Immerzu frage ich mich, ob Lisa, das kleine Kätzchen von Erwin Schrödinger aus Wien mit seinem zarten Fell, das weiße Flecken auf schwarzem Grund ziert, noch lebt. Schrödinger hatte es vor langer Zeit in eine Kiste gesperrt, die hermetisch nach außen abgeschlossen ist, sodass keine Informationen nach draußen dringen. Er hatte eine mechanische Apparatur mit einem Hämmerchen und einem mit Cyankali gefüllten Glaskölbchen in die Kiste mit hinein gepackt. Zusätzlich ein Gramm eines radioaktiven Materials mit einer zwanzig Tausend Jahre währenden Halbwertszeit. Der Chemiker Schrödinger hat über dem Glaskölbchen das Hämmerchen so angeordnet, dass es sich betätigt, sobald der erste radioaktive Zerfall stattfindet und Lisa tötet.
So kann wegen der Informationssperre keine Aussage über den Seins-Zustand von Lisa gemacht werden. Lisa lebt zu 50 % und ist zugleich zu 50 % tot. Das Geschehen kann durch eine mathematische Gleichung beschrieben werden – mit der sogenannten „Schrödinger-Gleichung, die weltweit für Aufruhr sorgt, wann und wo immer es um die Frage nach der tatsächlichen Realität geht. Die theoretische Physik stellt diese Gegebenheit als Überlagerung zweier getrennter Universen dar, zwischen denen keine Kommunikation möglich ist. In dem einen Universum lebt Lisa, im anderen ist sie bereits verstorben. Erst, wenn ein „Beobachter“ die Kiste öffnet , wird der wahre Seins-Zustand von Lisa erkennbar. Man sagt, die Schrödinger-Gleichung kollabiert. Die beiden Universen trennen sich und bleiben getrennt. Bedeutende Physiker wie Niels Bor, Werner Heisenberg, Max Planck u.v.a. erkennen die Existenz der Vielwelten voll an.
Wenn mir am 1. Mai 1953 meine heutige Frau nicht begegnet wäre und wir nicht geheiratet hätten, würde ich jetzt diese Zeilen nicht schreiben, weil ich ohne die Begegnung mit meiner Frau ein Anderer geworden wäre und wahrscheinlich heute auch an anderer Stelle säße.
Auch wenn sich diese Geschichte wie eine fiktive Erzählung anhört, ist sie doch so real wie alles in unserem Universum, das wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können. Freilich existieren demnach neben unserem Universum unendlich viele andere Universen, welche als Parallel-Universen bezeichnet werden.
Die Sonne hat ihr Winterkleid abgestreift. Ihre Photonen tanzen mit den Luftmolekülen einen heißen Tango zum Läuten der Maiglöckchen. Es ist der linde Frühling angebrochen, in dem die Zeit der Erde in die Arme fällt. Samstag ist´s. Und die Welt scheint in Ordnung zu sein. Sattes Baum-Grün schmeichelt gleich Balsam meinen Augen. In Köln-Godorf wogt das Leben durch die Godorfer Hauptstraße, entlang des Meridians 60 Grad 58´37´´Ost von Süd nach Nord.
Auf der anderen Straßenseite blickt mich zwei Mal erstaunt mein Spiegelbild an, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt im Schaufenster eines frisch restaurierten Schuhgeschäftes. Neben mir im spiegelnden Glas aus geschmolzenem Stein und Hitze eine junge Frau, die mir fremd ist. Sie bewundert neugierig die fantasievoll dekorierte Auslage. Sie ist auf der Suche nach einem passenden Paar Stöckelschuhen für die kommende Theatersaison.
Das kann nicht sein, denn ich stehe dem Fenster frontal gegenüber, auch begleitet mich keine Frau. Meine Augen haben keinen stereometrischen Defekt und können nicht zwei Mal die gleichen Bilder sehen. Aber Ich bin auch nicht Opfer einer imaginären Täuschung! Ich stehe da als halte ich jahrelang Wache im Urwald bei meiner verlorenen Asche. Die optischen Gestalten, die ich im Schaufenster gespiegelt und doppelt sehe, geben korrekt meine Person wieder. Sie sehen aus wie Doppelgänger von mir. Aber das Spiegelbild muss dennoch von jenem anderen Mann ausgehen, der neben seiner Frau vor dem Fenster steht. Sowohl was mein eigenes Konterfei betrifft, die graue Jacke als auch die marineblauen Hosen, die ich heute Vormittag trage, sind wirklichkeitsgetreu gespiegelt, nur eben zwei Mal. Sonst hat alles seine Richtigkeit, und doch sind der „Andere“ und ich nicht dieselben. Wir sind bestenfalls gleiche Personen. Das Wir ist die Summe mehrerer gleicher Ichs. Bin ich auf der Suche, weil ich sie alle kenne und mich nicht fürchte? Dieser „Andere“ ist von meiner Größe, aber leicht übergewichtig. Auf seinem Kopf gleichen die wenigen, weißen Haare und die leicht chaotische Frisur der meinen. Gleich drauf schlendern die beiden weiter, lassen das zweite Abbild zurück und entziehen sich meinen prüfenden Blicken als entweichten sie durch ein zerbrochenes Fenster in die Leere.
Ich kann mir das Phänomen nicht erklären. Doch Da fällt mir der Eintrag vom 19. Februar 2004 in mein Tagebuch ein: „An jedem Tag meines privaten Studiums, meiner Suche nach Antworten auf die Wunder und Merkwürdigkeiten dieser Welt. Es erweitert sich mein Denken und die Fülle an Besonderem befriedigt mein Neugierde. Ich habe mir Gedanken gemacht, was mir die Erkenntnisse der Quantenphysiker John Archibald Wheeler, Niehls Bohr, Paul Davies, Hugh Everett, Heisenberg und andere persönlich bedeuten, wie weit sie meine Einsichten vertiefen können. Dabei stieß ich auf ein Werk von Jorge Luis Borges (argentinischer Autor), der die Ungeheuerlichkeit der Parallelen Welten in einer wunderbaren und fantasievollen Ge-schichte beschrieben hat. Wenn ich deren Inhalt auf die Begegnung unser beider Wesen in Beziehung setze, so lautet das etwa so: In der Mehrzahl aller Zeiten existieren wir nicht; in einigen existierst du, ich jedoch nicht; in anderen ich, du aber nicht. In einem Universum nun und in dieser Zeit, die mir ein Zufall beschert, begegne ich dir, deine Frau tritt in mein Leben, ich liebe sie und wir heiraten einander. In wieder einer anderen Zeit triffst du mich, da du an meine Haustüre klopfst, tot an; in wieder einer anderen sage ich dieselben Worte, gehe aber an dir vorüber, beachte dich nicht. Bin ich ein Trug, ein Phantasma?“
Es fällt mir weiter ein, dass sich an diesem ersten Mai 1953 nach den Regeln der Quantenmechanik die Überlagerung zweier in der Schwebe befindlicher Systemzustände in meinem damaligen Leben durch die Begegnung meiner Frau auflösten und meine Welt in zwei Universen aufspaltete, worin in dem einen ich und in dem anderen mein zweites Ich fortlebten und leben.
Indessen vermag ich wie festgewurzelt erst keinen Fuß vor den anderen zu setzen und kann nicht weitergehen. Erst ein kurzes Kopf-schütteln versetzt mich in die Wirklichkeit zurück. Was geschieht da vor meinen Augen? Oder sollte ich vielleicht doch eher durch eine merkwürdige Verblendung irritiert worden sein? Sind meine Augen defekt oder meine Brille?“ Oder?
In meiner Verwirrung torkle ich wie ein Betrunkener in das in der Nähe durch sein pikantes Äußeres einladende „Le Café, das an die-sem Vormittag gut besucht ist. Darin entdecke ich im hinteren Teil des Gastraums noch einen Tisch mit vier Stühlen, von denen einer besetzt ist. Es ist die junge Frau, die ich in Begleitung mit dem „Anderen“ im Schaufenster erblickt habe. Ich erschrecke erst. Aber sie ist sehr freundlich und sagt: „Bitte, setzen sie sich!“ ohne mich anzuschauen. „Neben mir sitzt mein Mann, der eben mal kurz zu seinem Wagen gegangen ist.“
Sie ist sehr schön, besitzt ein fein gezeichnetes, apartes Gesicht. Ihre Brüste sind wie zwei Brote aus Hefe und Korn. Nichts auf der Erde lässt sich vergleichen mit der Wölbung ihrer Hüften. Unter den leicht geschwungenen Wimpern ruhen Ihre Augen im Schatten der Trauben auf ihren Wangen. Über ihrem linken Auge fällt eine Narbe auf, die von einer Operation stammen muss. Ihr Haar flutet wie im Glanz der Sonne in leichten Schwingungen über ihre Schultern, gleich dem Klang einer bezaubernden Melodie. Und sie gleicht - wie mir scheint- ein wenig meiner Frau, die ein Pfeil ist, der den Winter durchquert, ein Blatt, das mir am 1. Mai 1953 auf die Brust gefallen ist.
Ich bestelle mir ein Kännchen Kaffee und ein Stückchen Käsekuchen dazu. Wann immer sich die Tür nach draußen öffnet, zuckt mir der Schreck durch die Glieder und ich kann meine Aufregung kaum verbergen. Zugleich bin ich aber auch neugierig, ob ich mich zuvor getäuscht habe. Schon erscheint der „Andere“, mir Gleiche, in der Tür und schreitet auf den Tisch zu. Wie vom Blitz getroffen bleibt er kurz davor stehen, schaut mich verblüfft an und bringt kein Wort über die Lippen, ehe er seinen Platz einnimmt. Er schaut noch ein zweites Mal und sagt mir kurz zugewandt und leise als wolle er etwas verbergen: „Guten Tag, mein Herr.“
„Was hast Du?“, Horst, fragt die Frau den mir gleichen Mann neben sich. Doch dieser vermag keine Antwort darauf zu geben, bleibt stumm wie ein Fisch im Wasser. Nun schaut sie auch mich an, erschrickt und sagt, „Welch eine Ähnlichkeit!“ Ihr Blick wandert verwundert ein paar Mal zwischen dem „Anderen“ und mir hin und her. Es ist ein Wechselspiel der Gefühle, das von einer Amplitude zur anderen springt und sie erröten lässt. Langsam wendet sie sich meinem anderen Ich zu und fragt etwas vorwurfsvoll: „Horst, hast Du mir vielleicht verschwiegen, dass Du einen Zwillingsbruder hast? Ohne dessen Antwort abzuwarten, fragt sie mich mit entsetztem Ausdruck, der ihr Gesicht überschattet: „Seid ihr Zwillingsbrüder?“ Der Andere fährt ihr dazwischen: „Nein Irma, wir sind keine Zwillinge!“
Mir scheint das Blut aus den Adern zu tropfen und ich spüre die Kälte, die mich erfasst, obwohl draußen wie drinnen hochsommerliche Temperaturen herrschen.
Dann tritt eine mich ängstigende Stille ein, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Obwohl ich erst noch gezweifelt habe, ob die verblüffende Übereinstimmung von uns beiden, zumindest in der äußeren Erscheinungsform reiner Zufall hätte gewesen sein können, bin ich mir jetzt hundertprozentig sicher, dass wir beide zwar nicht dieselbe, aber die gleiche Person sind. So, dass ich mich nach Überwindung der Stille dem „Anderen“ vorstelle, der in kurzen Momenten wie aus der Froschperspektive einen verstohlenen Blick auf mich wirft. Nun er-schrickt dieser ein zweites Mal aufs Heftigste als ich meinen vollen Namen nenne. Seine Frau Irma will etwas sagen, aber ihr Mund bleibt verschlossen.
Mir ist als rolle eine Walze aus Blei über mein Seele und ich schnappe nach dem fehlenden Wind, der meine innere Erregung hätte kühlen können. Eine Vielzahl von Fragen, zu denen mir eigentlich die passenden Antworten geläufig sind, zwängen sich mir auf. Zunächst spreche ich aber diese Gedanken nicht aus.
Es hat sich schicksalhaft die Chance ergeben, beweisen zu können, dass es möglich ist, von einer Welt A in eine parallele Welt B wechseln zu können. Aber wie? Sind mir doch die letzten Erkenntnisse, die sich dahinter verbergen, aus mathematischen Gründen, immer noch nicht gänzlich verstehbar geworden. Blitzartig durchzuckt dieser Gedanke mein Gehirn, dass nun dieser Beweis mit unser beider Existenz geführt werden kann. Aber wie kann ich mein zweites Ich ansprechen? Soll ich ein Selbstgespräch führen?
Ich muss laut gedacht haben. Denn mein gleiches Gegenüber fragt: „Wie kann solch Wunderbares möglich sein?“ Und er beginnt, mir von seinem bisherigen Leben zu erzählen.
Er zählt mir jedes einzelne Ereignis aus meiner Jugendzeit auf, als würde er mir meine eigene Biografie vortragen, ausgehend von Geburt, Geburtsort, Großeltern, Eltern, meinem Bruder bis zum 1. Mai 1953. Ja selbst von kleinen Episoden, die mir längst aus dem Gedächtnis abhanden gekommen sind.
Ich frage wie sich sein Leben nach jenem ersten Mai 1953 bis heute weiter entwickelt hat.
So erfahre ich, dass Ich bald nach Mannheim umgezogen und dort auf dem Abendgymnasium das Abitur gemacht und anschließend ein Studium der chemischen Verfahrenstechnik absolviert habe. Kurze Zeit danach habe ich eine Anstellung bei der Rheinraffinerie der Shell-AG in Köln-Godorf gefunden. Dort habe ich als Verfahrensingenieur drei Jahrzehnte lang die Produktion von Bitumen verantwortet, ehe ich 1993 in Rente gegangen sei. In dem Unternehmen hätte Ich seine Frau Irma kennen- und lieben gelernt. Nun sei er, mein zweites Ich, mit ihr bald sechzig Jahre glücklich verheiratet. Zwei Kinder seien ihnen weggestorben. Schließlich hätten sie die Hoffnung verloren, noch ein drittes zu bekommen und sich auf ein gemeinsames Leben zu zweit eingestellt.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2012
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