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Book I

 

 

 

 

 

 

"All the world's a stage, and all the men and women merely players.

They have their exits and their entrances,

And one man in his time plays many parts...

His acts being seven ages.

At first the infant, mewling and puking in the nurse's arms..."

 (Shakespeare; As You Like It)*

 

 

 

 

*(Übersetzung im Anhang I) 

 

 

 

 

 

 

 

1st Chapter

Nachts unter der Erde wurde Cassandra geboren.

Der Raum war klein und in den Fels gehauen. Das Fenster handtellergroß und vergittert. Die Stahltür hatte nur einen winzigen Schlitz. Durch ihn war eine Kerze im Gang zu sehen und die Befehle der Aufseher zu hören. Es war immer feucht. Es war kalt. Es stank.

Cassies Mutter war froh gewesen, den Vater loszuhaben, als er nach der Vergewaltigung aus der Zelle gezerrt worden war. Man hatte ihn gegen die Vorschrift hereingelassen. Eine Strafe war das gewesen. Cassies Mutter hatte ihn nie wieder gesehen und war froh darüber. Auch nach der Geburt war sie froh, das Ding loszuwerden, das ihren Leib befallen hatte wie ein Parasit, hatte es neun Monate lang gehasst und hasste es noch, auch die rosigen Wangen und die winzigen Hände des Neugeborenen änderten nichts daran. Sie sah nichts als ein Werk des Mannes darin, der ihr Gewalt angetan hatte und den sie verabscheute.

Am Morgen nach der Geburt kam ein Wärter. Er sah das Baby und nahm es mit. Es wurde in die überirdischen Teile des Zuchthauses gebracht, in dem es nicht nur Einzelzellen gab. Obwohl Männer und Frauen den Vorschriften zufolge strikt voneinander getrennt waren, gab es immer Neugeborene und stillende Mütter.

Der Wärter betrat den Raum, in dem gerade weibliche Häftlinge aßen, und drückte das Baby einer Frau in die Hand, die schon ein Neugeborenes im Arm hielt.

„Erstmal deine Verantwortung.“

Maria wusste, was das hieß. Da es ihre Verantwortung war, würde man sie bestrafen, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah, wenn das Kind krank wurde, starb, nachts schrie, wenn irgendetwas geschah, das irgendjemandem nicht gefiel, der hier irgendeine Macht hatte, dann würde man sie bestrafen, schwer bestrafen, Maria wusste das zu genau, denn mit Bestrafungen kannte sie sich aus, obwohl sie niemals hatte kriminell werden wollen und sich noch immer nicht als Verbrecherin betrachtete, war sie ihr ganze Leben verfolgt, beschuldigt, verurteilt und bestraft worden. Von ihrem Vater, der früh gestorben war. Im Waisenhaus und in der Fabrik. Von den lesenden temperamentvollen Männern, die sich Revolutionäre nannten und für die Maria gekocht hatte. Von den Polizisten, die die Revolutionäre erschossen hatten. Und heute bestraften sie die Gefängniswärter. Maria wurde ungern bestraft. Sie tat alles, um es zu verhindern. Weil sie an Gott glaubte, versuchte sie, trotz allem, was ihr angetan wurde, keines der biblischen Gebote zu verletzen. So sah sie es als Akt der Nächstenliebe an, dem Kind alles zu geben, was sie ihm in Gefangenschaft geben konnte.

„Schsch“, machte sie, als sie das Kind behutsam in den Arm nahm, „alles gut. Haben wir einen Namen? Wollen wir einen Namen? Alles ist gut. Mama ist da. Cassandra. Schlaf, mein Kind. Kleine Cassandra. Kleine Cassie.“

Maria gab dem Kind die Brust, als es aufwachte, und es gluckste zufrieden, als es wieder einschlief.

Der Wärter schlurfte, nachdem er das Baby losgeworden war, in die Schreibstube. Er hatte Nachtschicht gehabt und hätte sich eigentlich ausruhen dürfen, doch er wusste, der Vorfall war zu melden, so ging er ärgerlich zu den Verwaltungsbeamten, die er verächtlich Tintenkleckser nannte und deren zarte Mädchenhände er hasste, und er schlug die Tür kräftig zu, um sich Gehör zu verschaffen, hockte sich auf einen Schreibtisch und sagte: „Noch so ein Balg. Zellblock ABA 13.“

„Black?“

„Mhm.“

„Shit.“

„Kannst du laut sagen.“

Der Wärter, Marius, und der Beamte, Joey, gehörten einem kriminellen Ring innerhalb des Zuchthauses an. Sie verkauften die Gesellschaft der weiblichen Häftlinge an die Sorte Männer, die es nach vollkommen wehrlosen Frauen verlangt. Sie hatten Cassandras Vater, Augustus Black, einen mehrfacher Mörder, der eine bedeutende Londoner Gang angeführt hatte, bevor man ihn abgesägt und der Polizei in die Hände fallen lassen hatte, in die Zelle von Cassies Mutter gelassen, um sie zu bestrafen. Denn hatte sich geweigert, den Anweisungen des kriminellen Rings zu folgen. Außerdem hielt Marius das für einen sicheren Weg herauszufinden, ob sie an Syphilis oder ähnlichem litt, und sie gleichzeitig an ihren neuen Alltag zu gewöhnen.

Jetzt hatte sich daraus ein Problem ergeben.

Kinder gehörten zu den unvermeidlichen Geschäftsrisiken des kriminellen Rings. Man verfügte über einige Strategien, sie loszuwerden. Kindsmord kam schon aus religiösen Gründen nicht infrage.

Es existierten Heime für im Gefangenschaft geborene Kinder. Doch diese beschäftigten sich meist mit dem Grund für die Schwangerschaft, was den kriminellen Wärtern zuwiderlief.

Es waren einige Personen bekannt, die bereit waren, für gewisse Summen elternlose Kinder aufzunehmen. Die meisten dieser Personen unterhielten illegale Bordelle.

Und es gab die „Bloodact“ genannte Regelung.

Ein namhafter Kriminalforscher aus London hatte die wissenschaftliche Hypothese aufgestellt und bewiesen, dass sich anhand gewisser Blutfaktoren, die sich ihm zufolge gehäuft bei dunkelhäutigen, slawischen und asiatischen Rassen fanden, eine kriminelle Veranlagung von Geburt an feststellen ließ.

Nachdem sich diese These akademisch etabliert hatte, hatte das Parlament reagiert und ein Gesetz erlassen, das es gestattete, Personen ohne gerichtliches Verfahren auf unbestimmte Zeit festzuhalten, bei denen die ermittelte „Kriminalitätsquote“ über der „Verwahrungsschwelle“ von fünfundsiebzig Prozent lag.

Wie der kriminelle Ring wusste, waren die meisten für „Blutsgutachten“ qualifizierten Wissenschaftler bereit, gegen Bezahlung Gutachten zu fälschen. Existierten erst Dokumente, die eine solche Gefängnisstrafe anordneten, wurde ein Mensch auf Staatskosten lebenslang verwahrt und die Probleme des kriminellen Rings waren gelöst, wenn niemand von außen nach der Person forschte. Was in Cassies Fall unwahrscheinlich war.

„Fisher?“, fragte Joey.

„Gute Idee. Abklären mit Boss und regeln.“

„Mach ich.“

„Gut. Ich geh pennen.“

Marius verließ die Schreibstube mit dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben.

Vier Tage später befand sich ein Gutachten auf Joeys Schreibtisch, das die erhebliche kriminelle Neigung Cassandra Blacks belegte.

Joey füllte einige Formulare aus, die mit Verweis auf das archivierte Gutachten eine vorläufige unbefristete Verhaftung des Subjekts beantragten.

Diesem Antrag wurde weitere zwei Tage später auf dem Schreibtisch des Abteilungsleiters stattgegeben. Er hieß Jonathan und gehörte ebenfalls dem kriminellen Ring an. Seinen Vorschriften zufolge hätte er einen Antrag auf Verlegung in eine passende Haftanstalt, also ein Heim für kriminelle Kinder und Jugendliche, stellen müssen.

„Aber die machen gleich wieder Probleme, wie die richtigen Heime“, antwortete er Joey, als er ihn darauf ansprach. „Diese kleine Black hat keine Eltern. Die eine ist schon gestorben“, ein Kunde hatte sie mit einer unbekannten Krankheit angesteckt, die sie getötet hatte, „und der Vater bleibt den Rest seines Lebens hier. Keiner wird nach ihr forschen. Niemand kontrolliert hier jeden Vorgang. Kein Mensch interessiert sich dafür. Wir sind ein Hochsicherheitsgefängnis am Arsch des Landes, und auf dem Papier sehen sie nur einen Häftling mehr und sonst nichts, wenn niemand aktiv nach Cassandra Black sucht. Außerdem“, Jonathan lächelte, „werden wir für sie im richtigen Alter viel Geld verlangen können.“

So wuchs Cassandra Black im Gefängnis auf. Sie lebte zwischen zurecht und zu Unrecht verurteilten Frauen. In ihren frühen Lebensjahren wurde sie ausnahmslos geliebt. Die Wächter brachten ihr zunächst Süßigkeiten und Spielzeug, später billigen Schmuck und hübsche Kleider mit. Oft verlangte man vor ihr eine „Modenschau“, bei der sie herausgeputzt wie eine Lady aus reichem Haus den großen Esstisch auf- und abflanierte, um wieder in einem Winkel zu verschwinden und das nächste Kostüm anzuziehen. Ihre Pflegemutter Maria liebte sie besonders und die Kleine liebte auch sie, bis ein Ausbruch von Typhus Cassies erste zwischenmenschliche Beziehung und beinahe ihr Leben beendete, als sie sechs Jahre alt war.

Danach blieb ihr noch ihr Vater an Verwandschaft.

Sie wusste und kannte praktisch nichts von ihm als seinen Namen und die Tatsache, dass er existierte und nie „rauskommen“ würde.

Die meisten Häftlinge erzählten gerne, warum sie gefangen waren und wann sie „rauskommen“ würden. Anhand dieser Zahlen vermittelte man Cassie ein rudimentäres mathematisches Verständnis. Doch nicht alle Häftlinge interessierten sich für sie. Manche sprachen nicht mit ihr. Manche überhaupt nicht. Viele trainierten ihren Körper. Die meisten konsumierten Drogen, an die sie durch verbotene Geschäfte mit den Wärtern kamen. Einige schrieben, so oft sie konnten, sprachen aber nie darüber.

Als Cassie älter wurde und ihr Gesicht die kindliche, rundliche Niedlichkeit verlor, wurde sie ständig in Streit verwickelt. Die Frauen stritten ständig mit Worten und kleinen Angriffen. Prügeleien unter Häftlingen wurden nicht geduldet, aber an den Fähigkeiten, heimlich zu zwicken, zu knuffen, an den Haaren zu ziehen oder einander tiefe Kratzwunden zuzufügen, wurde im Frauentrakt ständig gefeilt. Waren keine Wächter in der Nähe, war das anders.

Die weiblichen Häftlinge schlugen nicht zu wie Frauen, sondern wie Soldaten, Arbeiter oder Bauern, holten hinter der Hüfte aus und legten ihr ganzes Gewicht in den Schlag.

Cassie war groß, athletisch gebaut und kräftig für ihr Alter. Trotzdem waren die meisten Frauen aufgrund ihres Alters größer und stärker als sie. Cassie musste schneller und geschickter werden als sie und wurde es.

Am meisten zeichnete Cassie ihr unerbittlicher Hass aus, den jede von ihr als ungerecht empfundene Handlung erregte, ob sie gegen sie selbst oder andere gerichtet war.

Cassie hasste den dicken Koch, der manchen Frauen mehr und anderen weniger zu essen gab, Cassie hasste die Wärter, die manche Frauen nur einmal im Monat zu den Männern schickten, die nachts kamen, und andere beinahe nächtlich, sodass sie kaum schliefen, und Cassie hasste die Personen, die sie nur aus Erzählungen kannte und die angeblich für ihre Lage verantwortlich waren: Polizisten, Richter, den König.

Gleichzeitig fürchtete sie sie alle.

Doch die Angst schürte den Hass, und Cassie lernte diesen Hass, der manchmal so in ihrer Brust lohte und schwelte, dass sie schweißgebadet erwachte und glaubte, sich damit durch den Fels und zur Sonnen in die Freiheit schmelzen zu können, lieben und hassen, sie schrie dann laut auf und fürchtete, jemand könne sie hören und bestrafen, und dadurch wurde noch wütender. Sie fürchtete und hasste so viel. Vor allem den Tag, an dem sie das erste Mal zu den Männern geschickt würde, die nachts kamen.

Viele Wärter hegten ein Interesse an dem noch unschuldigen, doch täglich wachsendem Mädchen. Am meisten Interesse an ihr hegte Phil.

Phil war ein kleiner, schmächtiger Wärter und Teil des kriminellen Rings. Sein Gesicht war blass, sein Haar immer gescheitelt. Er trank. Er rauchte dreißig Zigaretten am Tag. Für Prostituierte war er zu geizig. Für das illegale Opium zu ängstlich. Er wusste, er galt als langweilig, schüchtern und etwas zurückgeblieben.

Als Cassie dreizehn war, wollte Phil sein Verlangen nicht mehr zügeln. Der Ring hatte entschieden, die erste Nacht mit der Jungfrau Cassandra in einem Kreis ausgesuchter Kunden zu versteigern. Gegen diese Entscheidung zu handeln, erfüllte Phil mit Panik und einem Nervenkitzel, den er noch nie gespürt hatte, und beides heizte sein Verlangen an. Bevor er sich entschied, Cassie für sich zu nehmen, schlief er wochenlang kaum.

Seit Cassie sechs war, hatte Phil sie regelmäßig in den kleinen Raum gelassen, in dem er die meiste Zeit des Tages verbrachte und von dem aus er die Gefangenen beobachtete, solange diese nicht in ihren Zellen waren. Phil hatte Cassie Geschichten erzählt, Süßigkeiten geschenkt und bebilderte Bücher gezeigt. Später das Rauchen. Er hatte nie eine Schwester oder eine Tochter gehabt. Nur eine Cousine, die er in Cassies Alter gekannt und die an den Pocken gestorben war. Cassie erinnerte ihn an sie. Phil wollte, dass Cassie ihn gernhatte. Er hatte sie auf ihre Bitte hin ihren Vater sehen lassen, als sie sieben Jahre alt wurde.

Es war um Mitternacht gewesen.

Cassie hatte viel von dem Treffen erwartet.

Ihr Vater gehörte für sie der gleichen Welt an wie Arthus, Julius Cäsar und Robin Hood, von denen ihr Phil erzählte und von denen sie las, seitdem sie es gelernt hatte: Ihr Vater war ein mächtiger Mann, den sie nicht sehen konnte, weil er mit wichtigen Dingen in der Ferne beschäftigt war. Wie Odysseus.

Der Gefangene erfüllte ihre Erwartungen. Cassies Vater Augustus war überdurchschnittlich groß, trug einen schwarzen Bart, der ihm bis zum Bauchnabel reichte, und seine Muskeln wurden täglich trainiert. Er sprach zuerst nicht viel mit Cassie, schien aber zu verstehen, wen er vor sich hatte.

Sie bat ihn, von ihrer Mutter zu erzählen.

„Ne’ Schlampe“, sagte ihr Vater, „aber gute Titten.“

Cassie verstand nicht, was Titten oder eine Schlampe war, aber sie merkte sich die Begriffe.

Als sie elf war, erzählte ihr Vater mehr, auch wenn Cassie noch immer nicht alles verstand, was er sagte. Er erzählte ihr von seinen Taten, von Überfällen, Geschäften, Geschäftspartnern, Morden und Bandenkriegen.

Cassie verstand: Ihr Vater war ein mächtiger Mann.

Augustus Black schürte Cassies Hass auf die Wärter, die sie zuvor als normal empfunden hatte. Er vermittelte ihr ihre Vorstellung von richtig und falsch, die mit der, die der Pfarrer verbreitete, nichts zu tun hatte. Augustus brachte Cassie das Wort „Freiheit“ bei und füllte es mit Inhalt.

„Freiheit ist das angeborene Recht aller Menschen“, sagte er, „ein Teil der menschlichen Gemeinschaft ist jedoch fälschlicherweise der Meinung, diese nach Gutdünken einschränken zu dürfen. Unsere Freiheit ist unser höchste Gut. Für sie dürfen wir jedes andere Gut aufgeben und jedes Verbrechen begehen. Lass dich nie aufhalten. Du wirst die Freiheit noch kennenlernen.“

Augustus erläuterte ihr seine radikale Philosophie der Freiheit, der, wie er sagte, eine mächtige Gemeinschaft draußen in der Welt folgte.

„Eins merk dir. Nur eins. Ein einziges Geschenk von deinem Vater“, sagte er, als sie zwölf war. „Dein Name ist Black. Schwarz wie mein Bart, meine und deine Augen. Du bist Cassandra Black und du bist eine Dead Guardian. Eine Tote Wächterin.“

„Was ist eine Tote Wächterin?“

„Das verstehst du, wenn du Big Smoke atmest.“

„Was ist Big Smoke?“

„Das verstehst du, wenn du die Sonne gesehen hast.“

„Was ist die Sonne?“

„Das verstehst du, wenn du hier rauskommst. Du wirst nie rauskommen, wenn du nur wartest. Trainiere täglich und werde stark wie ein Mann, kapiert? Und jetzt hör zu.“

Augustus Black erläuterte Cassandra seinen Plan, sie zu befreien.

Sie erinnerte sich an jedes einzelne Wort, als sie als Dreizehnjährige in Phils Raum stand, in dem die Begierde tobte wie ein Waldbrand.

Er wird dich irgendwann allein sehen wollen. Er wird seltsame Andeutungen machen. Sehr seltsame Andeutungen, die du vielleicht nicht verstehst.

Das hatte ihr Vater gesagt.

Was tue ich, wenn ich unsicher bin?

Das hatte sie gefragt.

Im Notfall fragst du ihn, ob er einen Harten hat. Wenn er ja sagt, bist du sicher. Dann musst du den Plan durchführen.

Phil redete eine Minute. Er sprach über Freundschaft, Geben und Nehmen und einen Moment nach zehn Mal Schlafenszeit, in dem er sie an einen Ort bringen wollte, an dem sie nie zuvor gewesen war. Dort würden sie den Rest besprechen, sagte er.

Cassie fand, das waren seltsame Andeutungen.

„Ich mag dich, Cassie“, sagte Phil, „ich will, dass du das weißt. Magst du mich auch?“

Sie nickte.

„Sag es.“

„Ich mag dich.“

„Auf besondere Weise?“

„Was heißt das?“

„Sag es!“

„Ich... ich mag dich auf besondere Weise.“ Das war ihr seltsam genug und sie beschloss, es zu riskieren. „Hast du einen Harten?“, fragte sie ihn.

Das zweite Drittel des Plans umzusetzen, fand Cassie leicht.

Phil war nach der Frage rot und etwas nervös geworden. Er hatte Cassies Mund mit seinem berühren wollen.

Sie hatte es geschehen lassen. Ihre Vorstellung von dem, was er mit ihr vorhatte, war vage, sie rätselte, vielleicht ähnelte es dem, was die fremden Männer taten, die manchmal in die Zellen der weiblichen Häftlinge gelassen wurden und das Cassie einmal mitbekommen hatte, unfreiwilligerweise, sie hatte gelauscht und die riesigen Schatten an der Wand beobachtet, bis jemand die Öllampe in der Zelle gelöscht hatte, und es hatte sie fasziniert und befremdet.

Nach zehn Mal Schlafenszeit benachrichtigte sie Phil.

Cassie folgte den Anweisungen, fand den Schlüssel an der vereinbarten Stelle und verließ erstmals den Gefangenentrakt. Nach wenigen Schritten erreichte sie die Tür. Sie öffnete sie. Sie schloss hinter sich ab. Sie legte den Schlüssel auf den Tisch, wie abgemacht.

Der Raum war klein und ähnelte den Zellen der Gefangenen. Es gab fließendes Wasser, eine Öllampe und einen Schreibtisch. Hier lebte Phil.

„Bin da”, sagte Cassie.

„Komme gleich”, antwortete Phil aus dem Bad.

Sie stand etwas unsicher im Raum.

„Setzt dich ruhig. Oder schau dich um.”

Cassie öffnete zögerlich einen Schrank. Sie betrachtete die darin hängenden Kleider. Sie verwirrten sie.

Cassie kannte nur zwei Arten Bekleidung: die Sträflingsanzüge und die Wärteruniformen. Aber in Phils Schrank sah sie: Jacken, bunte Hosen, einen Spazierstock, Hüte, Hemden, Mäntel, einer aus Leder, lauter Dinge, für die sie keine Worte gelernt hatte und die sie verwirrten.

Phil öffnete die Tür. Sein Atem ging schwer. Er trug ein sehr knappes, ledernes Kostüm. Ein ähnliches warf er Cassie zu.

„Anziehen.”

In Cassies Welt gab es zwei Sorten Menschen: Wärter, die Befehle gaben, und Gefangene, die sie ausführten. Sie wusste, Phil war Wärter. Sie zog sich aus.

Phil beobachtete sie. Er atmete schwerer und schwerer.

Cassie zog das Kostüm an.

„Bereit?”, stieß er hervor, „für mich?“

Cassie nickte.

„Aufs Bett mit dir...”

Sie legte sich aufs Bett.

Halte ihn imer beschäftigt.

„Küss mich”, forderte Cassie.

Sie küssten sich.

Verlange von ihm, die Augen zu schließen.

Er versuchte, ihre kurze Hose beiseitezuschieben.

„Schließ die Augen“, flüsterte sie und half seinen Händen, ihr das Höschen auszuziehen.

Phil schloss die Augen, drängte sich mit aller Kraft an sie und befreite seine Männlichkeit.  

Cassie griff zu.

„Augen schließen...”, flüsterte sie sanft.

Er gehorchte.

Und wenn er nur noch eins will, dann...

Er warf sich auf sie und presste ihre Beine auseinander...

...schnapp dir das Ding und stich zu...

Cassie hatte die winzige Waffe mit einem Bindfaden an ihrem Backenzahn versteckt.

Ein Ring und eine Messerspitze von der Größe eines Fingernägels. Du steckst ihn auf die Fingerkuppe, rammst sie rein und schlitzt die Ader am Hals der Länge nach auf... ganz genau das. An jeder anderen Stelle ist es sinnlos...

Phil war in sie eingedrungen.

Dann hat er noch eine Minute. Wenn er will, kann er dich noch töten. Sei vorsichtig.

Als Phil sich ekstatisch über sie beugte, griff sich Cassie in den Mund, steckte die Waffe auf ihren Finger und schlitzte seine Halsschlagader auf, und dabei blitzten in ihr Bilder und Erinnerungen von all den weinenden, zerschlagenen, geschändeten, äußerlich und innerlich vernichteten Frauen durch den Kopf, die ihren Schmerz an sie, Cassie, weitergegeben hatten, die das kleine Mädchen zu einer harten, hasserfüllten jungen Frau und Rächerin gemacht hatten, und Cassie fühlte sich im Recht und glaubte, gerechte Vergeltung zu üben.

Phil schrie schmerzerfüllt und erschrocken auf, aber er ließ nicht von Cassie ab, bis er sich in ihr ergossen hatte, dann sprang er auf, schlug ihr heftig ins Gesicht und fand im Schrank seinen ungeladene Revolver. Aber keine Munition.

„Warum das? Bei allem, was ich für dich getan hab...“, brüllte er, ließ den Revolver fallen, hechtete zum Tisch und stopfte sich den Schlüssel in den Mund. Er schluckte ihn.

„Und wenn du hier drin verreckst, Flittchen!“, stieß er hervor, schrie laut auf, und dann lebte noch zehn Sekunden. Blutüberströmt und halbnackt blieb er liegen.

Cassie spuckte den Leichnam an.

„Und wenn ich dich auseinandernehme“, flüsterte sie, sah sich suchend im Raum und im Bad um, „hier verrecke ich nicht wie du.“

Vor dem Spiegel entdeckte sie Phils Rasiermesser. Damit kehrte sie zu ihm zurück, kniete sich hin und machte sich an die Arbeit. Zuerst zog sie die Haut auf der Höhe des Magens ab. Aus den Muskeln schnitt sie kleinere und größere Stücke, bis sie auf den Magen stieß. Sie schnitt hinein. Sie griff hinein. Es begann, nach Zwiebeln, Fleischsoße und Kutteln zu riechen. Cassie tastete das Mageninnere ab. Sie fand den Schlüssel nicht.

„Idiot“, schimpfte sie und schlug auf den Oberkörper ein „Vollidiot, gib den beschissenen Schlüssel her! Her damit! Her damit!“

Der Leichnam blieb stumm und Cassie begann mit von Wut verzerrtem Gesicht, mit der Messerspitze auf sein Gesicht einzuhacken. Als sie den rechten Nasenflügel durchbohrt hatte und die Messerspitze aus dem linken herausdrücken wollte, hielt sie inne, und Gedankenblitze begannen in ihr zu flackern, die sie schreiend fragten, ob sie denn sicher sei, dass der Schlüssel den Magen erreicht habe oder ob er noch im Mund oder sonstwo steckte, vielleicht hatte er sich in die Haut gebohrt, hoffentlich nicht im unteren Teil der Speiseröhre, dachte sie, für so einen Brustkorb würde sie anderes Werkzeug brauchen.

Sie zog das Rasiermesser aus Phils Nase und begann, den zugänglichen Teil seiner Speiseröhre vom Ansatz des Brustbeins bis unters Kinn aufzuschneiden. Zunächst zerteilte sie die Luftröhre. Kurz darauf stieß das Rasiermesser auf Metall.

„Ja!“

Sie steckte zwei Finger in die blutige Öffnung, die sie geschaffen hatte, und erreichte den Schlüssel, zog ihn heraus und hob ihn über den Kopf. Das an ihrer Hand klebende Blut floss ihre Arme herab. Dann sprang sie auf, gab der Leiche noch einen Tritt und ging ins Bad. Dort befreite sie sich aus dem Lederkostüm, reinigte ihren Körper, den Schlüssel, das Rasiermesser, die winzige Waffe, die ihr Vater in langer Arbeit aus zwei Nägeln und einem abgebrochenen Messer geformt und die Phil getötet hatte. Diese befestigte sie wieder an ihrem Backenzahn. Danach kleidete sie sich aus Phils Kleiderschrank neu ein. Nichts davon passte ihr und sie schnitt Ärmel, Hosenbeine und den Saum des schwarzen Kutschermantels großzügig ab. Aus Stoffresten und mit zwei Gürteln Phils baute sie zwei gutsitzende Fußlappen. Nachdem Cassie auch die Munition gefunden und den Revolver nach der bebilderten Anleitung geladen hatte, steckte sie sie in ihren Gürtel und verbarg sie unter dem zu großen Hemd. Zuletzt setzte sie eine Melone auf.

„Ich werde entkommen“, flüsterte sie und starrte ihre schwarzen Augen im Spiegel an, „ich werde entkommen. Ich werde erfahren, was Sonne, Big Smoke und Tote Wächter sind. Ich werde sie sehen. Wenn mich jemand aufhalten will, wird er wie der da enden.“

Sie fand die Notluke des Luftschachtes nach kurzer Suche.

Für Regierungsgebäude gibt es tausende von Vorschriften. Alles muss seine Ordnung haben. Ein Luftschacht, Durchmesser fünfundzwanzig Zoll, für Wartungsarbeiten mit Sprossen metallen oder hölzern versehen, pro soundsoviel Quadradmeter, mit Notluke zur Belüftung der Gänge ausgestattet, anzubringen in ein bis drei Fuß Höhe, leicht von außen und innen zu öffnen.

Suche im Bad, hinter Möbeln und so weiter. Du kannst sie mit der Hand öffnen. Da kletterst du rein.

Cassie schloss die Luke hinter sich.

Der Luftschacht führte senkrecht nach oben und war erfüllt vom stampfenden Geräusch der dampfbetriebenen Belüftungsanlage, die für einen konstanten Luftstrom sorgte. Nur wegen der hohen Ausfallquote dieser Maschinen hatte man den Schacht breit genug für einen Mann gebaut, der sie reparieren konnte. Weil den Baumeistern klar gewesen war, wie leicht man durch diese Schächte ausbrechen konnte, befanden sich die Notluken ausnahmslos in den Quartieren der Wärter, in die die Häftlinge der Vorschrift zufolge unter keinen Umständen gelangten.

Cassies Vater hatte eine Schwäche des unterirdischen Gefängnisses erkannt und für Cassie selbst die Möglichkeit gesehen, dieses auszunutzen.

Augustus Tochter sah nach oben. Dort war es hell. Sie kletterte hinauf. Sechzig Fuß höher befand sich eine Biegung im rechten Winkel. Der Schacht wurde geräumiger.

Cassie konnte stehen.

Die Öffnung des Luftschachtes befand sich an der Flanke eines flachen Hügels. Sie war halb von Sträuchern und Büschen verborgen. Sie war groß genug für Cassie, um hinauszukriechen. Sie wurde nicht beobachtet. Sie war vergittert.

Cassie lugte hinaus und erhaschte einen Blick auf den Mond. Ihr klappte die Kinnlade herunter.

„Das ist sie also... die Sonne: das Hellste am Himmel, wie er gesagt hat. Unglaublich schön...“, murmelte sie, dann tastete sie das Gitter ab, ohne eine Schwachstelle zu finden. Doch das Hindernis war angebracht worden, um Ratten und andere Kleintiere draußen zu halten, bei Regen und in Notfällen konnte ein drei Zoll dicker Schott geschlossen werden, und deshalb waren die Stäbe nicht dick. Trotzdem konnte Cassie sie nicht mit bloßen Händen überwinden.

Ein einziges Mal hatte sie gesehen, wie ein Wärter seinen Revolver eingesetzt hatte. Sie hatte noch nie etwas von einer Sicherung oder eine Revolverabzug gehört, so kam es ihr nur sehr schwer vor, den ersten Schuss abzugeben, sie verriss die Waffe, stolperte nach hinten und wäre beinahe in den Schacht gestürzt. Der Schuss hatte nichts ausgerichtet.

Der ohrenbetäubende Knall hallte nach.

Sie wusste, wenn sie jetzt nicht schnell handelte, hatte sie ihre Chance verspielt, nach den Schüssen würde jemand misstrauisch werden, vielleicht Alarm schlagen, man würde Phil finden und sich ausrechnen, wohin der Mörder verschwunden war, ja, eine Mörderin, das war sie jetzt, Mörder konnten hingerichtet werden, sie zielte jetzt nicht mehr aufs Gitter, sondern auf die Stellen, an denen das Gitter in den Mörtel eingelassen war. Mit aller Kraft hielt sie die Waffe fest. Dann feuerte sie, bis die Trommel leer war. Der Rauch verzog sich rasch. Die Wand war beschädigt. Ein Gitterstab hatte sich gelöst.

Cassie lud hektisch nach, ließ eine Patrone fallen, suchte, fand sie nicht, nahm eine neue, brachte die Trommel in Ausgangsposition, zielte besser, schoss wieder, den Lärm fand sie infernalisch, wie den Gestank, weitere Gitterstäbe hatten sich gelöst, sie trat und schlug auf sie ein, warf sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das Gitter, es verbog sich, sie schob sich durch die Lücke, die Arme, den Kopf, verfing sich, ein Gitterstab bohrte sich durch die Hose in ihr Bein, sie zappelte, ein weiterer Stab brach aus der Wand, Cassie zog den anderen aus ihrem Bein und war draußen.

Sie rannte.

Hinter ihr schloss sich langsam der Schott. 

2nd Chapter

Ihre erste Nacht in Freiheit verbrachte Cassie unter unter den Wurzeln eines umgestürzten Baumes. Es war kalt, feucht und dunkel. Daran war Cassie gewöhnt. Sie verstand zwar, dass sie leise sein sollte, trotzdem berührte sie ständig noch nie gesehene Dinge oder roch daran. Sie überdachte auch ihre Lage und Ziele, die Sonne kannte sie ja schon, jetzt musste sie nur noch herausfinden, wer oder was Big Smoke war und wie man dorthin gelangte, wo diese Toten Wächter waren, die sie ebenfalls sehen wollte und zu denen sie gehörten, und, ach ja, der Plan ihres Vaters.

Wenn du vom Hügel aus in die Richtung gehst, in der die Sonne aufgeht, kommst du nach Loch Lynn, eine kleine Stadt. Eine Ansammlung von Häusern. Viele Gerüste aus Holz oder Stein mit spitz zulaufenden Dingern drauf. Vergiss es. Es werden Menschen dort sein. Du wartest, bis es Nacht wird. Nacht heißt, es gibt kein Licht, ist dunkel wie zur Schlafenszeit, kapiert?

Wie habe ich das vergessen können, dachte Cassie erschrocken, genau so ist es ja, ich muss also... wohin? Wo ist die Sonne aufgegangen, die Sonne... wenn es Nacht ist, ist das, was ich gesehen habe, nicht die Sonne, wie seltsam, wie spannend! Das heißt, ich muss warten, bis es morgen wird!

Cassie entspannte sich und lehnte sich an ihren Baum.

Kurz darauf schlug die erste Kugel neben ihr ein.

Sie verkroch sich sofort im Unterholz. Sein Schatten verschluckte sie.

Wieder wurde geschossen.

Diesmal sah Cassie das Mündungsfeuer. Sie zückte ihren Revolver und zielte.

„Verdammte Ruhe jetzt, oder ich geb dir nen Bleikuss, der dir’s Hirn wegbläst!“, brüllte sie, denn sie wusste, so machten das die Wärter, wenn es bei den Häftlingen Ärger gab.

„Wer ist da?“, rief eine erschrocken klingende Stimme. „Verzeihen Sie mir, ich bin Jäger, mein Name ist Henry, ich dachte, auf Wild zu feuern, aber, erlauben Sie die Vermutung, ihre Stimme klingt nach einem... nach einer...“

Cassie steckte den Revolver weg und sprang auf.

„Ja, ich bin ein Mädchen.“

Henry veränderte sich, als er sie sah. Er nahm die erhobenen Hände herunter und sein ängstliches Augen begannen, missmutig zu blicken.

„Was macht so ein junges Ding um die Zeit im Wald?“, fragte er ärgerlich.

„Hab mich verlaufen...“

„Und wer bist du?“

„Cassandra Black. Nennen Sie mich Cassie, Sir.“

Henry kam langsam näher.

„Und wo sind deine Eltern?“

Er blieb direkt vor ihr stehen.

„Die... die sind verreist. Das heißt, meine Mutter ist gestorben. Typhus. Mein Vater ist in einem...“, Cassie durchforstete ihren ganzen Wortschatz, „einem Etablissement in der Nähe, dort hab ich auch gelebt, aber ich bin schon vor und er kommt mich bald holen... aber ich hab mich hier verlaufen, wissen Sie, eigentlich reisen wir bald weiter.“

„Und wohin soll’s gehen?“, fragte Henry mit gerunzelter Stirn.

„Big Smoke.“

„Mit der Bahn?“

„Was? Ja, ja, natürlich, wir reisen mit der Bahn nach Big Smoke...“

„Ach so.... langsam klickt’s bei mir... du hast das Hotel verlassen, am Bahnhof gewartet, und er wollte bald kommen, aber du musstest im Wald spielen gehen und hast dich verlaufen, was?“

Cassie nickte.

Henry verpasste ihr eine Ohrfeige.

„Du Tunichtgut! Was fällt dir ein? Dein Vater kriegt noch Geschwüre vor Sorge! Hat er dir vielleicht gesagt: Renn in den Wald? Am Ende habt ihr noch euren Zug verpasst!“

Cassie begann zu weinen.

„Heul nur, du Aas! Und jetzt gehen wir zur Polizei, damit dich dein Vater wiederkriegt!“

Er nahm grob ihre Hand und zerrte sie durch den Wald in Richtung Loch Lynn.

Henry hielt sich nicht für einen schlechten Mann, er lebte ein bescheidenes Leben in einer Hütte am Stadtrand, hielt im Namen des Staates die Wildbestände auf dem vorgeschriebenen Niveau, trank morgens Kaffee aus dem Kolonialwarenhandel und abends ein Porter oder ein Pale Ale, wenn er nicht nachts ansitzen oder auf die Pirsch gehen wollte wie in dieser Nacht, in der er wegen der Drohungen der Bank und dem Wild, das seinen Weg nicht kreuzte, schlechter Stimmung war, bis ihm zu allem Überfluss das Mädchen in der lächerlichen Kleidung über den Weg laufen und er ihretwegen seine Jagd abbrechen musste.

„Zur Polizei?“, fragte Cassie.

„Wohin denn sonst?“Cassie hörte auf zu weinen, runzelte hinter Henrys Rücken die Stirn und bleckte die Zähne.

Polizei, dachte sie, zur Polizei will er mich bringen, er, ein ängstlicher Jäger, der keinen Baum mehr trifft? Ausgebrochen aus dem sichersten Gefängnis der Welt bin ich, einen Wärter habe ich ermordet, und ein alter Mann wie er will mich aufhalten?

„Ich muss mal“, sagte Cassie.

„Kannst auf der Wache.“

„Wollen Sie, dass ich stinkend wie eine Latrine dort auftauche? Welches Licht wirft das auf Sie?“

Sie redet nicht wie ein Kind, dachte Henry, seltsam, als habe sie das Sprechen von Büchern gelernt, ein rätselhaftes Kind, den Vater will ich sehen!

„Dann geh in Gottes Namen!“, sagte er und ließ ihre Hand los.

„Umdrehen“, befahl sie, „oder beobachtet ein Gentleman Damen bei derartigen Handlungen?“

Henry musste lachen und tat, was sie gesagt hatte. Das Kind redet, dachte er, wirklich wie gedruckt, obwohl sie sehr kräftig und hochgewachsen, körperlich nicht grade weiblich ist, wie ein Fräulein aus hohem Hause, was sie bei den Aufzug, sieht eher nach Bettlerin aus, sicher nicht ist, aber vielleicht...

Cassie drückte ab und durchschoss Henrys Kopf.

Henry stürzte und empfand einen kurzen Augenblick das Gefühl des mitten aus dem Leben gerissenen Wilds. Er blutete aus der Stirn.

„Meine vorletzte Patrone für dich, du Mistkerl...“, murmelte Cassie, „du Elend, du Aas, selbst schuld... aber das da gefällt mir...“, sie löste Henrys Jagdmesser von dessen Gürtel, „und das auch...“, sie riss ihm das Gewehr von der Schulter und ließ es bald wieder fallen, da es ihr zu schwer war.

Immerhin weiß ich jetzt, dachte sie achselzuckend, wo diese Stadt liegt, auf geht’s.

Der Horizont wurde heller und Cassandra Black begann, auf Loch Lynn zu marschieren. Lange ging sie vorsichtig, doch zügig, bis sie einen kleinen Pfad in die Stadt entdeckte.

Unter einer hochgewachsenen Eiche blieb sie stehen, denn sie bemerkte, wie sich in der Ferne etwas Seltsames tat, und als das rot-goldene Licht der Morgensonne über die nebelverhangenen Hügel im Osten kletterte, fühlte sich Cassie wie von etwas Großem hochgehoben und umarmt, denn so etwas Schönes, das wusste sie, hatte sie noch niemals gesehen, und das, nur das konnte die Sonne sein, das Hellste am Himmel, und urplötzlich verstand sie, was die Pharaonen, von denen sie gelesen hatte, dazu bewegt hatte, dieses Gestirn als allerhöchste Gottheit anzusehen, eine Vorstellung, vor der sie sich tiefer verneigen konnte als vor all den hohlen Worten des Gefängnispfaffen.

„Das also ist die Welt“, murmelte sie, „großartig.“

„Scheiße“, brüllte jemand.

„Hä?“, jemand anderes.

„Da!“

„Scheiße!“

„Sag ich doch!“

Cassie versteckte sich hinter der Eiche.

„Seid ihr Polizisten?“, rief sie.

„Was? Nein!“

„Seid ihr Freunde der Polizei?“

„Sicher nicht!“

„Quatsch doch nicht so viel!“, zischte die zweite Stimme.

„Seid ihr Feinde der Polizei?“, rief Cassie.

„Könnte man so sagen!“, erwiderte die erste Stimme.

„Halt’s Maul!“, die andere.

„Dann könnten wir uns verstehen“, meinte Cassie, „ich komm jetzt ohne Waffe raus!“

Sie trat wieder ins Sonnenlicht und betrachtete die anderen.

Der eine Mann war klein und dünn, der andere groß und ebenso dürr. Sie standen auf dem Pfad.

„Wer bist du?“, fragte der Kleine.

„Sieht aus wie ein Kobold“, vermutete der Große.

„Ich bin ein Mädchen“, sagte Cassie.

„Du bist angezogen wie ein... naja, nicht wie ein Mädchen. Ein Mantel, eine Melone, Fußlappen...“

„Du trägst auch einen Mantel“, gab Cassie zurück.

„Aber im gleichen Farbton wie meine Hosen, die zu meinen Schuhen passen.“

„Wie, passen?“

„Naja.... Hose und Schuhe müssen eben zueinander passen! Bei mir ist beides braun. Du hast einen schwarzen Kutschermantel, braune Hosen, ein viel zu riesiges, blau-weiß gestreiftes Hemd und eine graue Melone an.“

„Auf“, korrigierte der Große, „sie hat eine Melone auf.“

„Aber Hemd, Hose und so weiter an.“

„Aber zur Melone passt auf nicht.“

„Dafür passt auf nicht zum Rest.“

„Na und?“

„Der Rest ist mehr. Das wiegt die Melone auf. Wirklich. Frag jeden. Demokratie und so.“

Cassie entspannte sich und dachte, zwei Spinner, die ersten, die mich nicht zur Polizei bringen wollen, obwohl verrückt, wobei, vielleicht sind draußen alle so und der Jäger war die Ausnahme?

„Wohin wollt ihr als Nächtes?“, fragte Cassie.

„Nach Loch Lynn“, erwiderte der Kleine.

„Scht!“, machte der Große.

„Warum dorthin?“, fragte Cassie.

„Arbeit“, erwiderte der Kleine, „wir brauchen Geld...“

„Richtig“, fügte der Große sehr schnell hinzu, „ganz richtig, wir wollen in Loch Lynn eine Anstellung finden und Geld verdienen, wir sind nämlich abgebrannt!“„Ihr seht aber ganz gesund aus.“

„Sind trotzdem abgebrannt.“

„Wo habt ihr euch verbrannt?“

„Hä? Kleine, lebst du hinterm Mond?“

„Nein? Kann man da leben? Ich hab den Mond schon mal gesehen.“

Der Große stöhnte.

„Abgebrannt sein“, erklärte der Kleine, „bedeutet, wir haben kein Geld.“

„Ah“, sagte Cassie, „aber ihr wollt Geld.“

„Ja. Darum müssen wir arbeiten“, erklärte der Große.

„Von diesem Geld hab ich schon gehört“, sagte Cassie, „was macht man eigentlich damit?“

„Wie, was?“, fragt der Große mit stark gerunzelter Stirn.

„Na, wozu braucht man es?“

„Hab ich schon verstanden“, gab der Große zurück, „ich frage mich nur, ob du das ernst meinst! Was macht man damit? Mit Geld kauft man ein! Dinge. Wohnung. Essen, Trinken, Zigaretten. Man zahlt Steuern. Ohne Geld geht es eben nicht.“„Geld ist also wichtig?“

„Ja! Jesus, wo bist du denn aufgewachsen?“

„Lass sie doch“, sagte der Kleine, „sie ist noch sehr jung. Was hast du in dem Alter von der Welt gewusst?“

„Dass Geld das Wichtigste ist! Ich bin auf der Straße großgeworden, ich...“

„Jajaja! Ich kenne deine Lügengeschichten!“

„He“, rief Cassie, „streitet nachher, jetzt rede ich mit euch!“

„Kleine, pass auf, wen du hier rumkommandierst“, rief der Große.

„Lass sie doch“, der Kleine.

„Willst du die eigentlich flachlegen, oder warum verteidigst du sie ständig?“

„Ich? Sie flachlegen? Denkst du, ich bin pervers? Du willst sie ja selbst...“

Die beiden begannen zu streiten.

Diese Welt ist gar nicht so schwierig, dachte Cassie und lächelte, Bridge war schwerer zu lernen gewesen, die Leute wollen nichts als andere flachlegen und Arbeit, weil Geld. Mit Waffen kann man ihnen Angst machen und sie loswerden, wenn nötig. Wirklich leicht. Das Spiel beginnt, mir Spaß zu machen.

Sie zückte ihren Revolver, spannte geräuschvoll den Hahn und begann wieder, wie ein Wärter zu reden: „He, ihr Halunken, mal Fressluken dichtmachen oder ein, zwei draufkriegen, hä? Ich red mit euch Schlampen, hä?“

Der kleine und der große Dürre starrten sie an.

„Wollt ihr nun Geld oder nicht?“

„Ist das Ding echt?“, fragte der Kleine.

„Ja, verdammt!“

„Klar wollen wir welches“, erwiderte der Große, „aber wir haben keins, kannst uns durchsuchen.“

„Interessiert mich nicht, ob ihr welches HABT. Ihr WOLLT Geld. Das reicht. Wollt ihr wissen, was ihr dafür tun müsst?“

„Was?“

„Ihr geht in die Stadt, kauft mir Klamotten, von denen ihr meint, sie würden so aussehen, dass sich nicht jeder drüber wundert, so wie ihr vorhin. Dann bringt ihr sie mir. Und dann kriegt ihr Geld.“

„Geht nicht“, erwiderte der Große, „du musst uns schon vorher Geld geben.“

„Das Geld für die Kleidung jetzt, die andere Hälfte hinterher?“, schlug der Kleine vor.

„Abgemacht“, sagte Cassie, „wie viel braucht ihr?“

„Naja...“

Die beiden begannen zu flüstern.

„Wie wäre es mit.... tausend Pfund?“, schlug der Große mit verschlagenem Grinsen vor.

„Geht in Ordnung“, erwiderte Cassie.

Die beiden begannen zu kichern.

„Im Ernst?“, fragte der Große prustend.

„Tausend verdammte Mäuse?“

„Das verdienen wir bei den Pferden oder aufm Bau nicht in nem’ Jahr!“„Tausend Pfund. Plus die zweite Hälfte, wenn ihr wiederkommt“, beharrte Cassie, „wenn das genug ist.“

„Mädchen, du bist verrückt.“

„Ihr seid verrückt. Ich gehe jetzt in den Wald. Ihr bleibt hier. Wenn ihr mir folgt, erschieße ich euch, dann glaub ich nämlich, dass ihr für die Polizei arbeitet. Tut mir leid, aber so läuft das. Ich komme gleich zurück. Dann hab ich das Geld.“

Cassie steckte den Revolver weg und ging rückwärts ins Unterholz. Als sein Schatten sie verbarg, drehte sie sich um und huschte davon.

„Völlig verrückt, das Mädchen“, murmelte der große Dürre.

„Die hält uns zum Narren. Die kommt nicht wieder, sag ich dir.“

„Finde die Sache ja auch verrückt. Aber wenn’s nur das kleinste Bisschen wahrscheinlich ist, wenn das klappt, Mensch, dann sind wir reich, Michael, stell dir das mal vor, reich, du und ich, Michael, denkt doch mal!“

Der kleine Dürre, er hieß Gregory, nickte und war noch immer davon überzeugt, das Mädchen nie wieder zu sehen, wobei ihm eine kurze Pause nicht ungelegen kam, seine Beine waren ja, wie er dachte, auch nicht mehr, was sie mal gewesen waren, auch nicht der Rücken, da konnte man ja nicht mehr den ganzen Tag latschen wie in jungen Jahren, auch Michael hatte es im Kreuz, und auch seine Hüften, Katastrophe.

„Da bin ich“, sagte Cassie und tauchte auf dem Weg auf, Scheine in den Händen, „tausend für jetzt. Und diese tausend für nachher. Jetzt steht nicht so rum. Habt ihr noch nie Geld gesehen?“

„Nicht so viel auf einem Haufen. Im Leben nicht“, sagte Michael und sein Mund blieb offen stehen.

„Echt nicht“, bestätigte Gregory.

„Dann legt mal los. Ab jetzt keine Fragen mehr. Ihr sprecht mit niemandem über das, was ihr tut. Auch nicht mit der Polizei. Mit dem Schneider nur das Allernötigste. Ihr arbeitet jetzt für mich und das sind meine Bedingungen.Wir treffen uns nach Sonnenuntergang hier.“

„Kapiert“, sagten Gregory und Michael nacheinander, um sich mit verwirrten Mienen in Bewegung zu setzen.

Als sie sich nach einigen Schritten umdrehten, war Cassie schon im Unterholz verschwunden. Sie ging etwas in den Wald hinein, wieder hangaufwärts, um den Pfad im Blick behalten zu können, sie war hungrig und durstig, sagte sich aber: nur noch bis heute Abend, nur noch bis heute Abend. Sie lehnte sich gegen einen Baum und beschloss, sich etwas auszuruhen.

Das Geld war gewesen, wo ihr Vater es gesagt hatte: zehn Meter vom großen grünen Schild mit dem Pfeil, unter dem „Loch Lynn“ stand, in Richtung Hügel, dort ein alter Fuchsbau, ein Skelett, eine Kette, dran gezogen bis zum Anschlag, ein Zahlenschloss, 3-9-7-9, klick, weiter gezogen, eine längliche Röhre voller Geld, noch ein Zahlenschloss, 1-3-5-6-3-8 diesmal, dann hatte sie fünftausend Pfund in Scheinen, einen für sie wertlosen gefälschten Pass mit Bild, einen kleinen Revolver, eine Brille, eine Taschenuhr und einen stählernen Anhänger in Form eines Monogramms aus den Buchstaben D und G – Augustus Blacks fünfzehn Jahre altes Überlebenspaket.

Der Anhänger ist das Wertvollste. Nimm ihn erst, wenn du ganz sicher bist, dass du sicher bist. Auch nicht alles Geld auf einmal. Die Pistole sofort. Die Uhr – egal. Den Rest brauchst du nicht.

Lange konnte sich Cassie nicht ausruhen.

Die Schüsse auf dem Gefängnishügel hatten keinen Verdacht erregt. Man hatte vermutet, der Jäger Henry, der nicht selten in der Nähe des Gefängnishügels jagte, habe sie verursacht.

Das unentschuldigte Fehlen Phils bei der morgendlichen Schicht hingegen hatte den Gefängnisdirektor veranlasst, einen Wärter mit den Worten: „Ermitteln Sie seinen Zustand und melden Sie ihn mir!“, zu Phils Raum zu schicken.

Zehn Minuten später war der Wärter schreiend zurückgekehrt. Er hatte laut „Mord! Totschlag! Selbstmord!“, gebrüllt, denn er hatte die Tür zu Phils Raum nicht einmal erreicht gehabt, als er im Gang in ein Rinnsal Blut getreten war.

Der Direktor ermahnte den Wärter zur Disziplin und zur Ruhe, bevor er ihn seine Geschichte erzählen ließ.

Nach dieser Erzählung waren nicht nur der Wärter und der Direktor, sondern auch dessen Sekretär und bald alle Führungskräfte der Hochsicherheitshaftanstalt außer sich und in Panik verfallen.

Im ordentlich nach Vorschrift ablaufenden Gefängnisalltag sorgte bereits die unerwartete Krankheit eines Wärters für tagelange Gespräche.

Ein Mord hob alle Ordnung auf.

Bald wurde die These aufgestellt, ein Häftling müsse entkommen und für den Mord verantwortlich sein, denn einen Beamten wollte niemand in Betracht ziehen. Im entstehenden Chaos konnte jedoch nicht sofort ermittelt werden, ob einer der 2907 männlichen oder der 769 weiblichen Häftlinge fehlte, denn der Großteil befand sich bereits beim Essen, in den Strahlenkammern, wo das fehlende Sonnenlicht ausgeglichen wurde, auf Krankenstation oder in den verschiedenen Trainingsräumen. So dauerte es einige Stunden, bis eine vorschriftsmäßige Suchaktion eingeleitet werden konnte.

Die gefängniseigenen Spürhunde mitsamt der zugehörigen Wärter wurden in Bereitschaft versetzt und eingesetzt. Ebenso die frisch angeschafften, luftbereiften, bewaffneten Geländewägen. Die lokale Bürgerwehr wurde über das Äther-Netz benachrichtigt. Die reguläre Polizei per Telegramm informiert. Die Inlandsgeheimdienst CSS und die Geheimpolizei UKS eingeschaltet.

Überall im Land schrillten Telephone.

Verschwitzt und nervös stand der Gefängnisdirektor in seiner noch nie im Ernstfall benutzten Einsatzzentrale. Dort videokonferierte er mit diversen Offiziellen, die ihn meistens ausfragten, anschrien oder herumkommandieren wollten. Die vielen, einander widersprechenden Informationen überforderten ihn, sodass er zuerst nichts bewilligte oder ablehnte als den Vorschlag seines Sekretärs, herauszufinden, welcher der Anrufer den höchsten Rang bekleidete. Das nahm die nächsten Stunden in Anspruch und endete mit dem Ergebnis ohne Garantie, dass der CSS-Direktor im Zweifel die höchste Instanz war, da seine Befehle mutmaßlich vom CSS-Generaldirektor abgesegnet waren, der nur dem König und dem Parlament Rechenschaft schuldete.

Der stellvertretende Einsatzleiter übertage, Marius, ergriff indes eigenständig Maßnahmen.

Seine luftbereiften, bewaffneten Geländewägen hatten sich als nutzlos erwiesen, da der nicht gerodete Bereich jenseits des Gefängnisgeländes aufgrund des dichten Baumbewuchses für sie unbefahrbar war.

Die Spürhunde waren infolge fehlender Witterung, die sich hätten aufnehmen können, nur eingeschränkt nützlich. Außerdem wurden sie vom Geruch Dutzender Bewaffneten der Bürgerwehr, die auf eigene Faust den Wald durchkämmten, verwirrt.

Die diversen Such- und Kommunikationsgeräten belasteten des lokale Äther-Netz stark, was die Verbindungen verlangsamte und die Kommunikation zusätzlich erschwerte.

Die akustische Verständigung wurde aufgrund der drei militärischen Aufklärungsluftschiffe, die die CSS angefordert hatte und die im Tiefflug das Gelände absuchten, beinahe unmöglich.

Marius befand es für die einzige sinnvolle Maßnahme, alle Wärter, die man im Gefangenentrakt entbehren konnten oder keine Schicht hatten, in Dreigruppen das Gelände durchstreifen zu lassen.

Die luftbereiften, bewaffneten Geländewägen blieben zurück.

Gegen ein Uhr nachmittags, als sich der Gefängnisdirektor gerade den dritten Brandy kommen ließ, trafen in kurzen Abständen die angeforderten Spezialisten und Sonderkommandos ein, um die Wärter und Milizionäre zu unterstützten.

Letztere hatten eine Viertelstunde vorher beschlossen, ihre Suche zugunsten eines Picknicks zu pausieren.

Die Frauen des Dorfes reichten dazu: Schwarz- und Graubrot, Butter, Wurst, Käse, Earl Grey, Scones mit Rosinen oder Schokolade, Kaffee schwarz oder mit Milch oder Zucker, Kuchen, Pale Ale, Porter und Stout zur Stärkung.

Die mit schwarzen Panzeranzügen und kurzläufigen Dampfautomatikgewehren für den Straßenkampf ausgerüsteten Sonderkommandos beobachteten durch ihre Visierhelme misstrauisch die fröhlichen Picknicker.

Manchmal blitzte im Augenwinkel der Essenden das Binokular eines der aus benachbarten Bezirken angerückten Rangers auf.

Die Aufklärungsluftschiffe meldeten an die Zentrale der Royal Air Force : nichtmilitärische, bewaffnete Gruppe ohne erkennbare Luftabwehr. 

 

Cassie rannte.

Sie war, als gegen neun Uhr die ersten Milizionäre im Wald aufgetaucht waren, hangabwärts in Richtung des dunklen Sees geflohen, der wie die Stadt Loch Lynn genannt wurde. In Ufernähe verbarg sie sich im Schilf und beobachtete, was sie von der Suchaktion erkennen konnte. Die Flucht hatte sie erschöpft. Ihre Muskeln zitterten. Ihr Hunger kehrte zurück. Ihren Durst stillte sie mit dem Wasser des Loch Lynn. Dann inspizierte sie ihre Ausrüstung: vergleichsweise warme Kleidung, zwei Revolver, einer mit nur noch einer Patrone ausgerüstet, tausend Pfund in großen Scheinen, ein Jagdmesser.

Damit würde sie gegen Sonderkommandos, Spürhunde, Milizionäre und Luftschiffe ankommen müssen.

Cassie seufzte. 

 

Von erstem Erfolg wurde die Suchaktion gegen drei Uhr am Nachmittag gekrönt, als der Gefängnisdirektor Tee mit Schuss kommen und Sonderrationen Obst an die Gefangenen ausgeben ließ: Das Sonderkommando stieß auf Henrys Leiche. Zeitgleich bemerkte ein Ranger die beschädigte Vergitterung des Luftschachtes.

In kurzem Abstand erreichten die Neuigkeiten die Einsatzzentrale.

Der Direktor hatte sich ein wenig an die auf ihm lastende Verantwortung gewöhnt und seine Schlussfolgerungen und Befehle klangen zunächst selbstbewusst: Er ordnete an, den Luftschacht und die Leiche auf Hinweise zu untersuchen.

„Lassen Sie mich zusammenfassen, Gentlemen“, rief er. „Wir müssen feststellen: Wir jagen einen zweifachen Mörder, der zuerst Phil getötet und in das widerwärtige Kostüm gesteckt hat, um danach durch den Luftschacht zu entkommen. Wir haben es mit einem.... Perversen zu tun. Oh, Phil war... er war...“, der Direktor brach in Tränen aus, „er war wie ein Sohn für mich, aber wie er war, was er war... ich hab’s immer gewusst, aber mein Gott, wer will schon sowas sehen, auch wenn’s vor seinen Augen passiert, oh, Jesus, Maria, drauf geschissen... holt mir diesen Pfaffen, ich will mit ihm beten, büßen, verdammt noch mal beten und büßen will ich!“

 

Michael und Gregory hatten unterdessen ihre Einkäufe in Loch Lynn erledigt und waren auf dem Weg zu dem mit Cassie vereinbarten Treffpunkt.

Auf dem Hinweg hatten die beiden einen kleinen Teil ihres neuen Reichtums für Alkohol ausgegeben. In ausgelassener Stimmung hatten sie Klamotten erworben, die Cassie ihrer Schätzung nach passten. Auf dem Rückweg waren sie in derselben Kneipe eingekehrt, in der sie schon gewesen waren. Gegen drei Uhr am Nachmittag begannen sie, sich den flachen Hügel hinaufzukämpfen. Sie schwankten direkt in eine polizeiliche Personenkontrolle. Mussten sich ausweisen und Fragen beantworten. Unter anderem nach dem Zweck ihres Besuchs um Wald um viertel nach drei Uhr nachmittags.

Michael und Gregory erzählten wahrheitsgemäß, aber lallend die Geschichte des kleinen Mädchens, das sie für insgesamt zweitausend Pfund gebeten hatte, ihr Kleider zu kaufen und in den Wald zu bringen.

Keiner der Beamten schenkte der Geschichte Glauben. Man gestattete den Betrunkenen nicht, das gesperrte Gebiet zu betreten, erwägte, sie zur Ausnüchterung einzusperren, wollte aber keine Beamten entbehren und schickte sie wieder den Pfad hinab.

Michael und Gregory wankten in aufgekratzter Stimmung zurück in die Stadt. Letzterer trug die dick in Packpapier eingewickelten Kleider unterm Arm. Beide waren fest entschlossen, Cassie erneut zu treffen und weitere tausend Pfund einzusacken. Sie stritten, was zu tun sei. Bald beschlossen sie, das weitere Vorgehen bei ein, zwei, drei Bierchen zu besprechen, und suchte zum dritten Mal die Kneipe auf. 

3rd Chapter

Die Bürgerwehr war noch hungrig.

Gegen halb vier Uhr fachten die Milizionäre die Glut für einige Schafe an. Sechs Mann wurden deligiert, um Bratenspieße sowie das noch lebendige Grillgut heranzuschaffen. Letzteres spendierte der Oberbüttel und Bürgermeister aus der Bürgerschutzkasse.

Die Delegierten marschierten ab.

Die ersten Schüsse fielen.

Eine Dreiergruppe Wärter hatte hangaufwärts das Sonderkommando bemerkt. Niemand hatte die Markierungen der Schutzanzüge gegen das Licht der untergehenden Sonne erkannt. Die Wärter hatten sich kurz besprochen, der Einsatzzentrale Feindkontakt gemeldet – dort hatte der Direktor aufgeheult, war auf einen Tisch gesprungen und hatte lautstark den unverzüglichen Tod des Flüchtigen gefordert – und hatten das Gefecht mit Rauchgranaten, gefolgt von Revolverfeuer, eröffnet.

Das Sonderkommando war auf solche Situationen trainiert und hatte reagiert: Deckung, Sichtkontakt zum Einsatzleiter suchen, Feind ausmachen, Befehle abwarten.

Der Einsatzleiter war sich mit dem behandschuhten Daumen über den Hals gefahren und hatte ihn zweimal in die Luft gehoben.

Das Sonderkommando deckte die fünfzig Meter hangabwärts in leichter Deckung liegenden Wärter mit automatischem Feuer ein. Präzise schalteten sie den Feind auf nicht sofort tödliche Weise aus.

Der harzig-moosige Waldgeruch wurde von beißendem Schwefel überdeckt.

Blutüberströmt stürzten die Ziele mit zerschossenen Beinen und aus tiefen Bauchwunden blutend. Die Gefängniswärter mussten mitansehen, wie sich die Bewaffneten in den schwarzen Schutzanzügen näherten, den Zwischenfall protokollierten und medizinische Hilfe anforderten. Von der alle Anwesenden wussten, dass sie zu spät kommen würde. Vor allem die Mitglieder der Sonderkommandos. Denn sie kannten das Kaliber ihrer Waffen. Und die Wirkung ihrer Hohlspitzengeschosse.

Als das Sonderkommando gerade den Befehl „Weitermachen!“, erhalten hatte, traf ein Suchtrupp der reguläre Polizei an, denn die Schüsse hatten die Polizisten angezogen.

Der Ranghöchste ließ ein Protokoll aufsetzen und seine Einsatzzentrale, den polizeilichen Einsatzleiter und die Gefängnisdirektion benachrichtigen.

Gleichzeitig benachrichtigte eines der Aufklärungsluftschiffe, das den Vorgang aufgezeichnet und beobachtet hatte, die Zentrale der Royal Air Force: Diese gab die Information an die Royal Navy weiter.

Kurz darauf wurden die Kapitäne der zwei Flussschiffe, die Kurs auf Loch Lynn genommen hatten, ersucht, einen Suchtrupp an Land zu schicken, um der Sache nachzugehen.

„Habt paar Wärter umgenietet“, sagte ein Polizist zu einem der Männer in schwarzen Schutzanzügen.

„Mhm. Die Wichser haben was gewollt“, gab er Schutzanzug zurück.

„Sauber erledigt“, erwiderte der Polizist anerkennend und starrte fasziniert auf den Punkt auf dem undurchsichtigen Visier, hinter dem er die Augen des anderen vermutete, „wirklich sauber. Und schnell. Ohne Verluste. Auf eurer Seite natürlich.“

„Unser Job“, sagte der Mann im Schutzanzug leichthin.

Der Polizist, George, bewunderte die Sonderkommandos, denn er war von ihren dunklen Anzügen, den Panzerwägen, gefährlichen Waffen und vor allem von ihrer Disziplin beeindruckt, und der Polizist George rechnete sich Chancen aus, nächstes oder übernächstes Jahr zur Ausbildung bei den Spezialkräften zugelassen zu werden, wenn er weiter trainierte, denn er wusste heute, das war sein Weg, seine Bestimmung, das hatte er lange nicht gewusst und jetzt wusste er es, so dachte George, und gerade die abgeklärte, kurz abgebundene, kühle Art, mit der der Mann über seinen Job sprach, erschien George erstrebenswert.

Während George weiter versuchte, sich mit dem Spezialkommando zu unterhalten, brachte ein flacher Dampfer, es ging inzwischen auf fünf Uhr zu, eine kleine Einsatzgruppe Royal Marines ans Ufer. Sie begann sofort, den Hang hinaufzueilen. Beinahe hätten die Marines die überraschten regulären Polizeikräfte mit Blei eingedeckt.

Nachdem es beinahe zum zweiten derartigen Vorfall innerhalb einer Viertelstunde gekommen wäre, bat der polizeiliche Suchtrupp beim polizeilichen Einsatzleiter um Erlaubnis, sich zurückzuziehen.

Sie mussten auf eine Antwort waren.

Alle nicht für den Einsatz im Gelände ausgebildeten regulären Polizeikräfte, die Wärter und die wenigen Milizionäre, die sich nicht am dem am Hang entstehenden Gelage beteiligten hatten, waren nach einigen Stunden Suche abgekämpft, nervös und frustriert. Der Wald, die bewaffneten anderen Gruppen und der unsichtbare, unbekannte Mörder, den man jagte, zermürbte alle schwachen Nerven

Das Risiko der im Grunde erfolglosen Mammutaktion wuchs minütlich.

Nachdem die Royal Marines Fragen gestellt, den Ort des Geschehens untersucht und ein Protokoll aufgesetzt hatten, zogen sie ab.

Kurz darauf erhielt der polizeiliche Suchtrupp die ersehnte Erlaubnis, zur Basis zurückzukehren.

Diese befand sich am Rand von Loch Lynn, wo der Pfad vom Wald an der geschotterten Hauptstraße endete. Gegegen halb sechs Uhr abends wurden dort die fünfzig eingesetzten Kräfte der regulären Polizei zusammengezogen, um das polizeilich gesperrte Gebiet zu sichern und zu räumen.

Ihr größtes Problem war die Bürgerwehr von Loch Lynn. Denn sie grillte und feierte in beinahe voller Stärke mitsamt Frauen und Kindern im Sperrgebiet. Immerhin eine Gruppe von knapp dreihundert Personen, zu etwa einem Drittel bewaffnet, betrunken und frustriert.

Kein Gegner, mit dem sich fünfzig reguläre Polizisten anlegen wollten.

Der polizeiliche Einsatzleiter war hin- und hergerissen zwischen den Notwendigkeiten, die sich aus seinem eigenen Befehl ergaben - „Das Gebiet ist weiträumig zu sperren und zu räumen!“ – und der schieren Unmöglichkeit des Unterfangens.

Zunächst forderte er Verstärkung an, die auf sich würde warten lassen, wie er inständig hoffte.

Gegen sechs Uhr begann es zu regnen.

 

Während die Polizisten, Spezialkräfte, Gefängniswärter, Flusskreuzer der Royal Navy, Aufklärungsluftschiffe und seit halb sechs außerdem mehrere Suchtrupps der Royal Marines den Wald, den Uferbereich, den Hügelkamm, die Stadt und den See Loch Lynn absuchten und sich vom Regen bis auf die Unterwäsche durchnässen ließen, saß Cassie Black vorm Feuer und aß Fischsuppe.

„Mmmm“, machte sie.

Der alte Fischer lächelte.

Cassie hatte ihn in seinem Ruderboot bemerkt. Zuerst hatte er sie nicht beachtet. Doch plötzlich hatte er den Kopf gehoben. Hatte ihr in die Augen gesehen. Cassie hatte ihn begrüßt. Er hatte nicht reagiert und auch selbst geschwiegen. Cassie hatte ihn zu sich gewunken. Das hatte der Alte, wie sie glaubte, verstanden. Mit Gesten hatte sie ihm zu verstehen gegeben, sie war hungrig und müde.

„Hilf mir doch einfach“, hatte sie gemurmelt, „es ist dringend, du magst die Polizei auch nicht, ganz bestimmt nicht.“

Plötzlich hatte er begonnen, in die Richtung davonzurudern, aus der er gekommen war.

Cassie hatte schon zweimal Hunde in ihrer Nähe gehört und siebenhundert Meter südlich Bewaffnete an Land gesehen sehen. Sie war verzweifelt gewesen. Sie war ins Wasser gesprungen und dem Boot gefolgt. Sie hatte sich verschätzt.

Wasser war etwas, das Cassie ihr Leben lang in Bechern, Schüsseln oder Duschen begegnet war. „Schwimmen“ oder „Ertrinken“ gehörte nicht zu ihrem aktiven Wortschatz. Sie hatte darüber gelesen, aber keine Vorstellung davon.

Sie war ins Wasser gelaufen, bis sie nicht mehr hatte stehen konnte. Dann war sie untergegangen. Einige Blasen waren aufgestiegen, danach war nichts mehr von ihr zu sehen gewesen.

Zwanzig Sekunden später hatte sich der Fischer zu ihr vorgearbeitet und ihren Arm erfasst gehabt. Er hatte sie ins Boot gezogen.

Cassie hatte gehustet und stoßartig geatmet.

Der Fischer hatte ein großes Netz über sie geworfen und sie zu Boden gedrückt.

„He, was soll das...?“, hatte sie gebrüllt, bevor sie verstanden hatte, dass er sie vor Blicken schützen wollte, und sich flach auf das ein Zoll hoch mit Wasser gefüllte Boot gelegt hatte. „Du bist klug... danke“, hatte sie gesagt.

Der Fischer war weitergerudert.

„Wohin?“, hatte Cassie gefragt.

Der Fischer hatte geschwiegen.

„Ach ja... du verstehst mich ja nicht. Naja, so schlimm ist das gar nicht. Jeder hat seine Schwächen. Ich kann nicht... kann nicht mit Wasser. Mit großem Wasser, meine ich. Sowas wie das im Boot ist kein Problem. Wobei das hier ganz schön stinkt. Aber großes Wasser wie das da draußen... das erledigt mich. Mit großem Wasser kannst dafür du, oder? Bist ja den ganzen Tag drauf unterwegs und holst die da raus?“

Sie hatte einen der toten Fische aus der Kiste genommen, ihn wieder zurückfallen lassen und dem Fischer ins Gesicht gesehen. Es war unbewegt geblieben.

Dann war ein Luftschiff über ihnen vorbeigeflogen.

„Scheiße... glaubst du, die sehen uns? Mich? Unheimliche Dinger... warum die nicht vom Himmel fallen? So ne’ komische Welt, in die ich da entkommen bin... alles chaotisch. Nett ist hier keiner. Naja, du vielleicht? Bist du nett? Wenn du nett bist, kann ich es auch sein. Ich kann dir Geld geben. Das wollen hier ja alle. Oder? Aber wehe, wenn du nicht nett bist. Dann muss ich dich wahrscheinlich umbringen. Wobei, das weißt du ja. Du kennst die Regeln dieser Welt besser als ich. Eins frag ich mich: Wenn die, die nicht nett sind, umgebracht werden, dann müsste es ja nur Nette geben, oder? Wobei es den König und die Polizisten und sowas gibt. Hab ich schon gehört. Die sind stärker als die Netten. Die lassen sich nicht so einfach umlegen, heißt es. Schade eigentlich.“

Als Cassie das gesagt hatte, war das Boot unter ein Dach geglitten. Es war der mit dem Wasser verbundene Bootsschuppen des Fischers gewesen, in dem sein größeres Boot auf Trockendock lag.

Er war bis ans Ufer gerudert, ausgestiegen und hatte das Boot an Land gezogen. Dann hatte er Cassie bedeutet, auszusteigen. Er hatte sie in ein gemütliches Zimmer mit einigen kleinen Glasfenstern, einem großen Kamin, einem Schrank, einem Tisch, Stühlen und einem Sessel geführt. Darauf hatte er sie gesetzt. Zuletzt war er in die Küche gegangen und hatte die Fischsuppe bereitet.

Cassie hatte unterdessen ihr nasse Kleidung ausgezogen, aufgehängt, sich in eine alte Filzdecke gewickelt, die auf dem Sessel gelegen hatte, und das Kaminfeuer angefacht, denn mit dem Feuermachen, das in einem unterirdischen Gefängnis unerlässlich war, kannte sie sich aus; und als ihr der Fischer die angeschlagene Tonschale mit ihrer Fischsuppe in die Hand gedrückt hatte, hatte er mit einem Blick auf das Feuer gelächelt, und Cassie hatte unsicher zurückgelächelt und sich gefragt, ob das gewöhnliche oder besondere Nettigkeit war; und sie hatte sich in eine die alte Filzdecke gewickelt, war müde geworden und mit der ausgelöffelten Schale auf dem Schoß eingeschlafen.

 

Um halb neun war Michael und Gregorys Gespräch in der Kneipe vorbei.

Beide waren noch stärker betrunken als in dem Moment, in dem sie mit den Polizisten gesprochen hatten. Sie hatten lange diskutiert. Sie hatten einen Plan.

Er sah vor, von Kneipe zu Kneipe zu ziehen und kräftige Männer anzuheuern, bis man eine schlagkräftige Truppe zusammenhatte. Danach würde man sich bewaffnen und mit oder ohne polizeiliche Erlaubnis in den geräumten Bereich eindringen. Dort würde man auf Cassie und die zweiten tausend Pfund warten.

Michael und Gregory verließen in euphorischer Stimmung die Kneipe. Danach besuchten sie Tavernen im Hafen, Gasthäuser, weitere Kneipen und das einzige gute Restaurant der Stadt. Überall tranken sie mit den Gästen und gaben die eine oder andere Runde aus, bevor sie mit ihrem Anliegen herausrückten. Obwohl sie sich ihrer Aufgabe bis Mitternacht widmeten, bekamen sie nur ein halbes Dutzend Männer zusammen. Das lag unter anderem daran, dass ein guter Teil der Männer außerhalb der Stadt mit der Bürgerwehr feierte.

„Egal“, säuselte Michael, als es auf halb eins zuging, „alle Knarren sind da, alle Jungens sind da, auf geht’s, Abmarsch!“

Zunächst musste der hangaufwärts führende Pfad ausfindig gemacht werden. Das erwies sich für die sturzbetrunkenen Anführer als wirkliches Problem. Lautstark zog die mit Spitzhacken, Schaufeln, kleinkalibrigen Handfeuerwaffen und Messern ausgestattete Truppe durchs Dorf, vom Rathaus zum Hafen und wieder zum Rathaus. Dabei stritten sich Gregory und Michael darum, welcher Weg der richtige war. Gegen zwei Uhr hatte man sich noch immer nicht entschieden und beriet auf dem Marktplatz sitzend über das weitere Vorgehen.

Dabei ging ein Flachmann mit Gin im Kreis.

 

Um viertel nach zwei Uhr nachts näherte sich den Betrunkenen drei schwarze Fahrzeuge. Ihre Dampfmaschinen waren leistungsstark und laut, und das Scheinwerferlicht wurde von einem Hohlspiegel weit in die Dunkelheit geworfen. Die Fahrer waren ausgezeichnet. Die Wagen gepanzert. Eigentum der Central Security Agency, kurz CSA, dem weitverzweigten Sicherheitsapparat des Vereinigten Königreichs.

Der Passagier des mittleren Wagens, der etwas schlanker und schneller war als die größeren Transporter, hielt es für sehr unpassend, zu einer solchen, unchristlich späten Stunde durch Schottland zu fahren, aber, dachte er, weitaus unpassender ist es, zu einer solchen Zeit einen Marktplatz aufzusuchen, womöglich im betrunkenen Zustand, das ist wirklich ein Symptom des Sittenverfalls in den ländlichen Gegenden.

Der Passagier hieß Geoffry und war ein Spezialagent der CSA. Da ich mein ganzes Berufsleben, dachte er, auf die öffentliche Sicherheit ausgerichtet habe, ist hier ein Einschreiten meine Pflicht.

„Halt“, sagte er zum Fahrer, der den Befehl mit Lichtsignalen an seine Kollegen weitergab.

Die drei CSA-Fahrzeuge umkreisten die beratenden Betrunkenen und hielten an.

Geoffry stieg aus. Er erkundigte sich nach Namen, Wohnort, Beruf und Absicht.

Die britische Erziehung, sich Uniformierten und Offiziellen gegenüber ruhig, respektvoll und hilfsbereit zu verhalten, zeigte Wirkung. Ebenso das harsche Auftreten Geoffrys.

Man antwortete ihm verhältnismäßig direkt und schlüssig.

Geoffry war ein hochgewachsener, muskulöser Mann. Er trug einen breitkrempigen Hut, einen Ledermantel, schwarze Handschuhe, eine gutsitzende dunkle Hose und Reitstiefel. Auf seinen Schultern, seiner Brust und seiner Gürtelschnalle war der CSA-Schriftzug in metallenen Buchstaben und das CSA-Emblem zu sehen. Ein einzelner schlichter Silberring blinkte an seinem Finger. Während er den Ausführungen der Betrunkenen lauschte blieb seine Miene unbewegt und sein Gesicht halb im Schatten der Hutkrempe verborgen.

Als Michael an der Reihe war, zu antworten, winkte Geoffry einen seiner Männer heran und flüsterte ihm: „Polizei, bitte“, ins Ohr.

Der Mann verstand und kontaktierte über die CSA-Zentrale den polizeilichen Einsatzleiter, dessen Verstärkung vor kurzem eingetroffen war und der sich in starken Gewissenskonflikten befand.

„Verstanden“, erwiderte der Einsatzleiter auf den Äther-Netz-Funkspruch und gab Befehl, den Marktplatz zu umstellen, um Betrunkene festzunehmen.

Mit finsterer Miene ging Spezialagent Geoffry auf die Polizisten zu, während seine Männer schon fürchteten, angegriffen zu werden.

Das CSA-Emblem beeindruckte die Beamten.

Geoffry fragte sich schnell zum polizeilichen Einsatzleiter durch.

„Packen Sie ihre Männer wieder ein“, bat er den Einsatzleiter im Befehlston, „und nehmen sie diese Suffköpfe mit. Finden Sie irgendeine Zelle für sie. Passen Sie auf die Absperrungen auf. Diese Männer hatten sie Absicht, sie zu durchbrechen.“

„Verstanden.“

„Weitermachen.“

„Äh... Sir?“

„Ja?“

„Es gibt ein... Problem. Mit der Absperrungen.“

„Ach ja?“

„Ja. Die lokale... Bürgerwehr.“

„Aha. Wo ist das Problem?“

„Sie befindet sich unglücklicherweise hinter der Absperrungen, Sir. Es tut uns leid, Sir.“„Dann sorgen Sie dafür, dass die dort verschwinden. Sie selbst haben doch den Befehl gegeben, das Gebiet zu räumen, nicht wahr? Setzten Sie ihre eigenen Befehle um, Mann!“

Mit diesen Worten wandte sich Geoffry zum Gehen, doch der Einsatzleiter war noch nicht fertig.

„Sehr richtig, Sir“, sagte er. „Aber, Sir: Die Bürgerwehr ist an die hundert Mann stark. Dazu kommen Frauen und Kinder.“

„Na und? Sie sind an die hundert Beamten, wenn mich meine Augen nicht im Stich lassen.“

Geoffry wandte sich wieder zum Gehen.

„Sir, die Milizionäre sind... alkoholisiert.“

Geoffry drehte sich erstmals ganz zum Einsatzleiter um.

„ Setzten Sie ihre eigenen Befehle um, Mann“, sagte er gefährlich leise.

„Natürlich, Sir.“

„Wir fahren jetzt zum Gefängnis. Wir wollen keine Zwischenfälle auf dem Weg.

„Selbstverständlich, Sir.“

Geoffry ging.

 

Um viertel nach zwei Uhr nachts war der Gefängnisdirektor betrunken und todmüde. Seine Stimmung hatte sich bis ein Uhr verbessert. Danach hatten sich der andauernde Druck, der ausbleibende Erfolg und die erdrückende Last dutzender unerledigter Aufgaben bemerkbar gemacht. Er war in trübsinnige Tatenlosigkeit verfallen.

„Ich“, rief er hervor und winkte seinen Sekretär herbei, der nicht sicher war, ob er einen Hickser oder ein Wort gehört hatte, „ich. Ich. Ich...“, wiederholte der Direktor unablässig, und als der Sekretär ihm gerade vorschlagen wollte, sich einmal hinzulegen, sagte der Direktor: „Ich. Ich bin. Voll.“

Mit diesen Worten ließ er seinen Kopf auf die Brust sacken. In der Haltung verharrte er.

Der Sekretär ließ von ihm ab.

Sicher glauben alle, dachte der Direktor, dass ich schlafe. Ich schlafe aber nicht. Ich bin ganz klar im Kopf. Ich höre alles. Sie reden über die unruhigen Gefangenen. Die armen erschossenen Wärter. Jetzt über einen Agenten. CSA. Was heißt das noch? Central Security irgendwas... oder steht das C für Civil? Für Certain? Egal... Moment, ein Spezialagent der CSA kommt hierher? Verdammt. Wenn er meinen Zustand... nein, ich bin geliefert. Schon erledigt. Jetzt.

„Sir?“, sagte der Sekretär kurze Zeit später und berührte den Direktor vorsichtig am Arm, „hören Sie mich? Ein Agent...“

Der Direktor fuhr hoch. „Die CSA ist da? Schon? Verflucht. Mundwasser! Noch besser, eine Zigarre. Und vorher noch einen kleinen Brandy. Aber schnell!“

Der Sekretär eilte davon. Fünf Minuten später stand Geoffry vor dem noch immer nach Schnaps riechenden Direktor. Der Agent verzog keine Miene.

„Haben Sie ermittelt, welche Gefangenen fehlen?“, fragte er.

Der Direktor schüttelte den Kopf.

„Dann übernehmen wir das. Haben Sie die den Leichnam untersucht?“

Der Direktor schüttelte den Kopf.

„Dann übernehmen wir das. Haben Sie irgendwelche Hinweise auf den genauen Verbleib des Flüchtigen? Irgendeine Spur? Einen Verdacht?“

Der Direktor schüttelte den Kopf.

„Dann werden wir ihn kriegen. Und noch etwas.“

Der Direktor, der während des Gesprächs zu Boden gesehen hatte, sah hoch.

„Sie sollten schlafen, Sie versoffener Versager.“

Mit diesen Worten versetzte der große Mann dem Direktor einen heftigen Kinnhaken. Er schickte ihn zu Boden.

 

Als Cassie aus ihrem Schlaf erwachte, war es dunkel.

Sie streckte die Hand aus und berührte kühles Metall. Sie tastete sich nach rechts, links, oben und unten. Überall kühle Bronze. Cassie befand sich in einem runden Raum von einem Meter Höhe und zwei Meter Durchmesser.

Dieser war Teil einer größeren Tauchglocke, die in zwanzig Meter Tiefe auf dem Grund des Loch Lynn lag. Sie wog drei Tonnen und war aus Bronze gegossen worden.

Cassie ahnte: Es hatte keinen Zweck, zu schreien, um Hilfe zu betteln oder gegen ihr Gefängnis zu klopfen, denn man hatte sie gegen ihren Willen eingesperrte, und wer so etwas tat, ließ sich davon nicht durch Schreie, Bitten und Klopfen abbringen, da konnte sie es auch bleiben lassen. Sie wunderte sich, angezogen zu sein, und verzog das Gesicht, als sie daran dachte, wie sie jemand im Schlaf aus ihrer Filzdecke geschält und angezogen hatte. Ihre Waffen fehlten. Sogar die Geheimwaffe an ihrem Backenzahn hatte man gefunden. Sollten sie die Absicht haben, mich hier ersticken zu lassen, dachte Cassie, habe ich nicht einmal die Möglichkeit, die Sache abzukürzen. Sadistische Mistkerle.

Sie wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie verfluchte sich, so vertrauensselig gewesen zu sein und vermutete, die Fischsuppe habe ein Schlafmittel enthalten.

Nächstes Mal, schwor sie sich, werde ich besser aufpassen.

Wenn es ein nächstes Mal gibt. 

 

To be continued...

Anhang I - Übersetzungen

* (Seite 2.) 

 

Die ganze Welt ist Bühne, und all die Männer und Frauen bloße Spieler.

Sie haben ihre Abgänge und Auftritte

Und ein Mensch spielt zu Lebzeiten viele Rollen.

Seiner Auftritte sind sieben Alter:

Zuerst der Säugling, quäkend und kotzend in der Amme Arme....

 

 

Anhang II - Über die Erzählkunst

Die ganze Welt ist Bühne, und all die Männer und Frauen bloße Spieler.

Sie haben ihre Abgänge und Auftritte

Und ein Mensch spielt zu Lebzeiten viele Rollen.

Seiner Auftritte sind sieben Alter:

Zuerst der Säugling, quäkend und kotzend in der Amme Arme....

 

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Impressum

Bildmaterialien: Lave
Tag der Veröffentlichung: 14.08.2014

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