gehen.«

 

»Ja, das müssen wir...« Der Hoffende seufzte.

 

»Obwohl wir nirgends hingehen können, denn es kommt doch nichts Gescheites dabei heraus. Dumm sind wir, das ist der Hauptgrund! So dumm sind wir.«

 

Die trockene Stimme Tanzbeins durchschnitt die Luft und tat dem Hoffenden wohl weh: er rückte unruhig hin und her, seufzte und röchelte eigentümlich.

 

»Wie gerne ich aber fressen möchte, das kann ich dir gar nicht sagen!«, schloss Tanzbein seine gedehnte, vorwurfsvolle Rede.

 

Nun stand der Hoffende entschlossen auf.

 

»Wohin?«, fragte Tanzbein.

 

»Gehen wir.«

 

»Was bist du so... aufgesprungen?«

 

»Gehen wir!«

 

»Na schön, gehen wir.« Tanzbein stand auch auf. »Es hat aber keinen Zweck.«

 

»Schon gut. Komme, was kommen mag!«, sagte der Hoffende und winkte mit der Hand.

 

»Wie tapfer du auf einmal bist!«

 

»Gewiss. Hast mir doch genug zugesetzt! Mein Gott!«

 

»Warum handelst du so dumm?«

 

»Warum?«

 

»Ja!«

 

»Es dauert mich doch!«

 

»Wer? Was?«

 

»Wer? Ich meine, der Mensch.«

 

»Der Mensch?«, sagte Tanzbein gedehnt. »Hat man so was schon gehört! Ach, du gute Seele, hast auch kein bisschen Grütze im Kopf! Was ist dir der Mensch? Verstehst du es?

Er packt dich am Kragen und zerdrückt dich, wie einen Floh mit dem Nagel!

Dann soll er dich bedauern. Ja, dann kannst du ihm deine Dummheit zeigen. Er wird dich für dein Mitleid mit allen sieben Plagen peinigen.

Alle deine Gedärme wird er dir herausreißen und sich um die Hand wickeln. Alle deine Adern wird er dir herausziehen, einen Zoll in der Stunde. Ach, du! Mitleid!

Bete lieber zu Gott, dass man dich einfach ohne jedes Mitleid umbringt, und fertig! Ach, du! Im Regen sollst du zergehen! Mitleid - pfui Teufel!«

 

Er war tief empört, dieser Tanzbein.

 

Seine schneidende, von Ironie und Verachtung gegen seinen Freund erfüllte Stimme hallte durch den Wald, und die Zweige der Büsche schwankten mit leisem Rauschen, als stimmten sie den strengen und wahren Worten zu.

 

Der Hoffende ging, von den Vorwürfen erdrückt, mit zitternden Beinen, die Hände in die Ärmel seiner Jacke vergraben und den Kopf tief auf die Brust gesenkt.

 

»Warte«, sagte er schließlich. »Was ist denn schon geschehen? Ich werde mich schon erholen. Gleich kommen wir ins Dorf. Ich gehe allein hin, du brauchst gar nicht mitzugehen. Ich stehle... das erste, was mir in die Hände kommt. Und dann geht es heim! Wir kommen heim, und ich lege mich hin! Es ist mir so schwer. Du sollst nichts sagen.«

 

Er sprach kaum hörbar, schwer keuchend, schnarchend, mit einem Röcheln in der Brust. Tanzbein sah ihn argwöhnisch an. Er blieb stehen, wollte etwas sagen - winkte aber bloß mit der Hand, sagte nichts und ging weiter.

 

Lange gingen sie so, langsam und schweigend.

 

Irgendwo ganz in der Nähe krähten die Hähne. Ein Hund heulte, dann erklang ein trauriger Glockenschlag von der Dorfkirche und erstarb im düsteren Schweigen des Waldes. Ein großer Vogel stürzte von irgendwoher als großer schwarzer Fleck in das trübe Mondlicht, und das hastige Rauschen und Sausen seiner Flügel klang unheimlich durch den Graben.

 

»Ein Rabe... oder eine Saatkrähe«, bemerkte Tanzbein.

 

»Hör mal«, begann der Hoffende und setzte sich schwer auf die Erde. »Geh du allein, ich bleibe hier. Ich kann nicht mehr. Es würgt mich... und der Kopf schwindelt mir.«

 

»Da haben wir es!« sagte Tanzbein unzufrieden. »Kannst du wirklich nicht?«

 

»Ich kann nicht.«

 

»Ich gratuliere! Pfui Teufel!«

 

»Ich bin ganz schwach geworden.«

 

»Das will ich meinen! Wir treiben uns doch seit dem frühen Morgen ohne zu fressen herum.«

 

»Nein, es ist wohl... mein Ende! Siehst, wie das Blut läuft!«

 

Der Hoffende hielt Tanzbein seine mit etwas Dunklem beschmutzte Hand vors Gesicht. Jener warf einen Blick auf die Hand und fragte mit gedämpfter Stimme: »Was werden wir jetzt anfangen?«

 

»Du geh... und ich bleibe hier. Vielleicht erhole ich mich noch.«

 

»Wo soll ich hingehen? Vielleicht ins Dorf. Um ihnen zu sagen, dass es mit dem Menschen schlecht steht?«

 

»Nein! Pass auf, sie werden dich noch schlagen.«

 

»Das ist wahr. Wenn man ihnen nur in die Hände kommt!«

 

Der Hoffende warf sich auf den Rücken und hustete dumpf und spuckte ganze Klumpen geronnenen Blutes aus.

 

»Es läuft?«, fragte Tanzbein, über ihm stehend, doch auf die Seite blickend.

 

»Es läuft stark«, sagte der Hoffende kaum hörbar und bekam einen neuen Hustenanfall.

 

Tanzbein fluchte laut und unflätig.

 

»Wenn man doch jemand rufen könnte!«

 

»Wen denn?«, fragte der Hoffende traurig.

 

»Vielleicht... stehst du doch noch auf und gehst. Langsam...?«

 

»Ach, nein...«

 

Tanzbein setzte sich zu Häupten seines Freundes, umschlang seine Knie mit den Armen und fing an, ihm ins Gesicht zu sehen. Die Brust des Hoffenden hob und senkte sich ungleichmäßig, mit einem dumpfen Röcheln. Seine Augen waren eingefallen, die Lippen aber hatten sich eigentümlich gedehnt und schienen an den Zähnen zu kleben. Aus dem linken Mundwinkel rieselte ein lebendiges dunkles Bächlein über die Wange.

 

»Läuft es noch immer?«, fragte Tanzbein leise, und im Ton seiner Frage klang etwas wie Andacht.

 

Das Gesicht des Hoffenden zuckte.

 

»Es... läuft...«, röchelte er leise.

 

Tanzbein beugte den Kopf zu den Knien und verstummte. Über ihnen hing der von den Frühlingsgewässern tief durchfurchte Grabenrand herab.

Von oben blickte eine Reihe zottiger, vom Mond beschienener Bäume in den Graben herein. Der andere, weniger steile Grabenrand war ganz mit Sträuchern bewachsen.

Hier und da ragten graue Espen aus der dunklen Masse des Gesträuchs. In ihrem nackten Geäst konnte man deutlich die Krähennester unterscheiden. Der vom Mondlicht übergossene Graben war wie ein Traumgesicht, wie ein langweiliger, aller Schönheit des Lebens barer Traum.

Und das stille Rieseln des Baches vergrößerte noch diese Leblosigkeit, unterstrich diese beklemmende Stille.

 

»Ich sterbe...«, flüsterte der Hoffende kaum hörbar. Dann wiederholte er es laut und deutlich: »Ich sterbe, Stepan!«

 

Tanzbein fuhr am ganzen Körper zusammen, rückte hin und her, schnaubte, hob den Kopf von den Knien und sagte verlegen und leise, als fürchtete er, etwas zu stören: »Du... fürchte dich nicht! Macht nichts... vielleicht ist es... nichts! Bei Gott!«

 

»Herr Jesu Christ...«, stöhnte der Hoffende schwer auf.

 

»Macht nichts!«, flüsterte Tanzbein und beugte sich über das Gesicht des Hoffenden. »Nimm dich etwas zusammen. Vielleicht vergeht es noch...«

 

Aber der Hoffende begann wieder zu husten. Aus seiner Brust kam ein neuer Ton. Es klang, wie wenn ein nasser Lappen gegen seine Rippen schlüge.

Tanzbein sah ihn an und bewegte den Schnurrbart. Nachdem er ausgehustet hatte, fing der Hoffende an, laut und abgerissen zu atmen, als liefe er sehr schnell irgendwohin. Lange atmete er so und begann dann: »Verzeih mir, Stepan... wenn ich... das Pferd... verzeih mir, Brüderchen...!«

 

»Verzeih du mir«, unterbrach ihn Tanzbein. Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Und ich? Wo soll ich jetzt hin? Und was soll jetzt sein?«

 

»Macht nichts! Gott gebe dir...«

 

Er sprach den Satz nicht zu Ende, stöhnte auf und verstummte.

 

Dann fing er an zu röcheln, streckte die Beine aus und warf ein Bein auf die Seite.

 

Tanzbein sah ihn unverwandt an. Die Minuten gingen so langsam dahin wie Stunden.

 

Da hob der Hoffende den Kopf. Er fiel aber gleich wieder kraftlos auf die Erde.

 

»Was ist, Bruder?« fragte Tanzbein, sich über ihn beugend.

 

Der Hoffende antwortete aber nicht mehr, sondern lag ruhig und unbeweglich da.

 

Tanzbein saß noch eine Weile ernst neben seinem Freund, stand dann auf, zog die Mütze, bekreuzigte sich und ging langsam den Graben entlang.

Sein Gesicht war spitz geworden, seine Brauen und sein Schnurrbart sträubten sich, und er schritt so fest dahin, als schlüge er die Erde mit den Füßen, als wollte er ihr weh tun.

 

Es tagte. Der Himmel war grau und unfreundlich. Im Graben herrschte eine düstere Stille. Bloß der Bach fuhr, ohne jemand zu stören, in seiner eintönigen trüben Rede fort.

 

Plötzlich raschelte es. Ein Erdklumpen war auf den Grund des Grabens gerollt. Eine Saatkrähe erwachte, schrie unruhig auf und flog davon.

Dann zwitscherte hell eine Meise. In der feuchten kalten Luft des Grabens hatten die Töne nur ein kurzes Leben. Sie entstanden und starben gleich dahin.

 

ENDE

 

 

 

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Bildmaterialien: Pixabay - kostenlos
Cover: Alberto Bronca
Lektorat: Alberto Bronca
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2020

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