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I. Der Begriff; und: Die Narren der Moderne




Anarchie - was war das nochmal?

Immer wenn -archie in einem Wort vorkommt, hat es etwas mit ,Herrschaft' zu tun. Und bei An-Archie ist es wie mit a-sozial – es wird verneint der Inhalt des Wortes, und das -n- wurde bloß eingefügt, um zweimal a direkt hintereinander zu vermeiden. 
Anarchie bedeutet also wörtlich, dass es keine Herrschaft gibt. 
Nun - was geschieht, wenn es kein Recht gibt? Die Narren der Moderne werden sagen:
„Das Recht des Stärkeren herrscht"
Warum? Man nimmt an, dass der Mensch von Natur aus bösartig ist, und in Wahrheit die Starken immer danach streben, sie Schwächeren auszunutzen, zu verdrängen oder direkt zu töten, jedoch von unseren Gesetzen daran gehindert werden. Klingt plausibel, oder? 
Also wer sind die Starken in unserem Staat? Der große Kerl mit Bierflasche und Baseballschläger, der jeden böse anschaut, der vorbeikommt? Nun - sein Einkommen beläuft sich auf knapp über Hartz IV, seine Frau macht ihm ständig Vorwürfe, seine Kinder weichen ihm aus - mit der Stärke kann es so weit nicht her sein.
Wer ist es dann? Vielleicht der Bonze, dem schon sieben Bars und Clubs in der Stadt gehören? Der hat das Geld, dem werfen sich die Weiber an den Hals, ihm laufen immer zwei kräftig aussehende Anzugträger hinterher - er hat es geschafft, und keiner macht ihm Probleme. Oder? Die Polizei ist misstrauisch; kleine, geduckte Männer hinter Zeitungen schnüffeln ihm hinterher, ständig werden seine Partys durch Razzien gesprengt oder wegen Ruhestörung aufgelöst - nun, so stark ist er wohl doch nicht.
Aber halt - wir haben jemanden, der stärker ist: Der Polizeichef der Stadt! Ihm müssen alle Polizisten gehorchen, er hat die Waffen der Stadt unter Kontrolle, niemand spürt ihm nach. Seine Frau findet zwar, er bringt zuviel mit der Arbeit zu, und wenn er zuhause ist, würde er nur vor dem Fernseher hängen. Sie schlägt eine Sicherung heraus und schreit, sie wolle sich nur einmal wieder in Ruhe unterhalten. Warum lässt er sie nicht verhaften oder erschießen? Wer würde ihn dafür belangen, ihm gehorchen doch alle Polizisten - ach richtig, die Polizisten im Nachbarort gehorchen ihm noch nicht, und wegen des Widerstands der Frau wird er wohl auch niemals deren Chef werden. 
Wer nun also sind die Starken, die jeden einzelnen von uns beherrschen und tyrannisieren würden, wenn es keinen grimmigen Staat mehr geben würde? Die Antwort ist: Der Staat hindert nicht die Starken daran, zu tun, was sie wollen, sondern er verhindert insgesamt die Entstehung starker Einzelpersonen, selbst derer, die sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen würden. Es gibt keine tatsächlich Starken in unserer Gesellschaft.
Des weiteren ist die Vorstellung vieler ,,Schwacher" und weniger ,,Starker" überhaupt ein großartiger Irrtum. Wie? wird man gefragt, was für ein Unsinn – jede Diktatur in Gegenwart und Vergangenheit beweist das Gegenteil, schließlich würde sich doch niemand freiwillig beherrschen lassen, es sei denn, ein starker Herrscher, oder wenigstens seine Armee, zwingen die Menschen dazu!
Wir werden dies prüfen.
Zumindest sehen wir, dass es in unserer Gesellschaft keine Starken mehr gibt. Was also würde geschehen, wenn es keine Gesetze und keinen Staat mehr geben würde, wenn schon nicht, dass wir alle von den Starken beherrscht würden? 
Die Antwort ist nicht einfach, doch fatal. 

II. Das Gesetz der Gesetzlosigkeit




Es ist eine jener großen Lügen, die besagt, dass der Anarchismus nach dem Ende aller und jeglicher Gesetze strebt, da diese schließlich mit der Herrschaft untrennbar verbunden seien. Die angesprochene Herrschaft – die Herrschaft eines Menschen beziehungsweise eines kleinen Bevölkerungsbruchteils über den gesamten Rest (denn selbst die namentlich so benannte Monarchie oder Tyrannis, die Herrschaft einer Einzelperson, ist in Wahrheit eine Oligarchie, da selbst der mächtigste Herrscher niemals ohne die bestehen könnte, mit denen er sich umgibt und die den größten Nutzen aus seiner Herrschaft ziehen, gleichzeitig aber auch den Großteil der praktischen Herrschaft an sich durchführen) ist, war und wird wohl immer sein: ein Werk von Menschen, und zwar von den Menschen, die sie ausüben, die zu ihrer Erhaltung beitragen und zuletzt noch derer, die sich ihr unterwerfen. Herrschaft ist für die Menschen selbstverständlich geworden, denn seit Jahrtausenden waren sie immer mehr oder weniger einer Art von Regierung, Gesetzgebung oder zumindest einer Herrschaft im ursprünglichsten Sinn, also der Unterwerfung eines Menschen unter einen anderen, der dadurch zu seinem Herren wird, unterworfen. Dennoch darf das Wissen, dass die Herrschaft an sich kein Naturzustand ist, sondern von Menschen gemacht, demnach ein Zustand der Kultur, ein Kulturzustand ist, niemals verloren gehen.
Es wurde erwähnt, dass die Narren der Moderne behaupteteten, dass im gesetzlosen Zustand allein das Gesetz des Stärksten gelten würden. Dies würde natürlich eine neue Herrschaft, nämlich eben die Herrschaft des Stärksten bedeuten. Demnach würde aus jeder Gesetzlosigkeit eine neue Herrschaft mit neuen Gesetzen erstehen, was freilich jede Anarchie ad absurdu führen würde. 

Wie jedoch bereits in I. festgestellt wurde, ist die Frage nach der Person des ,,Stärksten'' niemals abschließend geklärt worden, und daher muss die Erkenntnis folgen, dass der ,,Stärkste" als Einzelperson überhaupt nicht existent ist, sondern das einzig zu Erwartende eine Gruppe von ,,Starken" ist, die die Herrschaft übernehmen würde, denn dies stellt ja überhaupt den Grund – und die Realität – jeglicher, in der Vergangenheit wie der Gegenwart existierender Herrschaftssysteme dar; zumindest, wenn man von Ideen wie der sogenannten ,,Demokratie" absieht, einer Herrschaft des Volkes über sich selbst, in dem natürlich niemals die Starken über die Schwachen, sondern jeder über sich selbst und alle über jeden, damit jedoch in der Tat niemand über etwas herrscht, was den Verlust jeglicher, tatsächlicher Macht oder ,,Stärke" mit sich bringt.  

Wenn also die Folge von Gesetzlosigkeit immer Herrschaft darstellt, so ist jegliche Vorstellung von ,,Nicht-Herrschaft" widerlegt und für widersinnig erklärt, da in der Tat immer entweder der Zustand der Gesetzgebung, also der Herrschaft, vorliegt, oder aber der Gesetzlosigkeit, was die Neuerrichtung einer Herrschaft mit sich bringt. Dies würde bedeuten, dass es für den Mensch ganz und gar unmöglich ist, nicht entweder beherrscht zu werden, oder aber selbst der Beherrschende zu sein. 


In der Tat aber bedeutet Anarchie nicht gleichzeitig auch das Fehlen sämtlicher Gesetze, wie so oft vermutet, sonder nur die Abwesenheit einer von Menschen gemachten, anderen Menschen aufgezwungenen Herrschaft. Die Anarchie, die keinen Herren und damit auch keinen Gesetzgeber kennt, gehorcht anderen Gesetzen: Den Gesetzen der Natur , oder auch: Den natürlichen Gesetzen

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Was nun sind die Gesetze der Natur, wird man sogleich gefragt werden, und woher kommen sie, wodurch sind sie begründet und was geschieht mit Gesetzesbrechern? Diese Fragen sind nicht falsch, auch wenn sie nahelegen, dass vermutet wurde, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen um Gesetze handelt wie solchen der Herrschaft, das heißt: Von einem oder vielen Menschen, dem Gesetz-Geber geschaffene Gesetze. 

Die natürliche Gesetze dagegen werden nicht festgelegt: Sie sind vorhanden, und sie können weder in Frage gestellt noch geändert oder wirklich effektiv gebrochen werden. Sie kommen aus der Notwendigkeit und ergeben sich aus der Realität.
Eines der natürlichen Gesetze wäre: Wenn über eine Sache, einen nützlichen Gegenstand oder ein Stück Land, bisher ohne Besitzer, ein Streit ausbricht, so spricht das natürliche Gesetz die Sache stets demjenigen zu, der im Sinne von sich und der Gemeinschaft den größten Nutzen daraus ziehen kann. Das ist einer der Ur-Gedanken grundlegender Demokratie: Dass die Gemeinschaft über einzelne Fälle dahingehend entscheidet, wie es das Beste für die gesamte Gemeinschaft ist. 

Erstes Problem, so wendet man heute ein, ist der Umstand, dass Einigkeit darüber, was das ,,Beste" sei, nur sehr selten erreicht wird. Welch eine Narretei! Die Gesetze der Natur, deren Urteil jederzeit erkennbar ist für jeden mit Verstand, enthalten für jeden Fall eine klare Entscheidung, und das Problem der Uneinigkeit entsteht erstens daraus, dass entweder einzelne oder viele Mitglieder der Gemeinschaft, in der Tat andere Interessen vertreten als die der ganzen Gemeinschaft, entweder nur ihre ureigenen, oder aber die einer anderen, kleineren Gemeinschaft, die sich in der großen ganzen Gemeinschaft verbirgt, und zweitens daraus, dass die sogenannte ,,Vernunft" für jede, noch so aberwitzige Entscheidung Gründe über Gründe vorzuweisen vermag, die jedes klare Urteil verhindern. Daraus entsteht Streit und Uneinigkeit, und daran schon scheitert der Ur-Gedanken der Demokratie. 

Weiter mögen die Narren der Moderne die natürlichen Gesetze ein großes Dogma nennen, wird doch behauptet, dass sie eindeutig sind und nicht durch die Vernunft oder eigene Interessen verdrängt werden können. Welche Anarchie soll es sein, die sich ein Dogma zur Grundlage macht? Eine Sklaverei!

Die natürlichen Gesetze ein Dogma zu nennen, verhielte sich etwa soll, als es dogmatisch zu nennen, dass ein Tornado für all jene, die hineingeraten, den Tod bedeutet. Die Gesetze der Natur entstehen aus der Realität, aus der Natur, und aus dem wahren Willen der Gemeinschaft, deren Interessen die natürlichen Gesetze bestimmen. In einem System der natürlichen Gesetze ist immer eine möglichst große Gruppe von Menschen, bestenfalls die gesamte Menschheit, als Gemeinschaft zu sehen, deren Wille und Realität ihre natürlichen Gesetze bestimmen. 

Um den Vorurteilern unter den Narren der Moderne einen weiteren Brocken hinzuwerfen: Unter keinen Umständen kann ein starker Mann zu einem anderen gehen und mit ihm anstellen, was er will – beispielsweise ihn töten und seine Habe an sich nehmen – und sich danach auf die natürlichen Gesetzen berufen, weil es keiner wagt, ihm entgegenzutreten. Ebenso wenig kann ein kluger Mann eines anderen Habe stehlen, vor die Gemeinschaft treten und mit hunderten vernünftiger Gründe unter Berufung auf die natürlichen Gesetze sein Handeln vor der Gemeinschaft rechtfertigen, um frei von Strafe zu bleiben. Er kann höchstens so verfahren, dass er der Gemeinschaft vorgaukelt, im Rahmen der Gesetze der Natu gehandelt zu haben – doch dies ließe sich mit allen Gesetzen anstellen und ist vornehmliche eine Frage des Verstandes der Gemeinschaft selbst. 

Die Anarchie bedeutet also, sich keiner menschlichen Herrschaft zu unterwerfen, die von eigennützigen Interessen verfälscht werden kann oder ist, sonder nur den Gesetzen der Natu ; oder: Die Interessen der Gemeinschaft in Anbetracht der Realität über jegliches anderes zu stellen. 

III. Der anarchische Kampf; oder: Die Umwertung der Werte




Wozu nun aber dient es, zu erkennen, dass die Gesetze der Natur vorhanden sind und dass es dem Geist wahrer Anarchie entspricht, sich ihnen anstatt eines menschlichen Herrschers oder einer menschlichen Regierung zu unterwerfen? Mit Blick auf die Wahrheiten der Welt führen die Gesetze der Natur zu einem weiteren Aspekt des wahren Anarchismus: Der Umwertung der Werte. Warum sollen die Werte umgewertet werden, fragt der Narr der Moderne. Ist die Welt nicht gut, wie wir sie vorgefunden haben, wie unsere Ahnen sie uns überließen?

Der Mensch ist an Knechtschaft und Herrschaft gewöhnt, und er ist nicht frei, schon längst nicht mehr, und daher kann er den Gesetzen der Natur niemals folgen - tatsächlich tut er es auch nicht. Der Mensch lebt in Un-Freiheit, in Ketten, die nicht hauptsächlich in der Herrschaft an sich, sondern vielmehr in der festen Überzeugung, dem Wert besteht, immerzu beherrscht werden zu müssen, oder aber: Zu beherrschen. Dieser und andere Werte sind es, die mehr Kette sind als die Herrschaft selbst, die abzulegen das Ziel des Anarchismus ist. 

Die Umwertung der Werte schließt einen Kampf ein, und zwar den Kampf gegen all jene, die um das System der Herrschaft selbst fürchten – gegen die Herrscher und die Menschen, deren Wert es ist, beherrscht zu werden. Es gleicht zwar einem Ringen mit diesen Menschen, doch in Wahrheit ist es nur der Kampf um die Umwertung der Werte – und der Mensch, der bekämpft wird, verteidigt nicht sich selbst, sondern nur den Wert , der umgewertet werden soll. 

Dies ist der erste Kampf des Anarchisten – die Umwertung der Werte.

Was können sie wohl tun, die Menschen, deren Werte sie beherrschen, die aber bekämpft werden müssen – gerade weil sie selbst beherrschen? Sie werden den hassen, der kommt, ihre Werte zu zertrümmern und umzukehren, und auf neuen Tafeln zu schreiben, dass auf Tafeln niemals wieder drohende Worte geschrieben werden sollen, und sie werden ihn für wahnsinnig erklären oder für gemeingefährlich; und das ist er, für deren Werte – den Menschen aber ist er, der die Werte zertrümmert, vielleicht Spötter und Vorhalter eines Spiegels, niemals aber Gefahr oder Feind. Er ist nicht Freund der Menschen, aber Freund der Menschheit; zuerst aber ist er Freund seines Seins. 

Der wahre Anarchist ist zuerst Freund mit dem wahren Anarchismus. 
Nach der Umwertung der Werte , die den größten der Kämpfe darstellt, errichtet der wahre Anarchist die Herrschaft des Nichts und unterwirft sich und alles den Gesetzen der Natur. Dies wäre das Ziel, und die gelebte Anarchie wäre das Ergebnis – doch die Umwertung der Werte ist ein Ziel für ferne, größere Kräfte, damit sie erfolgreich sein kann.

IV: Unwahrheit und Unmoral




Es mag sein, dass einer kommt und spricht: Es zeugt von Unmoral , die heutigen Menschen ihres Lebens und den geliebten Dingen der Vertrautheit in ihrem Leben durch die Umwertung der Wert zu berauben. 

Was ist sie nun, diese Wahrheit, und was die Moral?
Der Kontraktualismus nennt die Moral einen Akt angewandter Vernunft, indem beide Seiten ihre Interessen dadurch wahren, dass sie sie aufgeben, damit kein Kampf entstehten kann, und auf eine höhere Macht hinter den Sternen hoffen, die sie ihnen dennoch erfüllt, und der moderne Mensch nennt diese Macht: den Staat, und früher hieß er: Gott, doch der Staat ist ein Werkzeug der Herrschaft, und auch Gott wurde zu oft als eines missbraucht.
Die Moral: Manch einer nannte sie das Ergebnis von Gefühlen. Ruft es nicht eine Gefühl der Missbilligung hervor, das ,,Unrecht" mit ansehen zu müssen? Einen Biss des Gewissens, den jeder Mensch verspürt, der von Gesundheit an Geist und Seele ist? Doch das Gewissen ist geformt - geformt durch die Gemeinschaft, die der Herrschaft untertan ist, und somit ist auch das Gewissen selbst als Werkzeug der Herrschaft nicht vertrauenswürdig, um festzustellen, was sie denn sein soll, diese Moral.
Die Wahrheit: Ist sie das Wort Gottes - das Wort des Staates? Was der Mensch wahrnimmt und erkennt, ohne sich selbst dabei zu belügen, muss wahr sein. Doch der Staat ist ein Werkzeug der Herrschaft, und auch Gott wurde zu oft als eines missbraucht, und die Wahrnehmung des Menschen ist vielleicht die größte Lüge von allen.
An all diesem sieht man, dass die Wahrheit und die Moral nur eines sind: nihil 

Zweifelt man das richtige Urteil an, nur weil es schlecht begründet ist? In der Tat tut man es, und allen voran die Gebildeten unter den Menschen, die den Menschen bewahren wollen vor der Lüge, indem sie die Vernunft anbeten, dabei ist die Vernunft selbst der einzige Quell der Lüge – denn was würde zu lügen vermögen, das keine Vernunft besitzt?

Und so ist auch das Urteil der Vernunft: nihil

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Wie soll man also über Wahrheit und Moral urteilen, wenn nicht mit der Vernunft, nicht mit dem Gefühl, nicht mit dem Gewissen?
Existiert, wenn Moral und Wahrheit nihil sind, überhaupt noch eine Verpflichtung, moralisch und nach der Wahrheit zu handeln? 

Fragt den wahren Anarchisten: Denn auch Moral und Wahrheit waren zu oft Werkzeuge einer Herrschaft, die abzulegen das Ziel des Anarchismus ist. Und wer heute noch moralisch und nach der Wahrheit handelt, der ist auch Diener der Herrschaft, und er muss umgewertet werden. 

Natürlich ist oft auch, wer lügt und mordet, ein insgeheimer Diener der Herrschaft, denn er rechtfertigt sie vor dem Volk und vor sich selbst. Niemals handelt der wahre Anarchist absichtlich unmoralisch oder gegen die Wahrheit, um der Herrschaft zu schaden, denn das ist nutzlos.
Der wahre Anarchist befreit sich von den Ketten der Moral und der Wahrheit, sofern sie in den Gesetzen der Herrschaft festgelegt sind, denn als Ketten sind diese beiden: Werkzeuge der Herrschaft, und als Gegenstand sind sie nihil – das bedeutet, dass sich der wahre Anarchist im Kampf des Anarchisten, der Umwertung der Werte , leicht darüber hinwegsetzten darf, mehr sogar: Dass er dazu verpflichtet ist, da er sich sonst von etwas fesseln ließe, das ist: nihil

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Heißt das - man soll handeln, wie es beliebt, befreit von den Ketten, die Moral und Wahrheit darstellen? Heißt das – man soll lügen, stehlen und morden, wo es möglich ist?
Diese Frage erübrigt sich mit Blick auf die natürlichen Gesetze. Wäre es möglich, die Realität der Gemeinschaft dahingehend zu gestalten, das Mord, Lüge und all die anderen, sogenannten ,,Verbrechen gegen die Moral", die aber nihil ist, der Gemeinschaft selbst und ihren Mitgliedern überhaupt keinen Schaden mehr zufügen können so gäbe es nicht den Schatten eines Wortes auf den Tafeln, das dem Menschen verbieten würde, so zu handeln. Doch wer Verstand hat, wird sogleich erkannt haben, dass dies unmöglich ist, außer bei einer einzigen Art von Gemeinschaft, nämlich der, die nur aus einer einzigen Person besteht, und diese ist eine Dummheit, weil es ein Ziel der wahren Anarchismus ist, idealerweise die Menschheit als eine einzige Gemeinschaft wahrzunehmen. 

V. Freiheit durch Befreiung, oder; Der Fall der Ketten



Der Mensch ist etwas, gekettet sein will.
Sucht nicht nach einer bösen Macht hinter den Sternen oder in den Tiefen der Erde, die den Menschen verdammt hat, immerzu im Zustand der Herrschaft zu verhaften, denn diese Weisheit lehrte er sich selbst, als sich eines Tages ein Mann erhob und andere zu seinen Untertanen erklärte und dieses Recht zuerst mit Gewalt, später mit Organen des ,,Staates" verteidigte, und unanfechtbar machte durch Religion zuerst und ,Bildung' später. Dazu legte er in Ketten – die Menschheit.
Es sind Worte gesetzt, die von Ketten kündeten.
Zuerst sind es die Ketten der Herrschaft. Die Herrschaft an sich ist die offensichtlichste Kette unter diesen, aber mehr noch als von der Herrschaft selbst und diejenigen, von denen sie praktisch ausgeführt wird, werden die Menschen gefesselt von ihrem Glauben, es sei ein unumkehbares Prinzip, immerzu beherrscht zu werden, es sei den, man würde sich selbst zum Herren erklären, was freilich die Herrschaft als insgesamten Zustand dennoch erhalten würde. Mit dem Glauben an die Illusionen wird diese zur Tatsache.
Eine weitere Kette ist ein anderer, ebenso tödlicher Irrglaube, nämlich der von der Gleichheit der Menschen: In einer Gemeinschaft, in der die Gleichheit propagiert wird, liegt entweder eine tatsächliche, aber insgeheime Herrschaft vor – in der Regel ausgeübt von denen, welche den Grundsatz der Gleichheit am lautesten hinausplärren - die nur vor den Beherrschten verborgen wird, oder aber, es liegt das ganze Volk in Ketten, nur dass es nicht von einem Herrscher beherrscht wird, sondern von den eigenen, selbstgesetzten Grenzen, die um der Gleichheit Willen allen Menschen aufzwingt, auf der Höhe der allgemeinen Befähigung des Allergeringsten in der Gemeinschaft zu verblieben – in diesem Falle freilich wären in der Tat alle gleich, doch diese Art von Gleichheit ist unvereinbar mit einem weiteren Schein-Prinzip, das so oft in einem Atemzug mit der Gleichheit genannt wird: Der Freiheit, denn wenn alle beherrscht werden von dem Willen, niemals einen anderen zu übertrumpfen, kann es keine Freiheit geben.
Weitere Ketten sind die Illusionen von Moral und Wahrheit, denn sie bringen die Menschen dazu, nach einem Gespinst aus Schatten und Rauch im Sinne der Herrschaft zu handeln und diese zu erhalten. Die Gemeinschaft urteilt, und dieses Urteil ist ein Instrument in den Händen der Herrschaft. Der Mensch wird nicht nur beherrscht – er wurde dazu gebracht, beherrscht werden zu wollen. Dies ist die schwerste unter den Ketten, die man den Menschen auferlegt hat.
Die Ketten fesseln die Gemeinschaft schon sehr fest, doch am schwersten ist die Last der Fessel für den Einzelnen. Je größer die Kraft des Einzelnen, desto stärker und schwerer die Kette und desto härter das Joch, das man ihm auferlegt, denn wir sahen, dass die Gemeinschaft, die einer Herrschaft unterordnet ist, das Aufkommen starker Einzelpersonen zu verhindert, selbst dann, wenn diese sich in den Dienst der Gemeinschaft stellen würden. Wenige sind es, die das Joch gut ertragen, und allzu oft sind es gerade die Schwachen, deren Ketten schwächer sind, die am stärksten verbleiben, seltener aber einige unter den Starken, weil ihnen die Listigkeit gegeben ist, sich selbst – gegenüber der Herrschaft - als schwächer darzustellen, als sie sind, gegen die Mitglieder der Gemeinschaft aber als stärker, wenn auch nicht als so stark, wie sie ohne die Ketten der Herrschaft wären, wie es also sein sollte. Diese werden zu den Großen der Zeit, die von den Großen der Zeiten danach verdammt, von den Kleinen der Zeit jedoch vergöttert werden, und die nicht selten selbst nach der Herrschaft greifen. Die meisten dieser Art von ,Großen' findet man in Politik, Wirtschaft und im militärischen Bereich.
Der wahre Anarchist dagegen verfährt anders, als seinen Ketten-Geber zu betrügen, um ein leichteres Joch zu erhalten, als ihm andernfalls zugedacht worden wäre: Er stellt sich ganz und gar gegen die Kette, anstatt sie wegen des vorgegaukelten Gemeinschaftswillens anzunehmen. Damit weist er die Liebe des Gemeinschaftswillen, der nun zu einem reinen Instrument der Herrschaft geworden ist, weit von sich, und mit ihr das Joch und den Herrscher, der sie ihm auferlegt. Mit den Ketten der Herrschaft legt er die Herrschaft selbst ab, und vor dort an ist es nicht weit, auch die Ketten von Moral und Wahrheit als die Instrumente der Herrschaft, abzustreifen.
Der schlussendlich doch befreite Mensch wächst in ungeahnte Höhen. Erlaubt man sich nun den Gedanken, nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Menschengruppen bis zum Abwerfen der Ketten der Herrschaft zu führen, so entstünde eine Menschengruppe, die über die anderen schnell hinauswüchse und aller Herrschaft ledig wäre und lediglich den Gesetzen der Natur folgen würde – eine Menschengruppe der wahren Anarchie. Der Erfolg dieser Tat, des Abwerfens der Ketten, geht mit der Umwertung der Werte einher, die den Menschen angetan wird, die während dieser Tat befreit werden, und all dies wäre der Sieg im anarchischen Kampf. 

Wenn man dies als Ziel verfolgt, so gibt es einen Pfad, der um jeden Preis außer Acht gelassen werden muss, so verlockend er auch scheinen mag, und das ist der Weg der Gewalt. Egal, mit welcher Form von Gewalt der Mensch in die Freiheit von seinen Ketten geführt werden soll, und sei sie noch so unblutig und schmerzlos für diesen, selbst, wenn er sie gar nicht wahrnimmt, weil die Gewalt in Täuschung besteht und heimlich vonstatten geht: Wenn nur irgendeine Gewalt im Spiel ist, so ist die scheinbare Abwerfung der Ketten und Umwertung des Menschen nur eine Illusion: Den der ,,Befreier" wäre nichts weiter als ein neuer Herrscher für die Menschen, und es ist unmöglich, durch Herrschaft die Freiheit von Herrschaft herbeizuführen, also den Zustand der wahren Anarchie.

VI. Freiheit des Menschen; oder: Der wahre Anarchist



Wenn man sich die Möglichkeit betrachtet, dass eine Menschengruppe umgewertet würde, um eine Gemeinschaft des wahren Anarchismus auf dem Fundament der natürlichen Gesetze zu errichten, so darf bei allem optimistischen und träumerischen Idealismus, der für den wahren Anarchisten in der heutigen Zeit geradezu überlebensnotwenig ist, die ausgesprochene Schwierigkeit, um nicht zu sagen - die Unmöglichkeit einer solchen Unterfangens, nicht außer Acht gelassen werden, vor allem, wenn die scheinbare Möglichkeit der Gewalt, um die Menschen zu befreien, als Unmöglichkeit und ungangbarer Weg enttarnt wird. 

Bevor jemals eine Kraft entstehen mag, in deren Befähigung es liegt, die Umwertung der Werte an einer wirklich maßgeblich großen Gruppe durchzuführen, rein vom Standpunkt der gesamten Menschheit aus betrachtet, ist das Augenmerk auf einen anderen Kampf des wahren Anarchisten zu legen: Es ist nicht der anarchische Kampf gegen die Herrschaft und die Ketten der Herrschaft und gegen ihre Werte und Wahnvorstellungen, die Werkzeuge der Herrschaft darstellen, sondern vielmehr: Der Kampf des wahren Anarchisten gegen die eigenen Ketten, von denen er selbst gefesselt ist. 

Welche Ketten sollen das sein, fragt der Narr der Moderne. Sind die Menschen nicht so frei wie nie zuvor? Sie können wählen, können heiraten, wen sie wollen, dürfen Kinder haben oder auch nicht, sind noch nicht einmal gezwungen, sich jemals ernste Sorgen über ihr Überleben zu machen, garantiert doch unser Staat jedem Staatsangehörigen ein Existenzminimum? So ist der Mensch sogar von den grundlegendsten Ängsten, nämlich denen über Leben und Überleben, befreit: Welche Freiheit wollen die unverschämten Undankbaren noch, die sich Anarchisten nennen?
Um diese Frage zu beantworten, ist zu betrachten, auf welche Weise die Systeme überhaupt entstehen, von denen Leben und Überleben der Menschen im Allgemeinen geregelt, oder aber reglementiert werden, und besonders zu beachten dabei die gegenwärtigen Systeme und deren Ausbildung.
Lebens- und Überlebens-Systeme waren die Legitimation des Staates in seiner Urform. Den ursprünglichsten Staat stellten die sogenannten ,,Horden" der Urmenschen dar, später die ,,Heeresversammlungen", bis sich eine feste Aristokratie als herrschende Klasse manifestierte, die in der Folge stetigen Angriffen aus den unteren Klassen ausgesetzt war, bis sie entweder gestürzt wurde – was letztendlich immer das Resultat dargestellt hat, solange unsere Erinnerungen reichen – oder aber wirksamere Methoden fand, die unteren Klassen am Aufstieg zu hindern.
In der Tat finden wir auch hier die Legitimation des Staates als System zur Regelung von: Leben und Überleben, nur dass die Gemeinschaft, deren Interessen im alleinigen Brennpunkt standen, nicht den gesamten Staates einschließt, sondern nur die der jeweiligen Klasse selbst. Später vollzogen sich weitere Unteraufteilungen der Klassen und die Gemeinschaften, um deren Interessen es den Einzelnen ging, wurden stetig und stetig kleiner. Die herrschende Klasse, natürlich ganz und gar in der Folge ihrer Funktion der Herrschaft, diktierte für alle weiteren Mitglieder des Staates Regeln – später meist ,,Gesetze" genannt – sowie bestimmte Werte , nämlich die der Moral, auch wenn diese in frühere Zeit zumeist in Form von ,,Geboten" einer Religion, dem Volk übergeben wurden, mit dem Zweck, sich selbst – also der Aristokratie - den bestmöglichen Vorteil innerhalb der bestehenden Möglichkeiten zu sichern. 

Hier findet man zuerst die übergreifende Instrumentalisierung der Herrschaft von allem und jedem, um sich selbst zu stützen, denn es ist niemals der wahre Grund gewesen, eine Religion zu begründen, nur um das Volk an die Herrschaft zu gewöhnen - in der Tat ist die Religion selbst älter als die Herrschaft - auch wenn es, gerade in späteren Altern, allzu oft ihren einzigen Zweck darstellte. Die Herrschaft diktiert Regeln – und für wen waren sie von größtem Vorteil? Auch wenn es unbestreitbar ist, dass all die gängigen und sich im Laufe der Geschichten wiederholenden Regel-Prinzipien, Gebote, Gesetze, oder wie immer man es auch nennen mag, für alle Betroffenen auch gut erscheinende Folgen haben, ist nicht zu unterschlagen, dass diese Gesetzte am Besten und vor allen anderen einer von vielen Gemeinschaften im Staat diente, die aber den ganzen Staat beherrschte. In früheren Altern zeigten sich Systeme wie Sklaverei, Leibeigenschaft, Zwangsarbeit und Heeresfolge – dort sind die Verhältnisse des Ausbeuters und des Ausgebeuteten nur allzu deutlich - während diese Ausbeutung der beherrschten Klassen mit dem Fortschritt der der Zeit immer subtiler gestaltet wurde, vor allem im Zuge der sogenannten Revolutionen, deren oberstes Ziel zuerst die Vernichtung der Herrschaft als solcher, später nur der Vernichtung der im Augenblick herrschenden Oberklasse, und zuletzt lediglich der Herrschaft dazu herangezogener Abstrakta wie ,,Religion" oder ,,Kapital" darstellten.
Welche der bisherigen Revolutionen hatte als Folge etwas anderes als Tote, Verwüstung und zuletzt die Errichtung einer neuen Herrschaft? Die Revolution, auch die sogenannten ,friedlichen' Revolutionen, sind ganz und gar ungeeignet, um die Herrschaft zu beseitigen und den Zustand der wahren Anarchie herzustellen.
Ein weiteres Merkmal neu errichteter Systeme ist, dass sie von der, in der Zeit der Neuordnung, dominierenden Klasse nach den Maßstäben der damaligen Zeit, vielleicht ursprünglich sogar mit der tatsächlichen Intention geschaffen wurden, die Zukunft besser zu gestalten. Doch die Zukunft ist von der Vergangenheit, zumindest nach genügend verstrichener Zeit, vollkommen verschieden.
Dazu lassen sich unsere Gesetze doch ändern, entgegnet der Narr der Moderne und verschränkt die Arme. Sie sind nicht steif, sie lassen sich der neuen Zeit anpassen!
Wer beherrscht aber nun, im Gegensatz zum Zeitpunkt der Systembildung, den heutigen Staat, und unter der Beachtung welcher, oder besser: wessen Interessen handelt er? Nach den Interessen der herrschenden Klasse - wieder.
Jedes System wird entweder nach den Interessen der herrschenden Klasse verformt, oder muss an seiner Unfähigkeit zum Wandel zugrunde gehen, und das meist durch eine neue Revolution. Dieser Kreislauf an sich bietet freilich ebenfalls keinen Ausweg aus dem Zustand der fortwährenden Herrschaft.
Wir sehen also, dass Systeme und Werte der Systeme in jeder Hinsicht vor allem anderen den Interessen der herrschenden Klasse dienen, und nicht den Interessen aller, die in diesem System leben. 

Werfen wir die herrschenden Klassen zu Boden, schließlich herrscht der Klassenkampf!, ruft man von Links.
Es muss aber erkannt werden, dass auch ein Klassenkampf, der mit Sieger und Besiegtem endet, immer – und die Geschichte hat es bewiesen – mit der Etablierung einer neuen herrschenden Klasse enden muss, und dass somit auch der Klassenkampf kein Mittel ist, die Herrschaft zu beseitigen; und daher ist dies – die tatsächliche, dauerhafte Beseitigung der Herrschaft, die mit der Umwertung der Werte einher geht – kein Ziel für den Menschen von heute. 

Doch der wahre Anarchist erkennt die Werte von heute – Gesetze, Moral, vorgeblichen Gesellschaftswillen – und ihren Sinn und die Absicht, mit der sie niedergelegt wurden, als das, was sie sind: Nicht nur Instrumente der Herrschaft, sondern vielmehr: Instrumente der Herrscher selbst. Seine Folgerung daraus muss sein, sie abzuwerfen und zu meiden, bestenfalls aber - sie restlos zu vernichten.

Dies geht einher mit der Verweigerung der Ketten des Staates, die den Einzelnen auferlegt werden mit dem Zweck, die Entstehung von ,,Starken" innerhalb des Staates zu verhindern, und führt, sofern die Reaktionen der Gemeinschaft auf diese Verweigerung überlebt werden, zu einer Art der Entfaltung des Menschen, wie sie zuvor kaum vorstellbar war.
Um einen Begriff davon zu bekommen, wie groß und wie geartet diese Entfaltung wäre, sollten die wahrlich Großen der Welt betrachtet werden. Ab und an erscheinen Individuen in dieser Welt, denen es gelingt, ohne stur den vorgegebenen Wegen der Gemeinschaft zu folgen, aus scheinbarem Nichts Großartiges zu schaffen: Konzerne, Kunst, große Vereinigungen, doch auch kleinere, unscheinbarere Dinge, die später zu tatsächlichen Veränderungen der Welt führen; ein Beispiel für solch ,,kleinen" Neuerungen wäre die Glühbirne.
Und in dieser Art würden sich alle Menschen emporrecken, wenn sie sich von den Ketten der Gemeinschaft befreiten, wenn ihnen mit ihren Ketten nicht noch ein Detail verlustigt gehen würde: Die Unterstützung der Gemeinschaft, denn allein ist selbst der größte Mensch klein, auch wenn die Großen das nur ungern zugeben. So wäre auch dies kein Weg, den Zustand der Herrschaft zu beenden...
Der wahre Anarchist ist in der heutigen Welt einsam, wenn auch nicht verlassen, ohne Glück, aber nicht hoffnungslos. Die Menschen haben sich im Laufe der Jahrtausende vielen Lastern hingegeben, und durch die starke Prägung gerade des Abendlandes, das sich selbst für den Thron der Welt in kultureller, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und nicht zuletzt: ideologischer Herrschaft proklamiert hat und den griechisch-römischen Geist in alle Himmelsrichtungen transportiert, haben sich viele dieser Laster von damals mit denen von heute vereinigt und bilden für die Gegenwart die vielleicht lasterhafteste Basis für Leben und Überleben des einzelnen Menschen.
Um das Wachstum der Menschen zu vergrößern, muss mit dem Abstreifen der Ketten eine weitere Befreiung einhergehen: Die Befreiung von allen Gewohnheiten des gesellschaftlichen Lebens, und davon machen Laster wie Drogen und übermäßiger Konsum ursprünglicher Luxusgüter nur einen kleinen Teil aus, denn viel brutaler als die ,,Zwänge" der Droge und dieser Laster sind: Die Zwänge der Gesellschaft, reichend von versteiftem Ausdruck von Freude, allzu lang vorauseilende Planung ohne Not, nur um den Ablauf der Dinge so zu gewährleisten, wie die gesellschaftliche Idealvorstellung es vorgegeben hat, und das allgemein gepflegte Bild von ,,Moderne", das inzwischen beinahe allein von den Massenmedien geprägt ist, die in ihrem täglichen und flächendeckendem Missbrauch vielleicht das größt Laster von allen darstellen.
Der erste Wille muss sein, alle diese Dinge restlos zu verbrennen und tief zu begraben, woher sie niemals wiedergeholt werden können.
Dies freilich ist auf einem Weg der Gewaltlosigkeit – es ist von einer Art von großangelegter, Menschen in großer Zahl betreffender und beherrschender Form von Gewalt die Rede, denn jede Gewalt erzeugt am Ende nur die Herrschaft – in der Tat praktisch unmöglich, ähnlich wie es unmöglich wäre, einen Mord zu begehen, ohne dem Opfer wenigstens in irgendeiner Form Gewalt anzutun; und das Ergebnis könnte sich höchstens durch schieres Glück einstellen.

Wie also kann sich der wahre Anarchist überhaupt seinem Namen und seiner Erkenntnis entsprechend verhalten, wenn er sich weder ganz von der Gemeinschaft befreien, noch sie ganz dem erstrebenswerten Zustand der Anarchie zuführen kann, die nur noch den natürlichen Gesetzen folgt, weil die Anwendung von Gewalt als Mittel ausscheidet?

Die naheliegendste Möglichkeit ist die der Parallelgesellschaft. Kleine, vielleicht radikale, vielleicht schlicht alternative Gruppierungen, die den Willen haben, die Gemeinschaft zu ignorieren, hätten die Möglichkeit, die Umwertung der Werte an sich selbst durchzuführen und dadurch die Ketten der Staats-Gemeinschaft abzuwerfen.

Dies ist freilich keine Antwort auf die Tragödie der Welt im Ganzen.
Reduziert sich der Mensch dagegen auf einen sehr kleinen Horizont, um die Welt, zumindest in seiner Wahrnehmung auszublenden, so vermag er, zumindest in Teilen und so weit er die Unterstützung der Gemeinschaft hinter sich lassen kann, einen ähnlichen Erfolg zu erreichen. Arbeite an dir selbst, lautete der Imperativ, allein und im Verborgenen, und erreicht auch dort deine Erfolge.
Ist dies der wahre Anarchist? Die Herrschaft der Welt abzulegen, indem man die Welt selbst flieht, ist weder ein Akt des Terrors, noch der Gewalt, noch des Mutes, doch - die Wirksamkeit kann kaum abgesprochen werden, solange man das Leben außerhalb der Gemeinschaft überstehen kann.
Doch ist dies unvereinbar mit einem weiteren Aspekt wahren Anarchismus, nämlich die Menschen in ihrer Gesamtheit zu den inneren Werten des Zustands wahrer Anarchie und den natürlichen Gesetzen zu führen. 

Die Menschen sind nicht als das geboren, was sie sind, nicht als schlecht und schwach und blind und feige, nicht als arrogant und unwissend und zu träge, um zu sehen und zu fühlen – zu all diesem wurden sie gemacht. Nicht der Teufel war es, der die Herrschaft des Gottes auf der Erde brach, sondern der Teufel Mensch, als er die Menschheit in Ketten zwang. Kein Mensch soll einem anderen vorwerfen, dass er all das ist, wozu er gemacht wurde, ebenso wenig, wie man einem Toten seinen Tod vorwerfen würde, sondern der wahre Anarchist soll zu den Menschen gehen und die Ketten zersprengen und die Ketten-Geber erschlagen und keinen Wert unangetastet lassen, kein Instrument der Herrschaft, und auch keine Herrschaft mehr. Und die erste Kette, gegen die er seinen Grimm richten muss, sind seine eigene Ketten.
Hat er all diese Ketten endlich vernichtet, so ist der Kampf gewonnen und der wahre Anarchist atmet erstmals die Luft der wahren Freiheit des Menschen.

Nachwort; und: Imperativ der Anarchie - dem wahren Anarchisten



Nun – war es dies?
Wer wagt zu sagen, ob die zerbrochenen Tafeln ersetzt werden können von neuen Tafeln, oder ob es nichts weiter sein wird als eine weitere Kurve in dem endlosen Kreis der Revolutionen, Konter-Revolutionen und Herrschaften?
Ein Wort soll noch gesagt sein zu den nihilistischen Auffassungen, von denen in IV. die Rede ist. Wer anmerken mag, dass eine Argumentation, welche die Absurdität jeder Wahrheit als Ziel hat, und gleichzeitig den Sinn der Argumentation als Reihe von Argumenten als einen Weg zur absoluten Wahrheit ansieht, überhaupt jeden Sinnes entbehrt beziehungsweise niemals zu irgendeinem ,vernünftigen' Ergebnis kommen kann, hat gut erkannt, dass die Logik überhaupt kein Mittel ist, die Entmanglung einer auf Logik begründbaren Wahrheit zu begründen. Dies auf den Inhalt dieses Buches der Unwahrheit und Unmoral auszuweiten, mag für den einen gar den Grund darstellen, jede darin enthaltene Argumentation für widersinnig oder zumindest für kraftlos in ihrem Wirklichheitsanspruch zu halten. Jede im nihilistischen Sinne verfasste Argumentation ist schon dahingehend widersinnig, geradezu ,in sich unlogisch', dass sie die Logik heranzerrt, um deren Nicht-Existenz zu beweisen. Dies freilich enttarnt schon einen Fehlschluss im Denken, denn nie war es ein Ziel tatsächlichen und ernsthaften Nihilismus, die Logik als solche anzuzweifeln, sondern ausschließlich, ihre Wirksamkeit für den Beleg dieses oder jenes Ziel infrage zu stellen. Unter diesem Gesichtspunkt scheint es weniger widersinnig, die Logik selbst dazu zu benutzen, ihre Nutzlosigkeit an bestimmter Stelle zu beweisen.
Was nun? wird man gefragt werden, dies ist wieder nichts als Augenwischerei, was war denn der Moment, in dem die Wahrheit an sich infrage gestellt wird, und die Moral als nihil bezeichnet? Ja, weitaus mehr, die Vernunft wird hingestellt als der Dämon des Menschen, oder wird sie nicht als einer der großen Verbrecher am Grundgedanken grundlegender Demokratie hingestellt? Wie kann man nur, wie kann man mit der Vernunft argumentieren, nur um diese dann zu widerlegen, aber die vorigen Thesen dennoch als unangreifbar und bewiesen stehen lassen? 

Bestenfalls erträgt man solcherlei Anschuldigungen und wartet mit offenem Geist ab.

Und überhaupt! fährt man laut fort, ärgerlicher geworden, nun führst du diese Reflexion in Form eines sokratischen Dialoges – soll dies ein Philologenwitz werden?
Wer versteht sich auf den Witz des Philologen – der Narr, der Philologe oder die Lehre selbst?

Ein sokratischer Dialog, um die Logik in den Staub zu treten? Ein Philologen-Aberwitz ist das!


Zuletzt ist man ein wenig ruhiger geworden. Zuletzt, fährt man schlussendlich noch fort, diesmal sachlicher, hast du dich aber noch einmal um eine große Sache gedrückt, das schwierigste überhaupt an all dem, was du sagst und willst. Theorie, schön und gut, doch dann? Was nun soll der arme Leser tun, ich meine, was exakt soll er tun? Du gabst ihm nicht den geringsten Hinweis, wie er sein Leben überdenken und ändern soll, wenn er aufsteht von diesen Zeilen.
Anfangs wurde der Narr der Moderne erwähnt, der meinte, dass die natürlichen Gesetze letztendlich nichts weiter darstellen würden, als ein neues Dogma in dieser Welt. Nun – dogmatisch wäre es, einer der alten Kirchen gleich, Gesetze, Regeln, Gebote und Edikte auf Tafeln und in unverständliche Bücher zu schreiben und verkünden zu lassen von ernsten Herren, um die Menschen tatsächlich zu beherrschen. Und ist es nicht dies, was du forderst? 

Tatsächlich – man muss an dieser Stelle zugeben, dass es sich um eine alte Finte der Debattiererei handelt, einen Vorwurf auf etwas umzulenken, das wenig damit zu tun zu haben scheint, um eine überraschende Linie zu ziehen und den Vorwurf im Nichts verlaufen zu lassen. Führt es zur Wahrheit, wenn man zunächst nur das Gegenüber finten und niederschlagen will? Nein, das tut es wohl nicht – und in diesem Sinne sollte es für die wenigen mit Verstand unter euch zum Ende klar sein, was gemeint war und ist.

Und denoch kommt man kaum umhin, den wahren Anarchisten unter euch ein Wort zukommen zu lassen, etwas, woran er sich orientieren kann wie der Seemann am Stern des Nordens, ohne dass dieser Stern jemals selbst von den Zielen gehört haben mag, zu denen er den Seemann führt. 

Verbleibt! Fürchtet nicht das Leben der Anstrengung, denn das ist, was der Weg zur wahren Anarchie ist, und wohl auch diese selbst - eine Anstrengung, für die Seele und den Geist und für die Wahrnehmung.
Verbleibt auch in Hoffnung! Der Mensch ist etwas, das gekettet sein will, doch verzagt nicht – einst mag eine Kraft kommen, die groß genug ist, den größten Feind des Menschen, den gerade der Mensch selbst darstellt, niederzuwerfen und den Menschen endlich in den Zustand wahrer Anarchie zu führen.
Der Zustand der wahren Anarchie ist der erste Schritt auf dem Pfade, den die Menschheit gehen soll, um endlich zu werden, was sie zu tun bestimmt sein mag.

I. S., Januar 2013

 

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Texte: Alle Rechte vorbehalten.
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2013

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