Immer, jeden beschissenen Augenblick, knapp vor dem endgültigen Erwachen aus einem tiefen, beruhigenden Schlaf, traf ihn das Bewusstsein mit solcher Wucht, dass er gezwungen war sogar körperlich zusammenzuzucken. Und selbst dann öffnete er nicht ein einziges Mal die Augen. Er war einfach noch nicht bereit, selbst nach mehreren Monaten, sich jene prägende Sache einzugestehen. Grummelnd verzog er den Mund, behielt in stoischer Ruhe die Augen geschlossen, wusste er doch ganz genau, dass er lediglich eine stahlgraue Welt sein eigen nennen durfte. Kalte Gitterstäbe umfingen seine Zelle und es war egal was er tat, es blieb dasselbe ernüchternde Ergebnis. Er hörte das kalte Zerplatzen von Wassertropfen, wie sie in ihrem letzten Flug, angezogen von der Gravitation, schreiend auf dem Betonboden zerschellten. Andrej bewegte sich nicht, zwar schrie sein Körper, seit Ewigkeiten, nach Bewegung, und er verschaffte ihm diese mit allerlei Training, doch auch sehnte sich ein Teil seiner Seele, nach geistlicher Tätigkeit, die ihn aus seiner nebeligen Umnachtung herausreißen konnte. Leider waren die Möglichkeiten auf Hoffnung so gering, dass ihn eine altbekannte Lethargie einholte und mit festem Griff umfing. Er saß schließlich nicht umsonst im Hochsicherheitstrakt und wartete im beständigen Dahinvegetieren auf die Vollstreckung seines Lebens.
Todesstrafe war ein Wort, welches zu schlicht klang, als dass man im Entferntesten begreifen konnte, was es in sich trug, und genau jene Schlichtheit war es, die in einem wortlose Gefühle hervor rufen konnten. Jene die es außerhalb dieser grauen Zellenwände vernahmen, packte ein passives Grauen, doch jene zu denen auch Andrej zählte, empfanden etwas viel schlimmeres als das. Sie konnten resignieren aber auch in panischer Psychose versinken. Alles war möglich, lediglich die Erfüllung auf Freiheit nicht. Das Freisein bekam ein neues Gewicht, dass trotz seiner immensen Schwere die Gitterstäbe der Fenster nicht brechen konnte, egal wie stark sie dagegen drückte, um den erlösenden Einlass zu bekommen, der auch den Gefangenen endgültig von seinem Leiden befreite, es blieb auf ewig verwehrt.
Als ihm die Finsternis seiner Lider zu eintönig wurde öffnete er sie und starrte einer grauen Decke entgegen. Jede einzelne Blessur, die sich in den Jahren angehäuft hatte, vom kräftigen Schlag der Zeit ausgeführt war, konnte er bei einem selbsterfundenen, rein aus der Fiktion entstandenen Namen benennen. Es war Langeweile und das stetige Wissen, dass jene Risse und Löcher ab nun seine stummen Mitbewohner waren, die ihn dazu veranlasste, solch kindliche Spielereien auszuführen. Manchmal schien er zu hören, wie ein leises Wispern seine Zelle erfüllte, klagende Laute, die sein Leben im Gefängnis nur noch verschlimmerten. Sie erzählten immer wieder von den Qualen der Vorgänger. Wenn er es so bedachte, dass schon genug Mörder, Vergewaltiger, Triebtäter oder sogar so manch berühmt gewordener Serienkiller in genau der gleichen Gefängniszelle gesessen hatte, wie er es nun tat, schien man im Angesicht des Todes, wohl hin und wieder denselben Weg entlang zu schreiten, wie manch ein anderer. Es war ein nostalgisches Ende, das im Trübsinn der manischen Melancholie zu einer steten Resignation zusammen fusionierte. Langeweile, Lethargie und Resignation waren eine tödliche Kombination aus emotionalen Chemikalien, deren Endergebnis knapp am Wahnsinn vorbei schlitterte oder, wenn Fortuna zuschlug direkt in den Abgrund führte.
Wie sagte man so schön: blickt man zulange in einen Abgrund, schaut der Abgrund auch in dich.
Schon ein seltsam obskurer und abstruser Humor, welcher das Schicksal innehatte, wenn man so manch philosophische Phrase näher betrachtete. Nicht das sich Andrej näher mit dergleichen Geisteswissenschaften befasste, lediglich in der abgewandten Form der künstlerischen Betrachtung seiner tödlichen Werke, schien so etwas wie eine Art Professor in seinem Inneren hervorzukriechen, doch dies meistens gepaart mit den schauerlichen Maskeraden der Dämonen, die sich in seine Gefühlswelt eingenistet hatten und diese zu Eis erstarren ließen. Gefühle gehörten nun mal nicht in seinen Job. Gut, in seinen Ex-Job, er war jetzt freiberuflicher Knacki mit einer Vergangenheit als Auftragskiller.
Andrej schloss die Augen wieder, war es ihm zu trist und farblos, weiterhin vor sich hin zu stieren und kein vergleichbares Wesen vor Augen zu haben. Er drehte sich gerade zur Seite als er die energischen Schritte eines Wächters vernahm, wie dieser auf seine Zelle zuschritt. Er fand es wahrlich erstaunlich, dass man ihm einen ganzen verrotteten Trakt zuschrieb. So gefährlich war er nun auch nicht gewesen. Obwohl er in der Unterwelt des organisierten Verbrechens, mehr als nur ein bedeutsamer Name gewesen war.
Wenn er jemals vor dem allerhöchsten Wesen dieser gottverdammten Welt stehen würde, so wüsste er dass er keineswegs unschuldig war. Sein letzter Gang würde ihn in die Hölle führen. Doch das war seine Konsequenz, die er sich erwählt hatte, als er sich seinem innersten Trieb hingegeben hatte. Er war nicht aus Jux und Jause zum Auftragsmörder geworden. Gut, die finanzielle Sache war ebenfalls ein verlockender Köder gewesen, doch die dreckige und einfach ernüchternde Wahrheit dahinter war, dass er lediglich um seiner Selbstwillen diesen Weg eingeschlagen hatte. Andrej lächelte freudlos auf. Die Macht das Chaos der Zerstörung auf perfide Art zu kontrollieren zu können, war etwas, dass es wahrhaftig lohnenswert gemacht hatte, so manch einen Auftrag anzunehmen. Nein, er bereute es keineswegs diese Art von Arbeit verrichtet zu haben.
„Hey Andrej, erheb deinen Arsch! Du hast Besuch.“
Hm. Manchmal erlebte man hier doch noch so was wie eine unerwartete Überraschung. Eine Wendung im monotonen Tagesablauf, welch wunderbare Erfrischung für sein Selbstwertgefühl. Lautlos, ohne jene bleierne Stille in seiner Umgebung zu zerstören, obwohl er dies mit Leidenschaft gern getan hätte, erhob sich Andrej und schwang die Beine über die Bettkante. Zwar war es eine abstrakte Sichtweise, jenes Gestell aus hartem Stahl als Bett zu bezeichnen, doch Andrej vermutete, dass sein Realitätssinn ebenfalls unter der Einsamkeit litt, wie sein Instinkt, der ihn an manch einem schlechten Tag dazu zwang ruhelos auf und ab zu tigern, stetig darauf wartend, letzte Mahlzeit und den letzten Gang anzutreten.
Als sich der großgewachsene Mann mit der seltsamen Haarfarbe direkt vor das Gitter stellte, blitzte es dunkel in seinen Seelentiefen auf. Schwarze Schatten spiegelten auf ihre Weise die Tatsache wider, in die sich der blauhaarige Verbrecher schon seit, mehr als fünf endlos erscheinenden Jahren befand. Die schwarzen Kontraste ließen sein Gesicht kantig und rau erscheinen. Die türkisene Tätowierung unterhalb seiner Augen stach in dem bleichen Weiß seiner Haut hervor und verlieh seinem alten Spitznamen die verloren geglaubte Präsenz zurück. Die Bestie würde bis zum Tod das bleiben, was sie war, denn kein Gefängnis der Welt vermochte es, den sturen Willen eines animalischen Monstrums zu brechen, der in seinen Grundfesten so stark verankert war, wie es bei Andrej der untrügliche Fall war.
Wartend legte Andrej den Kopf schief und wirkte wie ein lauerndes Tier, das darauf verharrte die letzte Instanz des Gefängnisses zu überwinden und in die Freiheit zu flüchten. Ein elektronisches Schnarren erklang und in zeitloser Langsamkeit öffnete sich die Zellentür und machte seinen Weg frei zum Passieren. Wie gerne würde er auch die letzte Tür dieses Betongebäudes hinter sich lassen? Hinaustreten für eine weitaus längere Zeit, als diese mickrige Stunde auf diesem verlassenen Hof, um endlich wieder mehr zu sehen als Grau in Grau, durchzogen von winzigen Schwarzweißkontraste. Er vermutete im Stillen, dass er wohl mehr Grautöne gesehen hatte, wie er überhaupt zählen konnte.
Der Wachmann schwieg, starrte ihn schreckensbleich und voller Abscheu an. Andrej fixierte den immer unruhiger werdenden Mann. Der feine Schweißfilm, der sich fiebrig glänzend auf der kahlen Stirn breit machte und vom kalten Neonlicht nur noch mehr hervorgehoben wurde, kitzelte einen Teil seines alten Ichs. Er breitete die Lippen und fletschte die Zähne in einem süffisanten Grinsen. Das Spiel, welches er immer wieder von neuem trieb, wurde von Mal zu Mal interessanter, vor allem, weil selbst, wenn die Wärter es durchschaut hatten, sich die Pupillen in ihren Augen weiteten um sich anschließend schlagartig zu verengen. Angst sprach in ihrer altertümlichen Sprache mit ihm, jedes ihrer Worte war ihm absolut vertraut, er kannte sie, war sie, perfide gesagt seine innigste Geliebte, die ihn nie verriet, dafür war der menschliche Körper viel zu stark an den Fesseln der Ehrlichkeit gebunden. Das angstvolle Gebärden, sei es auch nur ein sanftes Zucken der Mundwinkel, brüllte immerzu freudig auf und schickte seinen Spott in unerreichbare Höhen. Seine Wärter wirkten auf ihn allesamt wie eine Schar aufgeschreckter Rehe, die vor der großen, bösen Raubkatze davonrannten. Und nur zu gerne genoss er die wenigen Wimpernschläge einer gedanklichen Hetzjagd, ehe die Realität ihre hässliche Fratze vor seinem inneren Idealbild schob und ihn wieder klar sehen ließ. Er war zwar ein Jäger, doch man hatte seine Zähne gestutzt, seine Klauen in schwere Ketten gelegt und ihn an ein verfluchtes Eisengestell gebunden!
Mit lässigem Schritt folgte er dem trostlosen Gang, immer weiter, fort von jener Zelle, die er noch oft genug von innen sah. Dabei, wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er des Öfteren bereits in einer Zelle halb versauert wäre, jedoch gab es da einen absolut prägenden Unterschied: er war nochmal rausgekommen!
Nun schien seine letzte Hoffnung auf seinem unerwarteten Besuch zu lasten, denn er wollte keineswegs durch die Hand des Gesetzes sterben. Eindeutig eine Sache tief unter dem Tiefpunkt seines Niveaus. Er wollte im Gefecht sterben, nicht elendig an irgendeiner Giftspritze verrecken! So ging Andrej seinem wartenden Besuch entgegen, nichts ahnend, dass es weitaus schrecklicheres auf der Welt existierte, als der Todestrakt.
Kalt hallten seine Schritte wider, wurden von nacktem Stahl und grauem Beton zurück geworfen als seien sie nur ein weiteres akustisches Übel, welches keinen Platz in Mitten der Stille des Traktes hatte. Wie oft hatte er sich vorgestellt diesen Gang entlang zu schlendern, vorbei an den Reihen vergitterter Räume, allesamt leer und ohne einen störenden Zellennachbarn, der nachts zu laut schnarchte oder am Tag dumme Sprüche klopfte, einzig aus dem schlichten Grund, weil er vor Angst einging und versuchte der Realität zu entfliehen. Doch bei Andrej gab es niemanden, der solch unnütze Dinge tat. Er hatte von ehemaligen Kollegen gehört, dass hin und wieder ein dummer Thor aus der Zelle stierte und wegen dem einzig wahren Kapitalverbrechen dort saß: er war schlicht und einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen.
Oder: er war das perfekte Opferlamm. Jene Gattung Mensch, die sich geradezu nahtlos dazu nutzen ließen, die Sünden anderer zu tragen. Andrej wusste auch warum: sie waren naiv. Glaubten an das Gute in einem jeden. Er grinste. Und bestimmt gab es da draußen jemand, der der festen Meinung war, dass auch Andrej ein verlorenes Lämmchen war und nur noch zur Besinnung kommen musste. Spätestens wenn der Geistliche die Pforten seiner Zelle passieren würde, würden auch die letzten Hoffnungsvollen begreifen, dass er niemals unschuldig war. In seinem Brustkorb schlug brodelnd ein Herz, welches nach etwas verlangte, dem Chaos und Zerstörung sehr nahe lag.
Nun ging Andrej durch jene Gänge, die sein Ende und gleichwohl seine Freiheit versprachen. Wenn man einmal in jene Kreise geriet, wie er, so war es wie beim heiligen Versprechen bei der Ehe: bis das der Tod uns scheidet
. Anders als bei den heutigen Eheschließungen funktionierte eine amtlich eingereichte Scheidung nicht. Denn in einer Welt, fernab der urbanen Zivilisation, war einzig und allein der Tod derjenige der einen aus dem Sumpf befreite. Und Andrej hockte nun lange genug hier rum, um auf seine endgültige Scheidung zu warten. Das Gute an seinem alten Leben war: er hatte keine Drogen genommen. So waren seine Venen frei von irgendwelchen Humbug und konnten das tödliche Gift einwandfrei passieren lassen. Er lächelte fahl.
Es raschelte metallisch, als die elektronischen Hochsicherheitstüren aufgingen. Seufzend hob Andrej die Hände, er wusste was jetzt kam. Die gleiche Prozedur wurde jedes Mal von neuem vollzogen, wenn er seine besondere Stunde hatte, in der er von außen auf graue Wände starren konnte. Doch diesmal wirkten die Wachmänner ernster, und düstere Schatten verdunkelte ihre Mienen, die für Andrej nur flüchtige Schemen kurz vor dem Tod bildeten. Es lag etwas in der Luft. Andrej spürte tiefsitzende Furcht und eine brodelnde Wut, sie kroch beinahe aus jeder Pore der Männer. Grob wurden seine Fesseln befestigt und schnitten in seine Haut. Dumpfer Schmerz johlte auf und erinnerte Andrej daran, dass er noch lange nicht tot war.
Gelangweilt schielte er auf seine Handgelenke. Dann hob er den Blick und starrte dem Wachmann in die Augen, der ihm die Fesseln angelegt hatte.
„Die sind etwas eng.“
Meinte er und legte abwartend den Kopf schief. Erneut flammte jener Blick des gejagten Rehs über die Iris des Mannes, doch er fasste sich rasch wieder. Schade, dachte Andrej. Wenigstens ein bisschen länger hätte der gute alte Mann schon seine Empfindungen präsentieren sollen.
„Wollt ihr dem Publikum einen geschändeten Körper präsentieren? Wie enttäuschend. Ist es nicht viel spannender, wenn das Untier vor allen Augen verletzt und langsam zu Tode gequält wird?“
Man blieb ihm eine Antwort schuldig, denn ohne ein Wort wurde er weiter geführt. Innerlich zuckte er die Schultern. Ihm war bereits seit einiger Zeit aufgefallen, dass manche Wärter immer weniger auf seine kleinen Späße eingingen. Ein Grinsen, abgründig und ebenso zynisch wie seine derzeitige Umgebung, schlich auf seine Lippen und verharrte den Rest des Weges darauf. Eins konnten sie jedoch nicht verstecken: der Hass, welchen sie ihm gegenüber empfanden. Obwohl er wetten konnte, dass keiner der Wärter seine Opfer wirklich gekannt hatten. Doch das war die Empathie der Menschen. Geschah irgendwo ein Mord fühlten sie viele Millionen angesprochen, doch geschah jenes Verbrechen direkt neben ihnen, so war es meilenweit von ihnen entfernt. Manchmal kam es Andrej so vor, dass er im Gegensatz der großen Masse, eigentlich fast schon so harmlos war, wie ein verliebtes Schulmädchen.
Als sie jenen Gang passierten, durch den Andrej nur einmal in seinem Leben gegangen war - und wohl niemals ein zweites Mal gehen würde¬- umarmte ihn erneut der stinkende Hauch der Resignation. Es war vorbei. Durch jene graue Stahltür würde er niemals gehen können. Dort draußen, hinter Betonwänden und grauem Stahl, lauerte die Freiheit und er konnte hören wie sie schier nach ihm schrie. Er wollte antworten, zurück brüllen, dass er bald nach Hause kommen würde, doch hier in dieser Stille wurde seine Stimme erstickt. Dünne Finger legten sich Nacht für Nacht auf seine Kehle und drückten langsam zu, bis in tiefster Dunkelheit einzig ein klangloses Krächzen seinen Mund verließ, wenn die Sehnsucht zu groß wurde und sein Brustkorb zu platzen drohte.
Nein, er war nun eine Reliquie aus einer düsteren Welt unterhalb jedweder Wahrheit. Sein Leben hatte streng genommen noch nicht einmal offiziell stadtgefunden. Offiziell existierte er nicht. Vielleicht sollte ihn das trösten, denn wer nicht offiziell existierte konnte auch nicht offiziell sterben. Im selben Moment, in dem jene Gedanken sein Hirn durchquerten, wusste er, dass allmählich die Lethargie den Auflösungsprozess rational geleiteten Denkens gesteigert hatte und er womöglich bald nur noch wabernden Unsinn im Kopf zustande bringen würde.
Es gab einen Raum, der ebenso gesichert war wie seine Zelle. Dieser Raum war nur für ihn erneuert worden, falls er Besuch bekommen würde. Und jener Besuch, dies wusste Andrej, würde niemals kommen. Bisher war seine stumme Vermutung auch eingetroffen und er war sich absolut sicher gewesen niemals mehr irgendjemanden aus seiner Vergangenheit wiederzusehen. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, wollte er auch niemanden mehr sehen. Jene hochnäsigen, falsch gepuderten Visagen irgendwelcher hoch karierten Männer in diesen piekfeinen Anzügen, die von sterbenden Chinesen genäht wurden, konnten ihm gestohlen bleiben, denn er war raus. Raus aus dem Geschäft. Raus aus der Sache. Geschieden von der Mafia. Gut die Scheidung hatte ihren letzten und absolut pompösen Akt noch nicht erreicht, aber es würden nur noch Tage dauern, bis er den Spruch in der Kirche wahr werden ließ: bis das der Tod uns scheidet
. O ja, darauf freute er sich teilweise.
Sein Körper blieb ruhig. Keine unsinnige Aufregung oder euphorische Freude durchbohrte seine Nerven, um sie irgendwie zu aktivieren. Nichts. So weit war seine lethargische Haltung bereits vorgeschritten. Was sollte man auch tun, wenn man nichts mehr hatte? Langsam wurde die Tür geöffnet und er betrat seinen persönlichen Besucherraum. Einzig ein Tisch und zwei kalt anmutende Stühle standen in der Mitte und schienen Andrej gewinnend anzugrinsen. Wortlos ließ er sich auf dem Stuhl nieder, reagierte nicht, als man ihn an den Tisch kettete und zwei aggressiv und bedrohlich aussehende Hünen an der Tür Posten bezogen.
Andrej lehnte sich so gut es eben ging zurück und starrte an die Decke. Sie hatte weniger Kerben als die in seiner Zelle. Er wollte gerade beginnen der ersten Kerbe einen Namen zu geben, als die Tür erneut geöffnet wurde und jemand eintrat. Andrej starrte weiterhin nach oben. Da war ein Fleck, der aussah wie das Gesicht von Marilyn. Marilyn Manson. Nicht Monroe. Schade, selbst in einem verfluchten Fleck konnte er nichts ordentliches mehr rein interpretieren.
„Und immer noch starrst du den Himmel an.“
Die Stimme klang entfernt vertraut. Wie ein Echo aus lang vergessenen Zeiten hallte sie zu ihm herüber, doch er bedachte seinen Besucher nicht einmal mit einem kurzen Seitenblick. Die Decke war viel interessanter, als irgendeine menschliche Visage.
Sein Besucher seufzte. Schwerer Stoff raschelte, als würde jemand einen dicken Mantel über einen Stohl werfen. Dann knarzten die Beine des anderen Stuhls unter dem Gewicht des Besuchers.
„Lassen sie uns allein.“
Stille. Dicke, fette, erstaunte, ungläubige Stille. Wer hätte je gedacht, dass er solch einen Moment, einzig aus dem Atem des toten Raums bestehend, so genießen konnte? Ein lang verschollenes Amüsement hisste die Flaggen und stürmte aus dem trocken gelegten See seiner Emotionen auf ihn zu und ließ seine Mundwinkel zucken. Interessant. Immer noch kam ihm die Stimme vage bekannt vor, doch schlich sich kein Name oder Bild in sein Gedächtnis und das Abbild von Marylin Manson von einem Fleck portraitiert war immer noch Ablenkung genug, um seinen Besucher nicht anzusehen. Er wusste noch nicht genau warum, aber jetzt wollte er diesen Mann vor ihm nicht betrachtet. Das hatte Zeit, bis dieser anschließend gehen würde. Es dauerte bis die Tür leise über den Boden kratzte, anschließend schwere Stiefel stampfend sich entfernten und die Tür erneut ins Schloss fiel.
„Ist die Decke wirklich so interessant oder hast du genug Zeit gehabt um deine verlorene Pubertät wiederzuentdecken?“ Schalk verschmutzte die Worte und ließ sie schal wirken. Andrej schwieg. Erneut raschelte es, als krame sein Besucher in einer Tasche. Ein leises Klappern säuselte in Andrejs Ohren und er wendete endlich den Blick ab, starrte seinen Gegenüber an.
„Schön dass du mich endlich ansiehst, mein Freund.“, sein Gegenüber lächelte. Nein, Andrej korrigierte sich, etwas um die vernarbten Mundwinkel zuckte und schien anscheinend als Lächeln zu fungieren.
„Seit wann läufst du als Faschingspirat durch die Gegend, Piotr?“
Piotr lächelte erneut jenes Narbenlächeln und fuhr über die schwarze Augenklappe. Dann erstarrte seine Mimik.
„Ich würde sagen, seit dem Augenblick des Verrats.“
Andrej legte den Kopf schief. Was hatte irgendein Verrat, weit entfernt von seiner derzeitigen Behausung mit ihm zu tun?
„Weißt du Andrej, es gibt eine Möglichkeit, eine Eventualität, die dir zusprechen könnte und mir die schwere Last des verratenen Freundes nehmen könnte. Doch dafür benötige ich jemanden, dessen einzige Bezahlung der Tod ist.“
Andrej starrte Piotr an. Dann lehnte er sich vor, die Fesseln drückten und die Ketten klagten leise. Ruhig starrte er jenen Mann, für den er bereits einige Morde erledigt hatte, von denen die werte Polizei noch nicht mal etwas ahnten. Vor ihm saß jener Mann, den er hassen gelernt hatte. Aber er vertraute ihm.
Piotr seufzte.
„Ich weiß dass unsere Beziehung…“ Er verstummte, wusste er, dass in Andrejs Augen die Zerstörung aufloderte und Piotr entgegen springen wollte um ihn zu zerfleischen, langsam auszuweiden und sich an seiner nackten Seele gütig zu tun. Er räusperte sich verhalten.
„Sagen wir so, wenn du ja sagst, bekommst du die Möglichkeit zwischen draußen und drinnen zu wählen.“
„Glaubst du, dass ich ja sagen werde?“, knurrte Andrej und wünschte sich, dass die Ketten ihm mehr Freiraum geben würden. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt Piotr den Hochmut aus dem Leibe zu schlagen? Einfach nur, weil es ihn bestimmt befriedigen würde zu wissen, dass dieser Schweinehund Schmerzen fühlen konnte.
„Du hast keine andere Wahl. Noch bist du nicht geschieden
.“ Das Wort dahin
geschieden hätte nicht formaler klingen können, wie in diesem Moment, als die Wörter aus Piotrs Mund stolperten. Andrej biss auf seiner Wut herum und würgte sie herunter, wäre sogar fast an ihr erstickt während ihm ein Narbenlächeln entgegen strahlte. Ja, Piotr hatte recht, noch war er nicht geschieden
und hatte somit Pflichten. Er hasste sie.
***
Und so kam es, trotz seines Widerwillens und seiner Abscheu Piotr gegenüber, dass er seinen letzten Job mit einem Handschlag als Pakt festigte. Und wieder einmal hatte er Pflichten gegenüber der ehrwürdigen, schwarzen Unterwelt, die von der Zivilisation schlicht Mafia genannt wurde. Was ihn jedoch einigermaßen entschädigte war der Gang nach draußen. Er verweilte keine Sekunde zu lang in seiner Zelle, ehe man ihn abholte und durch die Gänge führte.
Ein beinahe als sanftmütiges Lächeln umspielte seinen Mund während um ihn herum getriebene Hektik herrschte. Beschwingt schlenderte er von einem Sicherheitstrakt zum nächsten, bis er alles wieder hatte: Klamotten und den kleinen Kram aus seinen Taschen.
Polizisten flankierten ihn, wie ein hohes, politisches Tier und begleiteten ihn, bis sich vor ihm der Hof eröffnete und summend die Freiheitsfanfaren verlauten ließ. Na ja, lediglich Andrej konnte hören, wie die Freiheit ihr Liedchen für ihn trällerte, doch das reichte um seine Laune deutlich zu heben. Ihm war es egal, wie man es geschafft hatte ihn hier raus zu bringen.
Freiheit. Ein Wort, ein Zustand frohlockender als jedwedes Paradies mit irgendwelchen pseudo Jungfrauen. Wozu brauchte er so etwas, wenn die Freiheit sich extra für ihn in Schale warf und sich anzüglich räkelnd präsentierte. Er brauchte kein Paradies, nach der Endlosigkeit giftiger Lethargie! Er atmete den Geruch von Abgasen verpesteter Luft ein und seufzte wehmütig. Selbst den Gestank eines schlechten Auspuffes schien sein Geruchsorgan vermisst zu haben. Lässig schmiss er sich seine verschlissene Anzugjacke über die Schulter und spazierte die Straße entlang, während hinter ihm das Gefängnis in weite Ferne rückte.
Irgendwo war eine Stadt und dieses Wissen endlich mal etwas anderes zu sehen als Grau in Grau, beflügelte ihn und er beschleunigte seinen Schritt. Die Eindrücke um ihn herum schienen ihn überfluten zu wollen. Wellen an Farben, die für jeden anderen alltäglich und stinklangweilig waren, ergossen sich über sein optisches Vermögen und Geräusche erfüllten sein Gehör. Für diesen winzigen Moment wollte er schlicht und einfach genießen. Wer wusste wie lange er noch Zeit dafür hatte?
Ein Zettel in seiner Hosentasche erregte bald seine Aufmerksamkeit, als Andrej nach älteren Zigaretten kramte. Ungerührt holte er ihn hervor. Ein roter Korrekturstift strich das Wort Zettel aus seinen Gedanken und schrieb in hübschen Neon Rot: Foto drüber.
Bevor er sich inniger mit dem abgelichteten Exemplar eines neuen Auftrags befassen wollte, suchte er erneut nach seinen Zigaretten. Womöglich gab es diese gar nicht mehr auf dem Markt und waren sozusagen antik. Er grinste. Das gefiel ihm. Durch die längere Abstinenz kratzte der Rauch unsanft in seiner Halsgegend, doch das Nikotin kitzelte bald seine Glückshormone und scheuchte sie auf, so dass eine Woge innerer Ruhe ihn haltlos durchströmte.
„Für einen Verräter bist du noch recht jung, Schätzchen.“, murmelte Andrej und hob das Foto in Augenhöhe. Es zeigte ein Mädchen, gerade mal unschuldig wirkende Sechzehn und mit einem Haarschnitt, der andeutete, dass ihr Vater wohl das Geschlecht bei der Zeugung verwechselt hatte, denn das liebliche Mädchen aus Kindertagen bevorzugte anscheinend kurze Männerhaare in den Tönen Wasserstoffblond gemixt mit Warndreieckrot. Nun wünschte sich Andrej doch wieder die Einfachheit des Grautonkomplexes zurück. Die schrillen Farben, sowie die möchte- gern- Gangstersonnenbrille, ließen ihn aufstöhnen. Er konnte den Protest seiner Augen fast schon hören, wie sie darum bettelten, wegen des Bildes kein Augenkrebs zu bekommen.
„Anscheinend werden die Verräter jünger und
auffälliger.“ Brummelte er. Oder sie ließen es zu dass ihre Töchter sich modisch verunstalteten. Na ja, war nicht sein Bier. Er musste nur den Job erledigen, fast schon wie früher. Nur gab es da einen prägenden Unterschiet: es gab kein früher mehr, nur noch das ultimative Ende.
***
Die Kacheln starrten ihm seit geschlagenen fünf Stunden entgegen. So lange verharrte er bereits in dem altersschwachen Bad, dessen Wände sich mit den dreißiger Jahre Verzierung wohl gegenseitig zu blenden versuchten. Um ihn herum erhoben sich Wälle aus bräunlichen Kacheln und der Typ vom FBI wollte partout nicht verschwinden!
„Was?!“, kreischte Babas Stimme wohl zum tausenden Male, während der Agent vergeblich versuchte aus ihr irgendwelche Antworten zu bekommen. Vermutlich getraute er sich nicht einmal in die Nähe des Bads zu gehen, um sich den Anblick irritierenden gelben Brauns zu ersparen. Andrej konnte es nicht, ihn schien Fortuna nicht gerade zu mögen, hoffentlich würde sich dies bald ändern. Mit gerunzelter Stirn stützte er sich am Waschbecken ab und lauschte. Baba machte erneut einen gellenden Fragelaut und das immer unsicher werdende Gemurmel des Agenten wurde mit jedem neu gebrüllten „HÄ?“ leiser und leiser, bis es nur ein seichtes Dahinplätschern irgendwelcher aneinander gereihter Wörter war, das vermutlich grammatikalisch verstümmelten Sätzen gleich kam.
Triumphierend grinste Andrej sein Spiegelbild an. Es gab einen Grund warum er sich dazu entschieden hatte, bei Baba zu übernachten: sie war unschlagbar und fast völlig blind und hörte kaum. Selbst mit ihrem Spezialhörgerät verstand sie nur neun Prozent dessen was man sagte. Und meistens kürzte sie die unliebsamen Stellen raus und machte mit ihrem „Was?“-Spielchen weiter. Innerlich jedoch vermutete Andrej eine verkorkste Taktik, bestimmt versteckte sich hinter dem seligen Lächeln der älteren Dame das Gewissen eines gerissenen und skrupellosen Geistes, der wachsam jegliche Bewegung wahrnahm und ein kleines vertracktes Spiel mit jedem spielte, den er nicht leiden konnte. – Andrej stand anscheinend in der Gunst von Baba sehr hoch, sonst würde sie ihn nicht – ganz speziell auf ihre Art und Weise- in Ruhe lassen. Oder weil die alte Dame spürte, dass der junge Mann nicht unbedingt für jeden Spaß zu haben war, auch wenn dieser von einer alten Frau kam, die womöglich nur noch von Alkohol und Nikotin ein Konservendosenleben führte
Bei ihm stellte sie sich nicht auf alt und stur. Der Agent verstummte urplötzlich und Andrej erstarrte. Langsam kroch sein Blick über hässlich grüne Badevorleger, die direkt aus dem Sumpf gekrochen kamen, und richtete sich auf den schmalen Streifen Licht am Rand der Tür. Ohne auf irgendeinen Befehl seines Gehirns zu warten, tastete seine Hand zur Nagelfeile und umgriff sie. Man hatte ihn zwar aus dem Gefängnis geholt, doch er war immer noch ein räudiger Köter, der sein Maulkorb abgerissen hatte um neue Opfer zu finden und sie niederreißen wollte. Ähnlich wie bei jedem bösartig veranlagten Hund, wollte man ihn lieber einschläfern lassen, anstatt ihm die Möglichkeit zu schenken sich zu ändern. Und eigentlich war Andrej nicht danach die Karten auf „Veränderung“ zu legen, lieber blieb er bei dem alten Dasein mit all seiner Gewohnheit.
Es knarzte leise, als die lockere Bodendiele unter den Schuhen des Agenten vernehmlich seufzte. Lautlos schob sich Andrej aus dem Blickwinkel des Schlüssellochs und lehnte sich an die Wand. Für ein nervöses Herzstolpern war sein Körper zu faul und selbst die Schweißdrüsen zuckten lediglich gelangweilt die Achseln, während der Agent vor der Tür sein Gewicht verlagerte und anscheinend nach dem Türgriff die Hand ausstreckte. Es gab nur ein Problem, wenn Andrej den Agenten beseitigen würde: genau jene Anzugträger des FBIs kamen niemals allein. Über diesen ernüchternden Tatbestand verdrehte Andrej genervt die Augen.
Noch bevor die Tür geöffnet wurde erklang das erlösende Pochen, wenn ein Stahl besetzter Gehstock mit sadistischem Vergnügen auf den Boden gehämmert wurde.
„Das ist ja nett von ihnen junger Mann, dass sie mir die Tür zur Toilette aufhalten. Ich hab derzeit so Probleme mit dem Darm, wissen sie? Er funktioniert anscheinend nicht mehr ganz so richtig, das kommt genauso raus, als würde ich pinkeln. Grauenvoll, nicht wahr?“ Der arme Mann auf der anderen Seite der Tür wusste nicht genau wie er auf die Eröffnung des Stuhlgangs von Miss Ludovic reagieren sollte. Das Ergebnis der hörbaren Überforderung war schlicht: „Öhm…“
Anscheinend nicht die Antwort auf die Baba gewartet hatte. Denn ihre Stimme schlug jenen Befehlston an, den nur Militärausbilder der Marine intus hatten: „Machen sie gefälligst die Tür auf, sonst platzt mir der Hintern!“
Nun hätte Andrej alles gegeben nicht mehr
im Badezimmer festzustecken. Es gab genug Tode auf dieser Welt, die man sterben konnte. Schlicht im Bett – nach oder vor dem Sex, durch irgendwelche manipulierte oder zufällig geschehene Unfälle, Kugelschuss, Folter, Gift. Doch durch Ersticken, ausgelöst von den Abgasen einer alten Dame war wohl doch etwas zu gewagt. Gepeinigt von der baldigen Geruchsvorstellung kauerte sich Andrej hinter die Tür, die langsam aufgeschoben wurde. Hindurch trat eine klapprige Frau, die bald die neunzig überschritten hatte und eine Kartographie eines Kraters im Gesicht platziert bekommen hatte. Für ihr Alter besaß sie jedoch Augen, die Dinge erzählten, fernab von der Möglichkeit, die die menschliche Sprache eröffneten. Baba sprach mit ihrem Blick und nun deutete sie mit hochgezogenen Augenbrauen dezent daraufhin, dass sie nun in Ruhe auf ihren Abort gehen wollte.
„Gibt es noch etwas, Jüngelchen? Nein? Denn ich glaube nicht, dass sie mein Leiden hören wollen.“ Baba stand immer noch zwischen Tür und Bad, verwehrte so den Blick auf einen immer verzweifelnder dreinschauenden Andrej, der kurz vorm inneren Kollaps stand, um bei den nächsten kommenden Sätzen wohl endgültig zu dehydrieren. Noch nie hatte jemand ihn derartig in eine solche Lage, oder besser gesagt Bredouille gebracht, wie die alte Dame neben den Penthouses irgendeines berühmten Börsenmaklers. Gott, selbst die Tatsache, dass er die Todesstrafe bekam, hatte er definitiv nüchterner aufgenommen als die bevorstehende Vergasung durch körperliche Ausdünstungen während des Stuhlgangs von Oma Ludovic!
Der Agent schien entschlossen zu sein, sein Leben zu behalten und verabschiedete sich förmlich, um rasch das Weite zu suchen. Die Haustür fiel krachend ins Schloss, anders konnte man sie nicht richtig schließen, und die Hausherrin wurde flehentlich von unten angesehen.
„Du gehst besser auch raus.“ Zischte sie und machte eine wegscheuchende Geste. So schnell war Andrej noch nie aus einem Raum gestolpert, wie aus Babas Bad.
***
Heiß. Seit mehreren Tagen schwoll der Temperaturpegel mit jeder verstreichenden Minute an und veranlasste die Menschen dazu ihre Kleider immer mehr zu Hause zu vergessen. Rote Haut, die mehr Ähnlichkeiten mit einem Hummer hatte, vermischte sich verbranntem Leder. Der Straßenlärm schien im Hitzeflimmern die Hauswände empor zu klettern. Dunstig hing die Luft zwischen den Gassen weit unter ihm, während Rinnsale aus Schweiß über seinen Körper flossen. Die Stange quietschte leise, als er erneut mit seinen Übungen anfing. Vor drei Tagen hatte er die letzten Informationen über seinen Job herausgefunden. Es hatte nur aus folgendem Grund so lange gedauert: er wollte ein bisschen mehr die Freiheit außerhalb des Gefängnisses genießen und er musste wieder in Form kommen. Außerdem hatte Piotr keine genaue Zeitangabe des Todes gewählt und so war Andrej frei genug zu entscheiden, wann er die Kleine umbrachte.
Seine Muskeln zuckten im Takt seines Trainings, während schwüle Stadtluft die Atmosphäre um ihn herum schwängerte. Ein glühender Ball praller Sonne prangerte den Himmel an und bleichte besser als jedwedes Bleichmittel vor diesen heißen Tagen es je getan hätte. Das leicht vergilbte Rippentop klebte bereits seit dem Augenblick an seinem Körper, als er auf dem Dach angekommen war. Die Luft stand und schien immer mehr eine Wand aus reiner Hitze zu bilden, gegen die Andrej seit mehreren Minuten ankämpfen musste. Rechts und links von ihm erhoben sich graue Blöcke, deren Abermillionen Augen das Licht der Sonne in allen erdenklichen Farben brach und gleichzeitig warfen die Gebäude lange dunkle Schatten über die armeisengroßen Menschen zu ihren Füßen. Quengelndes Humpen, die alltäglichen Geräusche einer Metropole klangen seltsam verzerrt und schal in Andrejs Ohren.
Er ließ die Stange los und griff nach einem Handtuch. Langsam ging er an den Rand des Daches und beugte sich nach vorne. Wenn die Menschen dort unten wüssten, wie frei ihr Leben war im Vergleich zu seinem, nun ja, dann wüssten sie es. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und blinzelte gegen die hundertfach neu geworfenen Reflektionen in den Glasscheiben der Hochhäuser. Eigentlich mochte er diese großen Metropolen nicht. Vor allem verabscheute er die U- Bahnstationen. Sie stanken und waren vom Abschaum erfüllt, der anderswo rausgeschmissen worden wäre. Außerdem waren sie unansehnlich, ihre Hässlichkeit überzog jede Sitzgelegenheit und spiegelte sich in jedem missmutig verzogenen Mund wider. Nicht zu vergessen die ganzen Schmierereien, ein blinder Versuch talentloser Schuljungen ihr Revier zu markieren, es endete jedes Mal damit, dass niemand auch nur erahnen konnte, wer jene ominöse Schrift auf die Kacheln geschmiert hatte. Andrej konnte sich interessantere Dinge vorstellen, als mit Spraydosen rum zu sprühen und anschließend an den giftigen Gasen zu sterben.
Texte:
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Tag der Veröffentlichung: 21.05.2011
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Widmung:
Meinem großen, kleinen Bruder, der unser ganz persönliches Mysterium ist