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Er starrte nach draußen. Regen prasselte gegen das vergitterte Fenster, ergoss sich über den leeren Platz, sammelte sich in aufgeplatzten Löchern und floss in kleinen Rinnsalen über das Glas. Der Himmel war schwarz, wie schon lange nicht mehr. Dunkelheit wallte über das Haus und umhüllte es. Leise klickte es, als Holgersson die Sicherung der Waffe löste. Schwarzer, glatter Pistolenlauf blickte in seine Richtung, während in weiter Ferne über ihm ein dumpfes Grollen erklang, zu ihm rollte und seine gedrückte Stimmung verschlimmerte. Beinahe schon träge von der Schwüle dieses erbarmungslosen Tages hob er den Kopf und starrte zur Tür.

Sein Hemd hatte er geöffnet, die Schutzweste entfernt und in eine Ecke geschmissen. Dunkle Hämatome zeichneten jene Stellen auf seinen Körper, wo ihn die Kugeln getroffen hatten. Rote Flecken, schillernd düster auf dem unschuldigen Weiß seines Hemds, während geronnenes Blut, dick und einer bröckelnden Kruste gleich seine Gesichtshälfte zierte. Wimpern zitterten wie Espenlaub als Erinnerungen durch sein Herz flogen und die Wellen seiner Seele aufwühlten. Langsam senkte Holgersson die Pistole und fuhr sich in einer schwermütigen Geste über die Augen. Seine schwarze Jacke hatte sich seit jenem Augenblick, in dem er durch die Tür geschwankt war, ebenfalls in einer Ecke widergefunden.

Die Lider waren ihm schwer geworden und fielen ihn immer wieder aufs Neue zu. Schlafen konnte er nicht. Nicht nach diesem Tag, all jene Dinge, die er heute erlebt hatte würden auf einmal über ihn zusammenbrechen, ihn in die Tiefen seines Abgrundes ziehen und verschlucken. Gewichte, unsichtbar und so unendlich schwer, krümmten seinen Rücken, während der Gesang zerplatzender Regentropfen das kleine Zimmer ausfüllte. Einzig der schwer fliehende Atem des Mannes zerstörte die ruhige Atmosphäre, doch es dauerte nicht lange und er gesellte sich ebenso in die Stille, wie alles andere.

Holgersson hob erneut die Hand um sich durchs Haar zu streichen, als er des ehemaligen weißen Verbands gewahr wurde. Damit hatte alles angefangen. Mit einem Schnitt und einer Begegnung. Ein Lächeln, so freudlos wie eine totgebleichte Ebene, deren Gesicht von Maden zerfressen wurde, während kaltes, vermoderndes Fleisch sich langsam von den weißen Knochen schälte. Doch unterhalb der Ebene brodelte ein Strom, dickflüssig und zäh und so feurig wie der Atem der Erde selbst. Es war Rache, nach der Holgersson verlangte, hatte man ihm das genommen, was ihn einst ausgemacht hatte.

Jedoch, wie sollte er Rache nehmen, wenn er es war, dessen Schuld nun wie eine unheilvolle Klinge über ihn hing, bereit ihn zu guillotinieren? Schließlich hatte er versagt, niemand sonst.

Urplötzlich wurde die Welt erhellt, als hätte Gott die Blitzlichtkamera für sich entdeckt. Dann folgte ein dumpfes Inferno wütendes Grollens. Langsam erhob sich Holgersson und schien von einem Moment zum anderen ebenfalls ein flackernder Schatten im Raum zu werden, während er gefährlich ruhig auf die Tür schritt, seine Jacke vom Boden aufhob und sorgfältig die Waffe verstaute. Vernehmlich knarzte die Tür, als das verzogene Holz über alte Dielen geschoben wurde.

Ungezügelter Wind mit kühlen Fingern bestückt krallte sich in sein Hemd, doch davon merkte er nichts. Selbst als der Regen in hundertfachen Detonationen auf seinem Gesicht aufprallte, es umfasste um es sanft einzufangen, als hätte er Angst, dass Holgersson bald lediglich ein geduckter Schatten wurde, fernab von dem einstigen Mann, der Holgersson gewesen war. Das getrocknete Blut sog sich mit der Feuchtigkeit voll und verlor seine steife Konsistenz. Nass klebte alsbald sein Haar auf der Stirn, während er mit kaltem Blick den verwahrlosten Hof verließ. Eschen säuselten traurig als würden sie von ihm Abschied nehmen. Kurz griff er nach dem kühlen Stahl unter seiner Kleidung und genoss das Gefühl der Vertrautheit.

Plötzlich schossen Bilder durch seinen Kopf. Zügellos und wild huschten Farben vor seinem inneren Auge vorbei, getragen von tiefliegenden Gefühlen und Emotionen. Holgersson hatte geglaubt, dass er dazu nicht mehr imstande war, doch er wurde eines Besseren belehrt. Klingen rammten sich in sein neu geborenes Herz, stocherten darin herum und zogen, als wollten sie es zerreißen. Kurz huschte seine innere Zerrissenheit deutlich über sein Gesicht, verzerrte es zu einer peinvollen Maske.

Finsternis ballte sich über ihn zusammen, während das letzte Quäntchen Wärme hinter seinen Augen flimmerte und langsam erstickte. Kälte betäubte seinen Geist, gab ihm die Ruhe eines alkoholgetränkten Bewusstseins. Aus Gewohnheit wollte er nach seinem Autoschlüssel greifen, doch es gab kein Auto mehr.

Gelassen schritt Holgersson eine menschenleere Straße entlang. Unaufhörlich prasselte Regen darnieder, schien die Welt in seinem Grau ertränken zu wollen, gleichzeitig tobte das schwarze Gewitter über den geduckt erscheinenden Häusern. Leuchtende Reklameschilder flimmerten unstet und senkten ihr kühles Licht schwer auf die Straße. Die Neonfarben spiegelten sich gespenstig in seinen Augen wider, während sie einen einzigen Punkt fixierten. Sein Weg führte ihn zu jener Bar, wo alles angefangen hatte und dort sollte es auch enden.

Es erschien ihm als hätte die Welt in sein Innerstes geschaut und sich dieser trostlosen Leere angeschlossen. Äußerlich blinkte ein fiktives Leben in viel zu grellen Farben, während hinter den Fenstern eine trübe Düsternis herrschte. Man hatte Holgersson gewarnt, er solle sich nicht darauf einlassen. Nicht auf die Firma, den Boss und vor allem nicht auf diesen einen Job. Aber er hatte es getan. War zu einem Mitglied geworden und sogar rasch aufgestiegen. Im andauernden Siegeszug hatte er allerlei Posten passiert und sollte nun daran zerbrechen. Sein Ehrgeiz mutierte zu einem Ungeheuer, dass ihm schlussendlich im Würgegriff hatte und vor den Gerichtshof des Schicksals schleifte. Hohn und Stolz standen ihm gegenüber, Ankläger mit toten, maskenhaften Mienen, die darauf warteten ihre Roben abzulegen um Holgerssons Henker spielen zu können. Schatten huschten über seine Mimik, legten harte Kontraste auf sein Gesicht, während eine Häuserwand am Horizont in die Nähe rückte.

Um den Moment auszukosten, ihn vollkommen zu genießen, senkte er das Tempo seiner Bewegungen auf ein Minimum, griff nach seiner Waffe und betrachtete sie kurz. Ein Blitz erhellte die Welt schlagartig, um anschließend alles mit seinem verschwundenen Licht in einem tiefen Tintenschwarz zurückzulassen. Dunkel und bedrohlich ragten die typischen Hochhäuser in den Himmel. Ihre Spitzen verschwanden unter den wogenden Wellen der Gewitterwolken. Wenn man genau hinsah konnte man eine schmale Lücke zwischen Penthouse und millionenschweres Bürohaus irgendeines namhaften Anwalts erkennen, wie sie sich keck öffnete und einen schmalen Gang bildete, der sich zwischen Müllcontainern und Plastiksäcken hindurch schlängelte um am Ende, von Häuserschatten verdunkelt, mit rot glühenden Augen einem zufälligen Passanten entgegen zu starren.

Dort war es. Holgerssons Ziel. Zum letzten Mal in dieser Nacht fuhr sein Blick tastend und mit alter, kühler Berechenbarkeit über seine Waffe, ehe er mit sicherer Hand auf jenen Gang zutrat. Vielen in der Firma war dieser Ort, der sich als Ellas Pub

entpuppte, mehr als bekannt. Prostituierte verkehrten ebenfalls dort, wie der beständige Waffenhandel und er diente als beliebtester Treffpunkt der Firma.

„Die Firma? Willst du mich veräppeln?“, helle Brauen zogen sich verwirrt zusammen, kräuselten die Stirn und gaben dem Gesicht etwas, das an verwirrte Ernsthaftigkeit erinnerte.
„Ja. Die Firma.“, er lächelte leicht und nippte an seinem bereits kalten Kaffee.
„Wie bei diesem einen Film mit Tom Cruse?“ Sie schob ihre Tasse zur Seite und beugte sich zu ihm vor. Vereinzelte Strähnen rotgolden wie der Indianersommer tänzelten verspielt um ihre Gesichtszüge.
„Nein. Eher wie bei dem Film mit Marlon Brando oder Al Pacino.“
Wieder runzelte sie ihre Stirn und verzog den süßen Mund. Fasziniert betrachtete er ihre hellen Lippen. Alles an ihr schien eine verborgene Grazie inne zu haben.
„Du meinst die Pate- Filme? Die mit der Mafia und so?“
Er hob die Hand und strich mit dem Daumen über die begehrenswerten Lippen. Ein sanftes Lächeln, das gleichzeitig Vergebung und düstere Ernsthaftigkeit in sich barg, umspielte seinen Mund.
„Genau die meine ich.“
Augen so grau wie die wild aufgepeitschte See weiteten sich.
„Oh.“



Glas knirschte als Holgerssons Füße über die Scherben schritten. Ein älterer Obdachloser schielte zu ihm hoch, schaute dann auf seinen Mantel und blieb an den roten Flecken auf seinem Hemd hängen. Er hob einen zitternden Finger und nuschelte leise fragend: „Brauchste den noch?“ Holgersson blieb stehen und sah auf seinen Mantel hinab. Wenn er genau darüber nachdachte, was er vorhatte, brauchte er den Mantel nicht wirklich. Wortlos zog er ihn aus und warf es zu dem Obdachlosen hin. „Geh lieber.“ Meinte er noch, ging weiter und verschmolz mit den Schatten der Gassen. Die Erinnerung an das Gespräch hallte wie ein langwieriges Echo in seinem Kopf wider. Es kam ihm so vor, als stünde Lea direkt neben ihm und flüsterte die Worte aus der Vergangenheit direkt in sein Ohr. Kurz schlossen sich seine Augen. Wind säuselte in den Winkeln der Gasse und strich ihm über die Stirn, durch die Haare, wie Lea es früher immer getan hatte.

In seinem Magen ballte sich Wut zusammen, die im langsam aufquellenden Sud der Verzweiflung unterging. Leas Bild wollte aus seinem Inneren hervor brechen, wie die Gezeiten auf dem Ozean, doch rasch baute er seine verteidigende Wälle, zog sie hoch bis in die Unendlichkeit, nur um dem Schmerz zu entgehen. Holgersson wollte sie zurück, wollte sie wieder in die Arme schließen, in ihre Augen sehen, wenn sie auf ihn wütend war und wollte ihre Stimme hören, ihren Körper dicht an dem seinen spüren, sie nahe bei sich wissen.

Ein dumpfes Grollen entstieg seiner Kehle, während er sich der Tür des Pubs näherte. Laute Musik schallerte zu ihm herüber, Stimmengewirr und schrilles Lachen erfüllte die Luft. Doch anstatt die Haupteingang zu benutzen, quetschte er sich durch ein schmales Loch in dem Zaun, der den Müll der Kneipe von dem der Gasse abtrennte, verschwand zwischen Türmen aus Abfällen und Kästen leerer Flaschen. Rot glimmendes Licht fiel diffus auf den schmalen Engpass und zeugte mehr Finsternis als Helligkeit. Vorsichtig setzte Holgersson einen Schritt vor den anderen, duckte sich um möglichen, neugierigen Augenpaaren zu entwichen, die aus den verdreckten Fenstern starren könnten. Er hob die Waffe und schlich leise auf das Ende der Wand zu. Mit gehobenem Lauf lehnte er sich gegen schmutziges und nach Fäulnis riechendem Gemäuer, während er um die Ecke lugte.

Zigaretten glühten wie blutige Glühwürmchen in der Nacht auf, weißlicher Qualm stieg in die Luft und verflüchtigte sich rasch wieder. Gemurmelte Gesprächsfetzen wurden zu Holgersson geweht. Die beiden Männer, die vor dem geheimen

Hintereingang standen waren gedrungene Zeitgenossen, die höchstwahrscheinlich eine lange Zeit im Boxring verbracht hatten. Sie wirkten bullig, wie zwei fette Jagdhunde mit immer noch funktionstätigen Kiefern. Sie trugen Anzüge, die ebenso fehl am Platz wirkten, wie die Sonnenbrillen in ihren Gesichtern. So Geräuschlos wie möglich glitt Holgersson zurück in die Finsternis, die zwischen den Türmen aus Müll herrschte, und fingerte am Lauf seiner Waffe, mit leisen Drehgeräuschen brachte er den Schalldämpfer dran.

„Holgersson?“ Zarte Finger strichen über seine nackte Brust und holten ihn sanft aus seinem Dämmerschlaf. Schläfrig murmelte er etwas.
„Ist das dein richtiger Name?“
Eine Bewegung neben ihm veranlasste ihn dazu leicht die Lider zu heben. Rotgoldene Wellen ergossen sich wie eine Flut fest gewordenen Lichts über seine Brust, während ein fraulicher, rundlich geformter Körper sich langsam aufsetzte und über ihn lehnte. Arme, gesprenkelt mit Sommersprossen fanden ihren Platz an seiner Schulter und ein ovales Frauengesicht sah ihm neugierig entgegen.
„Du lässt mich nicht weiter schlafen, wenn ich dir keine Antwort gebe, oder?“, er öffnete die Augen endgültig und ließ seinen Blick über Lea wandern. Ein feiner Rotschimmer legte sich auf ihre blassen Wangen, als sie bemerkte wie Holgersson ihren nackten Körper betrachtete. Dann erblühte ein keckes Lächeln auf ihren Lippen.
„Nein.“
Sie hob die Hand und fuhr seine kantige Wange entlang, bis zu seinem Kinn und wieder zurück. Ein Ausdruck aus tiefgehender Wärme, so gütig und alt wie das Zeitalter selbst legte sich auf ihre Züge. Während sie ihn abwartend ansah.
Er brummelte und freute sich innerlich, dass jenes Geräusch eine feine Gänsehaut bei Lea verursachte. Fasziniert von diesem Körper und ihrer Person gingen seine Finger auf Wanderschaft und prägten sich jede Einzelheit ein.
„Nein, er ist der Name den ich angenommen habe.“
Vom Sturm gepeitschte Ozeane blickten ihn an. Dann wackelte Lea verschwörerisch mit den Brauen: „Mysteriös.“, kicherte sie und schrie auf, als Holgersson sie mit einem Ruck unter seinen Körper beförderte.
„Bin ich das wirklich? Mysteriös?“, raunte er kurz bevor er nach ihren Lippen haschte. Kichernd versuchte sie von ihm weg zu kommen, doch er fasste nach ihrer Hüfte und hielt sie dort fest.
„Nein, du bist nicht mysteriös – sondern interessant und faszinierend.“, wisperte sie und strich ihm über den Rücken, ehe sie sich vorbeugte und ihn küsste.



Gerade wollte Holgersson die zwei störenden Wachen eliminieren, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ein vertrautes Gesicht den Hinterhof betrat. Knurrend fuhr Holgersson zurück. Verdammt, das hatte ihm noch gefehlt! Seine Munition würde nicht für einen kleinen Amoklauf unter Mafiosos ausreichen, die allesamt weniger Skrupel empfanden als manch ein pensionierter Killer. Irgendwie musste er an Alejandro vorbei kommen. Der Spanier war in den Kreisen der Firma geachtete und ebenso gefürchtet. Nicht dass Holgersson anders abschnitt, doch es gab einen gewaltigen Unterschied zwischen einer Wache und einem berufstätigen Mörder. Alejandro und Holgersson verbanden außerdem eine langwierige Rivalität, hatten sie doch einst um die Gunst ihres Bosses gebuhlt, bis Holgersson auf Lea getroffen war.

Fluten aus sanftmütiger Wärme wollten beim innerlichen Klang Leas Namens über ihn einbrechen, doch er stützte seinen Schutzwall mit dicken Balken, gefräst aus dem Holz der emotionalen Kälte. Wieder lehnte er sich leicht nach vorne und schielte um die Ecke, der Spanier hatte sich zu den bulligen Typen gesellt und ebenfalls eine Zigarette angezündet. Anscheinend beteiligte er sich an ihrem Gespräch, denn Holgersson vernahm den unverfälschten Dialekt des Mannes.

Hinter ihm ertönte ein Rascheln. Für wenige Sekunden blieb sein Herz stehen und mit schreckgeweiteten Augen erstarrte er, fühlte wie Adrenalin einem Feuerinferno gleich durch seine Adern gepumpt wurde, sobald sein Herz im doppelten Tempo als vorher schlug. Doch Alejandro, sowie die beiden Wächter machten sich daraus nichts, denn kurz darauf kam eine schmollen mauzende Katze neben einem Müllsack hervor und würdigte Holgerssons keines Blickes. Leicht ungläubig starrte er dem kleinen Tier hinterher, wie es ungeniert über den Hinterhof stolzierte, das gestreifte Schwänzchen hochnäsig in die Luft gereckt. Und da kam ihm eine Idee.

Mit geübten Griffen und zum Zerreißen gespannter Nerven begann er, jegliches Geräusch verhindernd, einen mit Müllsäcken vollgestapelten Container frei zu räumen. Als der letzte überflüssige Sack sorgsam auf dem Boden gelegt wurde, kletterte er auf das blecherne Ungetüm. Lautlos seufzend schloss er die Augen und betete, dass die drei Männer entweder zu vertieft in ihr belangloses Gespräch waren oder ihn ebenfalls für ein streunendes Tier hielten. Holgersson holte Luft und sprang, bekam den Vorsprung eines vernagelten Fensters zu packen und zog sich langsam daran hoch. Es krachte leise, als der Deckel des Containers des plötzlich auftauchenden Gewichts nachgeben musste. Mit angehaltenem Atem verharrte Holgersson kurz, bevor er sich daran machte, weiter an dem Gebäude empor zu klettern. Zum Glück war der Pub nur ein kleines Haus mit nur einem Stockwerk. Ansonsten hätte er sich wohl was anderes einfallen müssen.

Mit einem wortlosen Fluch auf den Lippen zerrte er sich aufs Dach und hörte unterhalb, wie Schritte in den Durchgang traten. Einer der bulligen Wachmänner erschien um die Ecke und kratzte sich leicht verwirrt die Halbglatze. Für einen winzigen Augenblick hörten jegliche Gedankengänge hinter Holgerssons Stirn abrupt auf und er fasste einen unverrückbaren Entschluss. Die Stille auf dem Dach legte sich über seine Schultern, als er sich langsam über den Rand beugte und sein Lauf auf den Hinterkopf des Mannes unter ihm zielte. Alles wurde kalt und er meinte zu fühlen, wie er zwischen seinem menschlichen Ich und der mechanischen Existenz eines Killers wechselte.

Die Wache knurrte wütend und vom Hinterhof erklang ein feixender Spruch. Eine Flasche wurde aus Frust weggetreten und in diesem Moment erklangen zwei Symphonien auf einmal: die der davon rollenden Flasche, wie sie polternd in einen Sack voll Konservendosen krachte und dem leicht pfeifenden Geräusch eines Schusses, der durch den Schallgedämpften Lauf schoss, um anschließend im Kopf eines Mannes versenkt zu werden. Beinahe in Zeitlupe konnte Holgersson erkennen, wie der Mann auf die Knie fiel. Für wenige Sekunden wirkte er, als würde er zu Gott beten, ehe sein Körper wie ein nasser Sack zur Seite fiel. Es klatschte dumpf, als totes Fleisch, noch frisch vom Tode erfasst, auf Schmutz durchtränkten Asphalt traf. Holgersson wartete stumm. Sein Blick heftete sich auf die Leiche unter ihm.

„Holgersson.“ „Hm?“ „Nichts, ich wollte nur deinen Namen sagen.“ Lachen direkt hinter ihm. Leicht irritiert drehte er sich um und sah Lea ins Gesicht. Sie hob die Hände bevor er den Mund aufmachen konnte.
„Irgendwie passt er zu dir, ich weiß nur noch nicht genau wieso, deshalb hab ich gedacht, dass ich ihn einfach nur öfter sagen müsste.“ Sie zuckte lapidar mit den Schultern. Im Schneidersitz und in seinem weißen Hemd, das viel zu groß für sie war, saß sie vor ihm auf der Couch und wickelte sich nachdenklich ein paar Strähnen um den Finger.
„Ist das eigentlich nicht ein Nachname?“, meinte sie und sah auf.
„Na und?“
Sie schwieg, dann als hätte das Gespräch vorher nie gegeben sah sie ihn mit einem undefinierbaren Blick an:
„Komm her“, flüsterte sie und griff mit ihren Fingern in seine Richtung. „Bitte.“



Die Dunkelheit in seinem Inneren ballte sich zusammen. Regen prasselte weiterhin in stetigen Strömen auf seinen irdischen Körper, doch was dieser beherbergte wollte nun mit aller Gewalt raus. Er hatte sich in jener friedvollen Zeit etwas vorgespielt, er hatte die Maske eines friedvollen Mannes angelegt mit dem Wissen, dass man sie ihm bald vom Gesicht reißen würde um den Dämon der geschockten Öffentlichkeit zu präsentieren. Nun war er vom euphorischen Tanz in den Höhen rosafarbener Wolken abgestürzt in einen blutigen See, wo sein persönliches Ungeheuer nach ihm gewartet hatte. Das Blut auf seinem Hemd fraß sich durch die hellen Fasern und verfärbte sie. Seine Wangen waren fast vollkommen befreit vom roten Dreck und dennoch hatte er das Gefühl, dass dort immer noch eine juckende Kruste haftete.

Im Hinterhof wurde es unruhiger und erneut erklangen Schritte, ungeduldig wurden Fersen in den Boden gehämmert. Lautlos robbte Holgersson etwas zurück und wandte den Kopf, er musste wissen ob Alejandro immer noch vor der Tür stand oder sich zurückgezogen hatte. Bevor man jedoch Alarm schlagen konnte robbte er zurück an seinen ehemaligen Platz und wartete auf die Person, welche so energisch in seine Richtung lief. Doch anstatt eines Kopfes, der an einem bulligen Körper befestigt war, trat ein blondgefärbter Schopf in den Engpass. Ein schmaler, fast schon als hager zu bezeichnender Mann blinzelte in die Finsternis. Doch eine seltsame Anspannung durchzuckte ihn, als läge er lediglich auf der Lauer. Kalte, dunkle Augen in einem gebräunten Gesicht durchforsteten die Müllhaufen, als sie an einem Schuh hängen blieben. Alejandro versteifte sich, blickte sich zu allen Seiten um und wollte raschen Schrittes die Gasse verlassen, als er nach oben sah und erstarrte.

„Holgersson.“ Der Spanier blinzelte kurz, griff geistesgegenwärtig in sein Sakko und schrie: „ALARM!“ Holgersson fluchte, schoss auf Alejandro, der sich hinwarf und ebenfalls das Feuer eröffnete. Immer noch fluchend, robbte Holgersson von der Dachkante weg und hörte wie geschäftiges Treiben auf den Hinterhof eintraf.

Ein Geräusch durchschnitt jeglichen auftauchenden Rumor, zerteilte ihn und schickte neue Adrenalin durch Holgerssons Adern: kreischendes Metall, das misstönend unter einem zusätzlichen Gewicht nachgab. Mit einem hastigen Sprung stand Holgersson auf seinen Beinen, zielte und schoss, als eine menschliche Hand auf der Dachkante erschien. Blutige Tropfen vermischten sich mit dem Regen, als metallenes Geschoss durch menschliches Gewebe drang. Alejandro brüllte, ließ jedoch nicht los, sondern nahm Schwung, tauchte für wenige Sekunden mit seinem gesamten Kopf auf, hob seine andere Hand und schoss ebenfalls. Der Schuss bretterte durch die Luft, Holgersson warf sich zur Seite und schlitterte das Dach hinunter, vor der Regenrinne bekam er wieder halt. Keuchend sah er nach oben, raffte seine Energien zusammen und rannte so gut es ihm auf rutschigen Dachziegeln möglich war, auf die andere Seite.

Auf dem Hinterhof brüllte jemand, klappernde Schuhe und das leise Geräusch von gezogenen Waffen füllten langsam die Atmosphäre auf. Düster grollte es im Himmel und Blitze durchzogen wie Adergeflechte die schwarzen Wolken, rissen ihr Antlitz auf und verzerrten die Welt in einem grausigen Licht. Schlitternd lief Holgersson weiter, hörte hinter sich wie Alejandro fluchend ihn verfolgte. Wasser spritzte auf, Regen durchnässte seine Kleidung und klatschte kalt in sein Gesicht.

Drohend erhob sich die Häuserwand eines Hochhauses, baute sich unheilvoll vor ihm auf, als erneut Blitze die Welt abrupt erhellten. Schüsse zischten dicht an ihm vorbei, er schlug einen Haken und hielt sich parallel zu seiner Entdeckung. An der Seite des Hochhauses klapperte unsicher ein vom Rost rötliches Gestell, das entfernte Ähnlichkeiten mit einer Feuerleiter hatte. Vermutlich war sie bereits völlig außerbetrieb und sollte so bald wie möglich abgerissen werden. Oder man hatte sie schlicht und einfach vergessen.

Immer näher, mit jedem neuen hastigen Schritt, kroch die Dachkante näher, hinter ihm ertönte ein spanischer Fluch, dann folgte eine Stille, kalt in ewiges Grau gehüllt legte sie sich über Holgerssons Gehirn, veranlasste, dass einzig sein Herz in seinen Ohren hämmerte, während die Welt der Geräusche verstummte, verharrte als würde sie auf etwas warten. Dann, im entscheidenden Moment des sicherheitsversprechenden Sprungs, brandete eine Welle feurigheißen Schmerzes durch seine Schulter, warme Flüssigkeit benetzte seine Wangen, während Knochen in Millisekunden Bruchteile durchbohrt wurden. Bevor der Schrei, welcher sich urplötzlich in seiner Kehle widerfand, auch nur über seine Zunge rollen konnte, krachte sein Kiefer zusammen und verweigerte es irgendeinen Mucks von sich zu geben.

In seiner Schulter vollführte die Pein ein Festmahl, sie biss sich in seine Muskeln, zerrte an seinen Nerven und schien sie in Brand zu setzen, während ein Teil der Hölle ihre Residenz nun in seinem Körper aufschlagen wollte. Da verließen seine Füße den feuchten Boden aus Dachziegeln und schienen im Nichts weiterzulaufen, Holgersson wollte nach dem näherkommenden Geländer greifen, als ein weiterer Schuss ihn an der Wange streifte. Unsichtbare Flammen aus Schmerz leckten über seine Wangen und brüllten gierig auf, als sie auf köstliche Nervenzellen trafen, die angstvolle Signale ans Hirn sendete. Bevor seine Finger überhaupt nur das Geländer berührten konnten, sah er wie der Boden näher kam. Er veränderte seine Haltung und versuchte den Sprung so gut es ging abzufedern.

Der Aufprall durchrüttelte seinen Körper schlagartig und er rollte sich auf dem schmutzigen Boden ab. Irgendwo hinter ihm ertönte ein höhnisches Geläster. Erinnerungen, voller seelischer Pein, verletzten Gefühlen und dem Gewissen etwas für immer verloren zu haben. Seltsam, für ein solch kleines Wort wie immer, trug dieses zu viel Verantwortung, außerdem schien es nur einmal im Leben eines Menschen ein wahrhaftiges für immer zu geben, denn der Tod war eine Reisekarte ohne Rückvergütung.

Fluten rissen an Holgerssons seelischen Wänden, die Wälle bekamen schwarze Risse, hinter denen eine mächtige Kraft brodelte, wild und bunt, voller Bilder, die zu viel in sich trugen, als es Holgersson zu ertragen vermochte. Mit einem Ruck drehte er sich um, hob den Lauf seiner Pistole und schaute Alejandro direkt in die Augen.

Was Alejandro dort sah, gefror in seinen Adern und warf kalte Brandblasen in sein Gedächtnis. Dort, unter der aufwallenden Finsternis kalter, grünbrauner Augen schimmerte der Blick eines Jungen, der viel zu oft in den Abgrund sehen musste. Er sah einen Jungen, dessen Tränen blutige Spuren hinterließen, während er versuchte trotzend das Haupt zu heben um dem Leben entgegen zu treten, jener Junge verschloss sich vor der Realität, dem innerlich zerreißenden Gefühls des Verlusts, um ja nicht zu erkennen, was es hieß eine Lücke zu füllen. Hinter dem Blick des Killers steckte eine unendlich weite Ebene, karg und trostlos, doch am ewig erscheinenden Horizont wogte der Schatten eines Baumes, stark und kräftig, zeitlos und mit dem ersten Hauch des Frühlings gesegnet, der jene Ebene wie ein sanfter Atemhauch streifte. Dort unten, wankend und mit blutigem Hemd stand ein Mann mit dem Blick eines Kindes, das tief in Alejandros innerstes sah.

Noch nie hatte er jemals so etwas bitteres empfunden wie in diesem Moment, als sein Hohn erlosch, wie Feuer auf nassem Holz und etwas grausiges dessen Platz einnahm, nur konnte es Alejandro nicht genau benennen. War es Reue? Mitleid? Gar Menschlichkeit? Oder Bedauern? Jedenfalls lastete es schwer auf seinem Gemüt. Die Hand mit der Waffe senkte sich automatisch, doch sein Blick blieb ungerührt auf Holgersson gerichtet. Dieser schien verwundert, fasste sich jedoch rasch und war nach wenigen Augenblinzeln in den Schatten verschwunden. Der Aufruhr schallerte kalt über das Dach hinweg, wo Alejandro immer noch stand und mit leerem Blick zu jener Stelle starrte, wo Holgersson noch vor kurzem gestanden hatte.

Was auch immer passiert war, egal wie man dies im Volksmund nennen mochte, es rüttelte an den Seelentoren des Spaniers. Mit emotionsloser Miene registrierte er, dass die nächsten auf dem Dach eintrafen, doch die wogenden Schatten gaben keinen Blick frei auf den Flüchtigen. Fast schon schienen sie zu versuchen Holgersson zu schützen, vor jeglichem Blick zu verstecken, damit er laufen konnte, wohin ihn seine Füße auch immer trugen.

Die Tür war offen gewesen. Normalerweise war sie immer abgeschlossen und einzig zwei Schlüssel passten in das Schloss. Doch dieses eine Mal stand sie weit offen dar, als wolle sie das Unglück welches sich alsbald in der Wohnung zutragen sollte, weit in die Welt herausschreien. Zartes Licht der ersten Morgenröte floss in sanften Rottönen über den Eingangsflur, Staub tänzelte in zauberhaften Pirouetten darin, schimmerte golden, während er sich drehte und drehte, als wolle er den letzten Walzer niemals beenden. Stille füllte den Flur und kroch wie eine unsichtbare Krankheit nach draußen, stupste seine Füße an und zog leicht daran. Etwas in ihm hatte deutlich gesagt, dass etwas nicht stimmte, doch in jener Zeit wollte Holgersson es nicht wahr haben. Es war zu schön gewesen. Viel zu schön um der Wahrheit zu entsprechen.



Die Welt schien zu kippen, eine schmutzige Wand, durchzogen von einem feuchten Adergeflecht, das übelriechend den Putz langsam vollkommen annektiert hatte. Mauerwerk kam in langsamen Schritten auf ihn zu. Holgersson spürte nicht, wie er mit einem dumpfen Laut gegen abblätternde Fassade fiel, daran hinab rutschte und ein feucht glänzender Streifen hinterließ. Seine Knie gaben einfach so nach, ohne sich darum zu scheren, dass er weiter gehen musste. Dreck hatte sich auf dem Asphalt gesammelt und wurde vom Regen in die Ritzen und Ecken gespült. Blinzelnd registrierte Holgersson, dass seine Finger die Waffe losgelassen hatten. Für einen kurzen Moment wollte er der Kälte lauschen, ihr dabei zuhören, wie sie mit jedem verlorenen Tropfen Blut mehr an Stärke gewann, doch da wurde der Regen stärker und Etwas sonderbar vertraut anmutendes stieß gegen seine erschlaffte Hand.

Ein welkes Blatt, gefallen von einem Baum, schien sich an seine Hand zu lehnen und brachte seinen Damm endgültig zum Bersten. Was ihn da innerlich schier überrollte, zog und zerrte auch an seinem irdischen Körper, wollte ihn in die Höhe reißen, fort von diesem schmutzigen und scheußlichen Ort. Weit fort, wo der Frieden auf ihn wartete, wo Ruhe ihn umfing, sobald er durch eiserne Tore schritt. Dort wo Lea nun stumm dalag. Etwas krampfte in seiner Brust und erst als der Schmerz schier unerträglich wurde, wurde ihm klar, dass es sein Herz war, welches sich unter Krämpfen windete.

Impressum

Texte: copyrigth by: Nicola Maas
Tag der Veröffentlichung: 26.05.2011

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