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Prolog



A

nubis schwieg. Starrte mit undefinierbaren Blick auf die Straßen weit unter ihm, spürte kaum wie der Regen seine irdischen Kleider durchtränkte, Fasern aufquellen ließ und somit schwer auf seiner Haut klebte. Er achtete nicht weiter darauf, den stetigen Fluss aus Lichtern der fahrenden Autos betrachtend, während über ihm der Donner seinen Hammer schwang und laute Detonationen weit im Geflecht der Wolken erklangen. Der Himmel läutete einmal wieder in seinen volltönenden Klängen. Langsam hob er seinen Kopf und verlagerte sein Gewicht. Hier oben auf einem der unzähligen Betongebäude der Banileue wirkte der Gewitterhimmel näher als sonst. Gespenstisch spiegelten sich die Blitze in den dreckigen Fensterscheiben, verzerrten das diffuse Licht von den Straßenlaternen und wirkten wie verstellte Fratzen, die ihm entgegen grinsten.
Es schmatzte geräuschvoll in seiner Schuhsohle als er seinen Fuß vom Geländer nahm. Wortlos vergrub er die Hände in den allmählich feuchten Taschen und kramte nach einem menschlichen, altbekannten Laster. Anubis grinste schief als er den vollkommen nassen und total unbrauchbaren Glimmstängel zwischen die Lippen schob. Zum Glück

, dachte er, ist Leder einigermaßen

wasserdicht. Mit einem leisen Klatschen richtete er den Kragen seines schwarzen Ledermantels und wandte sich von dem trüben Anblick der Pariser Ghettos ab. Er war schon oft genug hier gewesen, wegen allerlei Geschäftlichen Dingen, doch heute musste er wegen etwas komplett anderem zurück in die laute Großstadt.
In Ägypten herrschte derzeit sowieso Überbesetzung in den Reihen der Götter. Außerdem wollte Anubis nicht noch einmal in irgendeinen amtlichen Sitz gedrängt werden. Von ihm aus konnte Osiris sich mit den Toten herum quälen und entscheiden welchen Weg sie gehen dürfen oder nicht. Doch hier, weit unter dem pulsierendem Straßenleben von Paris herrschte etwas, dass derzeit in einem absoluten Ausnahmezustand abgestürzt war.
Einst wusste Anubis: zu viele Götter an einem Platz, war niemals gut. Vor allem wenn es sich um zwei höllische Temperamente ging wie Hell und Hades persönlich. Und er war wieder dazu verdammt die Drecksarbeit zu erledigen. Unwillig schnaufte Anubis. Dass ich nicht lache. Zwei erwachsene Götter schaffen es nicht ihr Reich ordentlich aufzuteilen.


Dunkles Haar fiel ihm in die Stirn, unwirsch wischte er es weg und stieß die Tür vollgeschmiert mit Graffiti auf und fand sich in einem muffeligen Treppenhaus wieder. An den Wänden prangerten die üblichen Parolen, allesamt verschmiert und irgendwie an die Umgebung angepasst. Es war dunkel und absolut trostlos. Nasse Flecken sprenkelten den grauen Beton und Schimmel kroch langsam von der Decke herab und zog eine grünliche Spur hinter sich her. Metallisch schlugen die Regentropfen gegen das Dach des Treppenhauses und kreischte in ihrer leisen Sprache, erzählten Anubis vom Schmutz und Dreck, der sich in den Gassen von Paris angesammelt hatte. Auch hier zwischen verrosteten Treppengeländer und alten Stufen sammelte sich allerhand Müll und wenn Anubis seiner Nase vertraute – und dies tat er zweifelsohne- hatte sich so manch einer hier erleichtert. Angewidert rümpfte Anubis die Nase.
Herrgott war das lange her gewesen, als er das letzte Mal in einer Großstadt gewesen war. Brummelnd schnippte er gegen die immer noch nasse Zigarette. Kurz glühte sein Finger in einem unheilvollen Rot auf, dann kräuselte sich ein feiner Streifen Rauch vor seinem Gesicht, kletterte in der Luft empor und verdeckte kurzzeitig das übelriechende Aroma von Urin. Viel zu kurz für Anubis Geschmack. Eigentlich war es Göttern verboten sich den Lastern der Menschen hinzugeben, doch irgendwann in Anubis Leben hatte bei ihm eine Art spätpubertäre Phase eingesetzt, die ihn nun zum Fußabtreter der Götter geführt hatte.
Kalt hallten seine Fußschritte im Treppenhaus wider. Von wegen Laster, es waren lediglich jene Ursachen, die so manch ein Ableben förderten. Er war wütend, schließlich gehörte er zu jenen ersten Todesgöttern, die die verabscheute Unterwelt einst gehütet und bewacht hatten. Aber nein, Osiris musste bemängeln, dass Anubis zu viel Menschsein in sich trug. Pah! Von wegen! Nur weil Anubis seine Sache mit den Verstorbenen ernst nahm und sich auch dazu herabließ persönlich die Erde zu betreten oder gar in der Unterwelt Unterstützung für die toten Seelen zu sein, anstatt in himmlischer Höhe ein Regiment zu haben, wo man alles steuerte, ohne sich seine –ach so noblen und teuren- Klamotten dreckigen machen konnte.
Grummelnd kickte Anubis eine leere Flasche die Stufen runter. Degradiert zum Narren, der sich zwischen zwei Hitzköpfen werfen sollte, damit ein anderer außer Osiris das Zeitliche segnen konnte, schließlich fehlte dem bekannten ägyptischen Gott ja ein Teil seines göttlichen Körpers. Ich wette, dass er diese Geschichte lediglich erfunden hat um sich wichtig zu machen

. Kratzender Rauch, der Menschlichkeit versicherte, füllte seine Lungen und kroch anschließend aus seinen Nasenlöchern hervor. Irgendwie fand er dies immer noch faszinierend, dass er dabei aussah wie ein dilettantischer Feuergott. Loki hätte seinen Spaß dran

. Kurz stockte Anubis und betrachtete eine vom Schimmel fleckige Wand. Nein, vermutlich hatte Loki diese Dinger in die Welt der Menschen gebracht, zuzutrauen war es dem nordischen Feuergott.
Müdigkeit klopfte an Anubis irdischen Körper und wollte Einlass, damit sich seine Glieder schön schwer machen konnten und ihn daran erinnerte, dass der Schlaf ebenfalls in seine Lasterliste einzufügen war. Er konnte gerade noch ein Gähnen unterdrücken, ehe er weiter ging. Als er unten ankam und erneut in den Regen trat, starrte er die finstere Straße entlang. Eine Laterne flackerte unstet und verbreitete die tänzelnden Schatten über den Bürgersteig. Schwarze Pfützen gähnten wie finstere Löcher in mitten des dunklen Asphalts. Erneut ertönte grimmiger Donner, dicht gefolgt von einem grellen Blitz, der für wenige Sekunden den Dunst durchbrach, der die Stadt wie ein immerwährender Nebel umgab, und alles abrupt erhellte.
Für wenige Sekundenbruchteile lag eine Gasse nackt im blanken Licht dar und legte den Blick auf etwas frei. Sofort verharrte Anubis in seiner Bewegung und starrte dem Wesen entgegen, dass mit gefletschten Zähnen in einem schmalen Durchgang stand und ihn aus rotglühenden Augen anstarrte. Der Durchgang war viel zu schmal für dieses Ungetüm, welches sein Maul weiter aufklappen ließ und triefender Geifer tropfte in eine Pfütze. Langsam wurden drei Köpfe gehoben; schwarzes, dichtes Fell überspannte einen Körper, dessen Klauen misstönend über den Asphalt kratzten. Man hätte dieses Ungetüm eventuell als übergroßer Hund angesehen, wenn dieser nicht zusätzlich jene prägenden drei Köpfe besessen hätte.
Cerberus fixierte Anubis. Hinter dem gestäubten Fell des Höllenhundes wurde der Durchgang von dichten Schatten verschluckt, die beinahe lebendig über die Mauern glitten. Anubis glaubte tänzelnde Flammen zu erkennen, ein Echo von Hades Heim, der Unterwelt. Doch sobald seine Augen sie zu fassen versuchten, verloren sie jegliche Gestalt und wurden wieder eine wabernde, unheilvolle Masse aus schwarzen Schatten.
„Hallo Hündchen. Hat dich dein Herrschen etwa vor die Tür gesetzt?“
Die Zigarette glühte rötlich in der dunklen Nacht auf. Weiser Rauch verschmolz mit dem Regen, während Cerberus langsam eine Klaue vor die andere setzte und aus dem Durchgang pirschte. Erneut grollte der Himmel wütend auf und spuckte zornige Blitze. Irgendwo, weit entfernt erklang das Geräusch von Autosirenen und dem Krachen von Scheiben. Doch dies interessierte Anubis nicht wirklich. Es war verdammt lange her als er mit Hades Hündchen Räuber und Gendarm

gespielt hatte. Nicht dass er dies freiwillig gemacht hatte. Man könnte sagen, manchmal hatte Hades sehr überzeugende Argumente um mit dem Hund Gassi zu gehen.
Seufzend schnippte Anubis die halbgerauchte Zigarette weg. Mit einem Platschen landete sie in einer der unzähligen Pfützen.
Cerberus grollte tief in seinen drei animalischen Kehlen, trat nun vollends aus den Schatten. Dicke Regentropfen hingen im dichten Fell. Rasch huschte Anubis Blick die Straße entlang. Es wäre nicht gerade förderlich, wenn jetzt ein Auto vorbeigeschossen kam. Doch möglicherweise hatte er ja mal einmal in seinem Leben Glück, wenn man davon absah, dass ein freilaufender Höllenhund seine Bahnen durch genau jene Straßen zog, in denen Anubis war.
Es war verdammt lange her, dass er auf seine alten Kräfte zugriff. Das stimmte nicht ganz, denn dadurch, dass er kein anerkannter Gott mehr war, waren seine Kräfte ebenfalls beschränkt. Hatte er schon erwähnt, dass er es hasste, so vollkommen ohne seine eigentlichen Kräfte durch die Weltgeschichte zu spazieren? Nein? Nun hatte er dies nachgeholt. Außerdem würde er, wenn er erneut Angesicht zu Angesicht vor Osiris stehen würde, diesem eine reinhauen, ohne Rücksicht auf seine Frau und Schwester Isis. Auch wenn er Isis eigentlich sehr gut leiden konnte. Trotz ihrer fragwürdiger Gattenwahl.
Nun ja, jedem das Seine.
Außerdem sollte er sich lieber auf den riesigen Hund konzentrieren, der gerade gefährlich langsam auf ihn zukam. Warum hatten weder Hell noch Hades ihre Schoßhündchen im Griff? Stimmt ja, bei Hell war es der eigene Bruder und Geschwister hatten sich normalerweise nicht im Griff.
Einer der schrecklichen Hundeköpfe wurde nach hinten gerissen und ein grässliches Jaulen, tief entsprungen aus einer tödlichen Kehle, zerschnitt den Lärm des Donners. Fluchend sprang Anubis hinter ein geparktes Auto, als ein Strom wabernder Schatten über jene Stelle herfiel, an der er noch vor kurzem gestanden hatte. Noch ehe er sich aufrappeln konnte, wurde das Auto zur Seite gerissen und ein speichelbenetztes Maul ragte kurz darauf über ihm.
Keuchend rollte Anubis zur Seite, hob blitzschnell die Hand und schlug dem riesen Köter gegen die Schnauze. Jaulend zuckte der Kopf zurück. Dunkles Feuer, rot verglühend und vor Hitze schwarz hatte die empfindliche Schnauze von Cerberus angefressen, war es ebenso gefräßig wie der Höllenhund selbst. Kurz huschte ein triumphierendes Lächeln über Anubis Züge. Dann weiteten sich seine Augen, als der nächste Kopf kläffend und mit gefletschten Zähnen auf ihn niedersauste. Warme, alte Magie kribbelte in seiner Handfläche, als er auch dem zweiten Kopf ins Gesicht schlug. Pfoten von messerscharfen Klauen besetzt sausten blindlings auf ihn nieder.
Fluchend rollte Anubis zur Seite, sprang mit Schwung auf die Füße und taumelte erschrocken zurück als mit einem lauten Krachen ein Hundeschwanz knapp vor ihm in den Asphalt schlug. Graue Splitter flogen durch die Luft und schnitten in Anubis Haut. Er verengte die Augen zu Schlitzen. Knurrend blinzelte Cerberus den Schmerz weg und wandte sich zu Anubis um.
Das rotglühende Feuer leckte über Anubis Handfläche, flackerte auf und franste in der Finsternis aus.
„Weißt du, Drecksköter, ich hasse es mit dir zu spielen, also sei nicht traurig, wenn ich unser kleines Tänzchen beende.“ Er hob die Hand, das Feuer breitete sich über den Arm aus, leckte über das schwarze Leder, versengte es jedoch nicht und warf geisterhaftes Licht auf Anubis menschliche Züge. Doch hinter den Augen barg sich etwas Dunkles, Finsteres, das grausamer war als Cerberus Anblick. Hinter der Fassade des Menschen barg sich ein Todesgott, dessen bloße Züge einen wackeren Mann in den Wahnsinn treiben konnten.
Er bleckte die Zähne in einem gefährlichen Lächeln.
„Tschüss, Fluffy“
Erneut donnerte es über ihnen. Cerberus knurrte auf und stürzte sich auf Anubis, dessen Arm weiterhin im blutigen Rot erglühte, welches immer dunkler und dunkler wurde, bis nachtschwarze Flammen über sein Antlitz leckten. Sie zuckten unstet und versuchten immer wieder in eine undefinierbare Form zurück zu kehren, als wollten sie das eigentliche Abbild des ägyptischen Todesgottes erneut erschaffen, doch unsichtbare Finger zerdrückten sie und fransten sie aus, bevor sie sich manifestieren konnten.
Ein Blitz zuckte über die Straße und plötzlich bog ein Auto mit rasender Geschwindigkeit ein, seine grellen Scheinwerfer legten den Asphalt und die Umgebung blank.
Vom plötzlichen Licht geblendet hob Anubis ruckartig einen Arm vor die Augen. Als die weißen Blitzlichter langsam verglommen, glühten lediglich die Rücklichter des Wagens in der Nacht. Rasch zuckte sein Augenmerk zurück zu jenem Punkt, wo noch vor kurzem Cerberus gewesen war. Doch Hades Schoßhündchen war verschwunden.


Kapitel 1



M

otte holte erfreut ihre neue Kamera hervor, ein wahres Prachtexemplar, das wohlmöglich einiges an Geld gekostet hatte und hob die Linse an die Augen. Geschäftig kaute sie auf ihrem Kaugummi herum und bewegte die Kamera einen Profipaparazzo nachahmend mal nach links dann nach rechts. Klara duckte sich als das schwarze Gerät in ihre Richtung blickte und entkam gerade rechtzeitig der Linse. Es klickte und Klara wusste, dass anstatt einem geschockt dreinblickenden Gesicht von ihr nun ein Teil der Fassade des Louvre abgebildet worden war. Missbilligend platzte eine veilchenblaue Kaugummiblase und sie wurde mit hochgezogenen Brauen gemustert.
Manchmal fragte sich Klara, warum man Motte nicht bereits für ihr höchstverdächtiges Aussehen verhaftet hatte. Denn ihre beste Freundin sah nicht gerade unauffällig mit ihrer Hippiebrille, der Gangstermütze und den frisch pink gefärbten, strubbeligen Haaren aus. Für einen winzigen Moment vom Aussehen ihrer Freundin abgelenkt, merkte Klara zu spät, dass erneut ein vernehmliches Klicken das Tuscheln in der Warteschlange durchbrach.
„Ha! Habt dich erwischt!“ Rief Motte aus und erntete seltsame Blicke. Fröhlich fuchtelte sie mit ihrer Kamera herum und grinste breit.
Kurz blinzelte Klara. Dann weiteten sich erschrocken ihre Augen. „Nein hast du nicht!“, sie sprang auf Motte zu und versuchte ihr die Kamera aus der Hand zu reißen. Geschickt wich Motte dem stolpernden Angriff auf ihre Kamera aus und streckte Klara dreist die Zunge raus.
„Mach kein Drama draus, ist doch nur ein Bild, mehr nicht.“, meinte sie und verstaute die Kamera in ihrer Umhängetasche.
Ihr Blick hinter den getönten Brillengläsern glitt über die imposante Fassade des Louvre, streifte gleichgültig die gläserne Pyramide, in deren Eingeweiden sich die Haupthalle des französischen Museums befand. Als Klara durch den Eingang zum Innenhof geschritten war, empfand sie ein seltsames Gefühl, das sich nicht recht einordnen lassen wollte. Es passte weder zur Aufregung noch zur Resignation, es war ein Gemisch aus kalter Gänsehaut und kühler Ehrfurcht und ein dunkles Brummen, welches sich in den hinteren Herzkammern ihrer Brust ausbreitete und in beständigem Takt sich ausbreitete, gleichzeitig keineswegs aufdringlich wirkte.
Nun, da sie mit Motte und ihren Klassenkameraden kurz vor dem Eingang des Louvre stand, wusste sie nicht so recht, wohin mit all den Empfindungen und Eindrücken, die sie bereits vorher in der riesen Metropole schier überschwemmt hatten.
Sie schlug gespielt tadelnd Motte auf die Schulter und reckte den Hals, um über die lange Schlange hinweg zu sehen. Dafür, dass der erste Sonntag im neuen Monat war und diesen kostenlosen Eintritt ins Museum versprach, waren gegen neun Uhr noch recht wenige Besucher. Wenn man eine längere Menschenreihe um die Hälfte der Pyramide als wenig betrachtete und für jene „kurze Warteschlange“ wahrhaftig dreißig Minuten anstehen musste, um geschätzte zehn Meter vor dem letzten Teil der Schlange zu stehen, so musste Klara doch eingestehen, dass jenes Schild mit der Aufschrift: „Eine Stunde und dreißig Minuten“, etwas zu dick aufgetragen war. Oder sie merkte einfach nicht, wie die Zeit verging, wenn sie mit Motte darauf fieberte in die heiligen Hallen des weltberühmten Kunstmuseum zu gelangen.
Ein kühler Wind wehte seit ihrer Ankunft in Paris durch die französische Hauptstadt und begleitete Klara und ihre Klasse seitdem. Nicht gerade angenehm, wenn das einzige Schuhwerk, was man dabei hatte, lediglich ausgelatschte Chucks waren. Seufzend rieb sie einen Fuß an ihrem Bein und wartete ungeduldig darauf endlich in den kleinen Slalom zu kommen.
„Welches Bild musst du dir nochmal anschauen für den Kunstunterricht?“, fragte sie und versuchte somit die Zeit des Wartens zu überbrücken.
Ein Schnauben, gefolgt von einem wiederholt böswillig klingenden Klicken, ließ sie zur Seite schauen. Ein fataler Fehler, wenn sie daran bedachte, nicht schon wieder als misslungene Photographie für die Nachwelt zu enden. Sie sah noch, wie sich ihr eigenes Gesicht in der Linse spiegelte, ehe sie ein Blitzlicht traf und verwirrt zurück ließ.
„Öhm.“ Vermutlich nicht die beste Antwort auf solch ein gemeines Attentat auf sie, doch die einzig geistreiche, die ihr einfiel. Dann: „Hey, das war nicht fair!“
Verspielt wurde die Kamera geschwenkt, als Motte die Lippen schürzte, um sie anschließend spielerisch in einem Grinsen auszudehnen, welches beinahe ihre Ohren erreichte.
„Nun ja, irgendwie muss ich mich ja erkenntlich zeigen, wenn du am laufenden Band vergisst, welches Thema ich in Kunstgeschichte hab, Mädel!“, Motte zuckte die Schultern und klopfte Klara freundschaftlich auf den Arm.
„Weißt du, dafür, dass du manchmal wirkliche Geistesblitze in solch unmöglichen Fächern, wie Physik und Chemie hast, bist du manchmal wirklich dämlich – im erträglichen Sinne, natürlich.“
Klara streckte ihr die Zunge raus.
„Also sag, was war es denn noch mal.“, nach einer Weile, in der sie einfach nur in der Schlange standen und genau das taten, was hunderte Besucher vor und nach ihnen getan hatten – nämlich schlicht und ergreifend warten-, wollte Klara nun endlich eine Antwort, denn ihr fiel partout nicht mehr ein, was Motte bearbeiten sollte.
„Na welches berühmte Werk hat Leo da Vinci noch mal gemalt?“, brummelte Motte in ihren karierten Schal, während sie versuchte ihr Schokocroissant aus der Umhängetasche zu kramen.
„Mona Lisa?“, meinte Klara stirnrunzelnd und tippte sich gegen die Lippe.
„War das wirklich eine Frage als Antwort auf eine Frage meinerseits?“, spöttisch wurden Brauen nach oben gezogen und Klaras Freundin stoppte kurzzeitig in ihrem Tun, ihr Croissant endlich zu fassen zu kriegen – verflixtes Ding!
„Vielleicht.“
Mit feinem, süßlichem Gebäck zwischen den Zähnen, kamen die beiden endlich in die letzte Phase des Wartens und allmählich übernahm die Aufregung das Zepter in Klaras Gefühlswelt, die bald darauf ihren Magen flau werden ließ. Die restliche Zeit des Wartens verflog wie in einem viel zu raschen Flug. Etwas irritiert und leicht orientierungslos standen Klara und Motte in der großen Halle, überall geschäftige Gespräche, ein Lautpegel des ewigen Surrens und Tuschelns. Warme, trockene Luft umfing sie, wie ein warmes Tuch und jeder Schritt hallte von den hellen Wänden wider.
So hatte sich Klara den Louvre definitiv nicht vorgestellt. Überall wimmelte es von einer unterschwellig brodelnden Masse. Menschen fuhren in stetigen Strömen Rolltreppen hoch in den ersten Stock um in verdunkelten Öffnungen zu verschwinden. Das Licht fiel durch die Pyramide, die eine Art Kuppel über die unterirdische Halle bildete. Das erste Stockwerk umkreiste jene Eingangshalle, die man mit einer Rolltreppe betreten konnte. Manche Besucher saßen auf dem Boden, kauten die letzten Reste ihrer Mahlzeit, denn das Essen war in den Ausstellungsräumen strengstens verboten (wie höchst amüsante Schilder verdeutlichten).
Informationsinseln und ein riesig anmutender Laden mit allerhand Souvenirs bildeten ebenfalls einen Hauptteil jenes Bruchstückes dieses mammuthaften Gebäudekomplexes. Noch ehe Klara sich bereits in der Optik der Eingangshalle verlieren konnte, wurde sie am Arm gegriffen und gnadenlos fortgeschleift, auf jene Rolltreppe zu, die zum ersten Stockwerk führte, das die Halle wie einen Ring umgab.
Lebendig und überfüllt dröhnten die Stimmen der Besucher zu Klara und Motte herüber. Es war keineswegs so laut, dass man das eigene Wort nicht mehr verstand, doch selbst als Hintergrundgeräusch hatten die abertausenden tuschelnden Stimmen ein Volumen, welches sich nicht so recht ignorieren ließ. Mit zielgerichteten Schritten trabten sie durch einen Gang, an dessen Anfang zwei Schalter standen, doch anstatt einer geduldig wartenden Schlange, strömten Menschen ein und aus, schenkten jenen obligatorischen Angestellten des Louvre keinerlei Beachtung und huschten einfach weiter. An diesem Tag waren die Schalter lediglich Zierde. Dem zügigen Tempo der restlichen Besucher angepasst, gingen Klara und Motte an den Schaltern vorbei. Klara konnte nicht anders und unterzog den beiden, leicht gelangweilt, leicht amüsiert aussehenden Angestellten einer kurzweiligen Musterung. Nicht abwertend oder gar böswillig, einfach nur deswegen, weil sie es gewohnt war.
Als sie den Gang durchquert hatten, musste Klara kurz irritiert blinzeln, als sie sich Rolltreppen gegenübersah, die Stockwerk um Stockwerk in die Höhe gingen. Staunend warf sie den Kopf zurück und beobachtete den Turm, dessen Eingeweide bewegende Treppen bildeten, die beständig Menschen von A nach B transportierten. Als Motte bereits mehrere Stufen hochgefahren war, starrte Klara immer noch verdutzt die einfache Konstruktion an.
„Komm schon, Klara, die Treppe wartet nicht!“, hörte sie Motte rufen. Eiligst machte sie sich daran ihrer Freundin nachzukommen. „Komm ja schon.“, murmelte sie und ließ ihren Blick zur Seite wandern, dort öffnete sich das helle Gemäuer und offenbarte einen kurzen Blick auf den Skulpturengarten, wie dieser sich majestätisch präsentierte und kurzweilig seine Pracht ihr darbot, um Klara mit schmeichelnder Optik anzulocken. Ein Glänzen füllte ihre Augen und ließ sie leuchten, während sie ihren Hals reckte um mehr zu erkennen, doch da war sie bereits beim nächsten Stockwerk angelangt.
Leicht enttäuscht blickte sie zurück zur Rolltreppe.
„Hast du die Skulpturen gesehen?“, fragte sie Motte.
„Wahnsinn nicht wahr? Wenn wir oben fertig sind, können wir dorthin gehen und dann zu den Ägyptern, einverstanden?“ Auch in Mottes Augen funkelte es neugierig und ein aufgeregtes Flackern nahm immer mehr Besitz von ihnen.
Klara zuckte mit den Schultern. „Von mir aus, wir haben ja Zeit.“
Über Mottes Gesicht huschte ein wahnwitziges Lächeln. Bekräftigend ruckte ihr Kopf nach vorne und zurück, ein überstürztes Nicken imitierend. „Zum Glück!“, rief sie aus. Motte war, gelinde gesagt, ein absoluter Freak, was den Louvre betraf und würde es wohl ab dem Moment, in dem sie das Museum verlassen würden, die Perfektion dessen verkörpern.
Ohne dass Klara sonderlich viel dagegen tun konnte, wurde sie unwillkürlich in eine Welt geschleudert, die mit all ihren altertümlichen und dennoch völlig zeitlosen Gesichtszügen so allgegenwertig zu sein schien, dass jeder Blick, der nur flüchtig einen Gegenstand aus alter Zeit streifte, schier von dem Eindruck überflutet wurde und keine Möglichkeit fand diesen zu verarbeiten, denn kaum wandte man den Kopf in eine andere Richtung, lächelte die Kunst einem gewinnend entgegen und entführte einen prompt in die nächste Dimension überquellender Eindrücke und Sinne.


Impressum

Texte: Copyright by Nicola Maas
Tag der Veröffentlichung: 15.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Benni, der dies wohl erst viel zu spät bemerken wird.

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