Von draußen war nichts zu sehen.
Die Vorhänge waren zugezogen. Im Fensterglas spiegelte sich die lange Straße und die vom Licht der Straßenlaternen vergoldeten Schneeflocken. Hätten das Fensterglas und die Vorhänge gefehlt, wäre es im Hotel nicht nur unsagbar kalt geworden. Man hätte außerdem von der Straße das klingende Telefon hören und die Hand sehen können, die zum Hörer griff.
Die Hand war uralt, mit teuren Ringen geschmückt und gehörte zu Madam Baker. Die Madam besaß außer der Hand unter anderem die Wohnung, das klingelnden Telefon und ein Vermögen von mehren Millionen Dollar. Madam Baker hatte dreiunddreißig Jahre auf diesen Anruf gewartet.
„Baker?“, meldete sich Madam Baker.
Es antwortete eine im ersten Moment zart klingende Frauenstimme, die jedoch eine rätselhafte Tiefe und manchmal Anflüge von Düsternis besaß. Beides bemerkten auch aufmerksame Zuhörer erst nach einiger Zeit. Die Stimmte gehörte einer jungen Frau. Die junge Frau saß am anderen Ende der Welt auf einer zur Antarktis gehörenden Halbinsel und hielt ein Telefon in der Hand.
Ihr Atem kondensierte. Ihr Gesicht lag halb im Schatten. Draußen wurde es Nacht und ihre von der Kälte und der Heizungsluft rissigen Lippen begannen zu sprechen.
„Ich habe diese Geschichte schon einmal erzählt. Gerade eben. Einmal begonnen, war sie nicht mehr aufzuhalten. Was für ein lächerliches Wort – Geschichte. Zu alltäglich. Zu klein. Eine Geschichte erzählen heißt, einen inneren Vulkan ausbrechen zu lassen.“
An dieser Stelle standen die rissigen Lippen kurz still, als wollten sie den faltigen der Madam Gelegenheit geben, ihr zu antworten. Doch Madame Baker schwieg.
So ließ die Anruferin ihrem inneren Vulkan freien Lauf.
Bevor ich ihre Worte, soweit sie mir bekannt sind, wiedergeben werde, muss ich Ihre Aufmerksamkeit auf etwas Anderes lenken, besser gesagt, jemanden.
Jemand hat eine Zeitung. Und sitzt damit im Park.
Jemand hat eine Zeitung. Und sitzt damit im Park.
„Das ist doch normal. Er sitzt mit seiner Zeitung auf einer Bank im Park. Wahrscheinlich liest er darin.“
Er hält die Zeitung vor sein Gesicht!
„Genau. Das ist doch total normal. Vielleicht sagen Sie mir erstmal, wer Sie überhaupt sind.“
Ich? Ich bin schon hier gewesen.
„Hier?”
In diesem Café. Das heißt, bevor wir uns hier getroffen haben. Bevor du gefragt hast, ob hier noch frei sei, und ich erwidert habe, ich wisse nur ungefähr, wie es darum bestellt sei, und du darauf beharrt hast, ich könne doch etwas nachdenken und es mir sagen, woraufhin ich mich zu einem kurzen Kommentar zur Lage der Freiheit im deutschen Rechtsstaat aufgerafft habe, den du nicht nur mit deinem unsicheren Mädchenlächeln, sondern auch mit deiner engelhaften wunderbaren Gesellschaft belohnt hast. Aber ich bin vorher schon hier gewesen, letzte Woche. In diesem Café. Damals ist mir der Mann mit der Zeitung erstmals begegnet. Zum Glück hat er die Zeitung. Sieht er uns nämlich direkt an, dann ist das das Schlimmste, wirklich das Schrecklichste und Albtraumhafteste, das sich dein junger Verstand je träumen lassen wird. Es knirscht im Schädel und drückt im Bauch, ihn nur anzusehen.
„Ich verstehe...“
Wirklich?
„Ein bisschen. Glaube ich. Wer ist der Mann?“
Linda lauschte noch etwas, aber ihre Frage blieb unbeantwortet. Nicht zum ersten Mal hörte die blonde Siebzehnjährige Stimmen. Bei weitem nicht zum ersten Mal. Sie kamen zu keiner bestimmten Zeit, manchmal dann, wenn Linda im Bett lag, oder wenn sie vor dem Fernseher saß, oder wenn sie sich an ungewöhnlichen oder besonders stimmungsvollen Orten wie Museen, Ruinen oder Friedhöfen befand. Und ganz selten kamen sie, wenn sich Linda mit jemandem unterhielt.
So wie jetzt.
„Linda? Ist alles in Ordnung?“, fragte Oliver und runzelte besorgt die Stirn.
Oliver war dreiundvierzig und ihr Onkel. Wie Lindas Vater war er ein erfolgreicher berufstätiger Mensch. Für einen Mann war Oliver stets überdurchschnittlich geschmackvoll gekleidet. Er ließ sich einen Bart stehen und trug das Haar aufgestellt.
„Ja, alles in Ordnung. Ich war war nur gerade, ich meine... ich fühle mich so müde. Ich hab zu wenig geschlafen.“
Oliver lächelte.
„Wieder die ganze Nacht gelesen?“
„Was? Ja, ja, genau... ich lese immer noch so viel.“
„Genau wie früher.“
„Schlimmer als früher.“
Das stimmte nicht ganz. Linda liebte zugegebenermaßen das Lesen von Romanen wie nichts auf der Welt. Es war weniger die Sprache selbst, die sie so begeisterte, als die fremden, unerforschten Welten, die es zu erkunden galt, in die sie, wann sie wollte, abtauchten konnte, und in denen sie Orte und Personen kennenlernte, die anderen für immer unzugänglich blieben. Aber Linda hatte die Erfahrung gemacht, dass sie auf das Romanlesen nicht wie die übrigen Menschen reagierte. Zumindest hatten ihre Erlebnisse nichts mit dem zu tun, das sich in dem faszinierten, verspannten oder auch gelangweilten Gesichtsausdruck anderer Leute spiegelte, die sie beim Lesen beobachtet hatte. Linda ging nicht nur ganz darin auf, sich in den fantastischen Welten zu verlieren. Diese wurden vielmehr zu ihrem Zuhause. Ein Stück von ihr schien dort zu bleiben, wenn sie zu lesen aufhörte. Dafür nahm sie ein Stück der fiktiven Welt mit sich, und deswegen blieb diese Welt nicht fiktiv, sondern wurde zur Realität.
Lindas Realität.
Sie vermutete, dass auch die Stimmen damit zusammenhingen. Wenn sie nämlich mehr als üblich las – kopfreiste, wie sie es nannte – dann wurden auch die Stimmen häufiger und deutlicher, manchmal so intensiv, dass die sichtbare Welt um Linda versank und nichts als die Stimme übrig blieb. Eine weitere Folge zu intensiven Kopfreisens war, dass ihr das, was sie für ihre Heimat, für die echte Welt hielt, zunehmend dünn vorkam. Als sei die Realität weniger real geworden.
Hin und wieder blitzten sogar Szenen, die sie gelesen hatte, über dem auf, was Linda vor sich sah, als zeige man mehrere Filme gleichzeitig auf einer Leinwand, und ganz selten waren es Geschichten, die ihres Wissens kein Schriftsteller je aufgeschrieben hatte.
Als habe das, was sie aus der erfundenen Welt mitgebracht hatte, in ihr zu wachsen begonnen.
Natürlich wusste Linda, sie hätte sich deswegen mit gutem Recht Sorgen machen können. Sie hatte sich auch angewöhnt, streng darauf zu achten, nicht zu viel kopfzureisen, denn sie fürchtete nichts mehr als die Möglichkeit, dass jemand ihre seltsame Eigenheit bemerken könnte. Ihre Familie. Ihre Freunde. Aber ganz lassen konnte und wollte sie es nicht, ob die Stimmen nun sprachen oder es ließen. Davon abgesehen waren sie teilweise sehr unterhaltsam, witzig, sogar weise. Nur wenige waren so rätselhaft wie die, die eben mit ihr geredet hatte, und die meisten deutlich angenehmere Gesellschaft als die Leute in Lindas Umfeld.
„Noch schlimmer als früher?“, lachte Oliver, „das kann nur heißen, du tust nichts anderes mehr!“
Doch als Linda nicht mitlachte, wurde er wieder ernst.
„Mal ehrlich: Ich finde es ja großartig, mit welcher Begeisterung du dich in deine Bücher vertiefen kannst. Ich bin dazu völlig unfähig und froh, wenn ich im Urlaub mal einen Krimi durchkriege. Du bist für dein Alter ungewöhnlich klug, belesen und sprachgewandt. Ach, was, nicht nur für dein Alter! Aber was ich sagen will – es gibt Dinge, gerade für Mädchen in deinem Alter, die, also... nicht jeder macht das wie du, was nicht heißen soll, dass es schlecht ist, aber bestimmte Entwicklungen sollte man einfach durchmachen, weißt du?“
Linda lächelte.
„Ich denke, ich verstehe. Du fürchtest, ich könne mein Leben verpassen, weil ich mich den ganzen Tag hinter Büchern vergrabe.“
„So krass habe ich das nicht gemeint, aber...“
„Im Grunde schon.“
Oliver presste die Lippen aufeinander, zuckte die Schultern und nickte.
„Mach dir deswegen keine Sorgen. Wirklich nicht. Ich bin kein Freak oder sowas. An Wochenenden gehe ich ganz normal mit Freunden feiern. Ich habe einen Facebook-Account, ein Handy und weiß, was Die Simpsons und Verstehen Sie Spaß...? sind. Meine Schulnoten sind in Ordnung. Ich habe wirklich alles, was ich brauche.“
Olivers Gesichtszüge bewegten sich unruhig, als wolle er noch etwas entgegnen, aber ihm schien nichts einzufallen.
„Vielleicht wollen wir wieder über meinen Großonkel sprechen?“, schlug Linda vor.
„Richtig. Deswegen haben wir uns ja getroffen, wegen deines Großonkels David Friedrich Maximilian Schwan. Den wir Max nennen. Eigentlich hättest du ja vorerst zu mir kommen sollen. Bis das mit Elsa, deinem Vater und mir... endgültig geklärt ist. Die Wohnung haben sie ja aufgeben müssen...“
Oliver erklärte und rechtfertigte sich eine Weile, bis er endlich zu der Sache kam, auf die seine ganze Argumentation hinauslief: Er konnte Linda nicht gebrauchen. Deswegen sollte sie zu ihrem Großonkel Max ziehen. Bis Das mit Elsa und den Schwan-Brüdern geklärt war.
Linda fand diese Umschreibung sehr passend. Es schien nämlich niemand zu wissen, was Das eigentlich war. Vermutlich nicht einmal die Beteiligten selbst.
Linda wusste nur, es hatte mit Beziehungen, Neid und Geldgeschäften zu tun. Alles Dinge, die die Schwan-Brüder magisch anzuziehen schienen.
„Ich denke“, unterbrach Linda irgendwann Olivers Redefluss, „ich habe wirklich verstanden. Es geht nicht anders und es tut dir leid. Ich werde zu Großonkel Max gehen und es nicht an die große Glocke hängen. Ich denke aber, es müsste ein kleines Wunder geschehen, damit mein Vater nichts davon erfährt, ob ich nun mit ihm rede oder nicht.“
Plötzlich meldete sich die Stimme zurück.
Hörst du mir eigentlich zu? Der Mann mit der Zeitung!
„Ich weiß“, erwiderte Oliver. „Sag’s ihm einfach nicht. Ich bringe es ihm bei Gelegenheit selbst bei. In Ordnung?“
„Ich sehe keinen Mann mit einer Zeitung“, erwiderte Linda in Gedanken.
„Schon okay. Wann soll ich aufbrechen?“, fragte sie laut.
Die Zeitung! Die Zeitung! Madam Baker, die mit der jungen blonden Frau von der Antarktis telefoniert! Madam Baker! Erinnert dich das an gar nichts?
„Woher kennen Sie Madam Baker?“, dachte Linda mit aller Kraft.
„Am liebsten wäre es mir im Grunde... wenn du sofort fährst“, erwiderte Oliver.
Madam Baker, um Himmels Willen, was glaubst Du denn, woher ich sie kenne? Das liegt jawohl auf der Hand! Jetzt achte schon auf diese Zeitung und den Mistkerl dahinter!
Die Stimme klang plötzlich wie eine Gabel, die über Porzellan kratzt und quietscht.
„Ich... ich verstehe nicht. Ich sehe... Moment mal, draußen sitzt wirklich jemand, der sich hinter seiner Zeitung versteckt!“, dachte Linda erschrocken.
Sag ich doch die ganze Zeit! Fast ein ungewöhnlicher Anblick, heute liest ja jeder auf seinem Tatschphone oder Schneidbrettcomputer die Zeitung!
„Warum soll ich mich vor ihm fürchten? Er wirkt wie ein alter Mann!“
Mein Gott, er liest eine Zeitung, versteckt sich dahinter und beobachtet euch! Ist dir das nicht klar? Himmel, drücke ich mich denn so undeutlich aus? HAU AB!
„Ich versuche ja, Sie zu verstehen, haben Sie doch etwas Geduld... da sitzt also einer mit einer Zeitung. Dahinter versteckt sich jemand besonders Schreckliches, ja? Ich sollte also weglaufen?“
Endlich! Endlich hat sie es kapiert!
„Sofort weglaufen?“
Unbedingt! Unbedingt! Unbedingt sofort!
„Linda?“, fragte Oliver und seine Stimme klang, als frage er es nicht zum ersten Mal, „Linda, hörst du mich? Geht es dir gut?“
„Was? Ja, klar hör ich dich...“
Oliver schüttelte den Kopf, murmelte tadelnd: „Muss ja eine schrecklich lange Lesenacht gewesen sein...“
„Ich gehe ja gleich...“, versuchte Linda, die Stimme zu beruhigen.
Besser jetzt als gleich!
„Was? Ja, klar, bis zum Morgengrauen, so lange habe ich gelesen... Ich dachte ja auch, ich könne mich heute ausschlafen!“
„Sicher, sicher, damit konntest du nicht rechnen...“
„Aber es ist wirklich kein Problem für mich, heute zu fahren!“
„Wirklich? Da fällt mir ja ein Stein vom Herzen! Dein ganzes Gepäck ist hier, ja?“
Beeilung!
„Genau, alles hier.“
„Dann können wir gleich zurück zum Bahnhof gehen und dir ein Ticket kaufen?“
„Sobald wir den Kaffee bezahlt haben“, erwiderte Linda augenzwinkernd.
BEEILUNG!
„Jaja!“
„Ja, natürlich, natürlich! Wir sind heute beide nicht auf der Höhe, was unsere Konzentration angeht, ja? Ja, ja...“
„Stimmt...“
„Sind schon auf dem Weg zum Bahnhof, keine Sorge“, informierte Linda die Stimme, „ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass ich nicht lange hier bleiben würde...“
Sie lauschte in sich hinein, aber die Stimme war fort. Anders als der Mann mit der Zeitung, hinter der er sein Gesicht verbarg.
„Gehen wir?“, fragte Oliver, als er vom Tresen zurückkam, wo er die Rechnung bezahlt hatte.
„Wir gehen.“
Linda nahm ihre Handtasche und fuhr den Griff des Trolleys aus, in dem sich ihr ganzes Reisegepäck befand.
Natürlich wollte ihr Oliver den Koffer abnehmen.
Linda ließ ihn und versicherte sich, nichts im Café vergessen zu haben. Dann folgte sie ihrem Onkel ins Freie. Unwillkürlich warf sie dem Jemand mit der Zeitung einen misstrauischen Blick zu. Inzwischen wirkte er auf Linda wie ein riesiges Insekt auf einer Torte. Fremd, bedrohlich, abstoßend. Wenigstens mussten sie nicht an ihm vorbei, um zum Bahnhof zu kommen. Der war auch nur fünf Minuten vom Café entfernt.
Linda atmete tief durch. Bald würde sie wieder in einem Zug sitzen und einer neuen Hoffnung auf eine Art Heimat entgegenfahren, und dieser unheimliche Jemand mit seiner Zeitung wäre nur noch eine schlechte Erinnerung. Linda ging schneller.
Da meldete sich die Stimme zurück. Jemand hat eine Zeitung. Und folgt dir damit.
„Nein!“
Dreh dich um!
Sie drehte sich um und sah wie Jemand ihnen folgte, die Zeitung immer noch vor seinem Gesicht erhoben, mit schweren, gleichmäßigen Schritten ging er hinter ihnen her.
Sie bekam eine Gänsehaut und richtete den Blick wieder starr geradeaus.
„Wir sollten uns beeilen“, sagte sie zu Oliver, ohne ihn anzusehen, ging etwas schneller.
„Von mir aus... aber warum?“
„Ach, ähm... sieht nach Regen aus, oder?“
Oliver sah verwundert zum leicht bewölkten Himmel, runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Schneller! Schneller! Der kommt immer näher!
„Komm schon“, drängte Linda, „wir sollten wirklich schneller gehen!“
Die Falten auf Olivers Stirn vertieften sich, aber er tat, was sie sagte.
Linda hastete auf die Straße zu, um noch bei Grün über die Straße zu kommen. Doch als sie gerade den Bordstein erreichte, sprang die Ampel auf Rot.
„Komm, das schaffen wir noch“, rief Linda Oliver zu und hastete trotzdem weiter, den Blick immer noch starr geradeaus gerichtet.
„He! Vorsicht!“, brüllte Oliver, packte Linda am Kragen und riss sie zurück. „SPINNST DU?“
Gleichzeitig bremste ein Bus scharf und mit quietschenden Bremsen, und der Fahrer begann wild zum schimpfen und zu gestikulieren, beinahe hätte er Linda angefahren.
NICHT STEHENBLEIBEN!
„Lass mich los“, schrie Linda, „ich muss da rüber! LOSLASSEN!“
„BIST DU VERRÜCKT? Was war denn das?“, schrie ihr Onkel zurück. „Du wärst beinahe überfahren worden! Mädchen, das ist eine Straße! Ob du müde bist oder nicht, du musst...“
Linda hörte nicht mehr hin. Natürlich war Olivers Unmut gerechtfertigt, aber er hatte keine Ahnung, wer sie da verfolgte. Wobei sie, wenn sie ehrlich war, auch keine Ahnung hatte. Schrecklich war er, ihr Verfolger, und sie mussten fliehen, so schnell wie möglich. Linda sah sich verstohlen um und bemerkte erleichtert, dass der Jemand wieder auf einer Bank saß und sich hinter seiner Zeitung verbarg, als wolle er ihnen eine kurze Gnadenfrist einräumen.
Es wurde Grün.
Linda rannte fast über die Straße, ihr Herz pochte wild, ihr Atem ging stoßweise und sie schwitzte.
„Warte doch...“, rief ihr Oliver hinterher, aber sie wurde nicht langsamer.
Sie sprintete ins Bahnhofsgebäude.
„Bin ich drinnen sicher?“, dachte sie energisch.
Vielleicht... für eine kurze Weile.
Als Oliver sie endlich einholte, stand Linda schon am Automat und hatte das passende Ticket ausgewählt.
„Ich brauch Geld“, sagte sie entschuldigend, „und sorry, dass ich vorhin so war.“
Oliver wollte etwas erwidern, war aber unschlüssig, welche Worte er wählen, ob er seine Nichte anschreien, trösten, einen Witz machen sollte. Schließlich gab er ihr einfach das Geld.
„Verdammt“, dachte Linda, „was passiert eigentlich mit Oliver, wenn ich ihn hier alleine lasse?“
Mit dem? Nichts! Außer natürlich, er wird von einem Taxi überfahren oder ein Meteorit stürzt auf die Stadt. Wenn das zufällig nicht heute passiert, wird für ihn alles weitergehen, das Leben, der Streit mit seinen Brüdern und natürlich Das Mit Elsa. Aber vom Mann mit Zeitung droht Oliver keine Gefahr. Der hat es nur auf dich abgesehen.“
Lindas Zug wurde angesagt, in zehn Minuten sollte er ankommen. Den Mann mit der Zeitung konnte sie auch nirgends entdecken.
Oliver wollte bleiben, bis der Zug kam, obwohl Linda ihn bat, sie alleine zu lassen. Sie wollte auch keine Zeitschrift vom Kiosk, kein Eis und keine Chips. Obwohl sie sich Mühe gab, es zu verhindern, zitterte sie am ganzen Körper. Es hatte nichts mit der Angst zu tun, nur mit der Eiseskälte. Wenigstens glaubte sie das.
„Wobei die meisten Leuten recht leicht angezogen sind... vielleicht ist es gar nicht so kalt.“
Der Zug.
„Mehr hast du nicht zu sagen?“, dachte Linda und war ein bisschen beleidigt, weil die Stimme nicht auf ihre alltäglichen Probleme einging.
Nein. Ich habe keine Ahnung von Jacken, von T-Shirts, von Hitze und Kälte. Ich kenne die Worte, aber ich verbinde nichts damit, wie sich ein blind Geborener nie etwas unter Rot oder Blau oder Weiß wird vorstellen können. Wobei ich natürlich auch von Farben keine Ahnung habe. Ich habe so gesehen von kaum etwas eine Ahnung. Nur einige wichtige Dinge weiß ich.
„Woher?“
Ich weiß sie deinetwegen. Diese Dinge sind überlebensnotwendig für dich. Darum bin ich überlebensnotwendig für dich, denn außer mir weiß sie keiner, den du kennst. Sei froh, dass ich bei dir bin. Es war übrigens sehr klug, meinen Rat zu befolgen. Und ich wiederhole: der Zug.
Der Zug kam.
Linda verabschiedete sich von Oliver, und als sie ihn umarmte und dabei über seine Schulter sehen konnte, erblickte sie – den Mann mit der Zeitung! Langsam, ganz langsam senkte sich die Zeitung, und Linda war in der Umarmung gefangen. Sie kniff die Augen so fest zusammen, dass sie fürchtete, ihre Augäpfel zu zerquetschen. Ob das möglich war? Sie wusste nicht.
Oliver ließ sie los.
„Wiedersehen!“, rief Linda mit etwas zu hoher Stimme, schnappte sich ihr Gepäck, wuchtete es in den Zug, fand einen freien Platz, verstaute Koffer und Tasche, setzte sich, versuchte, ihre rasend schnelle Atmung, ihren Herzschlag, ihr Schwitzen unter Kontrolle zu bringen. Es ging nicht. Sie fühlte sich, als sei sie hunderte Meter gerannt, als habe sie einen Boxkampf hinter sich, als sei sie mitten in der Nacht aus einem Albtraum aufgewacht. Sie schloss die Augen, aber es wurde noch schlimmer. Wie ein Drogenrausch, dem man nicht entkommen kann, ob man sitzt, geht oder zu schlafen versucht, ein fürchterlicher Rausch, den eine zu reine Droge verursacht hat und der nun zum Horrortrip geworden ist.
Linda versuchte, sich abzulenken, indem sie betete.
Sie betete, dass der Zug bald abfuhr. Es nützte nichts, sie konnte sich nicht konzentrieren. Ihr wurde außerdem klar, wie wenig Erfahrung sie im Beten hatte. Nie hatte sie es ernsthaft versucht. Auch jetzt versuchte sie es nicht ernsthaft. Sie wollte sich nur beschäftigen, und nicht einmal das gelang ihr.
Der Zug fuhr ab.
Jetzt bist du vorerst, ich betone, vorerst, in relativer, ich betone, in relativer Sicherheit. In Ordnung?
„Wunderbar. Ich kann mich also entspannen?“
Wenn du das kannst, bist du härter, als ich gedacht habe.
„Ich versuche es.“
Sie versuchte es.
„Ich schaffe es nicht“, gab sie kurz darauf zu.
Hätte mich auch gewundert. Vielleicht liest du ein wenig.
„Du willst, dass ich lese? Warum?“
Willst du eine ehrliche Antwort?
„Klar!“Ich hätte gern ein wenig wohlverdiente Ruhe von dir!
„Okay... kein Problem.“
Linda zuckte die Achseln und lauschte, aber die Stimme war endgültig verstummt. So holte sie wirklich ihr Buch, ihre Kopfhörer und ihren MP3-Player aus dem Rucksack, um zu lesen und Musik zu hören, und dabei bemerkte sie, dass sich ihre Aufregung gelegt hatte. Als Erstes wählte sie das als Interpreten TwoStepsFromHell aus und drückte auf Zufallswiedergabe. Der Mix aus elektronischer und klassischer Musik war eigentlich als Trailermusik gedacht, aber wenn man Linda fragte, war es die perfekte Hintergrundmusik für Entspannung und große Gedanken. Perfekt, um beim Lesen gehört zu werden. Genau darauf freute sie sich sehr. Sie nahm das Buch, betrachtete es kurz und rief sich in Erinnerung, was zuletzt passiert war.
Es ging um ein junges Mädchen namens Alexa, das in einer gigantischen Fabrik aufwuchs. Eine Welt außerhalb schien nicht zu existieren. Das Leben drehte sich um Arbeit, das wenige Essen und den Televidetur, eine Art Fernseher. Ältere Bezugspersonen hatte die Heldin keine, nur einen kleinen Bruder. Wie alt sie war, erfuhr man nicht, aber man konnte aus ihrer Sprache herauslesen, dass sie noch klein war. Sie beschrieb ihr trauriges Leben in Dunkelheit, Kälte und Schmutz in klaren, einfachen Worten. Ihre Aufgabe war es, ein immer gleich aussehendes, achteckiges Metallteil in ein Ölbad zu tauchen und an einen Mann neben ihr weiterzureichen, der eine kleine Stange daran anbrachte. Wozu das Teil gebraucht wurde, wusste Alexa nicht. Weder lernte sie etwas dazu noch durfte sie je etwas anderes tun. Das Einzige, das nicht mit bedrückender Regelmäßigkeit kam und ging, war eine Person namens G. Sie war anders als die Arbeiter, die alle die gleiche Unterwäsche und die gleichen grauen Overalls trugen, in etwas gekleidet, das sich Linda als eine Art Anzug vorstellte. Was G tat, erfuhr man nicht, doch alle hatten große Ehrfurcht vor ihm. Auf den ersten hundert Seiten war vor allem der Alltag beschrieben und außerdem geschildert worden, wie Alexa ausgebeutet, misshandelt, sexuell missbraucht und zum Opfer einer Demütigung nach der anderen wurde. Kurz bevor Linda zu lesen aufgehört hatte, war herausgekommen, dass Alexas kleiner Bruder Lim an einer für Fabrikverhältnisse unheilbaren Krankheit litt – Tuberkulose. Allerdings hatte die Krankenschwester angedeutet, die „äußere Welt“ besäße Mittel, die Krankheit zu heilen. Als der Mann G erschienen war, wagte Alexa, ihn um Hilfe für ihren Bruder zu bitten.
Linda dachte daran und fühlte sich plötzlich so in die Heldin hineinversetzt, dass sie so schnell sie konnte das Buch herausnahm und weiterlas. Sie lächelte nun.
Im Vier-Augen-Gespräch gab G zwar zu, aus der äußeren Welt zu kommen, lehnte aber Hilfe für Alexa ab. Das Gespräch führte er nur, um Alexa zu warnen: Sie solle nie wieder so eine Frage an jemanden aus der äußeren Welt richten. Er hege Sympathien für sie, aber wenn sie an den Falschen gerate, könne sie so etwas ihr Leben kosten. Alexa flehte G an, doch der gab nicht nach und brach das Gespräch ab.
Als Alexa frustriert in ihr schäbiges Quartier zurückkehrte, war Lim gestorben.
Nach einer Phase extremer Trauer und Verzweiflung verfiel Alexa in einen Zustand völliger Teilnahmslosigkeit, aß kaum, redete nicht und war bei der Arbeit so ungeschickt, dass sie zwei Teile beschädigte. Schließlich ließ sie sich mit dem Entschluss zu sterben in das Ölbad fallen. Doch sie wurde gerettet und fortan so an ihren Arbeitsplatz gekettet, dass sie nicht mehr ins Öl stürzen konnte. Daraufhin vertiefte sich ihre Teilnahmslosigkeit. Die einzige Hoffnung des jungen Mädchens war der Tod.
Eines Tages jedoch überfielen islamistische Terroristen die Fabrik. Die Wärter wurden erschossen, die Arbeiter gefangengenommen und überwiegend gezwungen, weiterzuarbeiten, während die Übrigen zum Kriegsdienst gezwungen wurden. Alle Männer hatten die Wahl, zum Islam zu konvertieren oder erschossen zu werden. Alexa überwand aufgrund ihrer Befreiung ihre Todessehnsucht und konvertierte, ohne das Konzept einer Religion zu begreifen. Für eine Weile lebte sie bei den Terroristen und arbeitete nun für sie in der Fabrik. Eines Tages wurde sie in den Harem eines Kommandeurs aufgenommen, den sie jedoch nie zu Gesicht bekam, denn amerikanische Truppen vernichteten die Terroristen und befreiten die Gefangenen endgültig. Wer sie ursprünglich gefangen gehalten und die Fabrik betrieben hatte, erfuhr Alexa nicht. Eine Wohltätigkeitsorganisation ermöglichte ihr ein Leben in einem Heim, in dem es weniger hart als in der Fabrik, aber noch immer sehr streng zuging. Erstmals betrachtete sich das Mädchen in einem Spiegel und stellte fest, dass sie blonde Haare hatte.
So endete das vierte Kapitel.
Linda sah von dem Buch hoch. Sie war noch nicht einmal in der Mitte des Buches angekommen und fürchtete, die Situation der Heldin würde sich bald wieder verschlechtern. So machte sie eine kurze Pause, sah aus dem Fenster und dachte nach. Als eine Frau mit einem Servicewagen vorbeikam, kaufte sich Linda einen Kaffee.
Sie fuhr zu Onkel Max. Onkel Max war das Rätsel ihrer Familie. Onkel Max lebte zurückgezogen, wenn auch nicht abgelegen am Rand einer Kleinstadt in Bayern. Er schien nicht zu arbeiten, aber über ausreichend Geld zu verfügen, besaß ein Haus und erschien auf Familientreffen stets gut angezogen. Ansonsten ließ er kaum etwas von sich hören und die Leute hatten sich abgewöhnt nachzufragen. Zu oft waren Briefe, Mails und Sprüche auf den Anrufbeantworter unbeantwortet geblieben. Er schien intelligent zu sein, sprach meistens langsam, in langen Sätzen und benahm sich häufig seltsam. Wenn er sich überhaupt benahm, anstatt still herumzustehen oder zu sitzen, wie er es häufig tat, ganz so, als warte er nur darauf, dass das Treffen endlich vorbei war und er nach Hause konnte. Als habe er Menschen nicht gern.
Zu diesem Onkel fuhr Linda, um für unbestimmte Zeit bei ihm zu leben, mindestens bis zum Ende der Sommerferien. Sie seufzte und sah aus dem Fenster. Inzwischen kam Heart of Courage, eines von Lindas Lieblingsstücken.
Es war spät am Abend, der Zug würde erst um elf Uhr nachts ankommen, und so konnte Linda beobachten, wie die Sonne langsam unterging. Nur Tunnel, Hügel und seltene Gebäude störten ab und zu die Sicht. Linda fand die Landschaft nicht übermäßig schön, und auch der Sonnenuntergang zeichnete sich eigentlich durch nichts aus, und trotzdem berührten beide etwas in Linda, sie wusste nicht was, sie wusste nicht warum, aber sie fühlte sich, als sei sie in einem fremden Land angekommen, das sie umarmte, wie es nie ein Mensch getan hatte, als ginge sie etwas Großem entgegen, und sie lächelte und schloss die Augen.
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2014
Alle Rechte vorbehalten