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Die Wahrheit

 

Es war an einem gewöhnlichen, vielleicht etwas regnerischem Tag, als Professor Doktor Theodor Klang die Wahrheit fand.

Es verhielt sich weder so, dass er die Wahrheit über ein bestimmtes Thema erfahren oder herausgefunden hatte, noch wäre er über ein wissenschaftliches oder ein anderes Axiom gestolpert, dass einige Beachtung verdient hätte. Nach solchen kleinen, beinahe prosaischen Erfolgen zu streben, hatte Klang in den letzten Jahren beinahe aufgegeben. Wenn, dann hatte er sie nur verfolgt, um den eigenen Ruf nicht ganz verkommen zu lassen und sich selbst ein einigermaßen angenehmes Leben zu ermöglichen, wie es ihm für einen Akademiker seines Grades angemessen schien. Selbst die Vorlesungen in seinen beiden Fächern, die vielen Menschen für eine seltsame Kombination hielten, hatte er auf ein Minimum beschränkt.

Klang hatte in Philosophie und Mathematik promoviert und hatte für ersteres auch eine Professur inne. Der Grund, dass er sich nach einem abgeschlossenen Philosophiestudium noch der Mathematik zugewandt hatte, war der, dass er zu der Erkenntnis gelangt war, dass alle Denker der Vergangenheit, die sich auf die Argumentation mit bloßen Begriffen nach den logischen Gesetzen verlassen hatten, doch immer an den zentralen Fragen der Existenz gescheitert waren. Die Mathematik, die den Anspruch erhob, die reinste aller Sprachen und die eine der Wissenschaft zu sein, erweckte in ihm die Vorstellung, durch eine Synthese beider Werkzeuge, der sprachlichen und der rein mathematischen Logik, letzten Endes zu einer höheren Wahrheit zu gelangen, als beide Richtungen für sich alleine zu erreichen hoffen konnten. So war es schon näher bei den Vierzig als den Dreißig gewesen, als er schließlich die akademischen Grade erreicht hatte, die er sich zum Ziel gesetzt hatte. Er hatte sich ausgerechnet, wie lange sein letztes, wichtigstes Projekt etwa benötigen würde, um ein Erfolg zu werden, und so hatte er sich noch sechs weitere Jahre mit Vorlesungen, Publikationen und sonstigen Tätigkeiten zugebracht, für die ein so meisterhafter Intellekt wie der seine zu gebrauchen war, um sich einen gewissen finanziellen Vorrat zu zulegen, um sich in der letzten Schaffensphase voll und ganz auf sein letztes Projekt zu fokussieren: Die Wahrheitsformel.

Über zwölf Jahre benötigte er für diese schwere Arbeit, und sah den im Voraus berechneten Zeitrahmen bei weitem gesprengt, doch er gab nicht auf, aus Überzeugung. Nachdem zehntausende von Proben und versuchten Gegenbeweisen angefertigt und die Stabilität der Formelbruchteile überprüft war, die er bereits aufstellt hatte, fasste er diese in höheren Variablen zusammen, die natürlich von den Bestandteilen der Rechnungen abhingen, aus denen sie hervorgingen. Auch diese Arbeit benötigte noch beinahe ein halbes Jahr.

Am Ende jedoch, an jenem regnerischen Tag, war es geglückt, einfach geglückt - Klang hatte erfolgreich die Wahrheit definiert.

Die Formel, die Definition, sah vielleicht komplex aus, doch Klang hatte schon weitaus komplexere gesehen. Trotzdem, recht daran glauben, dass auf der knappen halben Seite die Wahrheitsformel lag, die reine Wahrheit in mathematischer Form ausgedrückt, konnte er immer noch nicht.

Er begann also, die Formel zu überprüfen, auf die denkbar einfachste Weise. Er benutze Axiome, die er selbst kannte und die für ihn außer Zweifel standen, setze sich selbst und die Fakten in die Formel ein und überprüfte in dieser Weise, ob er am Morgen tatsächlich einen leicht säuerlichen und wenigere bitteren Geschmack empfunden hatte, als er seinen Kaffee geschlürft hatte. Überraschenderweise ließ sich der Satz absolut wasserdicht beweisen.

Klang kniff seine schon etwas schwach gewordenen Augen zusammen und überprüfte die Wahrheit für etwa weniger Prosaisches. Als Sympathisant der Sophisten bewies er ebenfalls die rationalistische Beweisbarkeit von Absurditäten, und damit sozusagen im Vorbeigehen, auch die unbedingte Fehlbarkeit der menschlichen Erkenntnis.

Klang musste grinsen und vergaß über seiner Arbeit ganz, dass seine Kaffetasse sich noch immer in der Mikrowelle befand und langsam auskühlte.

Für seine nächste Rechnung brauchte er länger, denn obwohl er einen modernen Computer für seine Berechnungen nutzte, musste er dennoch zuvor alle Variablen neu bestimmten oder definieren, und das brauchte Zeit. Er benötigte noch beinahe eine Stunde, um eine der zentralen Fragen zu beantworten, über die die Menschen seit jeher stritten: Die nach der Existenz Gottes. Schließlich ließ er den Computer die Werte kalkulieren.

Das Ergebnis überraschte ihn sehr.

Das erste, was Klang also tat, nachdem er in dieser doch ziemlich spektakulären Weise seine Formel auf Herz und Nieren geprüft hatte, war, einen alten Studienkollegen anzurufen. Er war inzwischen ebenfalls Professor für Philosophie, jedoch an einer anderen Universität als Klang. Die beiden Herren, die vor allem ihr Abneigung gegen unnötiges Geschwätz verband, redeten knapp und ernst miteinander.

>>Professor Tegel hier, guten Tag - <<

>>Ich bin es, Klang. Erinnerst du dich nocht daran, wie wir einmal über die Unbeweisbarkeit der absoluten, objektiven Wahrheit gesprochen haben?<<

Tegel brauchte einen Moment, um sich zu besinnen.

>>Natürlich<<, erwiderte er dann. >>Ich meinte, dass selbst wenn so etwas wie eine objektive Wahrheit überhaupt existierte, dem Menschen nicht die Mittel gegeben sind, sie zu erforschen, da alle seine Werkzeuge, die Sinne, der Verstand, selbst fehlbar seien, wie sich auch beweisen lässt, sodass er der objektive Wahrheit bestenfalls nahe kommen, sie aber nie ganz erfahren könnte.<<

>>Genau so habe auch ich diese Sache in Erinnerung. Mir sind jedoch schon längst Zweifel gekommen, ob dies den tatsächlich wahr sei, und nun halte ich, so denke ich, den Beweis in den Händen.<<

>>Spann mich nicht auf die Folter – den Beweis dafür oder dagegen?<<

>>Den Beweis für die objektive, die absolute Wahrheit.<<

Tegel zögerte eine Sekunde über die wirklich kühne Behauptung.

>>Wie soll das angehen?<<, fragte er dann, langsamer – und gespannt.

>>Ich definiere die Wahrheit = A, in vielfacher Abhängigkeit verschiedenster Variablen, Konstanten und anderer Faktoren.<<

>>Langweile mich nicht mit deinem mathematischen Gerede, du weißt, dass ich davon nichts verstehe. Warum gerade A für Wahrheit?<<

>>Alethaia ist Göttin der Wahrheit in der griechischen Mythologie.<<

>>Warum hatte ich mir so etwas gedacht?<<

Das Gespräch mit Tegel scheiterte also an Kompetenzunterschieden der beiden Professoren.

Auch mit einem Mathematikprofessor, der einzelne Faktoren wie Ehrlichkeit oder Glauben nicht verstand, jedoch kristisierte, dass man die Formel auch hätte in kürzerer Form darstellen können, hatte Klang keinen besseren Erfolg.

Schon etwas verärgert, ging er seinen Kaffee holen, der inzwischen freilich kalt war.

Die Euphorie, dass er es geschafft hatte, entgegen althergebrachter Lehremeinungen, etwas undefinierbares, wandelbares genau festzumachen und sowohl als Definition in Worten, als auch Formel aufzustellen, versetzte ihn in Verzückung.

Er überlegte stolz, mit wem er sich noch über seine Erkenntnis unterhalten könnte. Das tat er für einige Minuten, nahm sogar Papier und Stift zur Hand, um seinen Gedanken besser Ausdruck zu verleihen. Doch auch nach längerer Zeit viel ihm niemand ein.

>>Heute nehme ich mir frei<<, sagte er in diesem Moment zu sich, >>das erste Mal seit sicher zehn Jahren. Heute werde ich nichts weiter arbeiten, nur genießen, dass mir endlich geglückt ist, wonach die Menschheit so lange Zeit gesucht hat. Morgen, morgen werde ich mich dann aufmachen und allen Menschen die Wahrheit zeigen. Wie wundervoll die Welt sein wird, nach diesem Tag! Es wird keinen Streit mehr geben, keinen Streit mehr geben können, weil nicht einer kommen und anderer Meinung sein kann als ein zweiter oder ein dritter, weil nur noch eine einzige Meinung existieren wird, nämlich die objektive Wahrheit. Die Menschen brauchen sich auch nicht mehr zu fragen, mit Fragen zu quälen, wozu ihr Leben dient, wie sie leben sollen oder woran sie glauben sollen, denn es wird solches nicht mehr geben, keine Zweifel, nur die objektive Wahrheit. Niemand kann mehr unglücklich sein, weil er etwas nicht weiß oder an einer Frage verzweifelt, denn jede Frage wird beantwort sein. Hach, wie wundervoll die Welt dann sein wird!<< Und er lächelte, als er die neue Welt vor seinem inneren Auge erstehen sah.

 

**************

 

Der nächste Tag kam, wie jeder Tag gekommen war, seitdem Professor Doktor Theodor Klang lebte.

Von jugendlicher, frischer Energie beseelt, sprang er schon um halb sieben aus seinem Bett. Er hatte den letzten Tag mit einem Spaziergang durch die Stadt, einem Kaffeebesuch, dem Kauf eines neuen Mantels und einem abschließenden guten Abendessen verbracht.

Heute aber, heute würde er nicht faul sein, heute würde er der Welt die Wahrheit überreichen.

Zunächst stellte sich die Frage, wie er am Besten alle Menschen erreichen würde, damit es nicht vorkäme, dass einer durch Zufall nicht von der Apokalyse erfuhr, die die Welt erfasst hatte. Als erstes kam ihm das Radio in den Sinn, doch dann dachte er daran, wie viele Radiosendungen es gab und dass sicher nicht jeder jeden Sender gleichzeitig hörte. Es würde sicher auch nicht angehen, so überlegte Klang weiter, dass er bei mehreren Sendern gleichzeitig vorsprach, denn sie würden einander sicher mit der Enthüllung der objektiven Wahrheit ausstechen wollen. Vielleicht sollte er mit dem Fernsehen sprechen, dachte er also, doch auch dort war es das gleiche Problem, wie mit dem Radiosendern, es gab zu viele, und niemand sah alle gleichzeitig. So würde also eine Zuschauergruppe, die immer nur ein bestimmtes Programm sah, niemals von seiner Enthüllung erfahren. Zufrieden, dass sein akademischer Verstand ihn vor Dummheiten bewahrt hatte, lenkte er seine Gedanken also in eine ganz andere Richtung.

Ein Buch! Der Gedanke kam wie ein Blitz.

Niemand, der lesen konnte oder nicht wenigstens eine Person kannte, die es konnte, wäre in der Lage, ein Buch, das zuerst vielleicht in Deutschland, dann in Europa, zuletzt aber in der ganzen Welt die Bestsellerlisten stürmen musste, über längere Zeit zu übersehen. Natürlich! Und alle jene, die es schon gelesen hatten, würden nur darauf brennen, ihr Wissen weiter zu verbreiten, sodass, mathematisch streng genommen, genau ein Leser ausreichte, um am Ende die ganze Welt zu informieren. Ha, nun hatte er die Lösung!

Er erinnerte sich an den Namen einiger Verlage, und suchte also mit eifrig, geradezu hektisch die Telefonnummer des größten Buchverlages der ganzen Welt hervor, um sogleich dort anzurufen und zu verlangen, den Geschäftsführer zu sprechen. Als ihm die Dame am Telefon keine Verbindung mit diesem herstellen wollte, stellte sich Klang, mit nochmaliger Betonung seiner akademischen Grade erneut vor und wiederholte sein Anliegen, die letzte und größte Offenbarung, die diese Welt jemals sehen würde, gerade bei ihrem Verlag drucken zu lassen.

>>Mein Herr<<, antwortete das junge Ding, >>hier rufen täglich ein halbes Dutzend selbst ernannter Propheten an, die behaupten, sie hätten mit Gott gesprochen oder solches Zeug.<< Sie blieb zwar höflich, aber Klang merkte langsam, dass er bei ihr nicht weiterkommen würde. Na schön, dachte er ärgerlich, so hat diese Praktikantin dem Verlag wohl das Geschäft des Jahrhunderts verdorben!

Verständnislos gegenüber der Dummheit der ungebildeteten Leute, wählte er also die Nummer des zweitgrößten Verlages der Welt. Zu Klangs größtem Leidwesen sollte sich herausstellen, dass der erste Fall kein Zufall gewesen war.

Als man drittgrößten Verlag der Welt höflich nachfragte, wie er denn zu solchen Erkentnissen gekommen sein wollte, fasste er, obwohl überrascht, schnell und eloquent den mathematischen wie den logischen Beweis seiner Behauptung zusammen und konnte sogar anhand seiner beispielhaften Berechnungen praktische, handfeste Belege liefern, wozu das alles zu gebrauchen war. Wütend bemerkte Klang, vielleicht eine oder zwei Minuten zu spät, dass man am anderen Ende bereits aufgelegt hatte.

Das Beste, was ihm noch passierte, war eine genaue Nachfrage, wie denn das Buch aufgebaut sei, beim sechst- oder siebtbesten Verlag, den er auf seiner Liste hatte.

>>Nun, die inhaltliche Prägnanz bei solchem Informationsgehalt wäre kaum zu übertreffen<<, erklärte Klang lebhaft, >>es handelt sich lediglich um eine Formel und eine Wortdefinition.<<

>>Eine Formel?<<

>>Natürlich, die Wahrheitsformel eben! Dann noch ein oder zwei Sätze, worum es sich dabei handelt, der ganze Rest ist völlig selbsterklärend. Natürlich,<<, er geriet plötzlich ins Überlegen, >>für die Interessierteren unter den Lesern könnte ich noch die Beweise der verschiedenen Sätze anhängen, die zur eigentlichen Formulierung geführt haben, vielleicht noch ein paar Tagebucheinträge von meiner Hand... wobei ich Sie bitten würde, diese noch einmal durchzusehen, denn ich weiß selbst, dass mein Stil in den letzten Jahre etwas nachgelassen hat.<< Am anderen Ende der Leitung herrschte für einige Momente Stille.

>>Wir rufen Sie zurück.<<, sagte dann der andere. Ungläubig bemerkte Klang, dass man aufgelegt hatte. Schon wieder.

>>War das eine Zusage?<<, fragte er sich selbst. Er würde es abwarten. Eine Weile ging Klang in seinem Haus auf und ab, sah aus dem Fenster, überlegte sich, ein paar Schritte vor die Tür zu machen, entschied sich aber dagegen, schließlich hätte der Verlag wieder anrufen können.

Während er so müßig auf und ab ging, kamen ihm einige Gedanken. Um der Menschheit Willen, so dachte er beispielsweise, wäre es das Beste, die Enthüllung der objektiven Wahrheit nicht nur durch ein Medium zu transportieren. Wie klein er gedacht hatte! Nein, es müsste sich so verhalten, dass gleichzeitig mit dem Buch noch ein oder gleich mehrere Zeitungsartikel herauskamen, dass er in den Nachrichten erwähnt wurde und am besten noch im Bundestag sprach! Je mehr er seine Verstand gestattete, die moderne Medienwelt zu analysieren, desto eindeutiger wurden seine Pläne. Er zeichnete sie in ein Schema ein, in dem Medien und die Bevölkerung vorkamen, die sie sahen und das deutlich machte, dass er, wenn sein Plan durchgesetzt wäre, zumindestens circa 98, 7 % der Menschen auf sich aufmerksam gemacht hätte. Er verging fast vor Mitleid mit denen, die die Offenbarung erst später erfahren mussten, doch den Plan um ihretwillen umzugestalten, wäre aus Sicht der Effizienz untragbar. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass doch am Ende das Ergebnis und nicht der Prozess zählte, das zu dem Ergebnis geführt hatte.

So setzte er seine Telefonate fort. Er sprach mit Radiosendern, TV-Sendern, Zeitungen und anderen Medien.

Nachdem er die letzte Nummer auf seiner Liste gewählt hatte, war ihm klar, dass diese Medienleute doch ein seltsames Volk waren, denn niemand hatte auch nur das geringste Interesse an einem mathematischen Beweise geäußert, was Klangs erste Sorge gewesen wäre, hätte jemand eine solche Behauptung aufgestellt, wie er es getan hatte!

Ja, er glaubte ja selbst kaum daran, innerlich hing er noch immer der Meinung Tegels an, aber dennoch, die Zahlen und die logischen Gesetze sprachen eine eigenen, unerbittliche Sprache. Er hatte die Wahrheit definiert und konnte es beweisen. Dieses Wissen war es, das ihn, wie er fand, unerschütterlich und heldenhaft gegen die Widerstände antreten ließ. Ihm blieb nur zu hoffen, dass nicht alle Menschen so seltsam, ja, geradezu denkfaul waren, wie diese Medienleute.

Am Ende fand sich wenigstens ein Verlag, ein alter Wissenschaftsverlag, der schon früher seine mathematischen Publikationen gedruckt hatte, der seine Formel in ein Fachjournal aufnehmen wollte. Dies endlich war ein Anfang. Ja, er würde vielleicht nicht alle Menschen auf einmal erreichen, nein, doch hatten andere Propheten das je geschafft?

Nein, die Menschen würden verstehen. Mit der Zeit ...

 

**************

 

Am Tag darauf begab sich Professor Doktor Theodor Klang wieder in seine Universität. Frühmorgens war er aufgestanden, hatte jedoch weder Post noch Nachrichten auf dem Anrufbeantworter vorgefunden, die er eigentlich erwartet hatte, und war daher früher als gewöhnlich in die Stadt gefahren. Dann tauschte er den Vorlesungsplan – er hätte heute eine über den Exisentialismus des frühen 21. Jahrhunderts halten müssen – und setzte an der Stelle des vorher geplanten einen anderen, dessen Inhalt er sich noch während der letzten Nacht erarbeitet hatte. Mit folgendem Aushang, den er bewusst in einer lockeren, studentenhaften Sprache abzufassen sich bemüht hatte, bewarb er die außerordentliche Lesung:

 

Die exakte Festlegung der objektiven Wahrheit – mathematische Grundkenntnisse sind dringlich!

 

Lange versuchte man, uns weißzumachen, dass es keine Wahrheit gibt. Das glauben Sie auch? Dann sollten Sie diese Vorlesungen besuchen!

Sie brauchen den Stoff zwar nicht für Ihre Prüfungen, aber Sie lernen schließlich nicht für Ihre akdamischen Grade, meine Damen und Herren – sondern für Ihre persönliche Horizonterweiterung, ja, für Ihr restliches Leben!

 

Ich ahne, dass Ihnen diese Abwechslung gut tun wird

in freudiger Erwartung Ihres Kommens

Professor Doktor Theodor Klang.

 

>>Ich hatte wirklich erwartet, dass man sich über solche Abwechslung freuen würde...<<, murmelte Klang missmutig vor sich hin, während er drei Minuten vor Vortragsbeginn, in den beinahe leeren Hörsaal blickte. Gedankenverloren vergaß er ganz, seine Zuhörer zu begrüßen, drehte sich stattdessen zur großen Tafel und begann, die einzelnen Bestandteile der Formel und ihre mathematische Festlegung anzuschreiben, doch sogar er selbst vermisste sein früheres Feuer, seine Begeisterung für seine Formel.

Wenigstens wurde er nicht ständig durch Zwischenfragen unterbrochen. Wahrscheinlich war es wieder nur ein verdammtes Vorurteil, ein dummes Gerücht, dass das Abitur nicht mehr bildend genug war. Alle Anwesenden, von denen er wusste, dass alle sonst nicht scheu waren, ihn mit Fragen zu löchern, schienen seinen Beweis stillschweigend zu verstehen. Nicht, dass er das nicht für möglich gehalten hätte, schließlich war jede Mathematik so klar wie ein geschliffener Diamant, beinahe vollständig selbsterklärend und die schnörkellostste Methode, bestimmte Zusammenhänge klar zu machen. Dass seine guten Studenten das offenbar ebenso verinnerlicht hatten, wie er, gab ihm Hoffnung. Wahrscheinlich waren sie es, die gut gebildete Jugend, die seine Botschaft verstehen würde, wohl besser, als irgendjemand sonst.

>>Das nun<<, begann er also zu reden, motivierter und inbrünstiger als zuvor, während er noch die letzten Formelbuchstaben der letzten Rechnung aufschrieb, >>sind die zwölf Variablen, mit denen sich die Wahrheit, Groß-Alpha, definieren lässt! Folgendermaßen gestaltet sich die Formel:<< Er schrieb: Groß-Alpha ist gleich....

>>Ich ahne, meine Damen und Herren, dass sie schon Recht ungeduldig werden, wie sehr diese Formel den praktischen Fragen gerecht werden kann und wie sich die einzelnen Variablen verhalten werden! Darum bitte ich einen unter ihnen, eine Vorschlag zu machen, worauf ich die Wahrheit beziehen soll, um mathematisch deutlich zu machen, welche allgemeingültigen Gesetze sich aufstellen lassen! Nun, bitte – Vorschläge!<< Er schrieb den letzten Buchstaben und drehte sich zu seinem Publikum.

Ein wenig fassungslos blickte er auf die völlig leeren Bänke.

 

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Als Klang noch am selben Tag in der Bahn saß, weil sein Wagen zu allem Überfluss nicht mehr funktioniert hatte, überdachte er sein Tun und sein Werk zusehends kritischer und distanzierter, und seine Laune verfinsterte sich gewaltig.

Natürlich war der Welt die Schuld zu geben, vor allem, vielleicht aber auch ein wenig ihm selbst. Vielleicht war er ja selbst der Narr, schließlich war es ihm eingefallen, die objektive Wahrheit gerade in diesem Jahrhundert zu definieren, genau von solchen Menschen umgeben, die nicht verstanden, nicht verstehen wollten.

Ihm gegenüber saß eine Mutter mit ihrem Kind. Die Mutter versuchte, das Kind davon zu überzeugen, von einem Butterbrot abzubeißen, doch er wollte lieber die Kekse essen, die sich in der Einkaufstasche der Mutter verbargen.

>>Die Kekse sind gar nicht da drin<<, flüsterte die Mutter dem Jungen zu.

>>Das stimmt nicht. Du hast sie doch auch da reingetan!<<

>>Das sah nur so aus. Die echten Kekse hat das unsichtbare Rentier nach Hause gebracht, und dort gibt es sie dann heute Abend, verstehst du?<<

Über diese Behauptung war Professor Doktor Theodor Klang so verblüfft, dass ihm die Kinnlade nach unten klappte. Das Kind lachte, die Mutter beachtete ihn gar nicht.

>>Entschuldigen Sie:<<, machte sich der Professor bemerkbar. Nun sah die Frau doch hoch.

>>Hm?<<

>>Ähm - << Er wusste nicht so ganz, wie er es schmeichelhaft formulieren konnte. >>Wie soll ich sagen – ihre Geschichte mit dem Rentier und der Unsichtbarkeit und allem...<<

>>Ja?<<

>>Mir scheint, dass die Existenz eines unsichtbaren Rentieres doch relativ... unwahrscheinlich ist, nicht wahr?<< Sie musste lächeln.

>>Ja, schon. Und was wollen Sie damit sagen?<<

>>Nun, hauptsächlich, dass sich die Kekse, wenn Sie sie in diese Tasche befördert haben, noch immer darin befinden müssen.<< Sie runzelte die Stirn, musste aber weiter lächeln. Seltsamerweise taten die ungebildeten Leute das oft, als hätten sie einen ganz anderen Sinn für Humor, als gewöhnliche Menschen. Die vorgetragene Behauptung war unumstößlich, und als solches überhaupt nicht lächerlich!

>>Ja, aber das habe ich doch nur so erzählt, verstehen Sie? Er soll doch erst noch das Brot essen...<< Der Junge hörte nicht einmal zu, sondern glotzte in sein Handy.

Der Philosophieprofessor war nicht gewillt, an dieser Stelle einen Vortrag über Ethik oder Moral zu halten, aus diesem Grund vertiefte er das Thema nicht.

>>Na dann, entschuldigen Sie bitte.<< Er lehnte sich zurück.

Die Dame schüttelte den Kopf, erwiderte jedoch nichts weiter. Während der Zug also langsam die Strecke entlanghoppelte, kramte der Professor einen Notizblock hervor und begann, einen Satz aufzustellen, der die Wahrheit der Aussage feststellen sollte, ob sich die Kekse noch in der Tasche befanden. Die Variablen waren in diesem Fall nicht allzu komplex, daher konnte er die Formel gut auf dem Papier lösen. Er brauchte drei der kleinformatigen Notizbuch-Seiten und zwei Stationen Zeit. Am Ende, als er sich noch einmal alles von Anfang bis Ende durchgelesen hatte, drehte er der Dame das Notizbuch hin. Während sie zu lesen schien, kringelte er das Ergebnis mehrmals ein.

>>Ich denke, dass erwiesen ist, dass ihre Aussage, die Kekse befänden sich nicht mehr in der Tasche, unrichtig gewesen ist. Haben Sie an der Art der Beweisführung etwas auszusetzen?<< Sie sah ihn sprachlos an. >>Haben Sie etwas auszusetzen?<< Sie schüttelte schwach den Kopf. >>So behaupte ich, dass es keine andere Möglichkeit gibt, als dass sich der Gegenstand tatsächlich in der Tasche befindet. Erlauben Sie mir, meine Vermutung zu überprüfen?<< Sie blickte ihn weiter an wie einen Verrückten und musste dann unerklärlicherweise lachen. Am Ende schüttelte sie mehrfach den Kopf und hielt ihm dann die Tasche hin. Triumphierend erspähte Klang den Gegenstand seiner Bemühungen, ergriff ihn und präsentierte ihn allen Umstehenden.

>>Ergo muss der Satz richtig gewesen sein, da sich meine Vorhersage als richtig erwiesen hat.<<

Niemand der schweigenden Fahrgäste sagte ein Wort, alle sahen ihn nur verständnislos an. Ja, dachte Klang, jetzt, jetzt endlich erkennen sie, was es bedeutet, dass ich die Wahrheit gefunden habe! Noch immer hat ihnen die Offenbarung die Sprache verschlagen, niemand wagt es, etwas dagegen zu sagen!

Nur der Junge, der schnell die Packung ergriff und sie aufriss, lächelte ihn glücklich an.

 

**************

 

Wenn Klang ehrlich war, hatte er doch noch ein wenig mehr Reaktion erwartet, zumindest in den nächsten zehn Minuten der Fahrt. Natürlich schien es naheliegend, dass eine solche Enthüllung, wie die der absoluten Wahrheit, nicht allzu leicht zu verdauen war, aber ein wenig mehr Begeisterung zu zeigen, wäre sicher kein Zeichen für fehlende Selbstbeherrschung gewesen!

Doch nicht einer hatte sich noch geäußert. Nachdenklich, überlegend, sogar nach einem etwaigen Fehler in der eigenen Beweisführung suchend, ging er mit leerem, abwesendem Blick nach Hause. Dort angekommen, verdrängte er diese fruchtlosen Gedanken, auch aus dem Grund, dass er erwartete, wenigstens jetzt einige, ja vielleicht sogar mehr Nachrichten erhalten zu haben, als er heute Abend noch zu sichten hoffen durfte.

Allerdings befand sich weder ein Brief im Briefkasten noch eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Noch nicht einmal irgendein Anruf war erfolgt.

Eine Sekunde zweifelte Klang an sich selbst. War er einfach unfähig? Oder schlimmer noch, war er bei all seinem fachlichen Genie zu dumm, zu unerfahren, um sein für jedermann bedeutsames Werk angemessen vorzustellen, zu vermitteln? War er ein Siegfried, der den Drachen zwar erschlagen, aber das daraus entstehende Glück nicht genießen konnte, sondern sich lieber in neue Gefahren und Herausforderungen flüchtete?

Freilich - neue Herausforderungen. Was sollte das für ihn bedeuten? Ja, was hatte die Wissenschaft noch zu tun, wenn sie die Wahrheit einmal gefunden hatte, die allgemeingültige, absolute Wahrheit, die Antwort auf jede Frage?

Vielleicht, so dachte Klang, während er sich schon auf den Weg ins Bett machte, vielleicht war das der einfach Grund, warum die Welt seine Wahrheiten nicht hören wollte. Vielleicht wollte der Wissenschaftler nicht arbeitslos werden.

Als Klang am nächsten Morgen erwachte, nach einer schlecht durchschlafenen, von Grübeln und Sinnierem gekennzeichneten Nacht, fand er sich geheilt wieder.

Wovon er geheilt war? Geheilt war er von seinem dummen Gedanken, ja, seiner lächerlichen Vorstellung, der Welt damit imponieren zu können, mit einer plötzlichen, unverlangten Offenbarung herauszurücken.

Er hatte sich selbst an die Ökonomie erinnert. Ein Kollege hatte einmal bemerkt, dass doch auch die Wissenschaft eine Art Wirtschaft sei. Denn nur, wenn man Antworten auf solche Fragen stellte, die schon lange ausstanden und deren Lösung ziemlich dringlich erwartet wurde, konnte man Ruhm und Reichtum finden.

Natürlich war der Markt für Wahrheiten doch schon lange übersättigt. Es gab zu viele Antworten und Meinungen, zu viele >>Wahrheiten<<, zuletzt die Tegels, der er auch selbst Glauben geschenkt hatte. Denn auch, wenn man die Nichtexistenz einer Antwort bewies, hatte man ja die Antwort auf eine entsprechende Frage gefunden.

Diese abstrakte Erkenntnis hatte zu Professor Doktor Theodor Klangs Heilung geführt. Nun wusste er, worauf er wirklich hinzuarbeiten hätte. Wenn er diesen Plan jedoch erfolgreich verfolgen würde - und anderes verbot die Vernunft - würde sich die Menschheit endlich auf seine Offenbarung stürzen, und er, der unbekannte, verkannte Professor, wäre der Prophet eines neuen Zeitalters!

Bis dahin aber würde er sich noch einem neuen, kleinen Hobby hingeben, das, solange er sich noch als einziger im Besitz der Wahrheit befand, einen großen Reiz versprach. Sollten nur wieder irgendwelche Leute, ob auf der Straße oder auf wissenschaftlichen Kongressen, aus Wut oder aus Unüberlegtheit den Begriff der Wahrheit für irgendeine Behauptung missbrauchen! Dann aber....

 

Ende











Impressum

Texte: Immanuel Silverstone
Bildmaterialien: Immanuel Silverstone
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
In vino veritas est.

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