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Moos und Marmor.

 

Das zurückliegende „Wagnerjahr“ und die hundertmalige Jährung des Weltkriegsbeginns 2014 haben mich jüngst veranlasst, über die moosigen Steine in unserem Garten nachzudenken.

Es sind Granitsteine dabei, taubenei- bis faustgroß, grau gesprenkelt, Sandstein in dunklem Braunrot bis zu hellem Grau, und noch ganz andere, die ich gar nicht benennen kann. Sogar einen kleinen Brocken Marmor habe ich entdeckt, vielleicht war er einmal Teil eines Schneidebretts, einer Türschwelle, gar einer Staute.

Betrachtet man dieses Gestein beiläufig, fällt es kaum auf. Man geht vorbei und denkt an etwas anderes. Wirft man einen historischen Blick darauf, sind die Steine ebenso öde. Es sind unbearbeitete Brocken ohne irgendeine Geschichte. Kein Wissen verleiht diesen Steinen etwas Faszinierendes.

Wenn man also weitergeht, gelangt man bald auf die Hauptstraße, dort sind mehr Menschen, ein Meer aus Köpfen, ununterbrochen in Bewegung, doch inmitten des Meeres sind sie zu sehen, Felsen und Inseln in der Brandung, stillstehende, ernste Bauten – Denkmäler, Kirchen, Gedenksteine, mit edlen Namen und ehrwürdigen Daten versehene Tafeln. Es sind historische Steine.

Was unterscheidet die moosigen Brocken im Garten von diesen historischen Steinen? Was adelt sie ihren naturbelassenen Brüdern gegenüber?

Ihre Bedeutung, möchte man meinen. Die Steine besagen nichts aus sich selbst heraus etwas, sondern sind untrennbar mit denkwürdigen Ereignissen verknüpft. Die Steine erinnern an etwas. Im Erinnern sind Steine gut. Sie ändern sich selten, und wenn, dann braucht es Gewalt. In friedlichen Zeiten bewahren sie Erinnerungen sehr zuverlässig, oder sie lassen sich zu ehrfurchtgebietender Höhe auftürmen, zu Kathedralen, Ministerien, Regierungsgebäuden. Diese Felsen sind geformt und durch menschliche Gewalt zu dem geworden, was sie sind. Darin liegt ihr Adel und ihre Besonderheit.

Die Ehrfurcht vor dem geformten, dem adeligen Stein, wird uns früh und erfolgreich eingebläut, darin ist die Gesellschaft sehr erfahren. Schulklassen stehen bewundernd vor großen Denkmälern, besichtigen Ruinen und erfahren alles „Wissenswerte“ darüber. Und auch, ach was, gerade der Erwachsene steht ebenfalls vor diesen Ruinen und vor den Denkmälern mit ebenso großer oder noch größerer Bewunderung: Erinnerungen, Vergangenheit, staubige Bücher und starres Gestein – das heißt heute „Gedenken“.

Die Ehrfurcht vor dem Stein ist heute bei den meisten Menschen größer als die Ehrfurcht vor dem Blut. Die lebenden Menschen um uns, selbst die großen, verschwinden im Schatten der zurückliegender Großtaten – Reiche, Kriege, große Werke, große Männer und große Siege. Was bedeutet da das kleine Leben meiner Mitmenschen, was mein eigenes? Das kann man sich fragen.

Das Gedenken des Blutes, das Gedenken durch Erzählungen lebender Menschen, durch lebendige Erinnerung, bedeutet vor dem Gedenken des Steins kaum noch etwas. Für ein Wort, das man von einem lebenden Menschen aus dessen Erinnerung über „die Geschichte“ hört, liest man tausend, zehntausend, hunderttausend in Büchern oder hört sie im Fernsehen oder im Radio. Auch Bücher sind Stein. Sie scheinen unveränderlich, haben etwas Ewiges, Adeliges – und sind aus dem Lebenskreislauf ausgeschlossen.

Wohin führt uns dieser Gedanke? Das Gedenken des Blutes scheint nicht weit in die Vergangenheit zurückzureichen – reichen Erinnerung der ältesten Mitmenschen nicht höchstens hundert Jahre zurück? Kommt das Gedenken des Blutes also dem Vergessen gleich?

Nein. Selbst das Gedenken des Steins reicht nur bis in die Zeit derer zurück, die den Stein behauen und aufgestellt haben. Das Gedenken des Blutes dagegen geht auf die Anfänge der Zeit zurück. Es steckt gewissermaßen in uns. Natürlich nicht als konkrete Information. Es lebt in uns in der Erziehung unserer Eltern, ob wir wollen oder nicht, und es lebt um uns in Gestalt der Welt, die uns die Vergangenheit überlassen hat. Das ist alle Information, die man sich wünschen kann – bloß keine mathematische Information.

Doch Deutschland hat, solange es als Nation existiert, zur Vergangenheit eine besondere Beziehung – hauptsächlich geprägt durch das Gefühl von Schuld. Für diese besondere Art der Schuld ist eine besondere Art von Gedenken notwendig. Die Fehler der Vergangenheit müssen abstrakt als das erkannt und benannt werden, was sie sind – wissenschaftlich, historisch, faktisch korrekt. Deutschland braucht den Stein. Solange die deutsche Nation Nation ist, muss der Deutsche auch historischer Mensch sein. Er muss die Vergangenheit gleichermaßen wie die Gegenwart betrachten – und zwar die in Stein gemeißelte Vergangenheit, das Gedenken der Bücher und der Steine.

 

Trotzdem meine ich, dass man dazu neigt, das Vergessen zu unterschätzen.

Für den historischen Menschen, und noch mehr für den Historiker selbst, bedeutet Vergessen: Bedauernswerter Verlust von bedeutsamer Information. Vergessen ist, wenn man seine PIN nicht mehr weiß, oder eine Telefonnummer, oder einen Termin verpennt. Es ist das Zahlenvergessen.

Für mich besitzt das Vergessen noch eine andere Dimension: Das Loslassen. Es ist das Loslassen alter Komplexe, das Loslassen schlechter Erinnerungen, das Loslassen verstaubten Ballastes, das große Ausmisten, wenn man umzieht.

Wenn wir unser persönliches Leben mit der Kontemplation unser persönlichen Erfahrungen verbringen, notwendigerweise einschließlich der negativen, so wird uns die Gegenwart als Folge derselben und damit meist trist und hoffnunglos erscheinen, selbst wenn man viele glückliche Erinnerungen besitzt. Tun wir das und nur das – dann leben wir nicht mehr!

So geht es uns auch, wenn wir die Historie betrachten: Wir sehen vor allem Kriege, Verbrechen, Schuld, Strafen, errichtete und zerbrochene Reiche und Pakte. Wir sehen blutiges, aufopferungsvolles, letztlich ergebnisloses Getöse. Diese Art von Gedenken müssen wir loslassen.

Nicht vergessen dürfen wir die Lehren, die unweigerlich gezogen werden müssen: Keine Angriffskriege, kein Rassismus, keine Gewalteneinheit, sondern Gewaltentrennung, keine Militär- und keine Parteidiktaturen mehr – das steht fett und zurecht auf dem Denkzettel, den uns allein das letzte Jahrhundert gegeben hat.

 

Wenn wir schon, wie wir gesehen haben, gedenken müssen – woran sollen wir dann denken? Die besten Lehren geben uns die schlechten Erinnerungen, die Erinnerungen an gewaltige Fehler, an Blut, Tote, Kriege, Verbrechen. Das Gedenken an Erfolge – das Ende des Dritten Reiches, der Mauerfall und ähnliches – erfüllen uns höchstens mit falschem Stolz, Stolz auf Dinge, die wir nicht erreicht haben. Es ist Unsinn zu glauben, es sei ein „Erfolg der Deutschen“ gewesen, die Grenze zweiter verfeindeter Systeme einzureißen und den Fall des eisernen Vorhanges „herbeizuführen“. Ebensowenig könnte man behaupten, der Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg sei auf deutsche Antifaschisten zurückzuführen! Nein, Wendungen zum Besseren – wenn man den Mauerfall als das betrachtet – sind nie die Folge von „Arbeit“ oder „Taten“ einzelner Personen oder Gruppen. Stets sind es die begünstigenden äußeren Umstände, die den Menschen zum politischen Veränderung befähigen. Sich in den Schokoladenseiten der Geschichte zu sonnen, bringt gar nichts hervor. Nur die bittere Erinnerung enthält etwas für die Gegenwart.

Natürlich verführt dieser negative historische Blick dazu, die Zukunft sehr pessimistisch einzuschätzen. Sollten wir es an dieser Stelle nicht mit Mel Brooks halten? Hope for the best, expect the worst“, sagt er. Man muss auf das Schlechte vorbereitet sein, ohne grundsätzlich die Hoffnung auf das Gute aufzugeben. Wenn man auf das Gute vertraut, wird man in der Regel böse erwachen. Verliert man die Hoffnung auf das Gute, kann man eine entsprechende Chance nicht mehr nutzen, wenn sie eintritt.

Das heißt: Wir – gerade wir als Deutsche – müssen gedenken, und es ist das Gedenken des Steins, das wir benötigen. Erinnerung an glückliche historische Momente sind mit Vorsicht zu genießen. Dagegen ist alles Finstere, jede schmerzlichen Erinnerungen, überaus wichtig für uns Gegenwartsmenschen, je finsterer, desto relevanter, denn diese Finsternis lehrt uns die Fehler der Vergangenheit und lässt uns erkennen, wie diese in Zukunft zu vermeiden sind.

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.04.2014

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