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II. Teil

Berlin, 30. April 1945,

 

*

 

Sie hatten Dachau verloren. 

Der offizielle Rundfunk sprach nicht davon, die offiziellen Menschen auch nicht. Aber die Inoffiziellen munkelten, im Untergrund sprach man davon. Und im »Feindfunk«. 

Sagte man zumindest. 

Für Franz waren diese Dinge noch immer abstrakt und fern. Etwas, das in anderen Ländern anderen Menschen passierte. Zuerst in Russland, dann in Afrika, später in Frankreich, in Polen, und nun eben in Süddeutschland. 

Süddeutschland war doch so weit weg!

Franz, Sohn von Katerina und Friedrich Schröder hatte andere Probleme, andere Dinge in seinem Kopf, über die er sich Sorgen machte. Große Sorgen. 

Er kam soeben von der Schule nach Hause. Dort angekommen, ging er durch die Tür des Mietshauses, stieg einige Treppen hinauf und läutete an der Tür. 

Großmutter öffnete. Mutter und Vater waren nicht da, beide mussten arbeiten. 

»Hallo, Franz«, sagte sie. 

»Hallo, Omarfa.«

Dieser Spitzname ging auf Franz frühe Kindheit zurück: Aus »Oma Marfa« hatte er damals »Omarfa« produziert. Alle hatten gelacht, so erzählte man, und den Spitznamen einige Tage ununterbrochen gebraucht, um wieder darüber lachen zu müssen. Irgendwann hatte man sich daran gewöhnt und der Name war geblieben. Sogar Mama Katerina  nannte ihre eigene Mutter von Zeit zu Zeit so. 

»Ich habe noch gar nichts zu Mittag gemacht! Möchtest du vorher vielleicht einen Tee?«

»Gern, Omarfa.«, entgegnete er. 

Es freute ihn sehr, dass die Oma einen guten Tag hatte. Sie war zügig an der Tür gewesen, sprach mit ihm und dachte sogar an das Mittagessen!

An schlechten Tagen kam es vor, dass sie den ganzen Tag schweigend und regungslos in dem Ohrensessel saß, dem alten, mit abgewetztem schwarzen Leder bezogenem und  Elfenbeinsplittern besetztem Ohrensessel, der dem Großvater Gottlieb gehört und den Marfa aus dem großen Haus mitgebracht hatte. 

Manchmal blieb sie stehen, wenn sie nur diesen Sessel sah, als hätte man sie festgeklebt, und betrachtete ihn, als säße ein lebender Mensch darin. Manchmal weinte sie auch. 

»Das Schicksal hat deiner Großmutter übel mitgespielt«, sagten die Leute manchmal zu ihm, »denke immer daran und sei noch freundlicher zu ihr als zu jeder anderen alten Frau!«

»In Seide gewickelt im goldenen Käfig herangewachsen«, sagten anderen, bösere Zungen, »muss sie jetzt ein ehrliches Leben führen. Das ist nichts für solche Prinzessinnen.«

Das waren die neidischen, missgünstigen Weiber des Viertels, die einem Kind nicht einen Platz in der Sonne und einer alten Frau nicht die Luft zu atmen gönnten.

»Um die ist es nicht schade, wenn der Russe kommt!«, hatte Papa Friedrich über diese Weiber gesagt, der mit seinem Splitter im Auge als Versehrter durchging und nicht mehr an die Front musste.

Eigentlich war er ein ruhiger, beherrschter, etwas ernster und manchmal melancholischer Mann. Doch hin und wieder packten in unerklärliche, heftige Wutanfälle, bei denen man nicht einmal wirklich wusste, gegen wen oder was sie sich eigentlich richteten. 

»Die Verbitterung eines Mannes, der Schreckliches erlebt hat, mit hoffnungslosen Träumen, die er aufgeben musste.«, so hatte es Tante Agnes ausgedrückt. 

Agnes hatte einst die Kinderlähmung befallen, daher konnte sie nicht aus eigener Kraft gehen. Nur alles, das über ihrer Hüfte lag, war beweglich. Sie laß sehr viel. Lange Zeit hatte sie angenommen, dazu verdammt zu sein, ihrer Familie als nutzlose Esserin auf der Tasche zu liegen. Vor allem, nachdem der Krieg ausgebrochen war und es immer wieder zu Teuerung und Lebensmittelknappheit kam, hatte sie diese Vorstellung sehr bedrückt.

Dann hatte sie die Stellung in der Poststation bekommen. 

Ihr Körper war beinahe nutzlos, doch selbst der Postdirektor, den man nirgendwohin anders gekleidet gehen sah als in Post- oder der Parteiuniform, hatte anerkannt, dass ihr Geist es keineswegs war. 

Sie erledigte buchhalterische und alle möglichen, mit Papier zusammenhängende Aufgaben, und das sehr schnell, gründlich und ordentlich.

Wenn Sie nach Hause kam, wo man sie schonte, wo es nur ging, hatte sie kaum etwas anderes zu tun, als sich ihren vielen Büchern zu widmen. Manchmal schrieb sie auch Dinge, die nichts mit ihrer Arbeit zu tun hatten.

Franz verstand das nicht. Wenn er schrieb, dann für die Schule, und das war ja seine Arbeit. Natürlich, es gab diese Briefchen an die Freunde, in der Art von »Kommt dann und dann da und dort hin, wir haben dies und jenes, Gruß, Franz.«

Aber Tante Agnes machte das anders, dachte manchmal Ewigkeiten nach, ohne ein Wort zu schreiben. Ein Mysterium umgab dieses Tun, das Franz nicht zu verstehen vermochte. Doch er fühlte, dass es für Agnes sehr wichtig war. 

In diesem Moment kam Omarfa mit einer Teekanne aus der Küche, Franz hatte sich schon an den Tisch gesetzt. 

Eigentlich mochte er Tee nicht besonders, aber ihm war klar, dass es für Omarfa etwas bedeutete, Tee anzubieten, zu machen und zu trinken. Er wollte ihre guten Tage genießen. So lange sie andauerten. 

»Wunderbarer Schwarztee. Dein Großvater liebte Schwarztee. Nur Kaffee mochte er mehr. Aber der ist ja in letzter Zeit so teuer geworden...«

»Danke, Omarfa.«

»Wie? Ja, ja, lass es dir schmecken. Oder warte noch einen Moment, bis ich meine Tasse geholt habe.«

Sie verschwand in der Küche. 

Franz blies vorsichtig auf den Tee, damit er sich abkühlte. 

»Wann kommt Tante Agnes?«, fragte Franz, als Omarfa wieder zurückkehrte. 

»Spät. Wahrscheinlich erst in der Nacht. Sie wurden abkommandiert für die Volkssturm-Plakate. Wahrscheinlich werden sie bis tief in die Nacht arbeiten.«

Plötzlich erhob sich die Großmutter, die noch dampfende Teetasse ließ sie stehen. 

»Ich glaube, dein Vater kommt nach Hause!«, rief sie und eilte an die Tür, um ihren Sohn zu begrüßen. 

Er kam tatsächlich. Er arbeitete am Bahnhof, eigentlich hätte er mehr als beide Hände voll zu tun haben müssen. 

»Die Russen haben die Bahnstrecke eingenommen, die letzte, die letzte, die zu diesem Bahnhof führt. Es kommen keine Züge mehr, weder rein noch raus. Das Ende naht.«, erzählte er knapp, mit unbewegter, kalter Stimme. Sein düsterer Blick bewies, dass er es sehr ernst meinte. 

Zusammengesunken saß er da, ein ausgezehrter, ehemals sehr kräftiger Mann, und wartete auf das Essen. 

Omarfa war in der Küche verschwunden. 

»Wie war es in der Schule?«, fragte Friedrich und gab sich ehrliche Mühe, interessiert zu klingen. 

»Gut.«, antwortete Franz schwach, »wir haben über sie Geschichte von David und Goliath geredet.«

»Ah. Schön.«

Franz war froh darüber, dass sein Vater nicht weiter nachfragte. In Wirklichkeit war die Schule alles andere als gut. Besorgniserregend war sie, furchtbar. 

Alles war in verzweifelt patriotischer Stimmung, sobald sich der Direktor, ein Lehrer oder auch nur der Hausmeister zeigte. Kaum waren mehr als zwei Menschen beisammen, gab es keine anderen Themen mehr als Treue bis in den Tod und Durchhalten bis zum letzten Mann. 

Die anderen Jungen waren in einer hitzigen, fast euphorischen Stimmung. Sie konnten kaum erwarten, das man auch sie zum Volkssturm einberief.

Zwar kannten sie alle die wahren Geschichten über den Krieg, hatten seine Folgen selbst erlebt, die Knappheit, die verkrüppelten Verwandten und Bekannten, doch niemand wagte, es an Kriegsbegeisterung fehlen zu lassen. Niemand wagte, auszuscheren. 

Der Lehrer, ein kleiner, rotgesichtiger Schläger, ein ehemaliger Infanterist, dem Hand und Fuß fehlten, verlor sich zwischen den biblischen Geschichten, den auswendig zu lernenden Gebeten und Liedern, die er ihnen beibringen musste, sehr gerne in spontanen; offenbar selbst ausgedachten Hasspredigten: Gegen die Juden, die »Wehrkraftzersetzer«, den Feind im Osten, den Feind im Westen, den Feind im Süden, den Feind im eigenen Land, die feigen Verbündeten und die faulen Hunde, die er zu unterrichten hatte. 

Franz ahnte, dass sein Vater gesagt hätte, dass es auch um diesen Kerl nicht schade wäre. 

»Was meinst du, Johannerl, was ist besser: Panzerfaust oder Sturmgewehr? Wir diskutieren gerade darüber.«, rief ihm Theodor zu, ein, trotz des Krieges, etwas dicklicher Junge. Franz war gerade aus dem Schulhaus auf den Hof gekommen und hatte Theo bemerkt. Sein Vater war Konservenbüchsenfabrikant und »so braun wie der Hundehaufen dort«, wie sein Vater in einem seiner seltenen Wutanfälle gesagt hatte. 

Franz hätte das niemals zu erwähnen gewagt, aber er wusste, dass diese Worte in den falschen Ohren einem Todesurteil gleichkamen. 

»Ich nehme an, es hängt davon ab, ob sie Infanterie oder Panzerwägen schicken.«, gab Franz zur Antwort. 

»Gegen Infanterie gibt es nichts Besseres als den Flammenwerfer!«, warf Fritz ein, ein kleiner, recht dürrer Junge mit Brille. 

»Ob sie an der Front noch Flammenwerfer haben?«, fragte Franz. »Oder schwere Artillerie? Panzer? Genug Flak? Genug Munition? Genug Männer, die wissen, wie man sie bedient?«

»Das ist nicht, was zählt!«, ereiferte sich Theodor. »Hörst du? Der Amerikaner mag mehr Tanks haben, der Russe mehr Stalinorgeln: Aber was zählt - und das haben wir - ist Mut! Deutscher Mut! Wenn der Mut stark bleibt, unsere Herzen nicht schwach werden, dann werden wir ihre Panzer, ihre Tiefflieger, ihre endlosen Heere und alles, was die jüdische Weltverschwörung mit Geld zu kaufen kann, zur Seite fegen, vernichten, in den Staub treten, im eigenen Blut ertränken, erhängen, zerschmettern, erschießen!«

Einige Jungen waren auf Theodors Rede aufmerksam geworden. Als er endete, klatschten sie. 

»Kindermund tut Wahrheit kund.«, sagte eine Stimme. 

Franz Erfahrung sagte ihm, dass das Wort, das Tante Agnes für den Tonfall der Stimme verwendet hätte, »sarkastisch« gewesen wäre. 

Gesprochen hatte der Hausmeister, der mit seinem Besen gegen den Schmutz auf dem Pausenhof seinen eigenen aussichtslosen Krieg führte. 

Theodor schien zu spüren, dass mit den Worten etwas nicht in Ordnung war. 

»Was soll das heißen?«, fragte Theo scharf. 

»Was weiß ich? Nichts, wahrscheinlich. Jetzt ist sowieso alles egal.«

»Alles egal? Wo bleibt die deutsche Standhaftigkeit, Obergefreiter a.D.?«

»Deutsche Standhaftigkeit?«, wiederholte der Hausmeister und hob seinen Armstumpf, an dem er in der Armbeuge, seinen Eimer transportierte. 

»Die ist in der Normandie geblieben. Beim Anblick des amerikanischen Heeres verreckt. Und auch deine Standhaftigkeit wird sich schneller verpissen als du: ›Hilfe!‹, schreien kannst, wenn du die Tommys, Amis und die Bolschewiken vor deiner Haustür hast!«

Theodor wurde rot vor Wut, entschied aber, diese Rechnung an einem anderen Tag zu begleichen. Stattdessen führte er seine kleine Abteilung - Franz ging gezwungenermaßen mit - über den Schulhof und in eine andere Ecke, wo er weiter über Panzer und Sturmgewehre dozierte. 

»So ein Feigling!«, zischten ihm einige Jungen zu, »Verräter!«

So ging das die ganze Zeit. 

Franz wusste nicht mehr, was er eigentlich glauben sollte. Vielleicht wäre es das Beste, überhaupt nichts mehr zu glauben. Er ahnte, dass Tante Agnes etwas dazu zu sagen gehabt hätte, aber er traute sich aus irgendeinem Grund nicht, sie darüber zu befragen.

»Schau doch nicht so.«, sagte der Vater plötzlich, auch wenn er selbst nicht sonderlich glücklich aussah. »Du bist anders als früher«, fuhr er ruhiger fort und etwas Trauriges kam in seine Augen, »schwermütig bist du geworden.«

Franz versuchte zu lächeln, als hätte der Vater etwas Freundliches gesagt, doch es gelang nicht. 

Friedrich hatte Recht: Franz war kein fröhliches, sorgloses Kind mehr, sofern Kinder, die ihr ganzes bewusstes Leben im Krieg gelebt haben, je ganz sorglos sein können. Was war mit ihm? Ein wenig nachdenklich, ruhig und zurückhaltend war er schon immer gewesen. Das schoben die Leute auf die gute Erziehung. Es fiel ihm nicht leicht, wirkliche Beziehungen einzugehen, auch wenn er klug genug war, sich in der Öffentlichkeit anzupassen. Es fehlte ihm nicht einmal an Mut: Wenn er wollte, konnte er selbstbewusst handeln und sogar »aus sich herausgehen«. Seine Kameraden akzeptierten ihn aus diesem Grund, auch wenn es ihm keine Freude bereitete, zu sein wie sie. Aber jedes Mal, wenn er selbstbewusst handelte oder aus sich heraustrat, sich an den oft brachialen Spielen seiner Kameraden beteiligte oder die Parolen mitschrie, die sie schrieen, fühlte er sich, als habe er eine große Arbeit verrichtet, eine Strapaze hinter sich gebracht. Überall war es so. Für ihn war fast sein ganzes Leben nur Schauspielerei, zu Hause kaum weniger als in der Schule oder auf der Straße. Wenn es keine äußeren Zwänge gab, die ihn zu anderem drängten, zog er es vor, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben, zu studieren, zu lesen oder einfach nur auf dem Bett zu liegen und seinen Gedanken nachzuhängen.

Außerdem fielen ihm manchmal die einfachsten Dinge, die eigentlich selbstverständlich waren, so schwer, dass er Ewigkeiten für sie benötigte oder überhaupt nicht zuwege brachte. 

Vor wenigen Tagen zum Beispiel hatten sie irgendeine Hausaufgabe für Latein zu machen gehabt, und eine Wendung, die Franz nicht nur einmal, sonder sicher schon hundert Mal auswendig gelernt hatte, wollte ihm einfach nicht einfallen! Zuerst wurde er wütend, vergaß jeden Gedanken an Arbeit und verfluchte sich für seine Vergesslichkeit und den Lehrer dafür, dass er ihnen überhaupt solche dummen Hausaufgaben aufgab! Das dauerte nur wenige Momente, dann ebbte das Gefühl des Zorns ab und machte einer tief sitzenden, lähmenden Trauer Platz. Natürlich war es nicht nur das Latein, natürlich nicht. Es war die Schule, es war alles, was das Radio sagte und was man auf der Straße über das munkelte, was im Radio gesagt wurde. Es war seine Krankheit und der ständige Hunger, auch wenn Franz wusste, dass es anderen noch viel schlimmer ging als ihnen. Am Schlimmsten war die Hoffnungslosigkeit.   

Würde der Krieg je enden? Wäre dann alles besser? Wenn alles normal wäre - wäre dann auch er normal? War er der einzige Normale in einer verrückten Welt, oder würde er immer der Verrückte in der normalen Welt bleiben, ob im Krieg oder im Frieden? 

Er fühlte sich innerlich entzweigerissen, von allen Seiten versuchte man, ihn zu beeinflussen, ihm dies und das aufzuzwingen! Er musste nur dies und das vorspielen, und alle waren zufrieden, wenigstens für den Moment. Dann liebte, akzeptierte, respektierte man ihn.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 09.12.2013
ISBN: 978-3-7309-6895-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für die Hohen. Die Schönen. Die Geistigen.

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