September 1908
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Der Expresszug, der mühsam über die endlose scheinenden Schienen polterte, ratterte und schnaufte wie ein ungeheures, vor Anstrengung ächzendes Tier, schickte einen gewaltigen, gen Himmel strebenden Qualmkegel über sich in die Luft, um unter den Schwaden, und auch mitten hindurch, unerbittlich vorwärst zu streben. Er schien wie ein feuerspeiendes Ungeheuer, aus der Hölle hervorgekrochen, um die Menschen zu bestrafen.
Doch die selbstherrlichen Europäer hatten es ihrerseits gefangen, gebändigt und dressiert. Nun musste es rund um die Uhr für die Techniker und Aktionäre von Land zu Land eilen, ohne ausruhen oder innehalten zu können, und verpestete dabei die Welt mit seinem giftigem Atem.
Auf Marfa Iwanowna wirkte diese fremdartige Maschine beängstigend, geradezu angsteinflößen.
Nicht, dass es in Russland, ihrer Heimat, keine Eisenbahnen gegeben hätte, doch Marfa war in einem winzigen Ort aufgewachsen, der den einzigen Kontakt zur Außenwelt über wöchentliche Post, Telegrafie und das Geschwätz aufrecht erhielt, das die handvoll Reisenden mitbrachten, die sich ab und zu in den Ort verirrten.
Mit ihren siebzehn Jahren hatte sie vor zwei Tagen das erste Mal ein solches Ungetüm aus der Nähe gesehen, und es war ihr gleich unheimlich vorgekommen. Als ihr Vater, Iwan Alexandrowitsch, noch am gleichen Tag beim Teetrinken, erzählt hatte, dass sie am nächsten Tag in ein solches Ungeheur steigen und damit in ein fremdes Land fahren würden, dass von ihrer Heimat weiter entfernt war als China, war sie zuerst in Entsetzen, dann in tief sitzende Furcht verfallen. Zwei Stunden war sie von ihrer Mutter und dem Hausmädchen beschwatzt worden, dass diese Technik sicher und seit vielen, vielen Jahren erprobt sei, dass es nur der Schrecken sei, weil sie zum ersten Mal eine Eisenbahn gesehen hatte - und dass sich eine Dame nicht in dieser Weise zieren sollte.
Doch Marfa Iwanowna wusste, was sie gesehen hatte. Sie hatte das tiefe Schnaufen gehört und gewusst, dass es ein Geräusch aus der Hölle sein musste. Allein schon die unglaubliche Hitze, die von diesen Maschinen ausging, war Beweis genug!
Ihr Vater hatte zwar beim Abendessen wieder einmal über die Technik gesprochen, die diesen Verkehrsmitteln ihre ungeheure Kraft verlieh, hatte von Kesseln, Kohlen, Druckventilen und anderem Kram erzählt, über den die Männer stundelang schwadronieren konnten. Doch tief in ihrem Herzen weigerte sie sich, irgendwelchen dieser kruden Erklärungen zu glauben. Marfa hatte kaum gegessen und war früh zu Bett gegangen. Allerdings hatte sie nicht einschlafen können, so sehr wühlte sie der Gedanke auf, morgen in dieses Ungeheuer steigen zu müssen. Am Ende hatte sie sich noch einmal lange mit Irina unterhalten, dem Hausmädchen, und auch ein oder zwei Gläschen Likör getrunken. Danach hatte sie zumindest einschlafen können.
Am nächsten Morgen war sie früh aufgewacht und hatte ein schwarzes, enges Kleid angezogen, das nicht störte, wenn man sich bewegte. Dazu hatte sie eine passende Haube und den Reisemantel angelegt.
So vorbereitet, ging sie in das Restaurant des Hotels, wo man frühstücken wollte. Ihr Vater Iwan, ihre Mutter Ljudmila, ihr Bruder Dimitrij und sie selbst waren anwesend. Der Deutsche, der ihre Reise begleitete, verspätete sich. Oder besser gesagt, er erschien nicht, denn verspäten konnte sich nur einer, der angekündigt hatte, zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu kommen, und das hatte der betreffende Herr nicht. Stattdessen, so hatte er am vorigen Abend erklärt, hatte er noch ein oder zwei Verrichtungen zu erledigen, geschäftliche Dinge. Sobald ein Herr wie er „geschäftliche Dinge“ erwähnte, wurden alle anderen Leute sofort verständnisvoll, freundlich und benutzen Sätze wie: „Ja - da kann man wohl leider nichts machen.“ Marfa merkte sich solche Sätze, einerseits, um sie selbst einmal benutzen zu können, wie ihre Mutter es tat, und andererseits, um selbst vorhersagen zu können, wie andere Menschen darauf reagieren würden, wenn sie einmal sagen würde: „Ich käme ja gern, doch leider ziehen mich Verrichtung fort, geschäftliche Dinge.“
Sie ahnte nicht, dass in der Welt, in der sie zu leben bestimmt war, einer Frau nicht zugedacht war, „geschäftliche Dinge“ erledigen zu müssen. Doch noch stand sie am Anfang dieser Reise, die ihr Leben verändern sollte.
Am Ende hatten sie sich natürlich doch überwunden, in das Ungetüm zu steigen.
Ihr Bruder, der vor einigen Wochen bei der Kavallerie untergekommen war, hatte ihr galant die Hand gereicht und ihr die Treppen hinaufgeholfen. Er war zurückgeblieben und würde nach St. Petersburg weiterreisen, wo er in sein neues Regiment eintreten sollte. Marfa sah im nach, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte. Sie fragte sich später, ob ihr alles, was sie für ihn empfand, all ihre Liebe, erst in diesem Moment klar geworden war.
Unter den Herren wurde nicht viel gesprochen, auch Marfas Mutter hielt sich zurück.
„Es ist schließlich alles beredet.“
Diesen Satz hatte Marfa von Ljudmila aufgeschnappt, als sie sich halblaut mit ihrem Mann unterhalten hatte, wie es ihre Art war, wenn sie sich in Restraurants oder Kaffeehäusern aufhielten und niemand anderes am Tisch saß oder in Hörweite stand. Auch sie, die gerade von der Toilette zurückgekehrt war, hatte den Satz nur zufällig mitbekommen und auch nicht ganz verstanden. Sein vollständiger Sinn sollte sich ihr erst später erschließen.
Stunde um Stunde hoppelte der Zug durch Russlands Weite.
Die Sonne ging ganz auf, hell und klar, in ihrem Rücken. Das Licht ließ die weiten Nebelfelder um sie erstrahlen. Später stand das Gestirn beinahe über ihren Köpfen, um dann wieder abzusinken. Als das leuchtende Rot, das den fernen Horizont genau in ihrer Fahrtrichtung erleuchtet hatte, ganz dem Blau der Nacht und dem Sternenlicht wich, hielt der Zug.
Der Diener Igor trug die Koffer, die Herren ihre Zylinder und Stöcke, die Damen nur ihre kleinen Taschen, in denen sie die Dinge aufbewahrten, die für die Fahrt am nötigsten waren.
Der Deutsche, mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2013
ISBN: 978-3-7309-6894-9
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Für die Muße...