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Der Augenzeuge




Der Sommerwind trieb warm an den Flanken der sanft abfallenden Hügel hinab wie die Hand eines Liebenden.
Die Sonne stand schon im Sinken begriffen weit im Westen, sodass sich die Bergschatten, langsam über die Häuser und Hütten des kleinen Dorfes herabsinkend, der Talsohle näherten und das Glühen des langen Flusses in der Abenddämmerung erstickten.
"Ein Anblick für die Heiligen.", sagte der Wanderer, der just in jenem Moment über die Spitzen der Hügelkämme getreten war und das Tal mit der überraschten Freude betrachtete, die ein solcher Anblick ohne jegliche Vorwarnungen dem müden Auge des Abends macht.
"Und noch vor Sonnenuntergang kann er Vergangenheit sein, mein Freund. Bedenke eher dies, wenn du das Schöne in der Welt siehst!"
"Wer bist du, mein Freund, dass du mit solcher griesgrämigen Bitternis über diese Schönheit urteilst?", entgegnete der Wanderer. Hinter ihm, im Schatten einer Trauerweide, die sich über den grauen Stein beugte, saß der Sprecher, ein Alter mit grauem Bart und müdem Rücken, der wie durch den Wanderer hindurchzustarren schien. Erst bei näherem Hinsehen wurde ihm klar, das er vor einem Blinden stand.
"Was spielt es für eine Rolle, Fremder. Ich bin hier, und du sagst, die Heiligen sollten diesen Anblick allein für sich beanspruchen! Narr, so schelte ich dich! Aber was macht es, was macht es - träume weiter, Junger, träum weiter und lebe dein Leben noch so lange weiter, wie du es vermagst."
Die Begegnung mit dem verbitterten Alten überraschte den Wanderer, und er war erzürnt, dass ihm dieser die Magie des Augenblickes verdarb.
"Und was bringt dich dazu, all die Schönheit zu verachten und grau an den Schößen deiner Röcke zu nagen? Bist du wohl selbst des Satans Knecht, wenn du den Menschen die kleinen Freuden ihres Daseins nicht gönnen magst!", hielt er dem Alten zorniger entgegen.
"Du sahest nicht, was ich sah -", entgegnete der andere und hustete. "Du warst nicht dabei."
"Wohl kaum, denn ich weiß nicht, was zu da sprichts. Und wovon."
"Von der Stadt, anno 1631. Magdeburg war der Name."
"Was soll da gewesen sein?"
"Du willst diese unglückselige Geschichte hören, kleiner Herr? Es war im Mai, am 10. des Monats. Der Kaiser hatte die Stadt belagert. Seit 25 des Jahrhunderts hatten sie uns blockiert, und dann, nach Jahren, kam der Sturm. Ich mache es kurz, sie haben die Verteidigung hinweggefegt. Uns war das egal, wir gaben keiner Seite den Vorzug, wir hofften nur auf das Ende des Krieges, der Stadtrat und ich. Schlimmer waren die Feuer. Niemand hat sich darum gekümmert, verflucht! Niemand! Meine eigenen Diener haben sie mitgenommen an die Mauer, und ich, allein, meine Söhne auf und davon, vielleicht schon gefallen, meine Frau in Gefahr, die Stadt in Feuer- machtlos waren wir! Und bis zuletzt haben wir uns im Rat an die Pflicht geklammert, wir müssten ausharren, die Hilfe käme, Abwarten in der Ratskammer- und dann sind wir doch alle geflohen, dann, als sie draußen schrien:
"In der Stadt, sie sind hinter den Mauern! Wir haben uns verkrochen, versteckt. Ich irrte auf den Straßen umher, suchte nur nach einem Loch, in das ich mich verkriechen konnte - da waren sie da, die Soldaten. Ich dachte, es wäre aus, wäre aus, aber das Licht, damals, es war schlecht, sehr schlecht, und sie schon besoffen, aber nicht zu besoffen - und dann kam die Hand, sie zerrte mich in das Spital, und dort saßen sie, Nonnen und die Kranken, lautlos in dem Raum, und wir verbargen und, damit sie uns nicht hören konnten. Nein, was war für ein Geschrei auf der Straße, alle die Frauen und Stimmen, und ich dachte mir, lasse sie nicht hier hereinkommen, lieber Gott, nur zur nächsten Tür, zur nächsten - ach, was hilft schon das verdammte Beten! Den Nonnen hat es nichts genutzt, und nicht den Kranken, und nicht mir- sie ließen sie antreten, einen nach dem anderen, und die Kranken haben sie erschlagen, aus Angst vor der Pest, und bei den Nonnen fing immer der Anführer an, dann der nächste und der nächste, und mit allen haben sie es so gemacht und die anderen dabei zusehen lassen..... Auch mich, und dann haben sie mich.... geblendet! Sie wollten einen Spaß machen, wollten mich so aus der Stadt finden lassen, und wenn ich es schaffte, wollten sie mich gehen lassen, aber all das Blut, und die Christusbräute, und die Toten! Die ganze Stadt haben sie ausgelöscht, in jener Nacht im Mai. Eine ganze Stadt! Alles tot, alles verbrannt, du kannst es dir in deinem jungen Kopf nicht vorstellen! Wie durch ein Wunder habe ich mich durch die Flammen geschlagen und entkam und überlebte. Welch ein Fluch! Welch Ironie des Schicksals! Seitdem ich nichts mehr sehen kann nun, verfolgen mich diese Bilder, immer und immerdar, bis ich endlich sterben darf, und nichts kann sie löschen, obgleich ich blind bin wie ein Maulwurf! Und du, sag mir, du heulst diesen Sonnenuntergang an? Ein Anblick für die Heiligen?"
Ein bitteres, zynisches Lachen ging in einem weiteren Hustanfall unter. Der Wanderer hatte dem Bericht des Alten mit Grauen gelauscht. Mit verkniffenem Blick wandte er den Blick ab.
"Ich verstehe dich nun besser, Alter", war alles, was er herausbrachte. "Ja, das tue ich."
Unsicheren Schrittes ging er auf einen kleinen Stein zu, vor dem Stein, auf dem der Alte thronte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Der Alte aber schien alles gesagt zu haben und hüllte sich in Schweigen, für lange Zeit. Als sich der Wanderer mit Einbruch der Nacht schließlich doch den Abstieg machte, dachte er, dass er wahrhaft den Bericht eines Augenzeugen gehört hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 23.02.2013

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