»Was hat es zu bedeuten, hier zu stehen?«
Der Spiegel füllte meine Sicht. Ein großes, wiederspiegelndes Ding mit einem hässlichen Rahmen, ein unerlässliches Ding in jedem Bad, in allen Kleiderläden, überall präsent und in Gebrauch, in der ganzen, verdammten Öffentlichkeit ein anziehender Mahlstrom für die Blicke der eitlen Menschen, in ihren selbst auferlegten Zwangsjacken idealer Schönheit. Ein Gegenstand der Schönheit war es in der Tat, ein Gegenstand der Gewöhnlichkeit, ein Gegenstand des modernen Lebens. Mein Blick tauchte wie etwas Stoffliches in die Oberfläche ein und fand doch nur das gleiche Zimmer, das gleiche Gesicht, den gleichen Blick in die dunklen Augen. Hatte ich jemals dunkle Augen gehabt? Welche Farbe hat schon Dunkelheit – kein Licht, keine Farbe. Das Zimmer war kalt, doch die Kälte kam nicht aus dem Raum, sondern war in mir – mein Herz, meine Seele, gefroren in den Frosthöllen des Lebens.
Die alten Menschen des Nordens hielten die Hölle für kalt und nannten sie Hel – den Ort und das Ungeheuer, das dort lebte, um die Seelen der toten Feiglinge zu regieren.
Gedanken trieben wie Blut im Wasser einer Badewanne, schlugen mit letzten Flügelschlägen, als wäre noch etwas für sie, dass sich erreichen ließe. Die Schlieren formierten sich zu Formen, zu Scharen, zu Linien und Körpern, zuletzt zu gedachter Sprache, und sprachen zu mir, so deutlich, nein – deutlicher, als jemals ein Sprecher zuvor es getan hatte.
»Was tust du hier?«
»Ich spreche zu einem Spiegel«, wollte ich antworten, doch das Lachen blieb noch nicht einmal im Hals stecken, es erstarb schon im Herzen oder im Bauch oder wo immer das Lachen auch entstehen mag; es kümmerte mich nicht. Mein Denken stand still, die Frage offenbarte die Furcht, wieder einmal das Falsche getan zu haben, wieder einmal. Gehen wollte ich, einfach gehen, weg von dem Spiegel, weg von den Fragen, doch es ließ mich nicht, oder er, der Wille, der Gott oder was uns auch immer nach seinen nackten Fäden tanzen lässt und dazu lacht, wie es sonst nur die ewig grinsenden Holzmasken können, denen ein Messer ihre Formen aufgezwungen hat.
»Du fürchtest dich, und du hast um dich gefürchtet, bis du es aufgabst, noch Furcht zu empfinden.«
»Ich gab es auf. Ich weinte schwarze Tränen, doch wollte kein Mitleid. Es ist zu schwarz, um zu hoffen und zu vertrauen, zu schwach, um zu rächen, und zu feige, um zu ertragen.«
»Du hast deinen Verstand, deinen Körper und deinen Instinkt besiegt. Dein tiefes Inneres ist stark wie Stahl.«
»Mein Inneres muss wohl noch mehr sein als tot, oder was immer danach kommt. Es ist so trocken wie die Wüste, so kalt wie ewiges Eis und ebenso tot.«
»Achtest du dich nicht genügend, um noch verachten zu können, willst du fliehen, wo kein Weg ist – das Lieben, Leben und die Hoffnung auf Glück aufgeben?«
»Und mit ihm die Jahre des Hasses, die Schwäche, die Trägödie der Menschen! Sprich mir nicht von Aufgabe!« Ich sah mich selbst, die Hände als Fäuste, den Spiegel mit weiten Rissen, Splitter am Boden, Blut an den Händen, einen Dolch von einem Splitter in der Hand, um diese hassenswerten Augen auszulöschen, die mich aus jenem widerwärtigen Gesicht ansehen, doch was ist es, das sich selbst zerstören kann? Ich sah den Splitter abgleiten, mehr Blut spritzen, wieder und wieder, den Splitter an der Wand zerschellen, und Blut und Glas lagen über dem Raum.
»Ist dein Fühlen so schwach? Das Leben selbst zu wenig, um gehalten zu werden?«
»Mein Fühlen ist tot!« Eine versiegte Quelle, um eine andere zu öffnen, der Kreislauf ewigen Lebens.
»Dein Fühlen ist nicht tot!«
»Mein Fühlen ist nicht tot!«, brüllte meine zerbrechliche Stimme. »Mein Fühlen ist eingekerkert, wie es sein soll, in Mauern und Türmen, doch meine Mauern und Türme sind höher und unbezwingbarer als alle anderen! Nicht nur Angst vor Verletzlichkeit, sondern Ohnmacht und Versagen haben sie aufgerichtet, und tiefste Martern haben sie schließlich härter gemacht als Adamant und höher als Berge. Ein Gefängnis muss es sein, keine Festung.«
»Wer soll sie einst bezwingen?«
»Der Krieger, der den Mond zur Erde ringt und den Tod im Zweikampf mit den Jahren besiegt!? Liebe, so sagen die Narren, und Geduld, und vorsichtig und gewaltlos im Sieg. Hohn steht lachend über ihnen, wenn sie befreien, was sie suchen, und nichts als Knochen und Staub finden.«
»Du fandest nie einen Sinn darin, was ist. Wie soll man finden, was nicht dort ist, nicht wahr?«
»Der Sinn muss das erste Pferd der Herde des Lebens gewesen sein, das entfloh und von den Bestien gerissen wurde. Es war die Leitstute, die den Weg hätte weisen sollen – was war zu erwarten von dem Weg, außer, das man ihn verfehlen würde?«
»Du durchschlugst wohl die Netze der Menschengemeinschaft? Nicht Mitgehenkte, nicht Henker, nicht Wut und nicht einmal die Droge gaben dir den Strohalm, den man greift und mit in die Tiefen reißt? «
»Mir ist kalt«, antwortete ich ihm, dem Spiegel, und in Gedanken war er es, der zu mir sprach. Der Spiegel wurde dunkler und mein Blick trüber. Die Kälte breitete sich aus, oder vielleicht wich auch einfach die Wärme zurück, so schwach und feige und voller Fehler wie mein Selbst. Ein Tunnel kam zu seinem Ende, doch das Urteil schien zu sein, dass nichts als Schwärze vorgefunden werden sollte.
»Sieh vom Spiegel in den Himmel, und von dort richte deinen Blick hinab: Erkenne, dass dir geholfen werden konnte.«
»Mir ist geholfen worden. Ich endete, was schon zu Ende war, ich tat nur den letzten Schritt auf der Straße ohne Ende.«
»Dir ist geholfen worden. Ich kann dir helfen. Sieh in den Spiegel und tritt zurück. Ich biete dir nicht meine hohle Hand – ich biete dir die Lizenz, zu gehen.«
»Selbst in der bittersten Wahrheit kann Lüge liegen, doch vor dir enden alle Lügen; das fragt man dich: Enden sie denn?«
»Manches lügt immer, es sei denn, die Wahrheit ist schrecklicher. Die Hölle ist Lüge, und Lügen sind Mauern und Schwerter, Dolche und zerstörte Brücken. Komm mit mir.«
Der Spiegel schien zu flackern wie das Herz eines sterbenden Vogels, und die letzten Flügelschläge der Gedanken erstarben mit ihm. Eine blutige Hand hob sich, wie von selbst, und die Klinge fiel klirrend laut auf den Boden, klirrend laut, doch wie aus weiter Ferne. Ein Gedanke neigte sich in einer Gebärde der demütigen Zustimmungen, denn der Kopf war gelähmt und blutleer. Dieses Blut selbst dagegen war heiß, doch die Hand, über die es rann, war kalt, so kalt wie alles andere, wie der Körper, das Herz, das Fühlen. Mein Sichtfeld wurde enger, während ein letzter Blick die schwächer und schwächer pulsierenden Blutströme an jener Stelle des Handgelenks offenbarte, an der die blauen Linien sich wanden und das Leben zu erhalten versuchten, das längst vernichtet war.
Letztes Blut rann über die Haut, die ich hinter mir ließ.
Der Spiegel wanderte an die Decke und die gegenüberliegende Wand donnerte mir in den Rücken, bevor auch der letzte Flügelschlag verging und endlich alles kam, wie es sein sollte, zu Ruhe und endlich erreichter, unendlicher Stille, ans Ende des lebenden Todes, wo er selbst eine Geburt sein soll. Nur einmal klang die Stimme noch, doch wieder und wieder, bis es unmöglich war, ihr nicht zu folgen. »Komm mit mir.«
Ich folgte dem Wort.
Sirenen sangen in der Ferne.
>>Eine Waffe?<<
>>Ja, verdammt!<<
>>Unglaublich!<< Beide steckten sich ein Stück ihres Kuchens in den Mund.
>>Ich weiß nicht, was ich machen soll.<<, sagte Miriam mit halbvollem Mund und brachte das Kunststück fertig, trotz ihrer Hamsterbacken wie ein verstörtes Reh auszusehen.
>>Das muss doch ein Schock für dich gewesen sein!<<
>>Ein Schock? Ich bin völlig mit den Nerven am Ende!<<
So redeten die Frauen miteinander.
Das weibliche Geschlecht als solches wird oft in den Verruf gebracht, zum Übertreiben zu neigen, doch dieses Gespräch muss wohl eines der wenigen Gegenbeispiele darstellen. Miriam W; Lehrerin von Beruf, jedoch nicht als solche tätig, hatte am Vormittag jenes Tages im Zimmer ihres ältesten und einzigen Sohnes im Alter von 16 Jahre, beim ohnehin überfälligen Staubwischen in dem dauerhaft unaufgeräumt und beinahe verwahrlost wirkendem Raum, den Gegenstand entdeckt, der ihre Stimmung für den Rest des Tages so beeinflusst hatte. Der Junge besaß weder das Geld, noch noch das gesetztlich vorgeschriebene Alter, das ein Mann zum Erwerb einer Waffe und der zugehörigen Dokumente benötigte, sofern dies überhaupt notwendig war; und das war es ihn ihren Augen nicht.
Lebten sie denn in Afrika?
Die Schlussfolgerung daraus, dass sie die Waffen trotzdem in dem Zimmer gefunden hatte, war freilich nicht schwer. Der Junge hatte es, aus unbekannten Gründen und auf eben solchen Wegen geschafft, sich den sechsschüssigen Magnum-Revolver am Gesetz vorbei als illegale Waffe zu beschaffen.
>>Du Ärmste!<<, bestätigte die Freundin zum wiederholten Male. >>Was willst du jetzt machen? Ihn anzeigen?<< Miriam ließ ihren Blick unsicher über die Szene schweifen.
>>Nein, zuerst werde ich versuchen, mit ihm zu reden - ja, das werde ich.<< Eine Weile aßen sie weiter schweigend ihre Kuchen. Langsam, aber sicher begann Miriams Stimmung, von einer erregten und besorgten zu einer gedrückten und resignierenden Gemütslage zu kippen. Ihr Körper, dessen Umfang sie geradezu mit Gewalt an einer explosionsartigen Ausdehnung in alle Breiten zu hindern versuchte, zitterte immer wieder.
>>Kommt dein Mann nicht bald nach Hause?<<, plapperte ihre Freundin munter weiter. Wenn man sie so betrachtete, hatte die überhaupt kein Problem mit ihrem Körper. Sie sprach dem Kuchen munter zu.
>>Verdammt, du hast Recht!<<, erwiderte Miriam. >>Du weißt doch noch, was ich die erzählt habe?<<
>>Mmhm<<, machte sie mit vollem Mund, >>gu wolltecht ihng mid Haffe und...<<
>>Ja!<< Rastlos sprang Miriam auf und lief in die Küche, um die Kaffeemaschine anzustellen und ähnliche Dinge vorzubereiten.
>>Er kommt auf jeden Fall in den nächsten zwanzig Minuten!<<, rief Miriam aus der Küche. >>Hörst du mich?<< Schon im gleichen Moment schalt sie sich dämlich, natürlich könnte sie eine Antwort bei dem Lärm, den alle ihre Küchengeräte veranstalteten, schwerlich hören, noch dazu, weil die Antwort in einigermaßen normaler Lautstärke gehalten war. Mit dem festen Entschluss, wenigstens etwas zu tun, räumte sie einige Dinge hierhin, andere dorthin - ihre Küche wurde in ihrem Alter und ihrer Hässlichkeit nur noch von der Unordnung übertroffen, die in ihr herrschte - und packte zuletzt die Packung Kaffee wieder zusammen. Ungeschickt, wie sie nun einmal war, ließ sie das Ding fallen und fing es hektisch wieder auf, bekam aber nur die letzte, unterste Schweißnaht zu fassen, worauf sich die Öffnung dem Boden zuwandte und der Inhalt sich auf den Boden ergoss. Die Kaffeemaschine stand still.
>>Nichts passiert!<<, rief Miriam mit heller Stimme, um die Freundin nicht unnötig zu besorgen, während sie schon dabei war, den Kaffee zusammenzukehren und mit der Kehrschaufel in den Müll zu befördern. Die Kaffemaschine blinkte.
>>Was meinst du, ist passiert?<<, rief die Freundin aus dem Esszimmer. >>Ich habe dich gar nicht verstanden! Eine Sekunde, ich komme!<<
>>Nichts! Nichts passiert! Bitte, bleib sitzen!<< Im gleichen Moment stand die Freundin schon in der Tür. >>Oh, ist dir der Kaffee umgefallen? Das passiert meinem Mann auch ständig! Aber der ist sowieso der letzte Schussel, zwei linke Hände und dazu ein Spatzenhirn, sag ich immer.<<
Miriam erhob sich und ignorierte, wie schon seit etwa einem halben Jahr, das Ziehen in der unteren Wirbelsäule, stellte ihren Kehrwisch wieder irgendwohin und nickte.
>>Setz dich doch wieder hin. Mein Mann kommt gleich!<<, sagte Miriam, eine Nuance eindringlicher als zuvor, während sie mit einer Mischung aus Beharrlichkeit und Grobheit dafür sorgte, dass die Kaffeemaschine endlich wieder anging.
>>Wo gehört denn der Kehrwisch hin? Alles im Haus muss seinen Platz haben, und Ordnung ist das halbe Leben, sag ich ja immer.<< Kein Wasser mehr in der Maschine, daher auch das Blinken. Miriam ging schnell zum Schrank, um ein Gefäß zu holen.
>>Was meinst du? Ach, bitte, nimm doch noch einen Kuchen, ist doch kein...<<
>>Bitte, bitte, wenn du nur lieber alles selbst entscheiden kannst, nicht wahr?<<
>>Ach, so war das doch nicht gemeint.<< Miriam stand in der Küchentür und sah nur noch, wie die andere endlich um die Ecke verschwand. Schnell wandte sie sich wieder der verdammten Kaffemaschine zu.
>>Also<<, begann Miriam wieder, mit diszipliniert aufgesetzter Fröhlichkeit und Unbeschwertheit in der Stimme, kaum, dass sie kurz darauf wieder aus der Küche ins Wohnzimmer geeilt kam. >>Wo waren wir? Ach ja, du weißt doch, mein Mann kommt jetzt bald, fast eine Woche war er ja weg, und ich habe dieses ganze Zeug vorbereitet und...<< Sie sah der Freundin in die Augen und war sicher, dass sie den Wink begriffen hatte. Sie erwiderte den Blick nur mit ihren wässrigen Augen.
>>Wenn ich tue, was ich vorhabe, ist das eine sehr persönliche Sache, und...<<
>>Du willst, das ich gehe?<< Die andere gab Miriam für eine Sekunde das Gefühl, etwas geradezu Sittenwidriges verlangt zu haben. >>Sag doch, wenn ich dir eine Last bin, Liebes, ich weiß doch, dass ich schnell aufdringlich werde.<<
>>So war das nicht...<<
>>Wohin ich auch komme, ich fühle es doch selbst, ich bin den Menschen eine Last! Ich alte, fett gewordene...<<
>>Bitte, ich meinte doch nur...<<
>>Immer meinen alle nur!<< Jetzt hatte sie tatsächlich Tränchen auf den verquollenen Wangen. >>Ich spüre doch, wenn ich unerwünscht bin!<< Sie stand auf.
>>Jetzt setzt dich schon wieder!<< Auf diese Weise konnte Miriam sie auch nicht fortschicken. >>Nimm noch ein Stück, und dann erzähl mir, was...<<
>>Nein!<<, rief sie aus, mit einem plötzlichen Ausdruck von Stolz. >>Ich rühre den Kuchen nicht mehr an! Ich gehe!<< Mit diesen Worten ergriff sie ihr Handtäschchen und - stöckelte davon. Miriam versuchte, sie aufzuhalten. Als die im Flur angekommen waren, schien sich die andere schon wieder gefasst zu haben.
>>Nichts für ungut!<<, sagte sie mit nicht geringem Stolz und ergriff die Türklinke.
>>Mir tut es leid!<<, lenkte Miriam schon ein, >>ich wollte nie, dass du denkst, ich wollte dich loshaben!<<
>>Es ist nicht deine Schuld.<< Die andere kehrte ihr den Rücken und öffnete die Tür. >>Wir sehen uns bei Katherine am Mittwoch!<<, erklärte sie höflich und tippelte würdevoll davon.
Mit einem irgendwie unguten Gefühl ging Miriam ins Haus zurück. Sie eilte in die Küche und versuchte, so schnell wir nur möglich, den Rest dessen zu erledigen, was sie sich vorgenommen hatte, und führte noch ein paar schnelle Aufräumaktionen in letzter Sekunde durch. Plötzlich hörte sie, wie ein Schlüssel geräuschvoll in einem Schloss gedreht und die zugehörige Tür geöffnet wurde.
>>Bin wieder da.<<, verkündete eine Stimme, mehr knurrend als sprechend.
>>Hallo, Schatz!<<, rief Miriam glockenhell und musste sich schon zwingen, keinen unglücklichen Tonfall in die Stimme zu legen. Ihr Mann grunzte etwas.
Gotthardt - wie er diesen Namen manchmal hasste - hatte keinen sonderlich guten Tag hinter sich. Das frühe Aufstehen in einem Hotel in Singapur - warum ließ die Firma überhaupt so viel Geld für den Aufenthalt springen, wenn man dann um halb sieben aus dem verdammten Hotel eilen musste, um einen viel zu früh gebuchten Flieger zu erreichen, das fragte er sich - war nur zum Teil der Grund seiner Verärgerung. Ganz klar hatte er Pech gehabt, als der Flieger einen Umweg nehmen musste, weil man einen Sturm oder sonst irgendetwas vermutet hatte, nur das hatte einen gewissen Abteilungsleiter M. so ganz und gar nicht interessiert, und er war einfach ohne Gotthardt zum Meeting am Nachmittag gegangen, sodass er, mehr oder minder nutzlos, in der Firma herumhocken musste, bis es ihm gegen vier Uhr zu dumm geworden und er nach Hause gefahren war, jedoch nur, um in einen verdammten Stau zu geraten, weil irgendein dämlicher Motorradfahrer mal wieder einen Unfall gebaut hatte. Schließlich kam er beinahe eine Dreiviertelstunde später an, als er vernünftigerweise hätte einplanen müssen.
>>Was hat eigentlich dieses fette Geschöpf schon wieder in unserem Haus zu suchen gehabt?<<, rief er seiner Frau zu.
>>Was?<<, rief sie aus der Küche.
>>Ich habe Hunger!<<, rief er, weil er keine Lust hatte, sich zu wiederholen. Seine Frau kam aus der Küche, in nichts als einen leichten Morgenmantel gekleidet.
>>Hallo, Schatz.<<, sagte sie erneut und schenkte ihm ein verführerisches Lächeln.
>>Oh, nein.<<, wehrte Gotthardt ärgerlich ab. >>Erst das Essen. Spar dir deinen Charme für die Sherry-Tanten auf!<< Mit einer Miene, die eine leichte Kränkung nicht länger verbarg, zog sich Miriam zurück.
>>Was hast du nur immer an meinen Freundinnen auszusetzen?<<, fragte sie, ein wenig beleidigt.
>>Frag doch den Nachbar oder deinen Sohn oder irgendeinen anderen vernünftigen Mann, und er wird dir sagen, dass ein Haufen unattraktiver, fetter und hässlicher Frauen niemals...<<
>>Du und deine Macho-Freunde finden mich also hässlich?<<, rief Miriam beleidigt. >>Und mein lieber Sohn ebenfalls?<<
>>So war es nun doch nicht gemeint, Miriam, ich...<<
>>Über unseren lieben Sohn sollten wir und ohnehin unterhalten!<<, fuhr Miriam fort, und ihre Gekränktheit verwandelte sich langsam in Zorn.
>>Hast du den Hauch einer Ahnung, was er mit dem Magnum-Revolver in seinem Zimmer anfängt?<<
>>Was?<<, brüllte Gotthardt. >>Das will ich sehen!<<
>>Ja, komm nur mit und sieh, was dein ach so perfekter...<<
>>Wenn, dann immer noch unser Sohn!<<, betonte Gotthardt und stand stampfend auf. Er strebte ohne Umwege in Richtung der Treppe.
>>Wollen wir nicht warten, bis...<<
>>Nein, das wollen wir nicht!<< Er war schon in dem Zimmer.
>>Ich meinte ja bloß...<<
>>Nein! Hörst du auch immer schlechter?<<, schimpfte er, auch wenn sich seine Stimme langsam zu einem leisen vor-sich-hin-Fluchen verringerte, während er Regale und die Ober- wie Unterseiten der Möbelstücke in Augenschein zu nehmen begann.
>>In dem Schuhkarton.<<, half Miriam mit kühlerer Stimme und zeigte auf die betreffenden Schachtel, die, halb von einer Sporttasche verborgen, auf dem Schrank lag. Wütend griff er sich den Karton, doch mit solcher Kraft, dass die Tasche mit dem Karton zu Boden fiel.
In einem Regen bunten Papiers.
Das Zimmer war bedeckt von Geldscheinen und Scheinbündeln, und der silberne Revolver lag mitten darin.
>>Was hat das zu bedeuten?<<, schnauzte Gotthardt fassungslos.
>>Ich bin sprachlos!<<, entgegnete seine Frau. Gotthardt hob einige der Scheine hoch. Bei den einzelnen handelte es sich um kleine Scheine, doch die Bündel bestanden aus großen Banknoten, Hunderter und Fünfhunderter. Viele tausend Euro lagen auf dem Boden herum.
>>Woher kann er so viel Geld haben?<<, fragte Gotthardt fassungslos.
>>Was schaust du mich so an? Ich habe es ihm sicher nicht gegeben, als hätte ich so viel!<<
>>Habe ich das behauptet? Ich bin es schließlich, der unser verdammtes Geld verdient!<<
>>Und das heißt also?<<
>>Was weiß ich, verdammt!<<, grollte Gotthardt. >>Wenn ich den Jungen erwische...<< Wütend stand der große Mann auf und stampfte die Treppen hinab, Waffe und Munition in den Händen. Miriam verblieb in dem Zimmer und begann, das weit verstreute Geld einzusammeln und wieder ordentlich in die Tasche zu räumen, während sie versuchte, in Ruhe die möglichen, weiteren Schritte zu überlegen.
Gotthardt polterte wieder die Treppen hinauf.
>>Ich rufe ihn an.<<, entschied er, ein Handy in der einen Hand, in der anderen ein Glas mit Whisky.
>>Hast du eine Nummer?<<, fragte er fordernd.
>>Du hast nicht einmal die Handynummer deines Sohnes?<<
>>Was kümmert dich das? Gib schon her.<<
>>Ich wäre dafür, dass wir warten, bis er heimkommt, und dann beim Essen vorsichtig darüber...<<
>>Gib mir jetzt die verdammte Nummer!<<
>>Jetzt hör mir doch..<<
>>Scheiße, dann hol ich sie mir eben.<<, fluchte er und marschierte in das alte Arbeitszimmer seiner Frau, wo die alle ihre Nummern und ihr Handy aufbewahrte. Sie lief ihm hinterher.
>>Jetzt lass mal diesen Unsinn und rede mit...<<
>>Nein!<<
>>Dann leg wenigstens dieses Ding weg!<< Als keine Antwort kam, versuchte Miriam wütend, ihm die Waffe aus dem Hosenbund zu zerren.
>>Finger weg!<<, polterte er und stieß sie von sich.
>>Was fällt dir ein?<<
>>Dieses Ding hat nichts in deinen Händchen verloren.<<, erklärte er wütend.
>>Aber in deinen? Wir sollten sie der Polizei übergeben, verdammt.<<
>>Polizei, bevor ich mich nicht mit ihm unterhalten habe? Weiber!<< Miriam atmete tief durch, während ihr Mann mit zu zunehmender Grobheit und nachlassender Genauigkeit nach der Nummer wühlte und dabei Ordner um Ordner, die sicher nichts mit Handynummern zu tun hatten, vom Tisch schleuderte.
>>Gib mir jetzt den Revolver.<<
>>Sonst?<<
>>Sonst<<, sie holte noch einmal tief Luft, >>hole ich die Polizei und zeige ihn wegen illegalem Waffenbesitz an.<< Gotthardt stierte die einen Moment an, als überlegte er, ob sie nun völlig verrückt geworden wäre. Dann nahm er das Ding und schleuderte es achtlos hinter sich auf den bereits verwüsteten Schreibtisch.
>>Leck mich doch...<<, fluchte er ärgerlich.
>>Kannst du jetzt bitte noch aufhören, mein ganzes Zimmer zu verwüsten?<<
>>Halts Maul! Warum hilfst du mir auch nicht?<<
>>Weil ich eben leider finde...<<
>>Nein, ich werde hier nicht herumhocken und mir den Arsch platt sitzen<<, er unterbrach sich, um den Rest des Whiskyglases leerzutrinken und gleich wieder vollzuschenken, >>so wie du es den ganzen Tag machst, ich werde...<<
>>Ich sitze nicht den ganzen Tag herum!<<, schrie Miriam.
>>Deine widerliche Stimme rutscht hoch.<<, warf Gotthardt ihr vor.
>>Du... grober Klotz!<<
>>Du grober Klotz!<<, ahmte er ihre Stimme nach, >>sei nicht so gemein zu mir. Jetzt hilf mir gefälligst, du fette Schlampe!<< Miriam, schon den Tränen nahe, stand im Raum und wurde von einer unermesslichen Wut erfasst. Brodelnde, wortlose Vernichtungswut erhob sich wie rot glühendes Magma in bodenlosen Schloten.
Das Whiskyglas musste als erstes daran glauben. Ohne noch einen bewussten Gedanken zu fassen, packte sie das Glas, das einzige Ding in Reichweite, das ihr nicht selbst gehörte, und schleuderte es in blindem Zorn an die Wand, wo es zerschellte und einen großen Schnapsfleck an der weißen Tapete hinterließ. Gotthardt blickte von seiner zerstörerischen Tätigkeit auf, zuerst Ungläubigkeit, dann kochende Wut und schließlich eine Art von überdrüssiger Resignation in den Augen.
>>Du scheißdummes, hässliches Stück Scheiße!<<, fluchte er und schleuderte einen grünen Ordner voller Familienbilder durch den ganzen Raum. Eine kühle, wissende Stimme in ihrem Hinterkopf sagte Miriam genau, was sie als nächstes zu tun hätte, und dass eine kühle Beleidung ihn weitaus mehr treffen würde als ein erneuter Wutausbruch.
>>Du wiederholst dich. Zweimal Scheiße in einem Satz kommt schlecht. Zuviel Schnaps für einen Mann in deinem Alter?<< In sprachloser Wut stierte er sie an. >>Ich verstehe das. Wir alle werden alt und fett.<<
>>Du klei-ne Hu-re!<< Gotthardts Stimme zitterte vor Wut derartig, dass er zwischen den Silben stockte.
>>Was willst du damit sagen? Dass ich zu dem jämmerlichen Gehalt, dass du verdienst, meinen eigenen Beitrag leisten sollte?<<
>>HURE!<<
>>BASTARD!<<
Die Antwort bestand in einem geschleuderten Computerbildschirm, der Miriams Gesicht wohl zerschlagen hätte, wäre sie nicht gerade noch darunter hindurch getaucht.
Er zerstörte die Tapete bis auf den Putz, bevor er selbst in Trümmer fiel.
Miriam antworte mit einem Schlag der flachen Hand, begleitet von panischen, unkontrollierten Geschrei. Gotthardt zog ihr den Handrücken über die Lippen.
Sie stolperte durch die Tür, prallte gegen die Wand im Flur und sank daran hinab.
>>Ich hasse dich!<<, presste sie hervor. >>Ich bringe dich um, das schwöre ich.<<
>>Halts Maul<<, brüllte er und kam wieder auf sie zu.
>>Ist das alles, was du sagen kannst?<<, fragte sie verächtlich und wich zurück. Er beschleunigte seinen Schritt und versetzte ihr einen Tritt, dann einen weiteren Schlag. Sie wehrte sich nach Kräften, doch er ergriff ihre Handgelenke und schleuderte sie wieder mit aller Kraft in die Wand, die sie erst im letzten Sommer gemeinsam gestrichen hatten. Sie sank daran hinab. Das Blut, das aus der aufgeplatzen Lippe floss, bedeckte ihr Gesicht und den Morgenmantel. Gotthardt stand zwischen Flur und Zimmer, hin- und hergerissen zwischen maßlosem Zorn und Bestürzung über die Gegenwart.
Das Telefon klingelte.
Er eilte davon, Kopf und Schultern hängend.
>>Wer ist da?<<, sagte er leise in den Apparat.
>>Ich.<<, meldete sich die Stimme ihres Sohnes. >>Also ich wollte nur kurz anrufen, dass ich wahrscheinlich das Wochenende eher nicht komme, höchstens mal ganz kurz, wenn ich was für die Uni holen muss, ich bin wahnsinnig im Lernstress, wisst ihr, also wundert euch nicht, wenn ich bloß in mein Zimmer gehe und dann gleich wieder weg bin, ja?<< Gotthardt holte lange und tief Luft.
>>Höre mir jetzt gut zu.<<, sagte er. >>Hörst du?<<
>>Mhm.<<
>>Gut.<<, fuhr Gotthardt fort. >>Du, mein Sohn, bist ein kleiner, erbärmlicher und verachtenswerter Verbrecher mit einer illegalen Waffe. Mord oder Drogengeld?<< Eine Pause entstand.
>>Äh - soll das ein komischer Scherz sein, Mann, so Welttag-der-Verarschung oder so ne Scheiße?<< Er setzte noch ein schlecht gespieltes Kichern dazu.
>>Nein.<<, erwiderte Gotthardt kalt. >>Komm jetzt auf der Stelle hier her und wir werden das bereden. Auf der Stelle, hörst du? Zu keinem ein Wort - das bleibt in der Familie.<<
>>Okay.<<, sagte er und klang bestürzt. >>Ich komme sofort.<< Es wurde aufgelegt. Gotthardt sank entkräftet in sein Sofa und überlegte, den Fernseher einzuschalten.
>>Ich hatte dir etwas geschworen.<<, hörte er Miriams Stimme. Er drehte den Kopf und sah sie am oberen Ende der Treppe stehen, den Morgenmantel mehr als nächlässig offen stehend, die nackte Haut darunter von Blut überströmt, ebenso das Gesicht.
>>Ich hatte geschworen, dich umzubringen.<<
Und ohne weitere Diskussion brachte sie den Revolver in den Anschlag und erschoss ihren Mann mit einem gezielten Schuss in die Stirn.
Dreifacher Mord enthüllt Familiendrama - Frau tötet Ehemann und Sohn.
*****: Im bayrischen ***** hat eine 36-Jährige Frau am Mittwochabend dieser Woche mit einem Revolver ihren 39-Jährigen Ehemann und ihren 16-jährigen Sohn zwischen 17:00 und 18:30 getötet. Das Tatmotiv ist bislang unklar. Im oberen Stockwerk des Einfamilien-Hauses wurde jedoch eine Tasche mit mehreren zehntausend Euro gefunden, Experten gehen von Erbstreitigkeiten oder Schwarzgeldgeschäften aus. Wie die nicht angemeldete Waffe in die Hände der Familie geriet, ist noch unklar. Das vierte Familienmitglied, die 7-jährige Sarah, die zur Tatzeit bei einer Freundin zum Abendessen eingeladen war, wird psychologisch betreut. Tatzeugen gab es nicht. Nachbarn hatten wiederholt Lärm, Geschrei und schließlich die Schüsse gehört und die Polizei verständigt.
Der Tathergang selbst ist noch unklar.
Es war in dem Sommer, in dem ich endlich als Prospect bei den Angels untergekommen war.
Insgesamt war es eine eher ruhigere Zeit, ich hatte mich besser im Griff, gab nicht jedem gleich aufs Maul, wenn er nicht aufpasste, was er sagte. Aber damals, als ich endlich die Prospect-Jacke tragen durfte, musste es einfach sein. Es war an einem schönen Abend, den ganzen Tag war schon nicht viel im Clubhaus losgewesen, und so zogen wir halt mal wieder um die Häuser, wie in alten Zeiten. Dabei haben wir auch ein oder zwei gehoben, vielleicht auch ein oder zwei zu viel. Jedenfalls hatten wir irgendjemand ein bisschen verschreckt, vielleicht war auch ein wenig Absicht im Spiel, und dieser jemand rief irgenwann gegen halb zwölf die Bullen. Die kamen wegen der Ruhestörung, auch wenn wir eigentlich schon dabei waren, wieder einzupacken, klingelten an der Tür und wollten rein. Irgendwer hat den einen Bullen vielleicht schief angesehen, vielleicht war der aber auch high, jedenfalls packte der ohne Umwege seinen Taser aus. Marc hat er echt fies erwischt, der lag schreiend auf dem Boden und konnte erst mal überhaupt nichts mehr. Ist doch klar, dass man da ein wenig laut wird, wenn irgendeiner daherkommt und deinem Kumpel einen Elektroschock verpasst?
Aber dann, zwei Tage später kam das Schreiben vom Gericht, Beleidigung stand da unter anderem. Es war klar, dass man mit nichts anderem als einer Verurteilung rechnen konnte. Das Dumme war, der Richter kannte mich noch von früher – das war vor gut fünf Jahren, als sie mich ein paar Mal wegen Diebstahl und Trunkenheit gekriegt hatten – und fand es wohl eine gute Idee, die ohnehin schon völlig unangemessene Geldstrafe zum Teil in Sozialstunden umzuwandeln. Fragen Sie mich nicht, ob das einfach geht, doch ich habe im Gericht niemanden getroffen, der mit das Gegenteil belegt hätte.
Normalerweise wäre es ja keine große Sache geworden; kleiner Eintrag ins Vorstrafenregistern, bisschen Knete abdrücken, gut, die Sache ist gegessen. Vielleicht noch dem Vogel einen Besuch abstatten, der die Bulle überhaupt erst angerufen hatte.
So aber musste ich mich zum 29.07. um halb acht in diese Straße aufmachen. Man hatte mir gesagt, ich solle irgendwelchen Altenpflegern behilflich sein. Scheiße von irgendwelchen Omas aufwischen, die zu blöd zum Kacken sind? Na dann, gute Nacht!
Es war ein sonniger, schon ziemlich warmer und klarer Sommermorgen. Ich lenkte meine Maschine in die engen Straßen des Bezirks, in dem die Adresse liegen sollte. Ich war ein bisschen spät, deshalb drückte ich auf die Tube. Wundervolles Geräusch, das so ein Motor macht, besonders in engen Straßen. Ich konnte die Fenster regelrecht zittern sehen.
Ich kam also gerade noch rechtzeitig an. Noch war keiner da, es war auch noch drei Minuten vor halb. Genug Zeit, dachte ich mir, parkte meine Maschine ordentlich an den Bürgersteig und steckte mir erst mal eine Zigarette an. Als ich so auf der verlassenen Straße stand, um mich wahrscheinlich lauter Häuser, die von Leuten bewohnt wurden, die sich nicht mehr vor die Haustür trauten, rauchte und ein wenig mein Leben verfluchte, bog plötzlich dieses Auto um die Ecke, weiß, darauf die Aufschrift des Vereins, dem es gehörte. „Herbst des Lebens – Seniorenresidenz mit Anspruch", stand darauf. Ah, solche waren das. Wie viel Umsatz so ein Unternehmen wohl machte? Ich weiß nicht, warum, aber ich konnte einfach nicht glauben, dass man in dem Geschäft besonders reich werden konnte.
Eine Puppe stieg aus, mittleren Alters, schon etwas stark um die Hüften und mit komischer Frisur. Sie sah mich erst einmal gar nicht an, sondern tapste nur einmal um den Wagen rum, hatte wohl etwas im Kofferraum vergessen. Ich brauchte sie nur zu sehen und wusste schon, was das für eine war. So eine, die sich wünschte, man würde sofort wieder verschwinden, so eine, die jedes Wort, dass sie an einen Zwangsarbeiter wie mich richtet, schon für verschwendet hält.
„Morgen.", wünschte ich, will ja keinen ganz schlechten Start.
„Sie sind der Sozialstundler?, fragt sie nur.
„Ähm, ja.", entgegnete ich. Sozialstundler, so dachte ich, wird so etwas in der Art sein wie einer, der eben Sozialstunden zu leisten hat.
„Guten Morgen. Also, wir fangen jetzt mit Frau Mahr an.", erklärte die Frau aus dem Wagen. „Sie ist kein echter Pflegefall, kommt aber mit einigen Dingen im Alltag nicht mehr ganz allein zurecht. Ich denke, das dürfte für Sie noch ganz erträglich sein."
„Erträglich?", fragte ich.
„Exakt. Wenn Sie täglich sehen würden, was ich sehe, wüssten Sie, was ich meine."
„Schon möglich.", erwiderte ich. Dann klingelte sie an der Tür. „Was sehen Sie denn täglich so?", frage ich weiter. Ich dachte, wenn ich ein wenig Interesse vorschiebe, würden wir besser ins Gespräch kommen.
„Bitte", wehrte sie ab, „das möchten sie gar nicht wissen."
„Schön möglich.", erwiderte ich erneut. Dann eben nicht. Ein elektronischer Türöffner meldete sich, die Frau drückte die Tür auf.
„Wie heißen Sie eigentlich?", fragte ich weiter.
„Frau Weiler", antwortete sie.
„Ich bin der Simon.“
Sie strafte mich, indem sie schwieg. Die Wohnung war ganz hübsch, ein wenig altmodisch das ganze, viele antik aussehende Schränke und Möbelstücke, außerdem wahnsinnig viele Bücher überall. Ob sich Bargeld im Haus befinden könnte? Alte Leute vertrauten doch oft den Banken nicht...
,,Zwei Regeln:“, setzte die Weiler wieder an. ,,Erstens, tun Sie nicht alles, was die Alten sagen, aber sagen Sie das unter gar keinen Umständen, schon gar nicht ihnen selbst. Zweitens, rauchen Sie nicht in der Wohnung. Guten Morgen, Frau Mahr!“, rief sie dann, noch bevor ich auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte. Sie eilte auf ihren stämmigen Beinen davon und öffnete eine Tür. Dahinter, an einem hübschen Tisch aus irgendeinem rötlich aussehendem Holz, saß sie. Im ersten Moment fragte ich mich, wie man eigentlich so alt aussehen konnte. Sie hatte Falten, tief wie der Grand Canyon, und zitterte ein wenig, als sie nur die Kaffeetasse an den zartrosa geschminkten Mund führte. Als ich näher trete, erkenne ich, dass sie nicht nur Lippenstift aufgetragen hatte, auch um die Augen hatte sie ein wenig Make-up. Warum sich so eine alte Schabracke noch so aufbrezelt, fragte ich mich, sie wird doch sowieso keinen mehr abkriegen.
„Guten Morgen!“, wiederholte die Weiler, lauter als zuvor.
„Ich habe Sie sehr gut beim ersten Mal verstanden, danke!“, erwiderte die Alte in strengem Tonfall. Die Weiler wirkt ein wenig irritiert.
„Das ist ja schön. Frau Mahr, heute ist noch jemand dabei, ein... Helfer. Sein Name ist Simon. Simon, das ist Frau Mahr!“
,,Guten Morgen.“, sagte ich, so artig wie ein kleiner Junge. Sie zeigte keine Reaktion.
„Sie hört nicht mehr so gut.“, zischte mir die Weiler zu, „Sie müssen lauter mit ihre reden.“ Im Mundwinkel der Alten zuckte es.
„Ich fange dann mal oben mit dem Bett an, wenn das in Ordnung ist“, richtete sie sich dann wieder an die Alte, in rufender Lautstärke.
„Ja, tun Sie das!“, entgegnete die Alte schneidend. „Danach können Sie gleich noch im Bad weitermachen.“ Die Weiler nickte eifrig.
„Werde ich tun.“ Mit diesen Worten verschwand sie nach oben. Mich ließ sie einfach mit der Alten allein, vielleicht dachte sie ja, ich würde ohnehin nur im Weg herumstehen.
„Der Simon wird ihnen mit allen anderen Dingen behilflich sein, die sie jetzt noch benötigen könnten.“, rief Weiler noch, während sie schon die Treppen hinaufschnaufte. Ich stand ein wenig belämmert alleine im Raum.
„Brauchen sie etwas?“, überwand ich mich nach einer Weile zu rufen.
„Bitte“, erwiderte sie, plötzlich in völlig normaler Lautstärke, „brüllen Sie nicht mehr so, diese Maskerade ist jetzt nicht mehr notwendig. Ich bin höchstens genau so schwerhörig, wie Sie es sind. Und, wie ich meine, auch in etwa so schwachsinnig." Nun, so etwas hört man nicht alle Tage. Ich sah sie erstaunt an.
„Was soll das heißen?", fragte ich. „Sie... verarschen die Weiler?“
„So könnte man das sagen. Doch, mir scheint, ich war zu Beginn unserer Bekanntschaft ein wenig unfreundlich. Darf ich ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“ Was, dachte ich, was soll das werden?
„Ähm – ja gern.“
„Dann muss ich Sie allerdings leider für einen Moment bemühen. Die Tassen stehen hinter ihnen im Schrank." Erst jetzt bemerkte ich, dass die Alte in einem Stuhl auf Rollen saß. Aufstehen, um an einen hohen Schrank zu gelangen, das würde schwer werden. Ich stand also auf und suchte den Schrank. Tatsächlich, in dem einen großen, der an dieser Wand stand, fand sich Geschirr, darunter auch Tassen. Ich nahm eine, mitsamt Untertasse, und balancierte sie zum Tisch hinüber. Als ich mich setzte, lachte Frau Mahr kurz auf.
„Was ist so lustig?“, frage ich. Sie lacht noch ein wenig mehr, eine ganze Weile.
„Ich habe Ihnen Kaffee angeboten“, erklärte sie dann, immer noch lachend, „und Sie haben es geschafft, aus allem meinem Geschirr ausgerechnet eine unter lediglich fünf Teetassen auszuwählen, die ich noch hier oben aufbewahre.“ Ihr Lachen war so ehrlich und dabei so gar nicht spöttisch, das ich es ansteckend fand. Ich musste fast gegen meinen Willen mitlachen.
„Denken Sie, man kann trotzdem Kaffee daraus trinken?“
„Wissen Sie was? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. Bedienen Sie sich!“ Ich zuckte die Achseln und goss mir Kaffee ein. Frau Mahr hatte eine schöne, ziemlich alt wirkende Kaffekanne aus Porzellan, nicht so ein Plastikteil, wie man sie sonst immer sah.
„Darf ich ihnen auch noch eine Tasse?“, fragte ich. Die Worte kamen ganz von selbst.
„Oh ja, gern. Milch oder Zucker steht beides vor Ihnen.“ Ich goss ihr ein. Nachdem wir beide Milch und sie noch ein Stück Zucker genommen hatte, tranken wir.
„Nun - es genießbar aus dieser Tasse?“, fragte sie mich dann, schon wieder den Schalk in den Augen. Ich machte eine Show daraus, einen Schluck zu nehmen, ihn im Mund hin- und herzubewegen und dabei genießerisch das Gesicht zu verziehen.
,,Es lässt sich ertragen“, antwortete ich dann. Wir mussten beide darüber lachen.
„Wäre es wohl allzu kühn zu fragen, aus welchem Grund Sie ausgerechnet heute hier sind?“
„Oh, ich, ähm... Ich bin sozusagen zeitweise hier.“
„Eine Art Praktikum?“ Sie wirkte so amüsiert, dass ich gleich wusste, dass sie es mir nicht abgekauft hatte. „Nun kommen Sie schon – wem sollte jemand wie ich es auch weitersagen?“
„Also gut...“, räumte ich langsam ein. „Ich bin hier, weil der Richter mir Sozialstunden aufgebrummt hat.“
„Was haben Sie denn getan, dass man sie mit einer schrecklichen Alten wie mir einkerkern musste? Den Präsidenten der USA ermordet?“, scherzte sie.
„Ja, von wegen. Ein bisschen Ruhestörung. Und Beleidigung.“
„Sonst nichts?“
„Was soll das heißen, sonst nichts?“
„Ach, ich dachte nur...“, meint sie, offenbar höchst vergnügt über mich und meine Lage. ,,Als sie hereinkamen, dachte ich mir, sie wären eine Cowboy, mit ihren Stiefeln und der Lederweste!"
,,Ein Cowboy? Dann wären Sie aber.... hm, zumindest die Königin von irgendeinem schönen Land. Von England oder so.“
„Sie sind freilich ein arger Charmeuer!“
„Ein Chauffeuer? Wieso?“
„Ein Charmeuer!“
„Was soll das sein?“ Sie sah mich ein wenig erstaunt an.
,,Sie wissen doch, was Charme bedeutet. Lernt man denn heute kein Französisch mehr in der Schule?“
„Ich zumindes nicht. Aber ich weiß, was Charme bedeutet. Wollten Sie sagen, ich besitze viel Charme?“ Unvermittel brach sie wieder in ihr absichtsloses Gelächter aus.
„So könnten Sie das freilich sehen.“
„Dann ist ja gut.“
„Denken Sie, dass sie schnell im Kopf sind?“, fragte sie unvermittelt.
,,Wieso? Aber ich denke, ich bin nicht ganz dumm.“
„Gut. Dass der Körper nicht Ihr Problem ist, daran habe ich keinen Zweifel.“
„Warum ist das wichtig?“
„Das werden Sie nachher schon sehen.“ Ich beließ es dabei und schlürfte meinen Kaffee zu Ende.
„Haben Sie vielleicht noch was anderes im Haus? Pizza oder Bier oder so etwas?“
„Nun... mit Pizza kann ich leider nicht dienen. Meine Tochter hat etwas gegen Tiefkühlprodukte. Sie wissen ja gar nicht, was das auf einmal für eine Erleichterung für die Hausfrauen darstellte, damals, als das ganze noch neu war! Getränke stehen vielleicht noch irgendwo, aber ich kann keine Garantie dafür geben, dass sie noch frisch ist. Sofern so etwas überhaupt schlecht werden kann.“
„Ich sehe mich mal um“, entgegnete ich und machte mich auf den Weg, das Haus zu erkunden.
„Ach, wenn Sie schon dabei sind, suchen Sie doch nach meinen Whiskydrops!“, rief sie mir hinterher. „Keine Panik, die heißen nur so. Sie müsste aber auf dem Küchentisch sein!“
„Ich werde die Augen offen halten.“ Ich ging durch den ganzen unteren Stock und stieß auch auf die Küche, aber es sah dort nicht aus, als würde noch allzu oft gekocht. Im Kühlschrank jedenfalls stand nichts außer ein paar echt alt aussehenden Konservenbüchsen. Am Ende fand ich eigentlich gar nichts, außer den Whiskydrops, die auf ordentlich auf dem Tisch herumstanden. Probehalber steckte ich mir schon mal eines in den Mund.
„Abgesehen davon, dass sie überhaupt nicht nach Whisky schmecken, sind die Teile ganz gelungen.“, sagte ich, als ich wieder in das Kaffeezimmer kam. Niemand antwortete mir. Frau Mahr saß stocksteif auf ihrem Sitz, vor ihr stand die Weiler.
„Aha, da stecken Sie ja,“, begrüßte mich die Pflegerin. Den Putzlappen über die linke Schulter gehängt, starrte sie mich zornig an. Als ihr Blick auf die Dose in meinen Händen fällt, versucht sie energisch, sie mir zu entreißen. ,,Stellen Sie das auf der Stelle wieder hin! Entschuldigen Sie, Frau Mahr!“ Ich lasse sie die Bonbons nehmen.
„Gott, kann man Sie denn nicht mit der Dame alleine lassen?“ Ihr Blick sagt alles. „Wie auch immer, ich erkläre gerade, dass ich überraschenderweise weg muss, bei einem kompletten Pflegefall aushelfen, der ohne uns gar nicht mehr überleben kann. In allerspätestens einer halben Stunde bin ich zurück, haben Sie verstanden? Eine halbe Stunde!“ Sie stand komplett unter Stress, das ließ sich nicht übersehen, wahrscheinlich hatte sie deshalb auch keine Zeit mehr gehabt, mich weiter anzuscheißen.
,,Auf Wiedersehen", rief ich hinterher, als sie endlich davoneilt. Die Tür knallte. Frau Mahr saß schon wieder grinsend in ihrem Rollstuhl.
„Was sollte das denn? Sie hätte mir fast den Kopf abgeschlagen ihretwegen!“ Plötzlich wurde ihr Blick wieder leer und sie saß da, ohne eine Reaktion zu zeigen, wie zuvor, als die Weiler noch im Raum gewesen war. Mein Lachen erstarb. Ich konnte versuchen, was ich wollte, sie reagierte auf nichts mehr. Am Ende schnappte ich mir wieder die Dose mit den Whiskydrops und begann vor ihren Augen, einen nach dem anderen zu essen. Sie würde ihre Possen schon aufgeben!
Nach einer Weile wurde mir das ganze auch ein wenig unheimlich. Was war, wenn Sie mich gar nicht verarschen wollte? Vielleicht hatte sie irgend eineine Krankheit, die nur in Schüben auftrat?
„Frau Mahr.“, sagte ich, ,,geht es Ihnen gut? Hallo?“ Ihr Mundwinkel begann zu zittern. Sie riss die Augen auf. Ihre Hände verkrampften sich um den Rollstuhl. Ich verfiel komplett in Panik. Erst den Arzt anrufen und dann versuchen, sie wiederzubeleben? Wie ging das eigentlich? Brauchte sie nicht eher irgendwelche Medikamente? Stand vielleicht etwas auf dem Rollstuhl oder sonst wo?
Plötzlich entgleisten Frau Mahr die Gesichtszüge. Während ich noch hektisch im Raum hin und her eilte und nicht die geringste Ahnung hatte, was ich tun sollte, saß sie im Rollstuhl und – lachte mich aus!
„Wenn Sie ihr Gesicht gesehen hätten“, brachte sie unter ihren Lachkrämpfen hervor, „wenn sie es gehen hätten!“ Ich stutzte. Ein Scherz? Ein gottverdammter Scherz?
„Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“, rief ich, ein wenig erregt.
„Ha, sie klingen wie meine Tochter!“
„Tu ich das? Ich...“ Ich war doch keine verdammte Spaßbremse, aber erschreckt hatte sie mich doch. Während ich mich auf meinem Stuhl niederließ, beruhigte ich mich bereits wieder.
„Tun Sie das nie wieder!“, mahnte ich scherzhaft. Verarscht von einer alten Schachtel wie ihr!
„Vielleicht. Ach, junger Mann – wären Sie nun vielleicht so freundlich, mich zu meinem Spaziergang zu begleiten?“
„Selbstverständlich. Ach so, ich soll den Rollstuhl - “
„Ja, genau. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“ Sie war wie ein kleines Kind! Kaum war der eine Spaß vorbei, wandte sie sich schon der nächsten Angelegenheit zu.
„Nein, nein. Ich frage mich nur, ob Frau Weiler sich nicht wundern wird, wenn wir einfach weg sind, wenn sie wiederkommt.“
„Ach, woher – diesen Spaziergang mache ich jeden Tag um diese Uhrzeit! Sie selbst hätte mich geschoben, hätte sie nicht an einen anderen Ort eilen müssen. Darüber machen Sie sich mal keine Gedanken.“ Ich stand also auf und schob den Rollstuhl vor mir her. Ich glaube, auch wenn sie nicht drinnen gesessen hätte, wäre er kaum leichter gewesen. Sie war so dünn und ausgezehrt, dass ich es kaum glauben konnte.
„Wohin?“, fragte ich, als ich sie die Rampe an ihrer Haustür hinuntergeschoben hatte.
„Hmm.... fahren wir nach rechts. Dort ist der Stadtpark.“ Ich bog also nach rechts ab. Während ich den Rollstuhl mit einer Hand vor mir herdirigierte, steckte ich mir eine Zigarette an.
„Ach, mein Bester, wären Sie so spendabel?“ Ich glaube einen Moment, sie nicht ganz richtig verstanden zu haben.
„Sie rauchen?"
„Sie doch auch! Meine Tochter will mir keinen Tabak mehr kaufen, zu ungesund, sagt sie. Undankbares Pack, diese Kinder, so könnte man schon wieder schimpfen!“ Ich finde kein schlagendes Gegenargument und halte ihr also meine Schachtel hin. Sie nimmt sich eine Zigarette und lässt sich Feuer geben.
„Oh, dieser Genuss. Ich habe schon seit sicher einer Woche nicht mehr geraucht! Wie gesagt, meine Tochter bevormundet mich, wo Sie nur kann; vor allem, seitdem ihr Mann gestorben ist, aber ich habe meine eigenen Quellen.“ Sie zwinkerte mir verschmitzt zu. Ich war immer noch dabei, den kleinen Kulturschock zu verdauen.
„Ist das dort etwa ihr Motorrad?“, fragte sie neugierig, als wir an meiner Maschine vorbeikamen.
„Ja“, antwortete ich mit nicht geringem Stolz.
„Eine echte Harley...“ Sie klang plötzlich schwärmerisch. „Ich bin früher auch Motorrad gefahren, wissen Sie?“
„Wirklich?“ Mehr brachte ich nicht heraus, ich war zu überrascht.
„Ja. Nur ein klappriger Japaner, nachdem ich wieder nach Deutschland gekommen bin. Aber irgendwann hatte ich einfach nicht mehr genug Kraft, um mich hinter dem Lenker noch sicher zu fühlen, verstehen Sie, und musste es aufgeben... Wenn man sich in die Kurve legt, darf der Arm nicht anfangen, zu zittern.“
„Schon klar.“ Ihr Gesicht wurde mit einem Mal ernst.
„Woran denken Sie?“
„Ich? Woran soll ich – ach, sei es drum, ich denke an meine erste Motorradfahrt. Damals in Amerika, mit meinem Jackson... er hatte auch eine Harley-Davidson, wissen Sie?“
„Was taten Sie damals in Amerika?“
„Ich? Geflohen war ich, wie alle Ratten das sinkende Schiffe verlassen musste! 1938 wurde es mir hier endgültig zu heiß, mir und vielen anderen. Ich war eine Linke, wissen Sie? Keine echte Revolutionärin vielleicht, obwohl, ein bisschen schon. Aber eigentlich waren vor allem die Kreise stark links gerichtet, in denen ich während meiner Jugend verkehrte.“ Sie geriet ins Reden und vergaß fast völlig, mir den Weg zu weisen. Ich orientierte mich an Schildern, während ich lauschte.
,,Ich wurde in einer Zeit geboren, in der Deutschland einen Kaiser hatte, wissen Sie? Ja, das waren noch ganz andere Zeiten, die Aufmärsche, die Paraden, der militärische Tonfall, dessen man sich in der oberen Gesellschaft so gern bediente. Nicht übrigens, dass das auch nur halb so toll gewesen wäre, wie manche meiner Altersgenossen so gern tun! Es waren die gleichen Leute, die heute am stolzesten auf unsere wirtschaftliche Stellung in der Welt sind, die damals am lautestem dem Imperialismus huldigten!
Mein Vater war Unternehmer, er besaß eine große Maschinenfabrik. Wir waren reich, wirklich reich, natürlich vor allem auf Kosten anderer. Ich lernte viel Dinge in meinen jungen Jahren, Französisch, Klavierspielen und Handarbeit aller Art, solcherlei Dinge eben, mit denen Mädchen sich damals zu beschäftigen hatten. Mein Vater hegte sicher den Plan, mich eines Tages an irgendeine ,gute Partie", wie man so sagte, zu verheiraten, an einen anderen Kapitalisten oder einen Militär. Aber die Zeiten waren im Umbruch, und nicht mehr alles war für die Männer so einfach, wie es früher einmal gewesen sein mochte. Kurzum, ich rebellierte, ich war ein schlechtes, unverschämtes Kind, schlecht erzogen, von irgendwelchen Büchern war mir der Kopf verdreht worden. Mein Vater gab natürlich meiner Mutter die Schuld, und meine Mutter den Erziehern, und diese klagten über die Zeiten und den Verfall des Sitten, genau, wie sie es heute tun. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und setzte mich ab, in die nächste große Stadt. Mit einigen Umwegen gelangte ich am Ende in die Haupstadt, nach Berlin. Ich hatte kein Geld, viele Träume und romatische Vorstellungen im Hirn, und zu allem Überfluss laß ich noch ein wenig zu viel ,subversive Literatur'. Ich wurde zur Demokratin, Sozialistin und vielleicht noch ein bisschen zur Anarchistin, das war damals alles weniger getrennt, als die Wissenschaftler es gerne hätten. Ich verliebte mich in einen Jungen, der meine Überzeugungen teilte, und wir lebten für eine ganze Weile wild und zügellos in seiner Wohnung. Er war Künstler, Maler, aber keinesfalls so erfolgreich, dass er uns hätte allein dadurch versorgen können. Insgesamt war das ganze von kurzer Dauer und hätte keinen Erfolg haben können, selbst wenn ich geblieben wäre. Aber damals, nicht mal zwanzig, hatte ich schon größere Pläne, höhere Ziele vor Augen. Ich wurde KPD-Mitglied und schmiss mich einem radikalen Spartakisten an den Hals. Als dann der schreckliche Krieg losbrach, Deutschland gegen den Rest der Welt und unsere Leute sich vor bitterem Spott à la ,Wir hatten es ja gesagt' gegenseitig zu überbieten versuchen, kam ich zum ersten Mal in Kontakt mit den Russen. Über meinen Freund – übrigens, Sie ahnen ja kaum, was allein der Umstand, dass ich mit im in anderer als in ehelicher Beziehung zusammenlebte, damals für einen Aufstand verursacht hätte, wäre es publik geworden – erfuhr ich die ganzen Absichten der anderen Seite. Die Kriegsjahre waren hart, das stimmt, wirklich hart. Ich kann das sagen, ich lebte als praktisch besitzloses Mädchen in einem nicht wirklich schönen Stadtviertel, um mich das ständige Gerangel unserer Leute mit dem Staat. Nun, am Ende, als die Revolutionäre den Kaiser endlich im hohen Bogen aus seinem Schloss warfen, konnte ich eigentlich nur denken, dass das doch von Anfang an hätte klar sein müssen. Das war der erste Moment seit meinem Ausriss, dass ich mir wünschte, mit meinem Vater reden zu können. Nicht etwa aus Heimweh oder weil ich mich geschämt hätte. Eigentlich wollte ich ihm nur unter die Nase reiben, wie Recht ich doch die ganze Zeit gehabt hatte.
Nun, ein wenig verschätzt hatte ich mich dann doch. Im Gegensatz zu dem, was ich kurz nach Kriegsende geglaubt hatte, entwickelte sich die Wirklichkeit. Dieser dumme, lächerliche, einfach nur männliche Militarismus erhielt vielleicht einen Dämpfer, aber als ein gewisser Herr mit einem gewissen, lächerlichen Bart sein unausgegorenes Geschwätz zu verbreiten begann, schlugen alle Säbelrassler-Herzen schnell wieder höher. Ich half meinen lieben kleinen Umstürzlern nach Kräften bei ihren Vorbereitung auf die Revolution – schauen Sie nicht so, wir Roten hatten zuerst die Idee, in Deutschland einen Umsturz durchzuführen – aber die SA hatte ähnlich starke Unterstützer wie unsere Jungs. In den letzten Tagen der Republik gab es quasi täglich Tote. Am Ende, so wage ich zu behaupten, war es nichts als reines Glück, dass sie uns zuvorkamen und sich alle Möglichkeiten sicherten, uns als ihre politischen Gegner mit staatlicher Gewalt zu vernichten. Wie gesagt, 1938 bin ich dann raus aus Deutschland. Ich hatte genug von diesem albernen, militaristischen und lächerlich folkloristischen Land und den ganzen Menschen, die ihrer Heimat nur allzu angemessen waren! Ich fuhr mit dem Schiffe nach Amerika, alles hinter mir zurücklassend. Mit den Ideen des Marxismux hatte ich innerlich schon gebrochen, seitdem ich die Wirklichkeit der Revolutionäre und der Stalinisten auf der anderen Seite kennengelernt hatte. Ich floh in den Westen, in das Land, von dem man immer noch sagte, jeder könne dort sein Glück machen. Ich versuchte genau das, arbeitete eine Weile für eine Zeitung – für eine, die in französischer Sprache erschien, für alle Leute, die kein Amerikanisch konnten, so wie ich zu dieser Zeit - dann als Verkäuferin in einer Bäckerei und einmal sogar als Photografin für irgendein Bauunternehmen. Aber immer lebte ich gerade am Minimum der Existenz, knapp über der Armut. Nachdem das einige Jahre so gegangen war, ging ich den gleichen Weg wie so viele junge Mädchen damals, und heiratete meinen Jackson. Er war Offizier bei der Army, und wie so viele Soldaten war auch er in Erwartung eines baldigen Krieges mehr als scharf darauf, sich noch schnell zu verheiraten. Immerhin, zwei glückliche Monate verbrachten wir miteinander, er brachte mir Motorradfahren bei und Biertrinken, und ich lehrte in das Rauchen nach kommunistischer Art, wie er immer sagte, weil ich mir aus dem Resten, die immer an den Filtern hängen blieben, von Zeit zu Zeit eine neue Zigarette drehte. Zwei Monate, dann kam der Marschbefehl für ihn, und er verabschiedete sich, ließ mich schwanger in dem Haus zurück, dass er für uns in New York gekauft hatte. Das Dumme an der Geschichte ist freilich, dass er gleich im ersten Gefecht fiel, in das er geriet, in der Normandie. Ja, ich habe eine ganze Weile um ihn geweint, habe mich gefragt, was denn werden sollte mit mir und dem Kind. Bedenken Sie, ich war noch immer keine Vierzig, aber einen festen Plan, was denn aus meinem Leben werden sollte, hatte ich noch immer nicht. Oh, wie viel könnte ich ihnen noch erzählen, von mir und meiner Tochter und allen anderen Dingen, die ich noch erlebte. Irgendwann kam ich nach Deutschland zurück, in den sechzigern, als noch alle Welt vor dem Land zitterte, in dem die rote Revolution erfolgreich gewesen war. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich war schon lange keine Kommunistin mehr. Überhaupt hatte ich der ganzen Politik den Rücken gekehrt. Am Ende hat doch alles, was wir tun, keinen Zweck. Ich lebte von der Witwenrente, die mein Mann mir wenigstens noch gesichert hatte. Nachdem ich meine Tochter großgezogen und sie in die Welt entlassen hatte, blieb ich allein in meinem Haus, aus dem Sie mich soeben geschoben haben. Und ich rede zuviel, sehen Sie? Meine Zigarette ist ausgegangen!“ Ich hatte meine schon längst weggeworfen und gab ihr erneut Feuer.
„Danke. Sehen Sie, unser ganzes Leben ist letztendlich wie dieser Zigarette: Es kommt manchmal unversehens, hat einen feurigen Anfang und ist manchmal zu stark für uns, manchmal auch nicht. Das Ende ist von Anfang an klar, und je näher man ihm kommt und es hinauszögert, desto weniger Freude hat man daran. Und wenn es dann einmal fertig ist, kann man erkennen, dass es nur eines ist unter so vielen, die schon da waren, und ebenso vielen, die noch folgen werden.Ist dann noch ein wenig Zeit vergangen, erinnert sich schließlich keiner mehr daran, auch wenn es im Moment vielleicht bedeutend erschienen ist.
In letzter Konsequenz bleibt nichts davon übrig als Rauch und ein paar Abfälle.“ Frau Mahr warf ihren Zigarettenstummel in einen Gully.
„Da vorn ist schon der Stadtpark“, war alles, das ich in dem Moment herausbrachte.
„Richtig“, bemerkte sie, bevor sie fortfuhr. „Ich denke, wenn man das einmal erkannt hat, gibt es auch gar keinen Grund mehr, sich zu fürchten oder böse und giftig zu werden! Mir ist niemand mehr geblieben von denen, die mir früher einmal wichtig waren, abgesehen von einer Tochter, die mir ständig Vorwürfe macht. Ja, ich habe viele Fehler gemacht, die ich hier nicht erwähnt habe, aber ich habe auch viel Glück erlebt. Am Ende hält sich doch immer alles die Waage, am Ende bleibt nichts als Rauch. Wie viele Leute in meinem Alter gibt es, denen nichts besseres einfällt, als in früheren Tagen zu schwelgen und das jetzige und das frühere Leben z verfluchen, in denen man nichts erreicht hat? Nichts als Rauch bleibt von uns.
Doch wer würde sich darüber aufregen, dass die Zigarette letzten Endes immer weg ist? Es ist ein kleines, unbedeutendes Ding, von dem es noch unendlich viele andere geben wird, für einen kurzen Moment vielleicht wichtig, dann aber verschwunden, vergessen und in Rauch aufgelöst.“ Unterdessen waren wir in den Stadtpark eingebogen.
„Sehen Sie doch, wie das Laub leuchtet, wenn die Sonne direkt von oben hinabscheint!“ Freudig zeigte mir die alte Dame mit ausgestrecktem Finger, was sie meinte, und noch viele andere Dinge in dieser Art gab sie von sich. Insgesamt aber herrschte für kurze Zeit Schweigen, kein totes Schweigen, als hätte man sich nichts mehr zu sagen, eher ein gesundes, erhohlsames Schweigen für ein oder zwei Minuten. Ich schob den Rollstuhl die kleine Anhöhe in der Mitte des Parks hinauf, auf der sie ein Kaffee gebaut haben.
„Nehmen wir ein Tässchen?“, fragte sie, als sie die Menschen im Kaffee sitzen sah, und ich nahm gern an.
„Mir scheint“, sagte ich, als wir die Bestellungen aufgegeben hatten, „dass Sie in Ihrer Jugend eine ganz schön umtriebige Idealistin gewesen sind. Und nicht gerade die prüdeste." Die Antwort bestand aus einem herzlichen Lachen.
„Warum denken die jungen Leute von heute eigentlich immer, sie hätten die Sexualität erfunden? Aber Sie haben Recht, ich war idealistisch, nur ist diese Idealistin an der Wirklichkeit zerbrochen, und am Ende blieb doch nur das harmlose, gewöhnliche, wundervolle Leben, das ich bis dato immer ein wenig verachtet hatte, auch wenn ich meine Meinung natürlich irgendwann geändert habe. Denn am Ende bleibt doch nichts als als Rauch. Warum dann versuchen, die Welt zu verändern?“
„Ja“, antwortete ich, „warum eigentlich?“
Da wäre zum Beispiel noch diese Geschichte von dem Seniorentreff.
Es existiert ein Papier, das vom „Herbst des Lebens“ herausgegeben wurde - Sie erinnnern sich, dieser Verein, für den die Weiler arbeitete.
„Vermeidung von sozialer Armut im Alter“, das war der Titel. Es ging darum, alte Leute, denen das soziale Umfeld sozusagen weggestorben war, wieder in eine Gemeinschaft zu integrieren. Das wollte man durchsetzen, indem man die oftmals geistig schon stark im Abbau begriffenen Senioren in einen Raum karrte, wo sie dann zusammen fernsehen, Karten spielen oder sich unterhalten sollten.
Und auch Frau Mahr war von der Weile vor einer Weile dorthin geschleppt worden.
„Ist auch ein bisschen doof, wenn man in so einem Stuhl sitzt und davon abhängt, wer einen da- und dorthin fährt, nicht wahr?“, fragte ich, ein wenig stichelig, als sie mir davon erzählt hatte.
„Machen Sie nur die Witze! Sie müssen es ja nicht stundenlang mit einem Haufen langweiliger alter Leute aushalten, die nur noch an Essen und Schlafen und ihre nächste Knieoperation denken können!“
„Sie sind auch alt“, gab ich zu bedenken.
„Ja, aber ich habe mich innerlich noch lange nicht damit abgefunden. Ich kämpfe sozusagen dagegen an!“ Es war zwar mehr als Scherz gemeint, aber den funkenartig in ihren Augen aufblitzenden Stolz sah ich trotzdem.
„Und das ist jeden Dienstag und Donnerstag?“
„Sie haben den Sonntag vergessen, mein Lieber“, erinnerte sie mich.
„Ja, natürlich, aber der war ja erst. Bliebt also der Dienstag als nächster Termin?“
„Sehr richtig.“
„Und heute ist Dienstag?“
„Freilich. Gestern war schließlich Montag.“
„Sie könnten Recht haben. Also müssten wir heute da hin?“
„Müssen, nicht müssten! Frau Weiler wird einen riesigen Aufstand machen.“
„Ach, die Weiler – sagen Sie doch einfach, dass es ihnen heute nicht so gut geht, und die Sache ist gegessen.“
„Dann wird sie sagen, dass es schon besser wird, wenn ich mich einmal wieder gut unterhalte, und wenn ich dann noch darauf beharre, holt sie eben den Doktor. Und der wird mir nur noch ein, zwei weitere Medikamente auf die Liste schreiben und das war es. Sehen Sie es ein, wir müssen.“
„Ich glaube, es ist ihnen gar nicht so ernst ist. So schlimm finden Sie es doch nicht dort...“
„Ich bitte Sie! Das ist ein Haufe alter, langweiliger...“
„Ja, ich habe verstanden. Dann trinken wir jetzt noch den Kaffee zu Ende und ich schiebe sie dann in diese Hütte.“
Die Treffen fanden in einem Raum im Gemeindehaus statt, den ich noch gut in Erinnerung hatte, weil ich ihn einmal gestrichen hatte, natürlich ebenfalls als Sozialarbeit. Ja, als Büßer erlebt man die tollsten Sachen.
Wir waren genau verfahren, wie ich es gesagt hatte. Um Punkt elf Uhr verließen wir das Haus und bogen in Richtung der Hauptstraße ab. Das Gemeindehaus befand sich in einem ganz anderen Stadteil, aber Frau Mahr hatte darauf bestanden, das gute Wetter auszunutzen und zu laufen, anstatt ein Taxi zu rufen.
„Ja, es wäre schon eine Versuchung, noch einmal auf ein Motorrad zu steigen“, hatte sie auf einen entsprechenden Vorschlag von mir erwidert, „aber es hat eben doch einen Nachteil: Der Rollstuhl lässt sich so schlecht transportieren.“ So mussten wir also zu Fuß gehen, oder besser gesagt, ich ging zu Fuß und schob Frau Mahr vor mir her, die glücklich über das Wetter, die Vögel und die schönen, vorbeifahrenden Autos sprach.
„Wissen Sie, was früher einmal das teuerste Auto der Welt war?“
„Nein“, erwiderte ich.
„Ein Rolls-Royce. Habe ich schon einmal die Geschichte erzählt, wie ich zu einer Fahrt in einem solchen Wägelchen gekommen bin?“
„Nein.“ Ihr Blick bekam etwas Träumerisches.
„Es war während der Zeit in New York“, erzählte sie, „ich kam gerade die Straße runtergelaufen. Ich war vollkommen am Boden zerstört. Gerade hatte ich wieder eine Stelle verloren. Es war immer das gleiche, immer sagte man bei meine Anblick, trotz meines schlechten Englischs zu, es für einige Zeit zu versuchen, aber sobald ich eine Festanstellung auch nur andeutete, fanden sich plötzlich hundert Gründe, warum man mich leider, leider nicht behalten könne, obwohl man es sich so wünschen würde. Ich lernte das bösartige, ungnädige Gesicht des Kapitalimus am eigenen Leib kennen. Dabei hatte ich mich dieses Mal so bemüht, hatte mich von meinem Freund getrennt im Wissen, dass eine alleinstehende Frau sich besser vermitteln ließe. Ich hatte sogar ansatzweise meinen Chef becirct, lachen Sie doch nicht so! Es waren harte Zeiten, und es wurde mit harten Bandagen um die Arbeit gerungen! Aber er wollte nicht, lehnt mich ab, wie ich mir selbst sagte. War ich schon zu alt? Ja, es gab viele Jüngere als mich, wirklich. Ich hätte, so dachte ich damals, natürlich auch Pläne machen können, wie ich beispielsweise jemanden ankreiden könnte, der festangestellt war, jemand, der eine unentbehrliche Arbeit tat, für die man mich dann sogleich einstellen musste. Aber war das gerecht, hatte ich in irgendeiner Weise mehr Anspruch darauf, Geld zu verdienen als andere? Ja, da gab es auch Mütter und Großmütter und Väter, Leute, die eine Familie versorgen musste, anders als ich, die in dieser Hinsicht immer Glück gehabt hatte. Meine Gefühle und Gedanken waren völlig durcheinander, während ich so an mich und meinen Freund und den Chef und alles andere dachte, ich kam nicht zur Ruhe. Ich saß da, einsam auf einer Parkbank, und mein ganzes Leben kam mir so klein und widerlich und bedeutungslos vor. Keines meiner alten, idealistischen Ziele war erreicht, aber Geld oder eine Familie hatte ich auch nicht. Nichts hatte ich! Und während ich so saß und die Leute durch den Park an mir vorbeihasten sah, wurde mir klar, dass ich eigentlich Recht hatte. Sie hatten genauso wenig Anspruch auf das Glück wie ich, und sie wurden von der gleichen Begierde getrieben, es zu erlangen. Es gibt keinen Zweck hinter diesen Leben, so dachte ich weiter, unsere Leben sind wirklich so bedeutungslos, wie es mir in dieser Sekunde vorkam. Und andererseits auch wieder unbezahlbar, unaufwiegbar! Wenn es überhaupt ein Glück gibt, dann ist es dasjenige, das wir uns selbst nehmen. Mit diesen Gedanken in meinem Schädel stand ich auf, ganz beseelt, ging die Straße hinunter, kaufte unterwegs eine Packung Zigaretten und setzte mich dann in ein Kaffee, mit der festen Absicht, noch heute das Glück zu finden, dass Gott mir zuteil werden ließ. Oder aber, es mir eben selbst zu nehmen.
Von mir aus können Sie es Zufall nennen oder eine Fügung des Schicksals, aber ich werde dabei bleiben, dass meine eigene kleine, für mich so unendlich große Entscheidung eine Rolle gespielt hat, als ich ihn kennenlernte. Er stieg aus diesem Rolls-Royce, ein junger, adretter Mann mit pomadisiertem Haar, Mantel und Anzug. Er trug eine Sonnebrille, genau wie ich, und als ich ihn anlächelte, nickte er mir zu. Er ging ins Kaffee, bestellte etwas an der Theke, als hätte er nicht viel Zeit, und kam wieder nach draußen.
„Ihr Wagen?“, rief ich vorbei, als er an mir vorbeikam. Er sah sich um, als wüsste er nicht ganz, wer gesprochen hatte. Dann sah er, dass ich es war.
„Sieht gut aus, nicht wahr?“, erwiderte er.
„Aber sicher.“
„Ist bloß leider nicht meiner.“ Er zuckte die Achseln.
„Wem gehört er denn?“, fragte ich.
„Meinem Onkel. Er verkauft die Teile.“
„Interessant!“
„Ja...“ Er war einer dieser Männer, gutaussehend, von gutem Auftreten und den Anschein erweckend, noch mehr Geld zu haben, als sie zeigten, von denen damals beinahe alle Frauen träumten. Er war kein ganz junger Spund mehr, aber war immer noch von der jugendlichen Kraft umgeben, die einen Mann mit seinen Eigenschaften noch zusätzlich attraktiv macht. Ja, er hätte wahrscheinlich die meisten Frauen in dem Kaffee haben können, aber er unterhielt sich nur mit mir. So schlecht und entmutigt ich mich zuvor gefühlt hatte, so sehr schwebte ich nun im siebten Himmel.
„Sehen Sie, da kommt schon ihr Kaffee“, sagte ich.
„Ja, stimmt.“, erwiderte er. „Ich hatte ja extra gesagt, dass ich nicht so viel Zeit hatte. Besten Dank!“ Er nahm seine Tasse von der Bedienung entgegen und bezahlte auch gleich.
„Erlauben Sie mir, sich neben ihnen niederzulassen?“, fragte er galant. Ich kicherte und nickte. Was nun kam, können Sie sich sicher vorstellen, das Geturtel und alles andere, was dazugehört. Ich erfuhr, dass er den Wagen für seinen Onkel von einem unzufriedenen Kunden abgeholt hatte, der einen kleinen Lackschaden entdeckt hatte, und plötzlich wollte er unbedingt, dass ich mitfuhr. Ich zierte mich ein bisschen, wie sich das gehört, aber innerlich hatte ich mich schon längst entschieden. Einen Kaffee und ein paar amerikanische Zigaretten später, bezahlte er für uns und wir stiegen in dieses wahnsinnige Auto. Der Motor schnurrte, der Wind umschmeichelte mich, und die ganze Zeit konnte wir reden.
„Eigentlich fahre ich ja gar kein Automobil“, erzählte er mir zum Beispiel, „eigentlich ziehe ich die Motorräder vor.“
„Haben Sie eines?“, fragte ich neugierig.
„Natürlich! Eine Harley-Davidson, um genau zu sein. Wunderschönes Gerät, wirklich.“
„Oh! Ich bin noch nie auf einem Motorrad gesessen, geschweige denn, eines gefahren!“
„Es ist das Schönste, das es auf der Welt überhaupt gibt“, schwor er, „dagegen ist selbst diese Kiste hier nichts.“ Und so ging es dann weiter, eines kam zum anderen, und so weiter und so fort. Er entführte mich in die Wildnis, auf die einsamen amerikanischen Highways, wir brausten manchmal stundenlang auf seinem Motorrad durch wundervolle Landschaften und hielten nur, wo es uns gefiel. Für einige Wochen ging das so, jede freie Minuten verbrachten wir zusammen. Ich glaubte, mein Glück gefunden zu haben, und ich sollte Recht behalten. Wir heirateten schnell, das war nötig, denn als Offzier bei der Army konnte das Leben in der damaligen Zeit schnellere Wendungen nehmen, als man es sich wünschen konnte. Zwei Monate waren wir glücklich zusammen, als sich unsere Befürchtungen bewahrheiteten, die USA in den Krieg eintraten und für Jackson und Millionen anderer der Marschbefehl kam.... Ich sollte ihn nicht wiedersehen.
Doch als er das Schiff bestiegen hatte, bemerkte ich, dass ich von ihm schwanger war.
Ja, an jenem Nachmittag hatte ich mein Glück gefunden, denn dadurch wurde mir meine größte Liebe, meine Tochter und lebenslange Versorgung zuteil. Ich sagte, wenn es ein Glück gibt, dann nur dasjenige, das man sich selbst nimmt. Und dabei bleibe ich.“ Ihre Erzählung endete. Wieder einmal hatte sie es geschafft, dass ich kein Wort mehr herausbrachte.
„Ja...“, fuhr sie schwelgerisch fort, „unsere Treffen von damals haben mich an etwas erinnert, an Lucky Strike und Mikrowellen, Tiefkühlpizza und all die wundevollen Dinge, die sie damals erfunden haben.“
„Ah“, antwortete ich, „ich denke, ich verstehe ihren Wink. Sehen Sie das dort drüben?“ Ich steuerte auf den Zebrastreifen zu, überquerte ihn und steuerte auf den kleinen Tabakladen zu.
„Damit Sie sich nicht immer bei mir durchschnorren müsse“, setze ich noch scherzhaft hinzu.
„Ach, Sie Allerliebster!“ Einige Leute schauten machten wirklich dämlichere Gesichter, ich meine, noch dämlichere, als sie sowieso schon machten, wenn ein Kerl in Prospect-Kutte eine Oma vor sich her schiebt. Als wir im Laden standen, wurde Frau Mahrs Blick schon wieder ein wenig verträumt.
„Ganz früher habe ich Chesterfields, dann Luckies geraucht“, erzählte sie, „aber mein Jackson hatte imme seine Camels, immer. Ja...“ Sie zögerte noch kurz, während der Tabakhändler sie mit etwas verwirrten Blicken musterte. Am Ende kaufte sie eine Schachtel Camels und gleich noch ein Feuerzeug dazu.
Bald danach erreichten wir das Gebäude, in dem der Seniorentreff stattfinden sollte. Wir kamen zwar ein wenig zu später, aber andererseits würden wir ja auch nicht so viel verpassen. Als ich die richtige Tür fand und öffnete und sah, was dahinterlag, fand ich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Eine Bande alter, faltiger, wortlos giftiger Menschen, die in den Fernseher starrte und den Eindruck machten, zumindest schon gedanklich in den Tod hinübergetreten zu sein. Frau Mahr stöhnte.
„Sehen Sie das?“, sagte sie, ohne auch nur die Stimme zu senken, „sehen Sie, was ich meine? Bitte, schieben Sie mich so weit wie möglich weg von denen, vielleicht dort hinten ans Fenster. Dieser Leute zu sehen, deprimiert mich!“ Ich tat, was sie verlangte und schob sie an ein niedriges Tischchen, das dort stand, um mich dann ihr gegenüber niedezulassen. Niemand unter den Anwesenden hatte auch nur mit einem Wimpernzucken bewiesen, dass er bemerkt hatte, dass wir angekommen waren. Ein wenig lustlos wühlte Frau Mahr in den Magazinen herum, die auf dem Tisch ausgestreut waren, doch offenbar trafen sie nicht so ganz ihren Geschmack. Sie sah aus dem Fenster. Gedankenverloren zündete sie sich eine Zigarette an. Ich blickte sie über den Rand meiner Zeitschrift – ich hatte mir eine von meinen Motorradmagazinen mitgebracht – vielleicht ein wenig scharf an.
„Ich denke nicht, dass Rauchen hier erlaubt ist.“
„Glauben Sie mir, junger Mann“, erwiderte sie, „das zu verbieten, haben schon ganz andere versucht. Ich denke, man sollte nicht zu sehr an Verbote glauben. Es gab eine Zeit, als in den USA Alkohol strengstens verboten war, aber gleichzeitig wurde Heroin als Medikament gegen Asthma und Kokain als Scherzmittel benutzt. Heute verteufeln sie das Rauchen. Wer weiß, was sie morgen verbieten?“ Ich musste schief grinsen.
„Erinnern Sie sich, warum ich zu ihnen gekommen bin? Ja? Ich denke, sie müssen mir nichts von Verboten erzählen.“ Mit diesen Worten und einem kurzen Blick zu den immer noch teilnahmslos vor ihrem Fernseher sitzenden Alten holte ich ebenfalls meine Schachtel heraus und steckte mir eine Zigarette an. Vorsorglich öffnete ich aber wenigstens das Fenster.
Ansonsten geschah nicht mehr viel. Irgendwann bewegte sich doch noch eine der Schein-Toten und fuhr mit ihren elektrischen Rollstuhl zu uns hinüber. Jedoch sagte sie kein Wort und schien insgesamt, als würde die schlafen. Irgendwann und überraschend begann aber doch noch eine Unterhaltung, zwischen zwei Männern, beide im Rollstuhl. Sie sprachen im breitesten Urdialekt, den man sich nur vorstellen konnte. Übersetzt, würde das Ganze etwa so lauten:
„Wenn ihr damals bloß die Ostfront gehalten hättet, die Ostfront, dann sage ich dir, wäre das alles nicht passiert!“ Während der eine zumindest in der Lage war, diese Ereignisse der Vergangeheit zuzuordnen, schien sich der andere geistig noch ganz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu befinden.
„Jetzt ist aber Ruhe, Wehrkraftzersetzer da drüben, was soll das? Haltet die Heimatfront, und der Westen ist besiegt. Rommel ist nach Frankreich beordert, dort gibt es für uns nur den Sieg! Und wenn wir Tommys und Amis endgültig abgefackelt haben, dann wird noch ein letztes Mal im Osten aufgeräumt. Die K3 wird es richten - das sage ich dir!“ Noch während der andere redete, war der andere schon eingefallen, sodass sie eine ganze Weile scheinbar völlig unabhänig voneinander plapperten.
„Der Generalfeldmarschall ist doch längst tot, hast du keinen Hörfunk gehört, was, hörst du nicht, die Westfront ist längst gefallen, der Feind steht schon am Rhein! Jeden Tag fallen mehr Bomben, und der Russe kommt!“
So redeten die beiden Herren miteinander.
„Wenn man bedenkt, dass sie beide jünger sind als ich...“, sagte Frau Mahr ein wenig resignierend. „Als der Krieg ausbrach, waren sie beide noch junge Männer.“
„Fragen Sie sich eigentlich manchmal, wie es heute mit ihrem Jackson stünde, wäre er nicht gefallen? Ich meine, wenn man so etwas sieht...“ Ich deutete unbestimmt in die Richtung der beiden, immer noch redenden Männer. Sie lächelte sanft.
„Vielleicht? Vielleicht auch nicht... Ich denke, es macht keinen Sinn, sich in solchen Gedankenwelten zu verlieren. Dort findet man keine Wahrheit und schon gar keinen Trost. Nur haufenweise Fragen, die sich nicht beantworten lassen...“ Ich wollte schon etwas einwenden, aber irgendwie, je länger ich diesen Gedanken innerlich auseinandernehmen wollte, um etwas darauf zu sagen, desto weniger konnte ich mich erinnern, wozu das eigentlich gut sein sollte. Wozu sollte man sich diese Dinge eigentlich fragen, ganz ernsthaft? Ich muss eine Weile ganz still herumgesessen haben, denn sie sah mich immer erwartungsvoller und auch amüsierter an, während sie in ihrem Rollstuhl saß und Rauchwolken ausstieß.
„Ist es denn nicht eigentlich mit allen Fragen so,“, erwiderte ich dann nach einer Weile. „mit allen Fragen, die von den großen Denkern in der Welt gestellt werden? Woher kommt die Welt, was ist der Sinn des Lebens und all dieses Zeug? Meinen Sie, es hat ganz einfach keinen Sinn, nach diesen Antworten zu suchen, einfach, weil sie – nicht da sind, und wir nur unglücklich werden, indem wir uns auf der Suche nach ihnen selbst zu quälen?“
„Ja.“, meinte Frau Mahr achselzuckend und blies ein wenig Rauch über den Tisch hinweg. „Denken Sie, man könnte hier irgendwo Kaffee bekommen?“
[Anmerkung des Verfassers zum Schluss]:
Noch manches erzählte mir Frau Mahr während der Zeit, in der ich meine Sozialstunden ableistete. Mit einiger Mühe gelang es uns beiden, die Weiler davon zu überzeugen, dass ich an keinem anderen Ort besser eingesetzt wäre, als an der Seite Frau Mahrs. Eine Weile dachte ich darüber nach, mein Leben zu ändern, ihren Weg bis zum Ende zu begleiten oder mich ganz der Tätigkeit zu widmen, alten Menschen allein dadurch zu helfen, ihnen ein offenes Ohr zu leihen. Doch wenn mich Frau Mahr in der kurzen Zeit eines gelehrt hat, dann ist es folgendes: Am Ende bleibt nichts als Rauch und ein paar Abfälle.
Warum sollten wir also irgendetwas ändern, solange wir nur glücklich sind?
Es war an einem gewöhnlichen, vielleicht etwas regnerischem Tag, als Professor Doktor Theodor Klang die Wahrheit fand.
Es verhielt sich weder so, dass er die Wahrheit über ein bestimmtes Thema erfahren oder herausgefunden hatte, noch wäre er über ein wissenschaftliches oder ein anderes Axiom gestolpert, dass einige Beachtung verdient hätte. Nach solchen kleinen, beinahe prosaischen Erfolgen zu streben, hatte Klang in den letzten Jahren beinahe aufgegeben. Wenn, dann hatte er sie nur verfolgt, um den eigenen Ruf nicht ganz verkommen zu lassen und sich selbst ein einigermaßen angenehmes Leben zu ermöglichen, wie es ihm für einen Akademiker seines Grades angemessen schien. Selbst die Vorlesungen in seinen beiden Fächern, die vielen Menschen für eine seltsame Kombination hielten, hatte er auf ein Minimum beschränkt.
Klang hatte in Philosophie und Mathematik promoviert und hatte für ersteres auch eine Professur inne. Der Grund, dass er sich nach einem abgeschlossenen Philosophiestudium noch der Mathematik zugewandt hatte, war der, dass er zu der Erkenntnis gelangt war, dass alle Denker der Vergangenheit, die sich auf die Argumentation mit bloßen Begriffen nach den logischen Gesetzen verlassen hatten, doch immer an den zentralen Fragen der Existenz gescheitert waren. Die Mathematik, die den Anspruch erhob, die reinste aller Sprachen und die eine der Wissenschaft zu sein, erweckte in ihm die Vorstellung, durch eine Synthese beider Werkzeuge, der sprachlichen und der rein mathematischen Logik, letzten Endes zu einer höheren Wahrheit zu gelangen, als beide Richtungen für sich alleine zu erreichen hoffen konnten. So war es schon näher bei den Vierzig als den Dreißig gewesen, als er schließlich die akademischen Grade erreicht hatte, die er sich zum Ziel gesetzt hatte. Er hatte sich ausgerechnet, wie lange sein letztes, wichtigstes Projekt etwa benötigen würde, um ein Erfolg zu werden, und so hatte er sich noch sechs weitere Jahre mit Vorlesungen, Publikationen und sonstigen Tätigkeiten zugebracht, für die ein so meisterhafter Intellekt wie der seine zu gebrauchen war, um sich einen gewissen finanziellen Vorrat zu zulegen, um sich in der letzten Schaffensphase voll und ganz auf sein letztes Projekt zu fokussieren: Die Wahrheitsformel.
Über zwölf Jahre benötigte er für diese schwere Arbeit, und sah den im Voraus berechneten Zeitrahmen bei weitem gesprengt, doch er gab nicht auf, aus Überzeugung. Nachdem zehntausende von Proben und versuchten Gegenbeweisen angefertigt und die Stabilität der Formelbruchteile überprüft war, die er bereits aufstellt hatte, fasste er diese in höheren Variablen zusammen, die natürlich von den Bestandteilen der Rechnungen abhingen, aus denen sie hervorgingen. Auch diese Arbeit benötigte noch beinahe ein halbes Jahr.
Am Ende jedoch, an jenem regnerischen Tag, war es geglückt, einfach geglückt - Klang hatte erfolgreich die Wahrheit definiert.
Die Formel, die Definition, sah vielleicht komplex aus, doch Klang hatte schon weitaus komplexere gesehen. Trotzdem, recht daran glauben, dass auf der knappen halben Seite die Wahrheitsformel lag, die reine Wahrheit in mathematischer Form ausgedrückt, konnte er immer noch nicht.
Er begann also, die Formel zu überprüfen, auf die denkbar einfachste Weise. Er benutze Axiome, die er selbst kannte und die für ihn außer Zweifel standen, setze sich selbst und die Fakten in die Formel ein und überprüfte in dieser Weise, ob er am Morgen tatsächlich einen leicht säuerlichen und wenigere bitteren Geschmack empfunden hatte, als er seinen Kaffee geschlürft hatte. Überraschenderweise ließ sich der Satz absolut wasserdicht beweisen.
Klang kniff seine schon etwas schwach gewordenen Augen zusammen und überprüfte die Wahrheit für etwa weniger Prosaisches. Als Sympathisant der Sophisten bewies er ebenfalls die rationalistische Beweisbarkeit von Absurditäten, und damit sozusagen im Vorbeigehen, auch die unbedingte Fehlbarkeit der menschlichen Erkenntnis.
Klang musste grinsen und vergaß über seiner Arbeit ganz, dass seine Kaffetasse sich noch immer in der Mikrowelle befand und langsam auskühlte.
Für seine nächste Rechnung brauchte er länger, denn obwohl er einen modernen Computer für seine Berechnungen nutzte, musste er dennoch zuvor alle Variablen neu bestimmten oder definieren, und das brauchte Zeit. Er benötigte noch beinahe eine Stunde, um eine der zentralen Fragen zu beantworten, über die die Menschen seit jeher stritten: Die nach der Existenz Gottes. Schließlich ließ er den Computer die Werte kalkulieren.
Das Ergebnis überraschte ihn sehr.
Das erste, was Klang also tat, nachdem er in dieser doch ziemlich spektakulären Weise seine Formel auf Herz und Nieren geprüft hatte, war, einen alten Studienkollegen anzurufen. Er war inzwischen ebenfalls Professor für Philosophie, jedoch an einer anderen Universität als Klang. Die beiden Herren, die vor allem ihr Abneigung gegen unnötiges Geschwätz verband, redeten knapp und ernst miteinander.
>>Professor Tegel hier, guten Tag - <<
>>Ich bin es, Klang. Erinnerst du dich nocht daran, wie wir einmal über die Unbeweisbarkeit der absoluten, objektiven Wahrheit gesprochen haben?<<
Tegel brauchte einen Moment, um sich zu besinnen.
>>Natürlich<<, erwiderte er dann. >>Ich meinte, dass selbst wenn so etwas wie eine objektive Wahrheit überhaupt existierte, dem Menschen nicht die Mittel gegeben sind, sie zu erforschen, da alle seine Werkzeuge, die Sinne, der Verstand, selbst fehlbar seien, wie sich auch beweisen lässt, sodass er der objektive Wahrheit bestenfalls nahe kommen, sie aber nie ganz erfahren könnte.<<
>>Genau so habe auch ich diese Sache in Erinnerung. Mir sind jedoch schon längst Zweifel gekommen, ob dies den tatsächlich wahr sei, und nun halte ich, so denke ich, den Beweis in den Händen.<<
>>Spann mich nicht auf die Folter – den Beweis dafür oder dagegen?<<
>>Den Beweis für die objektive, die absolute Wahrheit.<<
Tegel zögerte eine Sekunde über die wirklich kühne Behauptung.
>>Wie soll das angehen?<<, fragte er dann, langsamer – und gespannt.
>>Ich definiere die Wahrheit = A, in vielfacher Abhängigkeit verschiedenster Variablen, Konstanten und anderer Faktoren.<<
>>Langweile mich nicht mit deinem mathematischen Gerede, du weißt, dass ich davon nichts verstehe. Warum gerade A für Wahrheit?<<
>>Alethaia ist Göttin der Wahrheit in der griechischen Mythologie.<<
>>Warum hatte ich mir so etwas gedacht?<<
Das Gespräch mit Tegel scheiterte also an Kompetenzunterschieden der beiden Professoren.
Auch mit einem Mathematikprofessor, der einzelne Faktoren wie Ehrlichkeit oder Glauben nicht verstand, jedoch kristisierte, dass man die Formel auch hätte in kürzerer Form darstellen können, hatte Klang keinen besseren Erfolg.
Schon etwas verärgert, ging er seinen Kaffee holen, der inzwischen freilich kalt war.
Die Euphorie, dass er es geschafft hatte, entgegen althergebrachter Lehremeinungen, etwas undefinierbares, wandelbares genau festzumachen und sowohl als Definition in Worten, als auch Formel aufzustellen, versetzte ihn in Verzückung.
Er überlegte stolz, mit wem er sich noch über seine Erkenntnis unterhalten könnte. Das tat er für einige Minuten, nahm sogar Papier und Stift zur Hand, um seinen Gedanken besser Ausdruck zu verleihen. Doch auch nach längerer Zeit viel ihm niemand ein.
>>Heute nehme ich mir frei<<, sagte er in diesem Moment zu sich, >>das erste Mal seit sicher zehn Jahren. Heute werde ich nichts weiter arbeiten, nur genießen, dass mir endlich geglückt ist, wonach die Menschheit so lange Zeit gesucht hat. Morgen, morgen werde ich mich dann aufmachen und allen Menschen die Wahrheit zeigen. Wie wundervoll die Welt sein wird, nach diesem Tag! Es wird keinen Streit mehr geben, keinen Streit mehr geben können, weil nicht einer kommen und anderer Meinung sein kann als ein zweiter oder ein dritter, weil nur noch eine einzige Meinung existieren wird, nämlich die objektive Wahrheit. Die Menschen brauchen sich auch nicht mehr zu fragen, mit Fragen zu quälen, wozu ihr Leben dient, wie sie leben sollen oder woran sie glauben sollen, denn es wird solches nicht mehr geben, keine Zweifel, nur die objektive Wahrheit. Niemand kann mehr unglücklich sein, weil er etwas nicht weiß oder an einer Frage verzweifelt, denn jede Frage wird beantwort sein. Hach, wie wundervoll die Welt dann sein wird!<< Und er lächelte, als er die neue Welt vor seinem inneren Auge erstehen sah.
**************
Der nächste Tag kam, wie jeder Tag gekommen war, seitdem Professor Doktor Theodor Klang lebte.
Von jugendlicher, frischer Energie beseelt, sprang er schon um halb sieben aus seinem Bett. Er hatte den letzten Tag mit einem Spaziergang durch die Stadt, einem Kaffeebesuch, dem Kauf eines neuen Mantels und einem abschließenden guten Abendessen verbracht.
Heute aber, heute würde er nicht faul sein, heute würde er der Welt die Wahrheit überreichen.
Zunächst stellte sich die Frage, wie er am Besten alle Menschen erreichen würde, damit es nicht vorkäme, dass einer durch Zufall nicht von der Apokalyse erfuhr, die die Welt erfasst hatte. Als erstes kam ihm das Radio in den Sinn, doch dann dachte er daran, wie viele Radiosendungen es gab und dass sicher nicht jeder jeden Sender gleichzeitig hörte. Es würde sicher auch nicht angehen, so überlegte Klang weiter, dass er bei mehreren Sendern gleichzeitig vorsprach, denn sie würden einander sicher mit der Enthüllung der objektiven Wahrheit ausstechen wollen. Vielleicht sollte er mit dem Fernsehen sprechen, dachte er also, doch auch dort war es das gleiche Problem, wie mit dem Radiosendern, es gab zu viele, und niemand sah alle gleichzeitig. So würde also eine Zuschauergruppe, die immer nur ein bestimmtes Programm sah, niemals von seiner Enthüllung erfahren. Zufrieden, dass sein akademischer Verstand ihn vor Dummheiten bewahrt hatte, lenkte er seine Gedanken also in eine ganz andere Richtung.
Ein Buch! Der Gedanke kam wie ein Blitz.
Niemand, der lesen konnte oder nicht wenigstens eine Person kannte, die es konnte, wäre in der Lage, ein Buch, das zuerst vielleicht in Deutschland, dann in Europa, zuletzt aber in der ganzen Welt die Bestsellerlisten stürmen musste, über längere Zeit zu übersehen. Natürlich! Und alle jene, die es schon gelesen hatten, würden nur darauf brennen, ihr Wissen weiter zu verbreiten, sodass, mathematisch streng genommen, genau ein Leser ausreichte, um am Ende die ganze Welt zu informieren. Ha, nun hatte er die Lösung!
Er erinnerte sich an den Namen einiger Verlage, und suchte also mit eifrig, geradezu hektisch die Telefonnummer des größten Buchverlages der ganzen Welt hervor, um sogleich dort anzurufen und zu verlangen, den Geschäftsführer zu sprechen. Als ihm die Dame am Telefon keine Verbindung mit diesem herstellen wollte, stellte sich Klang, mit nochmaliger Betonung seiner akademischen Grade erneut vor und wiederholte sein Anliegen, die letzte und größte Offenbarung, die diese Welt jemals sehen würde, gerade bei ihrem Verlag drucken zu lassen.
>>Mein Herr<<, antwortete das junge Ding, >>hier rufen täglich ein halbes Dutzend selbst ernannter Propheten an, die behaupten, sie hätten mit Gott gesprochen oder solches Zeug.<< Sie blieb zwar höflich, aber Klang merkte langsam, dass er bei ihr nicht weiterkommen würde. Na schön, dachte er ärgerlich, so hat diese Praktikantin dem Verlag wohl das Geschäft des Jahrhunderts verdorben!
Verständnislos gegenüber der Dummheit der ungebildeteten Leute, wählte er also die Nummer des zweitgrößten Verlages der Welt. Zu Klangs größtem Leidwesen sollte sich herausstellen, dass der erste Fall kein Zufall gewesen war.
Als man drittgrößten Verlag der Welt höflich nachfragte, wie er denn zu solchen Erkentnissen gekommen sein wollte, fasste er, obwohl überrascht, schnell und eloquent den mathematischen wie den logischen Beweis seiner Behauptung zusammen und konnte sogar anhand seiner beispielhaften Berechnungen praktische, handfeste Belege liefern, wozu das alles zu gebrauchen war. Wütend bemerkte Klang, vielleicht eine oder zwei Minuten zu spät, dass man am anderen Ende bereits aufgelegt hatte.
Das Beste, was ihm noch passierte, war eine genaue Nachfrage, wie denn das Buch aufgebaut sei, beim sechst- oder siebtbesten Verlag, den er auf seiner Liste hatte.
>>Nun, die inhaltliche Prägnanz bei solchem Informationsgehalt wäre kaum zu übertreffen<<, erklärte Klang lebhaft, >>es handelt sich lediglich um eine Formel und eine Wortdefinition.<<
>>Eine Formel?<<
>>Natürlich, die Wahrheitsformel eben! Dann noch ein oder zwei Sätze, worum es sich dabei handelt, der ganze Rest ist völlig selbsterklärend. Natürlich,<<, er geriet plötzlich ins Überlegen, >>für die Interessierteren unter den Lesern könnte ich noch die Beweise der verschiedenen Sätze anhängen, die zur eigentlichen Formulierung geführt haben, vielleicht noch ein paar Tagebucheinträge von meiner Hand... wobei ich Sie bitten würde, diese noch einmal durchzusehen, denn ich weiß selbst, dass mein Stil in den letzten Jahre etwas nachgelassen hat.<< Am anderen Ende der Leitung herrschte für einige Momente Stille.
>>Wir rufen Sie zurück.<<, sagte dann der andere. Ungläubig bemerkte Klang, dass man aufgelegt hatte. Schon wieder.
>>War das eine Zusage?<<, fragte er sich selbst. Er würde es abwarten. Eine Weile ging Klang in seinem Haus auf und ab, sah aus dem Fenster, überlegte sich, ein paar Schritte vor die Tür zu machen, entschied sich aber dagegen, schließlich hätte der Verlag wieder anrufen können.
Während er so müßig auf und ab ging, kamen ihm einige Gedanken. Um der Menschheit Willen, so dachte er beispielsweise, wäre es das Beste, die Enthüllung der objektiven Wahrheit nicht nur durch ein Medium zu transportieren. Wie klein er gedacht hatte! Nein, es müsste sich so verhalten, dass gleichzeitig mit dem Buch noch ein oder gleich mehrere Zeitungsartikel herauskamen, dass er in den Nachrichten erwähnt wurde und am besten noch im Bundestag sprach! Je mehr er seine Verstand gestattete, die moderne Medienwelt zu analysieren, desto eindeutiger wurden seine Pläne. Er zeichnete sie in ein Schema ein, in dem Medien und die Bevölkerung vorkamen, die sie sahen und das deutlich machte, dass er, wenn sein Plan durchgesetzt wäre, zumindestens circa 98, 7 % der Menschen auf sich aufmerksam gemacht hätte. Er verging fast vor Mitleid mit denen, die die Offenbarung erst später erfahren mussten, doch den Plan um ihretwillen umzugestalten, wäre aus Sicht der Effizienz untragbar. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass doch am Ende das Ergebnis und nicht der Prozess zählte, das zu dem Ergebnis geführt hatte.
So setzte er seine Telefonate fort. Er sprach mit Radiosendern, TV-Sendern, Zeitungen und anderen Medien.
Nachdem er die letzte Nummer auf seiner Liste gewählt hatte, war ihm klar, dass diese Medienleute doch ein seltsames Volk waren, denn niemand hatte auch nur das geringste Interesse an einem mathematischen Beweise geäußert, was Klangs erste Sorge gewesen wäre, hätte jemand eine solche Behauptung aufgestellt, wie er es getan hatte!
Ja, er glaubte ja selbst kaum daran, innerlich hing er noch immer der Meinung Tegels an, aber dennoch, die Zahlen und die logischen Gesetze sprachen eine eigenen, unerbittliche Sprache. Er hatte die Wahrheit definiert und konnte es beweisen. Dieses Wissen war es, das ihn, wie er fand, unerschütterlich und heldenhaft gegen die Widerstände antreten ließ. Ihm blieb nur zu hoffen, dass nicht alle Menschen so seltsam, ja, geradezu denkfaul waren, wie diese Medienleute.
Am Ende fand sich wenigstens ein Verlag, ein alter Wissenschaftsverlag, der schon früher seine mathematischen Publikationen gedruckt hatte, der seine Formel in ein Fachjournal aufnehmen wollte. Dies endlich war ein Anfang. Ja, er würde vielleicht nicht alle Menschen auf einmal erreichen, nein, doch hatten andere Propheten das je geschafft?
Nein, die Menschen würden verstehen. Mit der Zeit ...
**************
Am Tag darauf begab sich Professor Doktor Theodor Klang wieder in seine Universität. Frühmorgens war er aufgestanden, hatte jedoch weder Post noch Nachrichten auf dem Anrufbeantworter vorgefunden, die er eigentlich erwartet hatte, und war daher früher als gewöhnlich in die Stadt gefahren. Dann tauschte er den Vorlesungsplan – er hätte heute eine über den Exisentialismus des frühen 21. Jahrhunderts halten müssen – und setzte an der Stelle des vorher geplanten einen anderen, dessen Inhalt er sich noch während der letzten Nacht erarbeitet hatte. Mit folgendem Aushang, den er bewusst in einer lockeren, studentenhaften Sprache abzufassen sich bemüht hatte, bewarb er die außerordentliche Lesung:
Die exakte Festlegung der objektiven Wahrheit – mathematische Grundkenntnisse sind dringlich!
Lange versuchte man, uns weißzumachen, dass es keine Wahrheit gibt. Das glauben Sie auch? Dann sollten Sie diese Vorlesungen besuchen!
Sie brauchen den Stoff zwar nicht für Ihre Prüfungen, aber Sie lernen schließlich nicht für Ihre akdamischen Grade, meine Damen und Herren – sondern für Ihre persönliche Horizonterweiterung, ja, für Ihr restliches Leben!
Ich ahne, dass Ihnen diese Abwechslung gut tun wird
in freudiger Erwartung Ihres Kommens
Professor Doktor Theodor Klang.
>>Ich hatte wirklich erwartet, dass man sich über solche Abwechslung freuen würde...<<, murmelte Klang missmutig vor sich hin, während er drei Minuten vor Vortragsbeginn, in den beinahe leeren Hörsaal blickte. Gedankenverloren vergaß er ganz, seine Zuhörer zu begrüßen, drehte sich stattdessen zur großen Tafel und begann, die einzelnen Bestandteile der Formel und ihre mathematische Festlegung anzuschreiben, doch sogar er selbst vermisste sein früheres Feuer, seine Begeisterung für seine Formel.
Wenigstens wurde er nicht ständig durch Zwischenfragen unterbrochen. Wahrscheinlich war es wieder nur ein verdammtes Vorurteil, ein dummes Gerücht, dass das Abitur nicht mehr bildend genug war. Alle Anwesenden, von denen er wusste, dass alle sonst nicht scheu waren, ihn mit Fragen zu löchern, schienen seinen Beweis stillschweigend zu verstehen. Nicht, dass er das nicht für möglich gehalten hätte, schließlich war jede Mathematik so klar wie ein geschliffener Diamant, beinahe vollständig selbsterklärend und die schnörkellostste Methode, bestimmte Zusammenhänge klar zu machen. Dass seine guten Studenten das offenbar ebenso verinnerlicht hatten, wie er, gab ihm Hoffnung. Wahrscheinlich waren sie es, die gut gebildete Jugend, die seine Botschaft verstehen würde, wohl besser, als irgendjemand sonst.
>>Das nun<<, begann er also zu reden, motivierter und inbrünstiger als zuvor, während er noch die letzten Formelbuchstaben der letzten Rechnung aufschrieb, >>sind die zwölf Variablen, mit denen sich die Wahrheit, Groß-Alpha, definieren lässt! Folgendermaßen gestaltet sich die Formel:<< Er schrieb: Groß-Alpha ist gleich....
>>Ich ahne, meine Damen und Herren, dass sie schon Recht ungeduldig werden, wie sehr diese Formel den praktischen Fragen gerecht werden kann und wie sich die einzelnen Variablen verhalten werden! Darum bitte ich einen unter ihnen, eine Vorschlag zu machen, worauf ich die Wahrheit beziehen soll, um mathematisch deutlich zu machen, welche allgemeingültigen Gesetze sich aufstellen lassen! Nun, bitte – Vorschläge!<< Er schrieb den letzten Buchstaben und drehte sich zu seinem Publikum.
Ein wenig fassungslos blickte er auf die völlig leeren Bänke.
**************
Als Klang noch am selben Tag in der Bahn saß, weil sein Wagen zu allem Überfluss nicht mehr funktioniert hatte, überdachte er sein Tun und sein Werk zusehends kritischer und distanzierter, und seine Laune verfinsterte sich gewaltig.
Natürlich war der Welt die Schuld zu geben, vor allem, vielleicht aber auch ein wenig ihm selbst. Vielleicht war er ja selbst der Narr, schließlich war es ihm eingefallen, die objektive Wahrheit gerade in diesem Jahrhundert zu definieren, genau von solchen Menschen umgeben, die nicht verstanden, nicht verstehen wollten.
Ihm gegenüber saß eine Mutter mit ihrem Kind. Die Mutter versuchte, das Kind davon zu überzeugen, von einem Butterbrot abzubeißen, doch er wollte lieber die Kekse essen, die sich in der Einkaufstasche der Mutter verbargen.
>>Die Kekse sind gar nicht da drin<<, flüsterte die Mutter dem Jungen zu.
>>Das stimmt nicht. Du hast sie doch auch da reingetan!<<
>>Das sah nur so aus. Die echten Kekse hat das unsichtbare Rentier nach Hause gebracht, und dort gibt es sie dann heute Abend, verstehst du?<<
Über diese Behauptung war Professor Doktor Theodor Klang so verblüfft, dass ihm die Kinnlade nach unten klappte. Das Kind lachte, die Mutter beachtete ihn gar nicht.
>>Entschuldigen Sie:<<, machte sich der Professor bemerkbar. Nun sah die Frau doch hoch.
>>Hm?<<
>>Ähm - << Er wusste nicht so ganz, wie er es schmeichelhaft formulieren konnte. >>Wie soll ich sagen – ihre Geschichte mit dem Rentier und der Unsichtbarkeit und allem...<<
>>Ja?<<
>>Mir scheint, dass die Existenz eines unsichtbaren Rentieres doch relativ... unwahrscheinlich ist, nicht wahr?<< Sie musste lächeln.
>>Ja, schon. Und was wollen Sie damit sagen?<<
>>Nun, hauptsächlich, dass sich die Kekse, wenn Sie sie in diese Tasche befördert haben, noch immer darin befinden müssen.<< Sie runzelte die Stirn, musste aber weiter lächeln. Seltsamerweise taten die ungebildeten Leute das oft, als hätten sie einen ganz anderen Sinn für Humor, als gewöhnliche Menschen. Die vorgetragene Behauptung war unumstößlich, und als solches überhaupt nicht lächerlich!
>>Ja, aber das habe ich doch nur so erzählt, verstehen Sie? Er soll doch erst noch das Brot essen...<< Der Junge hörte nicht einmal zu, sondern glotzte in sein Handy.
Der Philosophieprofessor war nicht gewillt, an dieser Stelle einen Vortrag über Ethik oder Moral zu halten, aus diesem Grund vertiefte er das Thema nicht.
>>Na dann, entschuldigen Sie bitte.<< Er lehnte sich zurück.
Die Dame schüttelte den Kopf, erwiderte jedoch nichts weiter. Während der Zug also langsam die Strecke entlanghoppelte, kramte der Professor einen Notizblock hervor und begann, einen Satz aufzustellen, der die Wahrheit der Aussage feststellen sollte, ob sich die Kekse noch in der Tasche befanden. Die Variablen waren in diesem Fall nicht allzu komplex, daher konnte er die Formel gut auf dem Papier lösen. Er brauchte drei der kleinformatigen Notizbuch-Seiten und zwei Stationen Zeit. Am Ende, als er sich noch einmal alles von Anfang bis Ende durchgelesen hatte, drehte er der Dame das Notizbuch hin. Während sie zu lesen schien, kringelte er das Ergebnis mehrmals ein.
>>Ich denke, dass erwiesen ist, dass ihre Aussage, die Kekse befänden sich nicht mehr in der Tasche, unrichtig gewesen ist. Haben Sie an der Art der Beweisführung etwas auszusetzen?<< Sie sah ihn sprachlos an. >>Haben Sie etwas auszusetzen?<< Sie schüttelte schwach den Kopf. >>So behaupte ich, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als dass sich der Gegenstand tatsächlich in der Tasche befindet. Erlauben Sie mir, meine Vermutung zu überprüfen?<< Sie blickte ihn weiter an wie einen Verrückten und musste dann unerklärlicherweise lachen. Am Ende schüttelte sie mehrfach den Kopf und hielt ihm dann die Tasche hin. Triumphierend erspähte Klang den Gegenstand seiner Bemühungen, ergriff ihn und präsentierte ihn allen Umstehenden.
>>Ergo muss der Satz richtig gewesen sein, da sich meine Vorhersage als richtig erwiesen hat.<<
Niemand der schweigenden Fahrgäste sagte ein Wort, alle sahen ihn nur verständnislos an. Ja, dachte Klang, jetzt, jetzt endlich erkennen sie, was es bedeutet, dass ich die Wahrheit gefunden habe! Noch immer hat ihnen die Offenbarung die Sprache verschlagen, niemand wagt es, etwas dagegen zu sagen!
Nur der Junge, der schnell die Packung ergriff und sie aufriss, lächelte ihn glücklich an.
**************
Wenn Klang ehrlich war, hatte er doch noch ein wenig mehr Reaktion erwartet, zumindest in den nächsten zehn Minuten der Fahrt. Natürlich schien es naheliegend, dass eine solche Enthüllung, wie die der absoluten Wahrheit, nicht allzu leicht zu verdauen war, aber ein wenig mehr Begeisterung zu zeigen, wäre sicher kein Zeichen für fehlende Selbstbeherrschung gewesen!
Doch nicht einer hatte sich noch geäußert. Nachdenklich, überlegend, sogar nach einem etwaigen Fehler in der eigenen Beweisführung suchend, ging er mit leerem, abwesendem Blick nach Hause. Dort angekommen, verdrängte er diese fruchtlosen Gedanken, auch aus dem Grund, dass er erwartete, wenigstens jetzt einige, ja vielleicht sogar mehr Nachrichten erhalten zu haben, als er heute Abend noch zu sichten hoffen durfte.
Allerdings befand sich weder ein Brief im Briefkasten noch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Noch nicht einmal irgendein Anruf war erfolgt.
Eine Sekunde zweifelte Klang an sich selbst. War er einfach unfähig? Oder schlimmer noch, war er bei all seinem fachlichen Genie zu dumm, zu unerfahren, um sein für jedermann bedeutsames Werk angemessen vorzustellen, zu vermitteln? War er ein Siegfried, der den Drachen zwar erschlagen, aber das daraus entstehende Glück nicht genießen konnte, sondern sich lieber in neue Gefahren und Herausforderungen flüchtete?
Freilich - neue Herausforderungen. Was sollte das für ihn bedeuten? Ja, was hatte die Wissenschaft noch zu tun, wenn sie die Wahrheit einmal gefunden hatte, die allgemeingültige, absolute Wahrheit, die Antwort auf jede Frage?
Vielleicht, so dachte Klang, während er sich schon auf den Weg ins Bett machte, vielleicht war das der einfach Grund, warum die Welt seine Wahrheiten nicht hören wollte. Vielleicht wollte der Wissenschaftler nicht arbeitslos werden.
Als Klang am nächsten Morgen erwachte, nach einer schlecht durchschlafenen, von Grübeln und Sinnierem gekennzeichneten Nacht, fand er sich geheilt wieder.
Wovon er geheilt war? Geheilt war er von seinem dummen Gedanken, ja, seiner lächerlichen Vorstellung, der Welt damit imponieren zu können, mit einer plötzlichen, unverlangten Offenbarung herauszurücken.
Er hatte sich selbst an die Ökonomie erinnert. Ein Kollege hatte einmal bemerkt, dass doch auch die Wissenschaft eine Art Wirtschaft sei. Denn nur, wenn man Antworten auf solche Fragen stellte, die schon lange ausstanden und deren Lösung ziemlich dringlich erwartet wurde, konnte man Ruhm und Reichtum finden.
Natürlich war der Markt für Wahrheiten doch schon lange übersättigt. Es gab zu viele Antworten und Meinungen, zu viele >>Wahrheiten<<, zuletzt die Tegels, der er auch selbst Glauben geschenkt hatte. Denn auch, wenn man die Nichtexistenz einer Antwort bewies, hatte man ja die Antwort auf eine entsprechende Frage gefunden.
Diese abstrakte Erkenntnis hatte zu Professor Doktor Theodor Klangs Heilung geführt. Nun wusste er, worauf er wirklich hinzuarbeiten hätte. Wenn er diesen Plan jedoch erfolgreich verfolgen würde - und anderes verbot die Vernunft - würde sich die Menschheit endlich auf seine Offenbarung stürzen, und er, der unbekannte, verkannte Professor, wäre der Prophet eines neuen Zeitalters!
Bis dahin aber würde er sich noch einem neuen, kleinen Hobby hingeben, das, solange er sich noch als einziger im Besitz der Wahrheit befand, einen großen Reiz versprach. Sollten nur wieder irgendwelche Leute, ob auf der Straße oder auf wissenschaftlichen Kongressen, aus Wut oder aus Unüberlegtheit den Begriff der Wahrheit für irgendeine Behauptung missbrauchen! Dann aber...
Ende
Schnell, unstet der Flug! Als würde der Vogel ständig seine Meinung ändern , wohin es eigentlich gehen sollte. Fenstersims, Vorsprung, Geländer, dann die Baumkrone über dem Park, wieder in die Luft, ein weiter Fenstersims, einer von denen ohne pieksende Drähte, um Vögel fernzuhalten. Dort schien es dem Star zu gefallen. Er plusterte sich auf, stolz, und begann, lautes, klares Gezwitscher von sich zu geben. Auf und ab ging sein Lied, seine Töne, manchmal schneller, dann wieder langsamer, dann sehr schnell, aber immer in der gleichen Lautstärke. Eigentlich war es kein Lied, keine Melodie. Es waren nur nachgeahmte Laute, die der Star irgendwo aufgeschnappt hatte.
Richard Goldstein interessierte sich trotzdem für die Töne, zumindest genug, um ihnen zu lauschen, während er mit der Fliege kämpfte, die einfach nicht so an seinem Kragen sitzen wollte, wie er es sich vorstellte. Immer wieder lockerte er sie, zog wieder an, rückte zurecht. Währenddessen hörte er die Töne und entschied, dass sie keine echte Melodie waren.
Richard wusste nämlich alles über Melodien. Schon immer hatte er sie geliebt, mit der Begeisterung eines leuchtenden Kinderauges, das zum ersten Mal den Sonnenuntergang als Sonnenuntergang erkennt. Genau so liebte er die Töne, die Melodien, die verschiedensten Harmonien.
Nach der Liebe war das Wissen gekommen, die Kenntnis der Instrumente, der Tonarten, der Harmonielehre. Alte und neue Komponisten hatte er kennengelernt und Aufnahmen gelauscht. Er war in Konzerte gegangen. Vollendete Werke hatte er ebenso untersucht wie die Bestandteile, das Orchester, die Partituren, die verschiedenen Dirigenten, die mechanischen und die elektrischen Töne.
Irgendwann nach dem Wissen war auch die Erfahrung gekommen. Sie ging Hand in Hand mit dem Wunsch, selbst zu schaffen, nicht nur zu empfangen. Sie kündigte sich früh zum ersten Mal an und zeigte sich manchmal in weiter Ferne, kam aber erst mit den Jahren.
Aber eines stand früh fest: Richard Goldsteins Leben war der Musik gewidmet.
Die Äußerlichkeiten fanden sich, die handwerklichen Fähigkeiten, die Kontakte zu anderen, die ihr Leben gewidmet hatten, und die vorweisbaren eigenen Werke.
Richard hielt inne, ließ die immer noch schief sitzende Fliege wie sie war. Seine Hände sanken langsam herab. Der Spiegel starrte zurück, wie Richard hineinstarrte. Darin sah er sein weißes, nach hinten gekämmtes Haar, das in einer halben Stunde wieder aussehen würde wie zuvor, dieser sonnenstrahlartige, in alle Richtungen weisende Kranz.
Er schloss die Augen.
Der Star schwieg, kein Ton kam mehr herein, und erst Recht keine Melodie.
Es war vor beinahe einem halben Jahrhundert gewesen: Ein junger Mann, ordentlich aussehend, in seiner ersten guten Garderobe, an einem Klavier. Er saß einfach dort, die schlanken Hände auf den Tasten. Aber er spielte nicht. Es gab auch keine Noten. Er hatte die Augen geschlossen.
Außer ihm war niemand in dem Zimmer, zumindest glaubte er das. Es gab nur das große Fenster, das viel Licht hereinließ, und den Tisch, und den Schrank. Und natürlich das Klavier, das war wesentlich, der sinnstiftende Gegenstand in der scheinbaren, urbanen Beliebigkeit.
Sie hatte kastanienbraunes Haar und trug einen grünen Morgenmantel. Und ihr Name war Melody. Aber sie verhielt sich still, sah nur zu, wie er am Klavier saß und phantasierte, ohne einen Ton zu spielen.
„Er brütet etwas aus“, dachte sie. Das tat sie immer, wenn er so dasaß, und sie behielt immer Recht. Zumindest, seitdem zusammen waren, seit diesen drei Wochen, in denen sie ihn oft beim Ausbrüten beobachtet hatte.
Richard öffnete die Augen. Im gleichen Moment war sie da.
Sie kam überraschend für ihn. Sechzehn Takte, nicht wirklich ausgefallen, etwas zwischen rührender Sorglosigkeit und diesem Moment, in dem man ein halb warmes, halb schmerzhaftes Aufwallen verspürt, heitere Wehklage, aber nur einen winziger Moment lang, vorletzter Takt. Er war gleich vorbei, dieser Moment.
Die Melodie war leicht, fast bescheiden, und doch etwas: Ein guter Anfang für einen Tag, dem noch vieles anderes entspringen mochte.
„Du hattest doch Recht.“, sagte Melody, als der letzte Ton verklungen war. Sie löste sich von dem Türrahmen, gegen den sie sich gelehnt hatte, und kam langsam auf ihn zu.
„Als wir gestern diskutiert haben?“, fragte Richard.
Sie trank Kaffee aus seiner Kaffeetasse, voller Genuss.
„Genau. Genial komponieren und doch so, dass jeder etwas fühlt, wenn die Musik erlingt, ob in der Theorie bewandert oder nicht – das hieltest du für möglich. Ich glaubte nicht daran. Jetzt hast du mich eines Besseren belehrt.“
Richard sah von ihr auf die Tasten, auf denen seine Hände noch immer ruhten. Dort verblieb der Blick.
„Das?“
„Der Gesang eines Vogels am Morgen.“
„Du hast Recht“, bemerkte Richard, „genau wie der Gesang eines Vogels: Schön, angenehm, Töne für einen Moment, aber ohne Gehalt. Der Vogel singt zwar, aber er ist kein Künstler.“
„Dein Morgengesang ist Kunst.“, befand sie und trank den Kaffee leer.
„Ich will es hoffen.“
Die Erinnerung endete mit diesem Satz. Richard war heute, fast ein halbes Jahrhundert später, nicht imstande zu sagen, was Melody und er noch gemacht hatten an diesem Tag. Er wusste nur, was sie drei Wochen später getan hatten: Sie hatte sich getrennt, voneinander verabschiedet – auf Nimmerwiedersehen.
Eigentlich war das alles, was er aus dieser Zeit hatte, die verblassten, glücklichen Erinnerungen, den überschattenden Schmerz und die Melodie – obwohl er Melody verloren hatte.
Sie begleitete ihn. Einmal hingeschmiert in zwei freie Zeilen unter einem anderen Musikstück, nach Monaten wieder zum Vorschein gekommen, angespielt. Ihm wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, seine Erinnerung stand in keinem Verhältnis zu dem, was er hörte. Aber es waren die gleichen Töne. Er befand das Thema für würdig, ausgearbeitet zu werden. Er dachte daran, dass er es für bescheiden gehalten hatte, und wählte eine vergleichsweise bescheidene Besetzung, ein Quartett, klassisch in jedem Sinn.
In einer späteren Phase, in der er mit Jazz experimentierte, kam ihn gerade dieses Thema als Erstes in die Hände. Er schrieb es um, für ein entsprechendes Ensemble. Aber es war die Zeit der Raserei, die er zwischen Niedergeschlagenheit, Ergriffenheit und heller Begeisterung verlebte. In dem Moment, in dem ihm dieses Papier in die Hände kam, war er gerade ein Kind der Niedergeschlagenheit. Und sein blutendes Herz, das bisher nur geklagt und geschrien hatte, diktierte nun Worte, poetisch, dicht und gewaltig, fand er wenigstens, und ein paar andere fanden es auch. Das Stück nahm Gestalt an und wurde auch aufgeführt, im Gegensatz zu dem ersten Versuch.
Während dieser Zeit begann das Thema, sich emotional aufzuladen, bis es vor Schmerz und Befreiungsgefühlen knisterte. Wieder und wieder wurde es gespielt, doch nie in einer Fassung, die bereits bekannt war. Der Komponist behielt es sich vor, nach jeder Aufführung die Noten einzusammeln, zu vernichten und eine neue Variation herauszugeben. Er spürte, je mehr er sich mit dem Thema befasste, dass eine Kraft darin lag, die sich befreien, sich manifestieren wollte. Diese Form musste er der Musik geben, die Form dieser Manifestation. Er stellte fest, dass dieses Thema sich besser varriieren ließ als jedes andere, das ihm jemals untergekommen war. Außerdem wurde es nicht langweilig, je länger und öfter er es hörte, im Gegenteil: Es gewann sogar noch an Kraft.
Ab einem gewissen Punkt hatte Richard jedes Mal, wenn er der Melodie begegnete, den Eindruck, dass er sie zum ersten Mal hörte.
Dann kamen andere Zeiten, andere Anforderungen, seine Zeit des Stilbruchs. Er lernte von modernen, technikbasierten Musikrichtungen, und wandte das Erlernte an. Das befreite neue kreative Energien, andere Seiten. Ständig neu denken, sich selbst neu erfinden, nie etwas zweimal machen, keine Selbskopien, kein Selbstverrat: Er verfügte über Eingebungen, und zwar über mehr, als er verarbeiten konnte.
Die Melodie trat in den Hintergrund.
Dann der große Bruch, die völlige Abkehr, sowohl vom Mainstream, den er fürchtete wie andere den Tod, als auch von den anderen, den Schakalen um einen Löwen, die sich einbildeten, ihn zu verstehen. Einsamkeit, Freiheit, höchstes Glück, tiefster Schmerz: All das bewegte, schüttelte ihn damals, und alles bannte er auf Papier. Wie ein Schwamm sog auch die Melodie all das auf, lud sich auf, wuchs, und blieb doch auch gleich. Sie gab ihm seltsam viel Halt damals, aber er verstand sie noch nicht völlig. Ihm war noch nicht klar, dass er mit diesen Takten das eine geschaffen hatte, das jeder große Musiker einmal schafft, nämlich die eine, charakteristische Melodie, die immer mit ihm verbunden wird, ganz unabhängig davon, ob es sich wirklich um den Höhepunkt seiner Genialität handelt: Bachs Weihnachsoratorium etwa, oder Mozarts K331, Beethovens Große Fuge, Elvis Presleys „Love me, tender“. Und Richard Goldsteins Melodie ohne Namen, die selbst Name war.
Während dieser schweren Zeit zerbrach viel um ihm herum: Die zweite Ehe, die auf die erste gefolgt war, die längst in Scherben lag, wurde zerrieben und verging dann einfach. Die Beziehungen zu den selbsternannten „Nahestehenden“ blieben ungepflegt, wurden vernachlässigt und ab und zu abgebrochen, eingeschläfer, wenn der natürliche Tod nicht schnell genug eintrat. Drogen kamen und gingen, und andere Laster, aber nicht hatte Bestand, nichts brachte ihn zu Fall, und nichts richtete ihn wieder auf. Dann stellte sich Weisheit ein, allmählich, und er wandte sich mit all seiner Kraft den großen Projekten zu, die ihn bis in die Gegenwart beschäftigten. Riesige Orchester, die besten Solisten, die größten Hallen, die komplextesten, mitreißendsten Aufführungen und gewagtesten Kombinationen, Modernität und klassische Werte, Kontrast, Dynamik, Tempo, Tempo – alles ohne Grenzen.
Und sie kündigte sich an, in seinen Gedanken. Bald begann sie, sich aus ihrem Ei zu schälen, diese Idee, sie schlug mit noch schwachen Flügeln und begann dann, zu wachsen, zu wachsen, zu wachsen. Doch Dinge, die wachsen, müssen fressen. Und sie, diese gewaltige Symphonie, fraß sein Geschwister, andere Ideen, die ebenso hätten erwachsen werden können. Nach und nach wurde alles verdrängt, und der klügere Rest trat beiseite. Die Idee entwickelte sich immer weiter, nahm schließlich allen Raum ein.
Auch vor der Melodie machte sie nicht Halt.
Richard machte sie zum Thema der großen Symphonie, seiner zehnten, zum immer wiederkehrenden Motiv. Er bot alles auf, was er zu bieten, aufzubieten hatte.
„Wenn man sich einmal von der großen Bühne verabschiedet hat, die Größe der Bescheidenheit kennengelernt und dann wieder zur Pomposität zurückgekehrt ist, will man nicht mehr bescheiden sein. Dann ist das Beste gerade gut genug, und danach kann man in Frieden gehen.“, hatte er einem vorwitzigen Journalisten auf die Frage geantwortet, was ihn dazu bewegt habe, nach jahrelanger Zurückhaltung wieder zu solchen Mammut-Projekten zurückzukehren.
Jetzt war er am Ziel, stand vor dem Spiegel, um sich die Fliege umzubinden für den Abend, für die Aufführung. Endlich hatte er Erfolg, betrachtete sich und war zufrieden. Er musste sich aufraffen, konzentrieren, vielleicht für ein letztes Mal. Die Melodie, das Stück war alles, das einen Platz in seinem Kopf einnehmen durfte.
Dabei tat sie das schon seit Jahrzehnten, seit fast einem halben Jahrhundert.
Der Star flog davon, Richard Goldstein verließ das Hotelzimmer.
Konzentration, ein riesiger Saal ihm gegenüber, ein gewaltiges Orchester in seinem Rücken, Hochflug aller Gedanken und der Wille: Sie zu lenken, zu leiten. Vollkommene Stille, sie machte sich breit. Der kurze, dünne Stab in seinen Händen, ruhig, ohne Zittern.
Richard Goldstein schloss die Augen, stillstehend, sich sammelnd, ein Gebet an alle Mußen schickte er gen Himmel.
Das geöffnete Auge, der Blickkontakt zu seinen Musikern. Jetzt nur noch sie und er, er und sie, Richard und die Musik. Er hob die Arme. Spannung, Anspannung, Bereitschaft und die Hingabe, die er immer fühlte, fühlen musste, ohne die er nicht arbeitete, nicht arbeiten konnte.
Man nannte ihn manchmal „The communicator“. Warum? Weil man von ihm sagte, dasss es ihm möglich sei, jede Emotion auf das Orchester und auf das Publikum zu übertragen, durch seine Musik und durch sein Dirigieren, über den Zauberstab zwischen seinen Fingern in fremde Köpfe.
Ein Ausatmen, ein Aushalten – ein letztes Besinnen – und ein Atemholen, eine Bewegung. Der erste Ton. Langsam, die Instrumentereihen auf- und absteigend, die ersten Takte.
Und dann das Thema, sein Thema, die Melodie, Musik aus dem Nichts. Wie ein eisklarer Bach in der Ferne, der lebendiger ist als die meisten Menschen, und doch gestaltlos, indem er fließt, fällt, schäumt, so erschien das Thema erstmals.
Faszination, Freiheit, das erste Flügelstrecken eines jungen Vogels – das war diese Melodie.
Dann nahm alles Fahrt auf, die tieferen Instrumente setzten ein, eine Klangmasse baute sich auf, ein Tongewicht, das auf dem Saal zu lasten begann. Fast unmerklich war der Chor hinzugekommen, er sang die aus Schmerz geborenen Worte, die Richard vor so langer Zeit niedergeschrieben hatte.
Dann der Bruch, der gewisse Schrecken, ein Donnerschlag aus heiterem Himmel. Grünes Leben wand sich, wurde zu Asche, beabsichtigte Missklänge mischten sich in den Stimmungswechsel. Alles wurde düsterer, der Chor sang verzweifelte Worte, Pauken mischten sich unter in die Dunkelheit der Celli und Bässe, und die Hörner brüllten apokalyptische Posaunenwut heraus. Dann die Stille, die Leere, der Sog – und mitten hinein stieß der einzelne, unendlich zerbrechlich, beschützenswert scheinende Sopran.
Worte der Hoffnung erklangen, Klänge der Hoffnung – Melodie!
Und so ging es weiter, Wechselbad der Gefühle, heiß und kalt, hoch und kränklich, Gutes und Böses, alles in Abwecheslung, wachsende Schnelligkeit, Unterschiede wurden eingeebnet – und alles löste sich, teils in die Leichtigkeit lichter Streicherklänge, teils in Düsternis, in Wut, in zähe Langsamkeit, oder abwartend langsamem Sadismus, gallopierend schneller Freiheit, pausendurchsetze Ruhe, paukenschlagüberzogener, hämmernder Dramatik! Bis alles zusammenfließen musste, zusammenfließen...
Es war ein ständiges Auf und Ab, in allen Schattierungen, zwischen Glück, Gram, Liebe und glühendem Zorn, in allen hellen und dunklen Gefühlsschattierungen! Und alles Dunkle begann, Überhand zu nehmen, bekam Übergewicht, die Schmerzen, die Enttäuschung, die Trennung von Geliebten, das Zerbrechen der ganzen Umwelt, die Vereinsamung, die Desillusionierung. Es war der Löwe, der Schakale von sich wegjagt, blutgetränkt, blutend und blutenlassend.
Würde es sich auflösen, mit allem zusammenfließen, in die Vereintheit? War man so weit?
Richard fühlte die Kommunikation anschwellen wie einen Fluss im Frühling, fühlte alles, das Publikum, die Musiker, die Musik selbst, fühlte den direkten Draht, das Herzblut, das von Herz zu Herz floss, die gewaltige Aorta im Raum, die alles verband, alles transportierte – trank?
Satz um Satz flog vorbei, Stunde um Stunde, Blatt um Blatt, und dann – Finale!
Fatal, alles, jetzt kam der Schluss, Abschluss, Klimax, aneinandergereiht bis zum Ende wie an einer Perlenschnur. Das Dunkle hatte Überhand genommen, die ganze Zeit schon, Melodie war langsam erstickt, war von den dunklen Motiven überdeckt worden.
Die Kommunikation erreichte ihren Höhepunkt, Richard Goldstein pulste den Leuten die totale Weltverneinung direkt in ihre Adern, die Apathie, Agonie, allen Weltschmerz. und dann kam sie – Melodie!
Emotionale Berge und Täler zerbrachen, wurden eben, das Oberste wurde nach unten gekehrt, die Gebirgswurzeln dem Tageslicht zugewandt. Wie oben, so unten! Und alles stürzte und flog, vereintermaßen, auf nichts zu und von nichts weg. Die Melodie kam zurück, machte alles gleich und verlor sich schließlich in der malmenden, alles mit sich reißenden, reißerischen Kraft einer grandios-gigantischen Titan-Fuge, die den Saal in Stürme und Gewitter führte, versinken, erblühen und alles überstrahlen ließ!
Nie zuvor und niemals wieder hatte man einen ganzen Konzertsaal in Tränen gesehen, doch heute geschah es, während der letzten Meter eines unendlichen, alles aus- und erschöpfenden, schröpfenden Marathonlaufs, Elysiumlaufs.
Dann der Schluss, das langsame Verklingen der einzelnen Stimmen und der Schlussakkord, erwartet und unerwartet, hymnisch, himmlisch und vergleichsweise kurz und bescheiden.
Auch Richard Goldstein schämte sich keiner Träne, als der Applaus in die Stille flutete.
Die Melodie war fort, konnte nie wieder in dieser Form erreicht werden, war Vergangenheit wie jede Melodie in dem Moment, in dem man sie spielt, schon Vergangenheit ist.
Goldstein lehnte sich gegen etwas, ein Pult oder ein Stuhl, den Zauberstab legte er ab, gab ihn aus den Händen.
Melodie, das war das gewesen, wirkliche Melodie. Kein absichtsloses Vogelgezwitscher!
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Muße...